Elf
«Wieso wirft das unsere Arbeitshypothese über den Haufen?», fragte Toppe. «Geldek ist im Affekt getötet worden, dabei bleibe ich. Der Täter muss vor Wut außer sich gewesen sein. Denkt doch nur mal an die Aussage des Holländers.»
Van Appeldorn beobachtete seinen Chef. Heute Morgen klang seine Stimme wieder lebhaft, aber die Augen blickten genauso matt wie in den Tagen zuvor. Er war ihm fremd, dabei kannten sie sich schon so viele Jahre. Sie hatten sich sogar mal recht nahe gestanden, aber das war lange her.
Er nickte Toppe zu. «Schon klar, der Täter verfolgt Geldek, versucht sogar, ihn vom Deich zu drängen. Es ist ihm offensichtlich egal, dass er dabei beobachtet wird. Und als Geldek ihn austrickst, gerät er noch mehr in Rage, sodass er ohne Rücksicht auf Verluste über die Kreuzung brettert. Die Frage ist nur, warum ist er hinter Geldek her?»
«Das interessiert mich im Moment weniger», entgegnete Cox. «Was ist mit Joosten? Auch der wird, wie es aussieht, im Affekt totgeschlagen. Zweimal hintereinander eine Affekttat? Das ist doch Blödsinn!»
«Ob er tatsächlich erschlagen worden ist, wissen wir doch noch gar nicht sicher», widersprach Astrid.
«Aber dass die beiden Taten zusammenhängen, liegt doch auf der Hand, oder? Geldek wird erschlagen, und keine Woche später muss sein Finanzberater dran glauben.»
«So sieht es aus», bestätigte Toppe. «Es sieht sogar auf den ersten Blick so aus, als handele es sich um denselben Täter. Andererseits kann es auch sein, dass Geldeks Tod irgendeine Dynamik ausgelöst hat, die zu Joostens Ermordung führte, die wir aber noch nicht kennen. Auch Martina Geldeks seltsames Verhalten weist darauf hin, dass der Tod ihres Mannes etwas in Gang gesetzt hat, das für sie zu einer Bedrohung wird. Es ist höchste Zeit, dass wir der Dame eine schriftliche Einladung schicken. Wenn sie nicht auftaucht, lass ich sie durch Günther vorladen. Und ich will, dass ihr Haus ab jetzt rund um die Uhr bewacht wird. Kümmerst du dich darum, Peter?»
«Sofort! Ach übrigens, Joosten hatte noch einen zweiten Job. Erinnert ihr euch an Geldeks Stiftung für Opferhilfe? Joosten war der Geschäftsführer.»
«Wie hast du das denn rausgekriegt?», staunte van Appeldorn.
Cox lächelte. «Ich habe mich gestern Abend noch einmal an die Papiere gesetzt.»
Toppe schaute van Appeldorn an. «Kannte dieser Eberhard Geldek eigentlich?», fragte er langsam.
«Er behauptet, nein», antwortete van Appeldorn, «jedenfalls nicht näher.»
«Hat er ein Alibi für Mittwoch?»
«Das will ich heute abklären. Aber erst nachmittags, dann kann ich gleich auch seine Frau und die Tochter befragen und mir deren Auto angucken.»
«Und ich wollte mit Susanne Joosten sprechen», sagte Astrid. «Vielleicht hat sie sich ein bisschen bekrabbelt und kann mir sagen, was ihr Mann auf dem Bauernhof verloren hatte.»
Das Telefon klingelte, Cox nahm ab, reichte den Hörer aber sofort an Toppe weiter, als er hörte, dass es Bonhoeffer war.
«Tut mir Leid, dass ich mich jetzt erst melde, aber ich war auf einer Tagung in Holland. Und dass mit meinem Handy etwas nicht in Ordnung zu sein scheint, ist mir erst heute Morgen aufgefallen. Also was ist das hier für ein geheimnisvoller Toter?»
Toppe gab eine kurze Schilderung. «Es sieht so aus, als gäbe es eine Verbindung zum Totschlag an Geldek. Möglicherweise handelt es sich um denselben Täter.»
«Gut, dann weiß ich, worauf ich achten muss. Hast du was dagegen, wenn ich sofort anfange? Ich hab ein ziemlich volles Programm heute.»
«Nein, mach ruhig. Ich komme, so schnell ich kann.»
Peter Cox griff nach seiner Aktentasche. «Wenn im Moment nichts anderes anliegt, fahre ich zur Stadtverwaltung. Ich bin gestern an ein paar Punkten nicht weitergekommen und die Leute vom Bauordnungsamt müssten mir da eigentlich weiterhelfen können. Ich ordne noch schnell Martina Geldeks Überwachung an und schick ihr ein Briefchen per Kurier, dass sie uns morgen früh um elf besuchen soll, und dann bin ich weg.»
Van Appeldorn dachte an Ulli, daran, dass er ihr, wenn auch zögerlich, versprochen hatte, sich zu kümmern. Er hielt am Reichswalder Sportplatz, nahm sein Handy und ließ sich zu Bonhoeffer durchstellen. Erst zwanzig Minuten später rollte er den aufgeweichten Feldweg entlang.
Heute stand ein Auto vor der Scheune auf dem Eberhardshof – ein roter VW Golf.
Van Appeldorn beugte sich hinunter und schaute sich die vordere Stoßstange an, konnte aber keine Schramme oder Delle erkennen.
«Was machen Sie denn da?» Die herrische Stimme ließ ihn hochfahren.
Eine stämmige Frau von Anfang fünfzig kam aus dem Haus. «Haben Sie sich verfahren? Oder wollen Sie was verkaufen? Wir brauchen nichts!»
«Weder, noch», antwortete van Appeldorn, stellte sich vor und hielt ihr seinen Ausweis hin. «Ist das Ihr Wagen?»
«Nein! Gehört meiner Tochter. Hab keinen Führerschein.»
«Und wie kommen Sie zur Arbeit?»
Sie zog erstaunt die dunklen Augenbrauen hoch, die über der Nasenwurzel zusammengewachsen waren. «Mit dem Fahrrad! Aber was geht Sie das an?»
«Ach, mich geht eine ganze Menge was an, fürchte ich», meinte van Appeldorn. «Auf Ihrem Hof ist gestern Morgen ein junger Mann getötet worden, und ich …»
«Damit hab ich nichts zu tun», schnitt sie ihm das Wort ab. «Ich war auf der Arbeit!»
Van Appeldorn riss der Geduldsfaden. «Das haben wir bereits überprüft. Aber ich werde Sie trotzdem vernehmen, Sie, Ihren Mann und Ihre Tochter.» Er zeigte auf das Haus und bedeutete ihr voranzugehen. Doch sie stemmte die Hände in die Seiten und bewegte sich keinen Millimeter. «Dann zeigen Sie mir mal Ihre Erlaubnis! Ohne die haben Sie nämlich nicht das Recht, einfach so bei unbescholtenen Bürgern einzudringen.»
«Sie würden sich wundern, was ich alles für Rechte habe», erwiderte van Appeldorn mokant. «Aber bitte, wie Sie wünschen. Dann erwarte ich Sie alle um 16 Uhr 30 im Präsidium an der Kanalstraße, erster Stock, zweite Tür rechts.»
Sie starrte ihn wütend an. «Was bilden Sie sich eigentlich ein? Meinen Sie, ich hätt nichts Besseres zu tun? Hab meine Zeit nicht gestohlen. Dann kommen Sie eben rein!»
In der Küche war es viel zu warm, alle Fenster waren, wie auch gestern schon, geschlossen, und der Meerschweingestank mischte sich mit dem Geruch nach gebratener Leber und Zwiebeln.
Eberhard saß am Tisch über einem Becher Kaffee und einem Stück Streuselkuchen. «Was wollen Sie denn noch?», fragte er barsch, als van Appeldorn sich ihm gegenüber hinsetzte, blickte dabei aber seine Frau an. Die Luft zwischen den beiden war zum Schneiden dick, es musste mächtig gekracht haben, und es stand außer Frage, wer dabei die Oberhand behalten hatte.
«Ich möchte auch Ihre Tochter sprechen», erinnerte van Appeldorn die Frau.
Sie trat in den Hausflur und keifte: «Cordula, komm runter! Sofort!»
Bedauerlicherweise hatte das Mädchen die Neigung seiner Mutter zu starker Gesichtsbehaarung geerbt. Über der Oberlippe zeigte sich dunkler Flaum, aber zumindest waren die Augenbrauen gezupft.
Beiden, Mutter und Tochter, war gestern früh nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Frau Eberhard hatte Tobias Joosten «vom Sehen» gekannt.
«Ich nicht», haspelte Cordula. «Ich hab mit den ganzen Sachen nichts zu tun.»
«Mit was für Sachen?», fragte van Appeldorn irritiert.
«Ich meine, mit dem Hof und allem.» Ihr Blick flackerte. «Ich bin nicht oft zu Hause, mein ich.»
«Wo waren Sie letzte Woche Mittwoch, nachmittags?»
«Ich?»
Van Appeldorn nickte und ließ sie nicht aus den Augen.
Cordula überlegte. «Ach, ich weiß wieder. Ich warm hier zu Hause, weil mein Vater sich mein Auto geliehen hatte.»
«Aha, und von wann bis wann?»
«Ich war nur eben beim Baumarkt», warf Eberhard hastig ein.
«Ich habe Ihre Tochter gefragt. Also, von wann bis wann?»
Das Mädchen schaute verwirrt von einem zum anderen. «Wieso? Was war denn letzten Mittwoch? Ich versteh das nicht.»
Van Appeldorn tippte mit der Kulispitze auf den Block. «Ich warte.»
«Wann er gefahren ist, weiß ich nicht so genau. Ich glaub, so um drei. Und zurück war er um zehn nach fünf. Daran erinnere ich mich, weil ich selber mit dem Wagen weg wollte und gewartet hab.»
«Bei welchem Baumarkt waren Sie, Herr Eberhard?»
«Bei dem unten auf der Kalkarer Straße.»
«Und da haben Sie zwei Stunden gebraucht? Das ist ungewöhnlich lange.»
Eberhard sah ihn unbehaglich an. «Ja, Gott, ich musste Bretter zuschneiden lassen, und ich hatte auch noch viele Kleinteile nötig. Das dauert.»
«Haben Sie die Rechnung noch?»
«Nein, ich glaub nicht …»
Frau Eberhard grunzte missbilligend.
«Aber Sie können mir die Bretter und die Kleinteile, die Sie gekauft haben, doch bestimmt zeigen, oder?»
«Ja, sicher!» Eberhard stand gleich auf. «Kommen Sie mit.» Er wirkte erleichtert.
Van Appeldorn folgte ihm in einen kleinen Verschlag neben dem Hühnerstall, der offenbar als Werkstatt diente.
Eberhard fasste ihn am Arm. «Herr Kommissar, ich war nicht so lange im Baumarkt. Ich war noch am Bahnhof und hab mir so ein Heft gekauft, Sie wissen schon …»
Er wand sich, aber van Appeldorn hatte keine Lust, es ihm leicht zu machen. «Sie müssen schon Klartext reden.»
«Na, so ein Pornoheft eben … Hier!» Er grabbelte in einer Kiste mit Hobelspänen herum und zog ein Magazin hervor: Willige Hausfrauen. «Und dann bin ich drüben in den Wald gefahren, damit ich mir … Sie wissen schon, damit ich mir … das in Ruhe angucken konnte.»
Susanne Joosten stand unter starken Beruhigungsmitteln, und es fiel ihr schwer zu sprechen, aber sie bemühte sich. Ihr Vater saß neben ihr, hielt ihre Hand und gab ihr Wasser zu trinken, wenn der Mund zu trocken wurde.
Sie kannte Knut Eberhard nicht persönlich, wusste aber, dass er der Nachbar ihrer Schwiegereltern war. Was ihr Mann auf dem Bauernhof gewollt hatte, konnte sie nicht sagen, aber es musste wohl was Berufliches gewesen sein. In den letzten Jahren hatten sie so gut wie nie über seine Arbeit gesprochen. Wann denn auch? Die fünf Kinder hielten sie Tag und Nacht auf Trab. Wenn Joosten abends nach Hause gekommen war, war sie meist so erschlagen gewesen, dass sie die Augen kaum noch hatte offen halten können. Sie hatten sich auf die Zeit gefreut, wenn die Kleinen aus dem Gröbsten raus waren und die Abende und Nächte wieder ihnen beiden gehörten.
Als sie das erzählte, musste sie weinen, und Astrid schluckte.
Natürlich wusste Susanne Joosten, dass ihr Mann kürzlich Geschäftsführer der Opferstiftung geworden war. Das zusätzliche Gehalt konnten sie gut gebrauchen, aber sie war trotzdem skeptisch gewesen. Erst als er ihr versichert hatte, dass er den größten Teil seiner Arbeit für die Opferhilfe von zu Hause aus erledigen konnte, hatte sie zugestimmt. Sie hätte es nicht ausgehalten, wenn er noch öfter weg gewesen wäre als ohnehin schon.
Wieder weinte sie, und diesmal beruhigte sie sich nicht. Der Vater sah Astrid bittend an, sie nickte und ging.
Als Toppe in die Prosektur kam, fand er Bonhoeffer über den bereits geöffneten Brust- und Bauchraum des Leichnams gebeugt. «Komm her und schau’s dir an!»
«Ich kann mich bremsen.» Toppe blieb mit verschränkten Armen neben dem stählernen Ausguss stehen. «Ist er erschlagen worden?»
«So kann man es kaum nennen.» Bonhoeffer fitschte die Handschuhe aus und lehnte sich mit dem Rücken zur Leiche gegen den Obduktionstisch. «Ich glaube, dieser Bursche hier hat einfach nur Pech gehabt. Gestorben ist er an einer Aortenruptur, sein Mediastinum ist voller Blut. Anscheinend litt er an einer Erweiterung der Aorta ascendens mit einer Aorteninsuffiziens.»
Toppe stöhnte auf. «Musst du eigentlich jedes Mal dieses Spielchen mit mir abziehen? Red doch einfach Deutsch!»
Bonhoeffer schaute ihn prüfend an. «Seine Hauptschlagader hat eine extreme Wandschwäche. Sie ist quasi … wie soll ich es ausdrücken, nun, an einer besonders schwachen Stelle geplatzt. Ausgelöst vermutlich durch einen Stoß gegen die Brust.»
«Und wie kommt man an eine so schwache Aorta?», wollte Toppe wissen.
«Durch eine Krankheit. Ich habe einen Schnellschnitt gemacht, das Präparat müsste gleich fertig sein. Arteriosklerose kann ich ausschließen, deshalb vermute ich mal, dass es sich um eine Bindegewebserkrankung handelt.»
Es klopfte, und ein junger Pfleger kam herein und reichte Bonhoeffer eine Schachtel, in der mehrere Glasplättchen lagen.
«Danke!», nickte der. «Dann wollen wir mal schauen.»
Toppe folgte ihm zum Mikroskop und wartete.
«Keine Fibrozyten, wie ich’s mir gedacht habe», murmelte Bonhoeffer zufrieden, untersuchte aber noch die beiden anderen Objektträger, bevor er sich aufrichtete. «Der junge Mann litt am so genannten Marfan-Syndrom. Das ist eine generalisierte Bindegewebserkrankung, die häufig autosomal vererbt wird. Einfach ausgedrückt», kam er Toppes Einwand zuvor, «das gesamte Bindegewebe des Körpers ist geschwächt, und diese Erkrankung ist in den meisten Fällen erblich. Unser Freund hat anscheinend einen Stoß gegen die Brust bekommen, aber wenn er nicht an dieser Krankheit gelitten hätte, wäre nicht viel passiert. Das Marfan-Syndrom tritt nicht sehr häufig auf. Wenn ich mich recht erinnere, stehen die Chancen 1 : 10 000. Und bei unserem Kandidaten hier ist es noch nicht einmal sehr ausgeprägt. Er hat zwar lange Gliedmaßen und auffallend schmale Hände und Füße, aber wir finden keine Leistenbrüche, keine ausgeprägte Trichterbrust, keine Striae. Aber leider war seine Hauptschlagader schon ganz ordentlich marode.»
«Wie marode?», fragte Toppe. «Meinst du, wenn er hingefallen wäre oder ihm jemand einen freundschaftlichen Knuff gegeben hätte, wäre die Hauptschlagader gerissen?»
«Nein, das sicher nicht. Es muss zum jetzigen Zeitpunkt schon ein sehr heftiger Stoß gewesen sein. In ein paar Jahren hätte das anders ausgesehen. Menschen mit Marfan-Syndrom werden selten älter als dreißig, fünfunddreißig.»
«Die Prügel, die Joosten bezogen hat, hätte also einen gesunden Menschen nicht umgebracht?» Toppe wollte ganz sichergehen.
«Nein», antwortete Bonhoeffer, «aber ich habe da ein Problem. Es sieht nicht nach einer Prügelei aus.»
«Was meinst du?»
«Ich meine, es waren keine Fäuste im Einsatz. Alle Verletzungen, die das Opfer aufweist, sind ihm mit einer Waffe beigebracht worden. Nur leider ist es eine Waffe, die ich nicht kenne. Vermutlich sind es sogar zwei verschiedene Waffen. Ich habe Abdrücke von etwas Stumpfem, relativ Kurzem, Glatten, vielleicht zwanzig Zentimeter lang, und es scheint mir gekrümmt zu sein, aber da bin ich mir nicht hundertprozentig sicher. Auf der anderen Seite, das betrifft die Abschürfungen, handelt es sich um eine Waffe, die deutlich kleiner, dafür rau und scharfkantig ist.» Bonhoeffer hob bedauernd die Hände. «Aber wie gesagt, ich kann beides nirgendwo einordnen. Diese Waffen sind mir nie zuvor begegnet.»
Toppe hatte noch nie erlebt, dass Bonhoeffer sich geschlagen gab, und das tat er auch jetzt nicht. «Ich habe die einzelnen Verletzungen fotografiert und werde die Abzüge ein paar Kollegen zukommen lassen. Außerdem werde ich die Kleidung des Toten zum LKA schicken. Vielleicht finden sie Mikrospuren.»
Toppe schloss einen Moment die Augen und rieb sich die Schläfen. «Hat Joosten sich gewehrt?»
«Das ist schwer zu sagen. Die Abschürfungen an den Händen sprechen eigentlich dafür. Aber es ist auch möglich, dass ihm diese und andere Verletzungen beigebracht worden sind, als er bereits tot war. Er hat etliche Hämatome an den Beinen, am Bauch und am Gesäß.»
«Tritte?»
«Nein, keine Tritte, immer nur diese stumpfe, kurze, schmale Waffe. Insgesamt habe ich zweiundvierzig Verletzungen am ganzen Körper gezählt.»
«Blinde Wut», murmelte Toppe.
«Das zu beurteilen liegt, wie immer, Gott sei Dank, bei dir. Alles, was ich sagen kann, ist, dass die Schläge oder Stöße nicht auf eine bestimmte Körperpartie gerichtet waren, sondern wahllos geführt wurden.» Bonhoeffer band seinen Kittel auf und streifte ihn ab. «Leben die Eltern des jungen Mannes noch?»
«Soviel ich weiß, ja. Warum?»
«Weil das Marfan-Syndrom häufig eine Erbkrankheit ist, wie gesagt. Hat er Kinder?»
«Fünf Stück!»
«Oh weh, aber wenn seine Eltern noch leben, hört sich das schon mal ganz gut an. Es gibt nämlich auch eine sporadische Form dieses Syndroms. Ich bin auf alle Fälle verpflichtet, eine Familienanamnese zu machen. Kommst du mit auf ein Glas in meine Kemenate?»
Er goss ihnen Calvados ein, reichte Toppe ein Glas und trank einen großen Schluck. «Wie geht’s Astrid und der Lütten?»
«Gut, gut.»
«Tatsächlich?» Bonhoeffer sah ihn besorgt an. «Du gefällst mir nicht, Helmut.»
«Wieso?» Toppe lachte auf. «Ich bin wie immer.»
«Das bist du nicht!»
Toppe zuckte zusammen, Arend wurde nie laut.
«Wir kennen uns seit über dreißig Jahren, und ich werde doch wohl sehen, wenn du dabei bist, den Bach runterzugehen. Ja, ja, ich weiß.» Er ignorierte Toppes Protest. «Ich hab mich nie in dein Leben eingemischt und du dich nicht in meins, und wir beide verabscheuen Stammtischweisheiten. Aber ich werde nicht kommentarlos zugucken, wie du dich schon wieder unglücklich machst, diesmal nicht.»
«Ich habe wirklich keine Ahnung, wovon du sprichst.»
«Red doch kein Blech, du weißt sehr gut, wovon ich spreche! Willst du ewig alle vor den Kopf stoßen, denen du am Herzen liegst? Dann wundere dich nicht, wenn du irgendwann mal ganz allein dastehst. Und ich habe so das Gefühl, das kann nicht mehr lange dauern.»
«Ich wundere mich nicht.»
Bonhoeffer wurde leiser, aber er hörte nicht auf. «Nein, du wunderst dich nicht. Du gehst ja schließlich davon aus, dass du allein bist, nicht wahr? Und du hast ja deine großartige Arbeit, bei der du großartige Erfolge hast. Meinen herzlichen Glückwunsch! Aber sei doch einmal ehrlich: Geht es dir gut?» Wieder wischte er Toppes Antwort beiseite. «Es geht dir hundsmiserabel! Du tust zwar gern so, aber du hast nie wie ein Eremit gelebt, Helmut, weil du das nämlich gar nicht kannst. Mit Gabi hast du’s verbockt, und jetzt machst du denselben Mist schon wieder. Ist dir eigentlich noch nie aufgefallen, wie egozentrisch du bist?»
Toppe stellte sein unberührtes Glas ab und ging zur Tür, weiß im Gesicht.
«Helmut?»
Er blieb stehen, aber er drehte sich nicht um.
«Du machst einen großen Fehler. Die meisten von uns haben irgendwann eine schlimme Zeit gehabt, aber wir lassen es nicht zu, dass sie unser ganzes weiteres Leben bestimmt.»
Toppe ging.
Sie hätten längst Feierabend machen können, wenn Cox nicht von unterwegs Bescheid gegeben hätte, sie mögen bitte auf ihn warten. Als er endlich kam, war er ernst und offensichtlich aufgeregt, denn er ließ Aktentasche und Mantel einfach auf einen Stuhl fallen und ging sofort zu seinem Diagramm von Geldeks Imperium.
«Ich glaube, ich habe etwas entdeckt. Es geht um sein Prestigeobjekt hier, um die Stiftung für die Opfer von Gewalttaten. Geldek hat dafür ein funkelnagelneues Gebäude hingesetzt. Da komme ich gerade her. Es steht in Reichswalde, gar nicht weit weg vom Eberhardshof. Von dort aus kann man es allerdings nicht sehen, weil ein Waldstück dazwischen ist. Man kommt auch nur von der Grunewaldstraße aus hin. Das Haus liegt am Ende einer ganz neuen kleinen Straße auf einem wunderschönen, großen Grundstück. Und wisst ihr, von wem Geldek das Grundstück gekauft hat? Von Knut Eberhard!»
«Guck mal einer an», meinte Astrid. «Uns hat Eberhard erzählt, er hätte Geldek nicht näher gekannt.»
«Das muss nicht mal gelogen sein», antwortete Cox. «Offiziell ist das Geschäft in Martina Geldeks Namen gelaufen. Auf alle Fälle hat Geldek das Grundstück damals für ein paar lächerliche Pfennige kaufen können, weil es nicht als Bauland ausgewiesen war, sondern nur forstwirtschaftlich genutzt werden konnte. Und eine Straße gab es auch noch nicht.»
«Und weiter?», drängte van Appeldorn.
«Ich weiß noch nichts Genaues, aber da scheint mir eine ziemliche Schweinerei gelaufen zu sein. Ich treffe mich gleich auf ein Bier mit einem jungen Typen vom Bauamt, der wohl ganz in Ordnung ist. Dann erfahre ich mehr.»
«Seit wann treibst du dich in Kneipen rum?», flachste van Appeldorn.
«Och, das wird langsam schon zur Gewohnheit. Gestern war ich in der Dorfkneipe in Reichswalde. War auch ganz interessant.»
Astrid duschte.
Mit fliegenden Händen zog er sich aus, trat hinter sie, umfasste ihre Brüste und presste seinen Unterleib gegen ihren Po.
Astrid schrie auf. «Spinnst du? Du hast mich zu Tode erschreckt!» Sie drehte sich in seinen Armen, das Wasser lief ihr übers Gesicht.
«Wollt ich nicht», raunte er. «Du bist so schön.» Er saugte an ihrem Ohrläppchen und griff nach dem Duschgel. «Komm her, ich helf dir beim Einseifen.»
Aber sie legte die Hände auf seine Brust und schob ihn weg. «Nein, Helmut, nicht heute. Ich krieg meine Periode, ich hab Bauchschmerzen, ich hab Kopfschmerzen und mir ist speiübel. Ich will nur noch in mein Bett.»
Wortlos hängte er sich ein Badetuch über die Schultern, hob seine Kleider auf und ging, nass wie er war, in sein Zimmer. Er wusste nicht, was er fühlte. In ihren Augen war keine Spur von Bedauern gewesen.
Auf seinem Schreibtisch stand, gegen das Telefon gelehnt, eine Fotografie von Alina Escher, die Porträtaufnahme aus dem ersten Aktenordner.
Sie war ein hübsches Kind gewesen, damals fast genauso alt wie Katharina jetzt. Die beiden hätten Schwestern sein können, das gleiche lockige Haar, die gleichen großen, dunklen Augen im herzförmigen Gesicht, das energische kleine Kinn.
Toppe trocknete sich ab, schlüpfte in Slip und T-Shirt und nahm sich die Zeitungsartikel der Niederrhein Post vom Sommer 1997 vor, in der es um Gernot Eschers offenbar sehr schmutzige Scheidung ging.
Natürlich hatte sich die Soko, nachdem der erste Artikel erschienen war, mit Eschers Vergangenheit beschäftigen müssen, und Toppe war froh, das Geschmiere dieses vorgeblichen Journalisten beiseite zu legen und sich dem sachlichen Ton der Ermittler zuwenden zu können.
Gernot Escher war seit 1975 verheiratet gewesen, es gab zwei gemeinsame Töchter. Seine Frau Christa hatte 1986 einen anderen Mann kennen gelernt, einen recht angesehenen Bildhauer, und sich von Escher, der damals Staatsanwalt in Köln gewesen war, trennen wollen. Escher hatte augenscheinlich sehr um den Bestand seiner Ehe gekämpft, dennoch hatte seine Frau 1987 die Scheidung eingereicht. Ihrem Anwalt gegenüber hatte sie als Grund dafür angegeben, sie befürchte, dass Escher seine beiden Töchter, zu dem Zeitpunkt acht und zehn Jahre alt, sexuell belästige. Im folgenden, offenbar sehr üblen Sorgerechtsprozess war der Anwalt dann mit dieser Anschuldigung herausgerückt. Sie hatte sich letztendlich als gegenstandslos erwiesen, aber bis dahin war sie längst durch die Kreise der Kölner Gerichtsbarkeit getragen worden, und man hatte Escher nahe gelegt, sich versetzen zu lassen. So war er Oberstaatsanwalt in Kleve geworden.
Die Soko Alina hatte den ganzen Skandal noch einmal aufgerollt. Kernstück war die Vernehmung von Christa Escher, die letztendlich versichert hatte, dass es niemals zu einer sexuellen Belästigung gekommen war. Sie habe zwar ihrem Anwalt gegenüber erwähnt, dass Escher, seit er von ihren Trennungsabsichten wusste, auffällig intensiv mit den Mädchen geschmust, ja sogar mit ihnen gemeinsam gebadet und im Bett gekuschelt hätte, und das alles wäre sehr ungewöhnlich gewesen, denn Escher sei eher ein kühler, zurückhaltender Typ. Aber Christa Escher betonte, dass sie ihren Anwalt nie angewiesen habe, ihrem Mann daraus einen Strick zu drehen.
Toppe lehnte sich zurück und rief sich Gernot Escher in Erinnerung. Kühl und zurückhaltend? Das war milde ausgedrückt. In seinen Gesprächen mit ihm über den Verhoevenmord und Geldeks Beteiligung daran hatte Toppe ihn als strengen, überkontrollierten Mann von geradezu preußischer Disziplin und Härte erlebt. Aber war es verwunderlich, dass auch so jemand sich seinen Kindern zuwandte, wenn er wusste, dass er bald von ihnen getrennt sein würde?
Er nahm sich wieder die Zeitungsartikel vor. Zwar war im August ein Bericht erschienen, aus der Feder eines anderen Journalisten übrigens, der ausführlich erklärt hatte, dass sämtliche Vorwürfe gegen Escher entkräftet wären, aber da war es um dessen Reputation in Kleve längst geschehen gewesen. Er war schon zu Beginn der Rufmordkampagne vom Dienst suspendiert worden und hatte sich dann wieder einmal versetzen lassen müssen. Er war Leitender Oberstaatsanwalt in Düsseldorf geworden und wohnte, vermutlich heute noch, in Meerbusch-Büderich.
Toppe musste zweimal hinschauen, Büderich, der Ort, wo er geboren und aufgewachsen war – die Welt war wirklich klein. Er zog seinen Block heran und schrieb. Noch mehr Fragen, die er Escher stellen wollte, Fragen zu Geldeks Prozess damals und Fragen zu Alinas Verschwinden, zu der «Entführung».
Mit den Akten allein kam er im Augenblick nicht weiter. Er musste mit dem Mann sprechen.