Sechzehn
Sie wunderte sich, nirgendwo im Haus brannte Licht, dabei war es erst kurz nach neun. Leise ging sie die Treppe hinauf, um nach Katharina zu sehen. Ihre Kleine lag auf dem Rücken und schlief mit ausgebreiteten Armen. Sie trug immer noch das T-Shirt, das Astrid ihr heute Morgen angezogen hatte. Mund und Kinn trugen Spuren von angetrocknetem Ketchup. Helmut hatte sie nicht einmal gewaschen.
Auch er schlief.
«Helmut», rief sie leise und berührte ihn an der Schulter. Seine Lider flatterten kurz, dann wälzte er sich herum und fing an zu schnarchen.
Erst als sie in der Küche saß und das Döner, das sie unterwegs gekauft hatte, auspackte, merkte sie, dass sie weinte.
Van Appeldorn ließ das Telefon einfach klingeln.
Er war nach Hause gekommen, sie hatten sich ein bisschen gekabbelt und geneckt, er hatte sie wieder einmal gefragt, und da hatten Ullis Koboldaugen plötzlich angefangen zu funkeln. «Also gut», hatte sie gesagt, «das war jetzt dein dreizehnter Antrag, und ich war immer schon abergläubisch. Ich nehme ihn an. Lass uns, in Gottes Namen, heiraten!»
Er war fassungslos gewesen, noch nie hatte ihm das Herz in der Kehle geklopft.
Jetzt lagen sie zusammengekuschelt auf dem Sofa und machten Pläne, und er versuchte immer noch herauszufinden, was er fühlte. «Wir könnten ein Kind haben», sagte er unvermittelt. Ein geplantes Kind, eins, das sie beide wollten.
«Nein!» Ulli fuhr hoch. «Tut mir Leid», meinte sie dann ein wenig ruhiger. «Ich kann deine Frau sein, Norbert, so lange du es mit mir aushältst, aber ich kann kein Kind haben, ich kann keine Mutter sein. Ich bin kein gesunder Mensch mehr, von mir darf niemand abhängig sein.»
Van Appeldorn legte das Kinn auf ihr verstrubbeltes Haar und starrte ins Leere. «Vielleicht könnte genau das dich gesund machen …»
«Du träumst!»
«Mag sein, aber das macht doch nichts, oder?» Er küsste sie. «Und du willst wirklich diesen ganzen Klimbim mit Kutsche und Kirche? Das passt überhaupt nicht zu dir.»
«Und mit einem Prinzessinnenkleid! Darauf bestehe ich. Wenn ich schon heirate, dann will ich es auch genau so haben, wie ich es mir als Mädchen vorgestellt hab.» Sie kicherte. «Jetzt kriegst du kalte Füße, was? Schau mir in die Augen, Kleiner. Das hier ist deine letzte Chance, noch einen Rückzieher zu machen.»
Der Mann mit dem fleischfarbenen Golf arbeitete tatsächlich im Kaufhof, aber er war seit dem 13. August im Urlaub.
Der Geschäftsführer schickte Astrid und Cox in die Herrenoberbekleidung im zweiten Stock, wo sie sich an den Abteilungsleiter Verweyen wenden sollten. Schweigend fuhren sie mit der Rolltreppe nach oben, Cox merkte, dass er Sodbrennen bekam.
Ein schmächtiger Mann von Anfang vierzig in dunkler Hose und einem Jackett mit Nehru-Kragen kam ihnen schon entgegengeeilt. «Sie müssen die Herrschaften von der Kripo sein! Folgen Sie mir doch bitte in mein Büro.» Beflissen wieselte er vor ihnen her.
«Stockschwul», raunte Cox.
«Was für ein dämliches Klischee», zischte Astrid zurück.
Bastian Schönfelder hatte ganz normal seinen Jahresurlaub genommen, für den er sich frühzeitig, schon im April, wie es in diesem Hause üblich war, eingetragen hatte.
Astrid warf Cox einen Blick zu. Waren sie schon wieder auf einer falschen Fährte?
Der Abteilungsleiter zupfte ein paar Flusen von seinem Hosenbein und berichtete dann bereitwillig. Schönfelder hatte schon seine Ausbildung in diesem Betrieb gemacht und war dann übernommen worden, weil er ein talentierter Verkäufer war. Der junge Mann sei freundlich und zurückhaltend, was besonders den älteren Kunden gefiel, aber seitdem er Witwer sei, manchmal schon fast ein wenig zu still.
Astrid rechnete. «Mit siebenundzwanzig Jahren schon Witwer?»
«Ja, traurig, nicht wahr? Seine Frau ist voriges Jahr gestorben.»
«Wissen Sie, ob und wohin Herr Schönfelder verreisen wollte?», fragte Cox.
«Nein, leider …» Verweyen strich sich über seine makellose Frisur. «Er spricht nicht gern über Privates. Aber warten Sie, seine Eltern, die müssten Ihnen doch Auskunft geben können, denken Sie nicht? Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen würden, ich glaube, das Ehepaar ist in unserer Kundenkartei.»
Er verschwand im Nebenraum und kam mit einem Zettel zurück. «Hier bitte, die Anschrift der Eltern.»
«Herzlichen Dank.» Astrid rang sich ein Lächeln ab. «Sagen Sie, ist Herr Schönfelder eigentlich besonders groß?»
«Doch, doch, er ist ein stattlicher Typ, ich schätze seine Größe auf 1 Meter 90.»
«Eine letzte Frage noch», meinte Cox. «Wo war Herr Schönfelder am Mittwoch, dem 8. August, nachmittags?»
Verweyen überlegte nicht lange. «Da müsste er eigentlich im Hause gewesen sein, es sei denn, er hatte eine Änderung auszuliefern. Wenn Sie sich noch einmal gedulden würden …» Wieder verschwand er nach nebenan, diesmal brachte er eine dicke Kladde mit.
«Der 8. August … ah, da haben wir ihn ja. An dem Tag hat Herr Schönfelder einen Anzug ausgeliefert. Der Termin war um 15 Uhr bei einem Herrn Schnieders, Wehrpöhl 39.»
Cox guckte fragend. «Wehrpöhl, wo ist das denn?»
«In Griethausen!» Astrid merkte erst jetzt, dass sie die Luft angehalten hatte. «Ist Herr Schönfelder nach der Auslieferung hierher zurückgekommen?»
«Ja, natürlich, wir haben bis 18.30 Uhr geöffnet.»
«War er irgendwie verändert?»
«Wie bitte?» Verweyen sah sie ratlos an. «Nein, eigentlich nicht, ich meine, ich erinnere mich nicht an diesen konkreten Tag, aber ich habe in den letzten Monaten keinerlei Veränderung bei Herrn Schönfelder registriert.»
«Trug er vielleicht einen Rollkragenpullover?»
«Im August?», fragte der Abteilungsleiter verblüfft. «Nein, das wäre völlig indiskutabel. Wir legen hier sehr viel Wert auf korrekte Kleidung, wie Sie sich denken können. Aber Herr Schönfelder trägt gern schon mal ein legeres Seidentüchlein statt des klassischen Binders. Und das begrüßen wir natürlich.»
Unterdessen saß Helmut Toppe bei der Staatsanwaltschaft.
Dr. Stein hatte ihn angerufen: «Mein früherer Kollege Escher sitzt hier bei mir, und wir haben möglicherweise etwas Interessantes entdeckt. Hätten Sie Zeit, zu uns zu stoßen?»
Stein war passionierter Teetrinker und ließ ihnen, bevor er zur Sache kam, von seiner Sekretärin erst einmal eine Kanne Earl Grey und eine Schale Madeleines bringen.
Genüsslich schnupperte er an seiner Tasse und schaute dann Toppe zerknirscht über den Rand hinweg an. «Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Am Telefon letztens war ich nicht gerade freundlich. Aber ich hatte den Eindruck, Sie wollten meinem Kollegen korruptes Verhalten unterstellen, und Gernot ist einer der integersten Menschen, die ich kenne. Ich hoffe, Sie verzeihen mir meinen rüden Ton, ich hätte Sie eigentlich besser kennen müssen.»
«Ist schon in Ordnung.» Toppe entspannte sich.
Escher nahm sich einen von den kleinen Kuchen und stippte ihn in seinen Tee. Heute wirkte er beinahe heiter. «Ich habe lange über Ihre Idee nachgedacht, es könne sich um Erpressung gehandelt haben, bei der es allerdings gar nicht um Geld ging, und ich muss sagen, sie leuchtet mir ein. Deshalb bin ich gestern nach Kleve gekommen, um noch einmal meine damals aktuellen Verfahren durchzugehen. Dr. Stein hat mir liebenswerterweise dabei geholfen, aber wir sind beide zu demselben Ergebnis gekommen wie seinerzeit auch die Soko: Es gab nichts Verdächtiges.»
Stein stellte seine Tasse ab. «Dann ist mir allerdings etwas eingefallen. Gernot hat 1997 nicht nur seine eigenen Fälle bearbeitet, er war als Oberstaatsanwalt auch zuständig für die Zuteilung von Verfahren, das heißt, er entschied, welcher Kollege welchen Fall übernehmen sollte. Und damals hatten wir eine ganz große Sache auf dem Tisch.» Er schaute Escher fragend an.
«Mach ruhig weiter», sagte der.
Stein machte das alles offensichtlich Freude. «Da gab es, und vermutlich gibt es den leider immer noch, einen Ring von kroatischen Menschenhändlern, der junge Frauen aus dem Ostblock, vor allem aus Rumänien und Bulgarien, an Bordelle am unteren Niederrhein verkauft hat. Der vermeintliche Drahtzieher war ein Herr Vuckovic, der in Moers-Kapellen lebt. Aufgeflogen ist die Geschichte durch einen gewitzten Standesbeamten in Kleve, dem aufgefallen war, dass er ungewöhnlich viele Eheschließungen hatte zwischen deutschen Männern und Damen aus dem Ostblock, die kein Wort Deutsch sprachen. Der Verdacht der Scheinehe lag also auf der Hand. Ein äußerst tüchtiger Kollege von Ihnen aus Wesel hat für uns die Sache wasserdicht gemacht, sodass wir den ehrenwerten Herrn Vuckovic am Wickel hatten. Dessen Anwalt, ein ziemlicher Hochkaräter, würde ich sagen, hat von Anfang an darauf bestanden, den Fall in Moers zur Verhandlung zu bringen, sodass wir den Eindruck hatten …» Stein grinste. «Drücken wir es mal so aus, dass der ein oder andere Moerser Kollege von der Bande nicht ganz unbeeinflusst war. Gernot hat natürlich mit allen Mitteln versucht, den Fall in Kleve zu behalten.»
Toppe holte seine Zigaretten aus der Tasche. «Darf ich?»
«Aber immer!» Stein schob ihm einen Zinnaschenbecher hinüber.
«Kann ich mir eine bei Ihnen schnorren?», fragte Escher. «Danke! Interessant ist übrigens: Der Fall ist später tatsächlich nach Moers gegangen und bis heute nicht zur Verhandlung gekommen.»
Toppe stutzte. «Aber wieso haben Sie ihn doch noch abgegeben?»
«Das geht auf meine Kappe», gab Stein zu. «Wir hatten zu wenig Leute. Gernot ist zwei Tage nach Alinas Verschwinden vom Dienst suspendiert worden, zwei weitere Kollegen waren krank, und wir hatten die Entführung. Wir hatten einfach nicht die Möglichkeit, ein so großes Verfahren ordentlich zu bearbeiten.»
«Und wann haben Sie den Fall abgegeben?», fragte Toppe.
«Vierzehn Tage nach Gernots Suspendierung.»
«Da lief die Rufmordkampagne in der Zeitung schon», meinte Toppe nachdenklich. «Es passt alles zusammen. Der Entführer ruft an, verlangt Geld, denn es soll wie eine echte Entführung aussehen. In Wirklichkeit will der Mann, dass Herr Escher den Fall nach Moers abgibt, weil die Bande dort einen Staatsanwalt gekauft hat. Nach zwei Tagen wird Herr Escher suspendiert und ist damit nicht mehr für die Verteilung der Verfahren zuständig, und als dieses Schmierentheater in der Presse losgeht, dürfte denen klar gewesen sein, dass er auch nicht mehr ans Gericht in Kleve zurückkehren würde.»
«So haben wir uns das auch gedacht», bestätigte Stein. «Es war sinnlos geworden, Gernot zu erpressen, deshalb kamen keine weiteren Anrufe. Ich könnte mir vorstellen, dass sie als Nächstes mich in die Mangel genommen hätten, aber anscheinend haben die nicht so schnell herausgefunden, dass ich Gernots Aufgabe übernommen hatte.»
«Und dann kam denen der Zufall zu Hilfe, Ihr personeller Engpass nämlich», schloss Toppe.
«Es gibt bei unserer schönen Konstruktion nur zwei Probleme», wandte Escher mit rauer Stimme ein. «Erstens, wenn ich für diese Kerle nicht mehr interessant war, wieso haben die dann unser Kind nach drei Tagen nicht einfach freigelassen?»
Unbehagliches Schweigen machte sich breit.
«Und zweitens, in den gesamten Unterlagen zum Frauenhandel taucht kein Deutscher auf, und der Anrufer hat Hochdeutsch gesprochen, ohne jeglichen Akzent.»
Toppe sah ihm in die Augen. «Beide Probleme werden wir lösen.»
Stein lachte leise. «Das schätze ich so an Ihnen, Herr Toppe. Ich wünschte wirklich, Sie hätten in der Soko gesessen, vielleicht wäre die Sache dann anders gelaufen.»
Toppe winkte verlegen ab. «Kann ich die Unterlagen mitnehmen?»
«Ich bitte darum! Wir haben die vollständige Akte in Moers angefordert. Sobald die kommt, schicke ich sie Ihnen per Kurier.»
Das Ehepaar Schönfelder wohnte im ersten Stock eines Vierfamilienhauses in Rindern. Der Mann war nicht zu Hause, er arbeitete als Maler und Lackierer. Frau Schönfelder war ein wenig pummelig, hatte einen blonden Pagenkopf, und ihr rundes Gesicht verriet, dass sie normalerweise gern lachte. Jetzt sah sie ein bisschen erschrocken aus, wie die meisten Leute, wenn unerwartet die Kripo bei ihnen auftauchte.
Die Wohnung erinnerte an eine Puppenstube, zierliche Möbel, bestickte Deckchen, Seidenblumen und jede Menge bunter Nippes.
Frau Schönfelder bat Cox und Astrid ins Wohnzimmer. Dort plätscherte auf einem Schränkchen ein Zimmerbrunnen munter vor sich hin, die Balkontür stand offen und gab den Blick frei auf die große Kastanie vor dem Haus. Die Frau hatte anscheinend gerade gebügelt, zwei Wäschekörbe standen neben dem Bügelbrett, an dem barocken Rahmen eines Stilllebens hingen auf Kleiderbügeln drei makellos glatte Oberhemden. Der Fernseher war auf einen Kaufkanal eingestellt.
Schönfelders Mutter schaltete das Gerät aus, setzte sich, nachdem Astrid und Cox auf dem Sofa Platz genommen hatten, auf die Sesselkante und faltete die Hände im Schoß.
«Ich weiß nicht, wohin unser Bastian gefahren ist.» Es war ihr sichtlich unangenehm. «Er hat angerufen und gesagt, er ist drei Wochen weg, und ob ich die Blumen gießen würde. Dabei sind die doch längst alle vertrocknet.»
Als sie aufschaute, hatte sie Tränen in den Augen. «Wir haben nicht mehr viel Kontakt seit … seit dieser schrecklichen Geschichte. Warum suchen Sie meinen Sohn denn?»
«Er könnte uns vielleicht bei einer Ermittlung helfen», antwortete Cox ausweichend.
Frau Schönfelder musterte ihn. Erst jetzt schien ihr der cremefarbene Anzug mit der geblümten Weste aufzufallen, besonders staunte sie über den breitkrempigen Strohhut, den er auf dem Schoß hielt.
«Sie sprachen von einer schrecklichen Geschichte», hakte Astrid nach. «Was meinten Sie denn damit?»
«Mein Sohn hat im vorigen Jahr seine Frau und seinen kleinen Sohn verloren. Es war furchtbar, ganz schrecklich. Bastian und Saskia waren schon in der Schulzeit ein Paar, sie haben zusammen mittlere Reife gemacht. Unser Junge war immer sehr strebsam. Ich weiß gar nicht, auf wen der kommt.»
1997 hatten die beiden geheiratet, und als anderthalb Jahre später das Kind geboren wurde, hatte Saskia ihre Arbeit bei der Kreisverwaltung aufgegeben, um ganz für die Familie da zu sein. Im letzten Sommer hatten sie Urlaub in Holland gemacht, in Renesse. Und bei einem Spaziergang hatte ein Auto Saskia mitsamt dem Kinderwagen überfahren. Frau und Kind waren auf der Stelle tot gewesen, der Fahrer war geflüchtet.
«Und unser Bastian hat das alles mit ansehen müssen und nichts tun können.»
«Mein Gott, wie grausam!», entfuhr es Astrid. «Es tut mir so Leid.»
Die Mutter nickte. «Und seitdem ist er einfach nicht mehr der Alte.» Sie schluckte tapfer die Tränen hinunter. «Nein, das stimmt eigentlich gar nicht», verbesserte sie sich. «Irgendwie tut der so, als wäre gar nichts passiert. Es gruselt einen richtig. Ich hab ihn nicht ein einziges Mal weinen sehen, und er hat nach dem Unfall nicht einen Tag auf der Arbeit gefehlt. Die Polizei hat ihm gesagt, er soll als Nebenkläger auftreten – man hat den Kerl, der sie totgefahren hat, nämlich doch noch erwischt –, wollte er aber nicht. Er ist nicht mal zur Gerichtsverhandlung gegangen. Und zu uns kommt er auch nicht mehr. Dabei hatten wir früher viel Kontakt. Aber seitdem? Nichts! Ganze zweimal war er bei uns, an Weihnachten und jetzt im Juli, wie mein Mann Geburtstag hatte. Und da hat er über, ich weiß nicht, übers Wetter gesprochen und solche Sachen. Ich bin öfters bei ihm gewesen und hab gedrängelt: Jung, du musst zum Doktor, du musst zu einem, der dir helfen kann, aber da hat er nie was drauf gesagt. Ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Die Freunde, die die zwei hatten, die kriegen ihn auch nicht mehr zu Gesicht.»
Ein gewaltiges Gewitter braute sich zusammen, der Himmel, bleigrau, drückte auf die Erde, dass das Atmen schwer wurde. Die Fenster im Büro waren weit geöffnet, aber das brachte keine Erleichterung, nichts regte sich. Die ersten fernen Blitze, es roch nach Schwefel.
«Dann war es doch der Kinderwagen», sagte van Appeldorn in die knisternde Stille hinein.
Toppe drehte sich vom Fenster weg zu ihm um.
«Den Kinderwagen in Griethausen, meine ich. So wie seine Mutter Bastian Schönfelder beschreibt, ist dieser Mann schwer traumatisiert.»
Astrid stimmte ihm zu. «Ich finde es ganz schrecklich, aber genau verstehen tu ich es nicht. Schönfelder wird zufällig Zeuge, wie Geldek Frau Wächter und ihr Baby in Griethausen fast über den Haufen fährt. Er dreht durch, verfolgt Geldek und erschlägt ihn. Aus Rache, oder was? Stellvertretend für den Mann, der Saskia und seinen Sohn auf dem Gewissen hat?»
«Nein, so simpel ist das nicht», antwortete van Appeldorn. «Für Traumata bin ich mittlerweile ja quasi Experte.» Es klang nicht bitter, eher ein wenig entschuldigend. «Wenn Schönfelder die Szene in Griethausen erlebt, dann ist er plötzlich wieder in Renesse. Sein Erlebnis dort überlagert die Realität. Beides ist für ihn deckungsgleich. Und das kann er nicht kontrollieren. Er handelt so, wie er in Renesse handeln wollte. Vor ihm steht nicht Geldek, sondern der Mann, der seine Familie auf dem Gewissen hat.»
«Die arme Sau», murmelte Cox. «Was für ein bekloppter Zufall! Ich meine, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass man in seinem Leben auch nur einmal live dabei ist, wenn eine Frau mit Kinderwagen von einem Auto angefahren wird? Die tendiert doch gegen null!»
Der erste Donner ließ alle zusammenfahren. Eine bedrohliche Windbö brachte die Fensterflügel zum Schlagen, aber noch fiel kein Tropfen, die Luft war sirupdick.
Astrid zog die Schultern zusammen und rubbelte sich die Oberarme. «Ich mach die Fenster zu.»
«Nein.» Van Appeldorn hielt sie zurück. «Warte, bis es regnet, damit wir endlich ein bisschen Luft kriegen.»
«Aber mir ist unheimlich.»
Toppe stellte sich hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern. «Wir müssen Schönfelder finden.»
Van Appeldorn rollte seinen Stuhl an den Computer. «Gut, geben wir ihn in die Fahndung. International wohl, wenn er in Urlaub gefahren ist.»
«Ach, komm», meinte Cox. «Urlaub! Der ist abgetaucht.»
«Das glaub ich nicht», erwiderte van Appeldorn. «Der hat keine Angst, geschnappt zu werden, weil er sich nicht schuldig fühlt. Für den sind beide Ereignisse ein und dasselbe. Ich bin mir nicht sicher, aber ich könnte mir vorstellen, er weiß gar nicht, was er getan hat, und wenn, dann ist es ihm völlig egal.»
Blitz und Donner kamen gleichzeitig, und endlich ließ der Himmel los. Es schüttete von nichts auf gleich mit solcher Wucht, dass die Regentropfen von den Fensterbänken bis auf die Schreibtische spritzten.
Schließlich war es Cox, der die Fenster schloss. «Bevor wir Schönfelder in die Fahndung geben, könnten wir noch eines probieren.» Er musste laut sprechen, denn es krachte und knallte ohne Unterlass. «Hier!» Er hielt einen Ring mit drei Schlüsseln hoch. «Hat mir die Mutter gegeben. Vielleicht finden wir in Schönfelders Wohnung einen Hinweis darauf, wo er jetzt steckt.»