Sieben

Es war zwar eine Menge Routinearbeit zu erledigen, aber im Augenblick gab es noch keine viel versprechende Spur, der sie dringend folgen mussten, und so hatten sie den Wochenenddienst unter sich aufgeteilt.

Als Norbert van Appeldorn gegen neun ins Präsidium kam, bereute er, dass er sich so bereitwillig für den Samstag gemeldet hatte. So langsam machte sich der ständige Schlafmangel bemerkbar, die Glieder waren ihm schwer, sein Kopf wie mit Watte gefüllt. Er knurrte nur, als Cox ihn freundlich begrüßte. «Ein bisschen Bewegung könnte uns gut tun, hab ich gedacht, oder? Damit wir hier kein Moos ansetzen. Wir fahren gleich nach Geldern.»

«Ach was?» Van Appeldorn ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen.

«Ja, oder hast du was dagegen? Korten sitzt in Pont und ich habe uns einen Termin beim dortigen Sicherheitsinspektor geben lassen. Wir können sofort losfahren.»

«Willst du ‹Polizist des Monats› werden.»

Wortlos wandte Cox sich ab und holte seinen Trenchcoat aus dem Schrank.

Van Appeldorn wischte sich über die Augen. «Schon gut, ich hab eine Stinklaune, ich weiß. Sei nicht sauer.»

Cox gab sich einen Ruck. «Ich bin auch nicht besonders gut drauf. Willst du vorher noch einen Kaffee?»

Aber van Appeldorn schüttelte den Kopf, ihm war schon flau genug. «Was ist denn mit dir? Hast du Probleme?»

«Na ja», druckste Cox. «So kann man’s wohl nicht nennen …»

«Jetzt red schon!»

«Ach, ich hab da vor ein paar Monaten eine Frau kennen gelernt, im Internet …»

Van Appeldorn konnte sich das Lachen nicht verbeißen. «Erzähl mal was Neues!»

«Das versuch ich ja gerade, du Affe! Es ist anders als sonst … ich meine, wir sind uns ziemlich nahe gekommen, wie man so sagt. Sie heißt Irina und lebt in Nowosibirsk.»

«Ich wusste gar nicht, dass du Russisch kannst.»

«Praktischerweise ist sie Deutschlehrerin. Jedenfalls wollen wir uns treffen, aber das geht nur, wenn sie herkommt und ich die Reise bezahle.»

«Und das kannst du dir nicht leisten, oder was?»

«Quatsch! Das Problem ist, ihr Visum gilt für zwei Monate, und so lange will sie auch bleiben.»

«Wo? Bei dir zu Hause?»

«So sind die Bestimmungen», nickte Cox.

Van Appeldorn runzelte die Stirn. «Ich weiß nicht, ich glaube, das würde ich mir nicht unter die Füße holen. Was ist, wenn sie dir nach drei Tagen auf die Nerven fällt? Oder wenn sie dich nicht riechen kann?»

«Eben, genau das liegt mir ja im Magen.» Cox holte seine Brieftasche heraus und hielt ihm ein Foto hin. «Das ist sie.»

Van Appeldorn warf einen kurzen Blick auf das Bild und stieß einen Pfiff aus. «Die ist Lehrerin? Bist du sicher?» Er betrachtete das Foto ausgiebig und gab es dann zurück. «Das könnten zwei sehr … ähm … interessante Monate werden, wenn du mich fragst.»

 

Währenddessen saß Toppe mit seiner Tochter am Frühstückstisch.

Wohl oder übel musste er auf die Zeitungslektüre verzichten, denn Astrid war beim Friseur, und Katharina wollte unterhalten werden.

«Ich weiß, was wir machen, wenn Mama wieder hier ist», sagte er, bestrich ein halbes Brötchen mit Butter und Erdbeermarmelade und legte es ihr auf den Teller. «Wir fahren alle drei an den Rhein, ja? Weißt du, an den Fluss, wo die großen Schiffe fahren. Und da baue ich mit dir eine Sandburg.»

«Mit Tunnel?»

«Mit zwei Tunnels, mindestens, und mit einer Brücke. Wer weiß, vielleicht können wir sogar im Wasser rumplanschen.»

Sie ruckelte an ihrem Stuhl. «Ich hole meine Sswimmflügel!»

Aber er hielt sie zurück. «Das können wir doch gleich noch machen.» Eigentlich war es zum Baden zu kalt.

Katharinas Augen verdunkelten sich, und sie fing an, die Marmelade vom Brötchen zu lecken. «Nein», meinte sie schließlich bestimmt. «Ich will zu Niko!»

Toppe nahm ihr das Brötchen weg. «Entweder du isst die Marmelade mit dem Brot oder du kriegst gar nichts!»

Sie legte den Kopf schief. «Okay», sie lächelte und streckte die Hand aus.

Er gab ihr das Brötchen zurück. «Du möchtest also lieber zum Ponyhof?»

«Ja, ich will zu Niko. Mit Oma und Opa!»

Toppe köpfte sein Ei.

«Gut», sagte er dann und räusperte sich. «Wenn Mama zurückkommt, fahren wir zum Ponyhof. Niko muss doch endlich mal deinen Papa kennen lernen, meinst du nicht?»

«Stimmt!» Sie strahlte, dann überlegte sie. «Niko kennt die Katharina und die Mama und die Oma und den Opa und den Clemens. Wir sind Freunde. Ponys müssen Freunde haben, ne?»

«Da hast du Recht, das glaub ich auch.»

«Clemens ist jetzt auch mein bester Freund, hat er gesagt.»

Toppe schaute alarmiert hoch. «Arbeitet Clemens auf dem Ponyhof?»

Aber Katharina plapperte schon weiter. «Melanie ist meine beste Freundin im Kindergarten und dann noch Tobias und Meike und Clemens. Aber der ist schon groß. Und die Mama ist deine beste Freundin, ne?»

Dann spitzte sie plötzlich die Ohren, ein Auto hielt vor dem Haus. «Mama!», jubelte sie, rutschte vor bis an die Stuhlkante, ließ sich zu Boden gleiten und flitzte in den Flur.

Toppe hörte den Schlüssel im Türschloss, den erstickten Aufschrei seiner Tochter: «Mami!», und ein Wimmern.

Er sprang auf, blieb aber sofort wie angewurzelt stehen.

«Meine Mama», schluchzte Katharina.

Astrid ging in die Hocke, drückte das Kind an sich und sah ihn an, Tränen in den Augen.

Er hatte ihr langes Haar geliebt, war verrückt danach gewesen.

«Ich will meine Mama!»

«Mäuschen, ich bin doch deine Mama! Das sind doch nur neue Haare. Komm, fühl mal.»

Astrid nahm Katharinas Händchen und fuhr damit über den streichholzkurzen Garçonschnitt. «Schön weich, nicht?»

«Nein! Ich will meine Mama!»

Toppe nahm seine Tochter auf den Arm, und sie versteckte ihr Gesicht in seiner Halsbeuge. Astrid hob hilflos die Hände.

«Du siehst gut aus», sagte er und trug das Kind in die Küche zurück.

 

«Nicht da?», rief Cox ungläubig. «Wieso ist Korten nicht da? Sie wussten doch, dass wir mit ihm sprechen wollten!»

«Falsch», erwiderte der Justizbeamte stur. «Sie haben einen Termin mit dem Sicherheitsinspektor vereinbart, und der bin ich. Davon, dass Sie auch mit Korten sprechen wollten, war nicht die Rede. Das wäre ja auch gar nicht möglich, denn Korten ist schon gestern Mittag in Urlaub gegangen. Sein Ausgang war seit langem genehmigt, und wir hatten keinen Grund, ihn zu streichen.»

«Das kann doch wohl nicht wahr sein!» Cox stieg die Zornröte ins Gesicht. «Ich erkläre Ihrem Kollegen am Telefon lang und breit, worum es geht, und der sagt mir nicht mal, dass Korten gar nicht da ist!»

«Tja, was Sie am Telefon gesagt haben, weiß ich nicht. Ich war ja nicht dabei», entgegnete der Beamte spitz.

Van Appeldorn machte eine ungeduldige Handbewegung. «Komm, lass stecken, ich hab keine Lust, mich über eure Pappnasen hier aufzuregen, jetzt ist es eh zu spät. Wann kommt Korten zurück?».

«Morgen Abend.»

Kurt Korten war noch nicht allzu lange Freigänger. Er hatte die Anstalt bisher nur an wenigen Wochenenden verlassen und war am letzten Mittwoch definitiv nicht draußen gewesen. Als Mörder und Langzeithäftling stand er in der Knasthierarchie ziemlich weit oben und war auch kein Duckmäuser, aber er hielt sich meist an die Regeln, es hatte nie grobe Verstöße gegeben. Über seine Außenkontakte gab es nicht viel zu berichten. Die freien Wochenenden verbrachte er bei seiner Mutter in Duisburg, einer anständigen Frau, die sich nie etwas zuschulden hatte kommen lassen. Theoretisch bestand natürlich die Möglichkeit, dass Korten einen früheren Mithäftling mit Geldeks Ermordung beauftragt hatte, meinte der Beamte, und sie könnten sich ja auch gleich mal die möglichen Kandidaten aufschreiben, aber im Grunde glaube er nicht daran.

«Als Korten gehört hat, dass Geldek über die Klinge gesprungen ist, war er völlig schockiert. Der hat Rotz und Wasser geheult.»

«Ach, kommen Sie», meinte van Appeldorn ungeduldig. «Der muss doch einen Riesenhass auf Geldek gehabt haben. Schließlich hat der ihn damals fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, ihn quasi geopfert und verraten.»

«Eben nicht! Als ich hörte, dass Sie wegen Korten kommen, hab ich extra nochmal mit dem Abteilungsleiter telefoniert, der Korten am besten kennt, und der hat das bestätigt: Korten hat an Geldek gehangen, und er trauert um ihn.»

 

Katharina hatte ihren Kummer über Astrids Veränderung längst vergessen und konnte nicht schnell genug aus ihrem Kindersitz befreit werden, als sie am Reiterhof ankamen.

«Clemens!», quietschte sie und trippelte über den Hof auf einen Mann zu, der gerade mit zwei schweren Eimern aus der Scheune kam.

Toppe hielt Astrid zurück. «Wer ist dieser Typ?»

«Clemens?», fragte sie, verwundert über seinen barschen Ton. «Der arbeitet hier, Clemens Böhmer. Ist ganz nett, glaub ich, ein bisschen verschlossen, aber mit den Kindern geht er großartig um.»

Als der Mann die Eimer abstellte und sich zu der plappernden Katharina herunterbeugte, verlor sich sein vorher so mürrischer Gesichtsausdruck.

«Mit allen Kindern?», fragte Toppe. «Oder nur mit süßen kleinen Mädchen?»

«Wirklich, Helmut, du witterst nur noch Unheil überall!» Astrids Lachen klang gezwungen. «Clemens ist völlig harmlos. Er ist einfach nur nett. Zu den Mädchen genauso wie zu den Jungen. Er mag sie eben.»

Sie blieb stehen, um eine Gruppe von Kindern mit ihren Ponys vorbeizulassen, dann hakte sie sich bei ihm ein. «Jetzt komm und bring es hinter dich.»

Toppe sah sich argwöhnisch um. «Ist hier immer so viel Betrieb?»

«Nur an den Wochenenden. Normalerweise trifft man meist nur die Leute, die ihre Pferde hier stehen haben. Aber samstags und sonntags kommen natürlich viele Familien, die sich Tiere für einen Ausritt leihen.»

Katharina hatte sich an Böhmers Arm gehängt. «Papa! Komm!»

Toppe streckte dem Mann seine Hand entgegen. «Toppe, guten Morgen. Wir kennen uns noch nicht.»

Böhmer blickte ihn aus zimtbraunen Augen verdrossen an. «Angenehm, Böhmer.»

Von seiner Größe und Statur her wäre er der ideale Jockey gewesen, aber seine Haltung, Rundrücken und Hängeschultern, war schlaff und merkwürdig energielos.

Toppe hatte seine Kindheit und Jugend in der Stadt verbracht, und die größten frei laufenden Tiere, denen er damals begegnet war, waren Hunde gewesen. Seit er am Niederrhein lebte und arbeitete, hatte sich der Kontakt zu anderen Tierarten nicht immer vermeiden lassen, aber Pferde und Kühe in unmittelbarer Nähe machten ihn immer noch nervös.

Niko war angenehm klein und schien ihm einigermaßen wohl gesonnen, schnoberte an seiner tapfer ausgestreckten Hand. Katharina war völlig aus dem Häuschen, ließ sich hochheben, um dem Pony einen Kuss zu geben, und wollte reiten.

Astrid setzte sie aufs Pferd und zwinkerte Toppe zu. «Reiten bedeutet, ich führe sie eine Runde um den Hof. Dauert nicht lange», flüsterte sie.

Toppe zündete sich eine Zigarette an und blickte ihr nach. Kurze Löckchen kringelten sich in ihrem Nacken, der ihm auf einmal zerbrechlich vorkam. Katharina jauchzte vor Freude, und Astrid drehte sich zu ihm um. Die neue Frisur ließ ihre Augen größer wirken, betonte die Wangenknochen. «Sie ist wunderschön», dachte er traurig.

Er fuhr zusammen, als ein mächtiger Schimmel angedonnert und wenige Meter neben ihm zum Stehen kam. Seine Reiterin saß geschmeidig ab, zog die Kappe vom Kopf und schüttelte ihre silberblonde Lockenmähne. Plötzlich kreischte sie auf, so schrill, dass ihm die Ohren klingelten: «Asssi? Ich werd verrückt!» Sie rannte über den Hof. «Bist du das wirklich? Das gibt’s doch gar nicht!»

«Mareike!» Die beiden Frauen umarmten sich, dabei schnatterte Mareike schon weiter: «Was für eine tolle Frisur! Ich hätt dich fast nicht erkannt. Steht dir sagenhaft gut. Reitest du endlich wieder? Hast du ein neues Pferd?»

«Nein, nein, meine Tochter fängt gerade an zu reiten.» Astrid klang verlegen. «Ihr Pony steht hier.»

Jetzt erst bemerkte Mareike das Kind. «Ach genau, Mensch, du hast ja Nachwuchs gekriegt. Das ist deine Tochter? Ist die niedlich!» Sie kraulte Katharina unterm Kinn. «Na, wie heißt du denn, Süße?»

Katharina verzog trotzig den Mund und drehte das Gesicht weg, aber das schien Mareike nicht aufzufallen. «Meine Güte, ja, Kinder, ich hätte gar keine Zeit dafür. Du weißt, dass Robert und ich uns getrennt haben? Die Agentur mache ich jetzt ganz alleine. Ich kann dir sagen, das stresst vielleicht! Man kommt zu gar nichts mehr, nicht mal mehr zum Reiten. Ich such schon seit Ewigkeiten jemanden, der Hector regelmäßig bewegt. Aber das kann natürlich nicht irgendwer sein.»

Katharina fing an zu knaatschen. «Mir ist langweilig.»

Toppe trat seine Zigarette aus und überquerte den Hof.

«Sei mal still, Schätzchen!» Mareike strich sich eine Locke aus dem Gesicht. «Mensch, das ist ja überhaupt die Idee, Assi! Hättest du keine Lust, Hector zu reiten? Du wärst einfach ideal.»

Astrid zuckte skeptisch die Achseln und sah Toppe entgegen. Mareike drehte sich um. «Halloo … ist das dein … Mann? Tagchen! Ich habe Assi gerade vorgeschlagen …»

«Mama!», brüllte Katharina, mittlerweile fuchsteufelswild. «Ich will reiten!»

Toppe schaute sie tadelnd an, griff dann aber nach dem Halfter. «Ich dreh die Runde mit den beiden. Bleib du ruhig hier.»

Astrid starrte ihn verblüfft an, sagte aber nichts.

«Und ich finde die Idee übrigens prima», setzte er hinzu. «Du hattest doch eh vor, wieder zu reiten.» Behutsam zog er am Halfter, aber Niko schnaubte nur und senkte den Kopf.

«Ssnalzen», belehrte ihn Katharina. «Wir müssen immer ssnalzen.»

Endlich setzten sie sich in Bewegung, und während ihm vor Anspannung der Rücken schweißnass wurde, hörte er Mareike weiterquasseln: Wie «phantastisch» dieses Wiedersehen sei, gerade heute, wo doch abends der jährliche Reiterball ins Haus stünde. Wenn das kein Wink des Schicksals wäre! «Alle von früher» würden da sein. Sogar Jörg sei wieder im Lande und tatsächlich immer noch «solo», und wie der wohl staunen würde, wenn seine «alte Flamme» plötzlich vor ihm stünde. «Du musst einfach kommen, Assi!»

Dann senkte Mareike ihre Stimme, aber Toppe konnte sie ohne Mühe verstehen. «Oder macht dein Gespons dir etwa Schwierigkeiten?»

Astrid murmelte irgendetwas und rief: «Helmut, hast du Lust, heute Abend auf einen Reiterball zu gehen?»

«Augenblick, bin gleich da», antwortete er und umfasste Katharina, die sofort losschimpfte: «Nich festhalten, Papa! Ich kann das alleine.»

«Na, was meinst du?» Er las die Bitte in Astrids Augen. «Wär doch bestimmt mal lustig.»

«Bestimmt, aber heute Abend kann ich wirklich nicht. Ich hab mir eine Akte mitgenommen, die ich durchsehen will.» Er wusste genau, wie lahm das klang. «Warum gehst du nicht alleine? Wir müssen doch nicht beide zu Hause hocken», fügte er hinzu und schenkte Mareike ein besonders gewinnendes Lächeln. «Du hast doch Gesellschaft.»