Drei

Schon gestern Nachmittag waren vereinzelt Reporter an der Unfallstelle aufgetaucht, aber heute wartete ein ganzer Pulk von Journalisten und Fotografen auf dem Parkplatz am Präsidium, als van Appeldorn zum Dienst kam, und umringte sofort sein Auto. Er stieg aus und wandte sich entschieden dem Eingang zu, aber das beeindruckte die Leute wenig.

«Handelt es sich um einen Unfall mit Fahrerflucht?» – «Warum ist Geldek in die Pathologie gebracht worden?» – «Schildern Sie uns den Unfallhergang!»

«Ich schildere Ihnen gar nichts!», raunzte van Appeldorn unfreundlich zurück und drängte sich vorbei. «Wir geben Ihnen später den Termin für die Pressekonferenz durch. Bis dahin werden Sie sich leider gedulden müssen.»

Die Luft war schwer von Feuchtigkeit, und er war müde. Toppe hatte ihn gestern Abend noch einmal an den Unfallort gerufen, um nach der vermaledeiten Tatwaffe zu suchen. Der anhaltende Regen hatte es ihnen nicht erlaubt, den Ort lediglich abzusichern und auf Tageslicht zu warten. Und so waren sie, nass bis auf die Haut, bis nach Mitternacht durch den Morast gekrochen, hatten Sand- und Grasproben genommen und tatsächlich auch ein paar Steine gefunden. Keiner davon hatte so ausgesehen, als wäre ein Mensch damit erschlagen worden, aber wusste man’s?

Toppe hatte die Sachen noch ins Labor gebracht. Bestimmt war van Gemmern immer noch da gewesen und hatte alles in Empfang genommen. Klaus van Gemmern mit seinen ewig entzündeten Augen und dem Geruch nach ungewaschenen Klamotten und zu wenig Essen.

Oben auf dem Flur kam ihm Peter mit einer Kanne Kaffee entgegen.

Peter Cox war erst seit knapp zwei Jahren beim KK 11, aber er hatte sich schnell ins Team eingefügt, und wenn man seine zahlreichen Marotten nicht zu ernst nahm, ließ sich gut mit ihm arbeiten.

Wie immer trug er zum maßgeschneiderten Anzug ein kragenloses Hemd, heute in sommerlichem Dottergelb, und wie immer war er der Erste im Büro. Er nickte grüßend. «Es gibt Arbeit, hab ich gehört. Warum habt ihr mir denn nicht sofort Bescheid gesagt?»

«Ganz einfach, du hattest keinen Dienst», antwortete van Appeldorn und lächelte. «Ich hab’s trotzdem versucht, aber dein Handy war nicht eingeschaltet.»

«Ach so, na ja, ich hatte eine Verabredung», druckste Cox, scheinbar verlegen.

Van Appeldorn feixte. «Im Internet?»

Peter Cox war mit seinen 41 Jahren immer noch Junggeselle und ohne feste Freundin, und in letzter Zeit schien ihm dieser Zustand nicht mehr zu behagen.

«Nee, in der Sauna», grinste er zurück.

«Interessant! Gibt es da etwas, das wir wissen sollten?»

Cox winkte ab. «War ein Flop.»

Van Appeldorn schloss die Tür zu dem Büro auf, das er sich normalerweise nur mit Astrid Steendijk teilte, aber heute würden sie wohl alle vier hier zusammenrücken müssen. Er fing an, Stühle zurechtzuschieben, und schüttelte wieder einmal innerlich den Kopf über Helmut Toppe, dem als Abteilungsleiter eines der geräumigen Büros im Verwaltungstrakt zustand, das für Teamsitzungen bestens geeignet wäre. Aber Helmut hasste es, den Chef raushängen zu lassen, und hatte dankend auf den Komfort verzichtet. Er zog es vor, sich mit Cox das Kabuff nebenan zu teilen.

Peter Cox goss zwei große Becher Kaffee ein.

«Mm, Kaffee!» Astrid, die gerade mit Toppe zur Tür reinkam, schnupperte wohlig. «Gibst du mir auch einen? Wir waren heute wieder so spät dran, dass es gerade mal zu einem Schluck im Stehen gereicht hat.» Sie drehte sich um. «Willst du auch eine Tasse, Helmut?»

Toppe brummte zustimmend. «Aber gieß noch nicht ein, ich muss erst noch eine Akte holen.» Er warf seine Regenjacke auf den Stuhl, der am nächsten stand. «Kann einer von euch in der Zwischenzeit zwei Tafeln besorgen? Ach ja, und jemand sollte rüber zum ED und gucken, wie weit van Gemmern ist.»

Es dauerte seine Zeit, bis van Appeldorn den Unfallort auf der Tafel skizziert hatte. Toppe schrieb währenddessen die verschiedenen Verletzungen des Opfers in Rubriken auf die andere Tafel und wollte gerade anfangen, Bonhoeffers Schlussfolgerungen zu erläutern, als van Gemmern kam.

«Meine Güte», entfuhr es Astrid, «du siehst aus wie ein Zombie! Hast du letzte Nacht überhaupt ein Bett gesehen?»

Van Gemmern schaute geistesabwesend in ihre Richtung. «Nicht so wichtig.» Dann legte er Toppe einen Stapel Fotos auf den Tisch und trat an die Tür zurück. «Ich mach’s ganz kurz: Im Innern des Fahrzeugs gab es keinerlei Blutspuren. Die Blutspuren draußen stammen ausschließlich vom Opfer. Der Gurt ist nicht gerissen. Er ist geöffnet worden, den Fingerspuren nach vom Opfer selbst.» Er schob die Brille hoch und rieb sich kurz die Nasenwurzel. Seine Augen waren trüb. «Die Bremsspuren vom entgegenkommenden Fahrzeug sind frisch. Es handelt sich vermutlich um ein älteres Modell.»

«Und wie kommst du darauf?», wollte van Appeldorn wissen.

«Das Fahrzeug verfügt nicht über ABS», antwortete van Gemmern und richtete seine Brille wieder. «Eine letzte Sache noch, dann muss ich zu meinen Steinen zurück. An der hinteren Stoßstange des Unfallwagens gibt es eine ganz frische Impression mit Absplitterungen und Spuren von schwarzem Kunststoff.»

«An der hinteren Stoßstange?», hakte Toppe nach.

Van Gemmern nickte.

«Und welche Art von Kunststoff?»

«Das kann ich in unserem Labor leider nicht analysieren. Aber ich schicke die Stoßstange heute noch ein. Vielleicht haben die beim LKA ja gerade ein Sommerloch.» Seine Mundwinkel zuckten. «Dann können wir bestimmt schon in sechs bis acht Wochen mit einem Ergebnis rechnen.»

Und damit war er wieder verschwunden.

«Irre ich mich, oder hat der gerade einen Scherz gemacht?», meinte Cox verblüfft.

Van Appeldorn befestigte die Fotos, die van Gemmern gebracht hatte, neben seiner Skizze, und es blieb eine Weile still. Jeder versuchte, seine Eindrücke vom Tatort und von der Leiche zu sortieren.

Schließlich nahm Toppe den Faden von vorhin wieder auf. «Zumindest einen sicheren Schluss können wir aus Geldeks Verletzungen ziehen: Der Täter ist Rechtshänder.»

Astrid betrachtete nachdenklich die Unfallskizze. «Also, wie muss ich mir das vorstellen?», meinte sie langsam. «Geldek fährt auf diesem Weg. Kurz bevor es wieder zur Deichstraße hochgeht, kommt ihm, mit hoher Geschwindigkeit vermutlich, ein anderes Auto entgegen. Geldek muss ausweichen – nach links, denn rechts ist der Damm – und prallt gegen das Gatter.»

«Dabei trägt er nur leichte Verletzungen davon», ergänzte Toppe.

Astrid knabberte an ihrem Daumennagel. «Geldek sieht rot und rastet aus. Wir wissen ja, dass ihm so was schon öfter mal passiert ist, zumindest früher. Er schnallt sich ab, macht die Tür auf …»

«… springt aus dem Wagen und geht auf den Rowdy los», führte van Appeldorn ihren Satz fort. «Aber der wehrt sich, und zwar nicht zu knapp. Muss ganz schön kräftig sein, der Kerl.»

«Meinst du? Ich weiß nicht … Vielleicht war er nur in Panik», entgegnete Astrid. «Ich meine, der Tritt ins Gemächt, der Biss in die Hand, das sieht mir doch eher nach Verzweiflung aus.» Sie schaute sich noch einmal die Fotos von Geldeks Hand mit den Bissmarken an. «Das ist eine komische Stelle.»

«Hab ich auch zuerst gedacht», bestätigte Toppe, «aber inzwischen kann ich mir vorstellen, was abgelaufen ist. Ich glaube, Geldek hat versucht, dem Mann die Luft abzudrücken.» Er ging zu Astrid hinüber. «Steh mal auf, ich zeig’s dir.»

Sie hob zuerst abwehrend die Hände, machte dann aber mit.

«Na ja», meinte sie schließlich skeptisch, nachdem sie mehrere Möglichkeiten durchgespielt hatten, «wenn er Geldeks Hand ein Stück wegzerren konnte und das Kinn gesenkt hat, könnte es vielleicht passen.»

Toppe setzte sich wieder auf seinen Platz. «Ich glaube übrigens nicht, dass dem Täter aus Panik so was wie übermenschliche Kräfte gewachsen sind, Astrid. Wenn du dir die Verletzungen genauer anguckst, war da wohl eher Wut im Spiel.»

Astrid atmete scharf ein und sah ihn gereizt an. «Glaub, was du willst. Ich sehe das anders.»

Van Appeldorn schaute irritiert von einem zum anderen, auch Cox schüttelte leise den Kopf.

Toppe hatte nur kurz die Brauen hochgezogen. «Die Schläge aufs Auge und auf den Unterkiefer sind gezielt und mit großer Kraft geführt worden. Typisch, wenn man jemanden zusammenschlagen will. Auch der Schlag auf den Schädel erfolgte mit großer Wucht.» Er schaute einen Moment ins Leere. «Der Täter greift irgendwann in dieser Prügelei zu einem Stein, der dort liegt. Er, ein Rechtshänder wohlgemerkt, steht mit dem Gesicht zu Geldek und hebt die Hand mit dem Stein. Geldek sieht das und versucht auszuweichen. Deshalb trifft ihn der Schlag von vorn und oben an der linken Schläfe. Geldek fällt nach rechts, und zwar ohne Abwehrbewegung, wie Bonhoeffer an der Art des Armbruches erkennen konnte. Das heißt, er muss durch die Schädelverletzung sofort bewusstlos gewesen sein.»

«Wie groß war Geldek?», fragte van Appeldorn.

Toppe suchte in seinen Notizen. «1,96, dabei 124 kg schwer.»

«Wenn der Schlag Geldeks Kopf von schräg oben trifft, kann der Täter nicht viel kleiner als Geldek sein.»

«Na prima», maulte Astrid. «Wir suchen also einen starken Mann, Rechtshänder, um die 1,90 groß, der ein älteres Auto fährt. Punkt. Oder hab ich was vergessen?»

«Wir haben wahrscheinlich seinen Zahnabdruck und kennen seine DNA», mischte sich jetzt auch Cox ein. «Und wenn eure Theorie stimmt, müsste er Würgemale haben.»

Astrid lachte. «Also gut, einen starken, etwa 1,90 großen, rechtshändigen Mann mit altem Auto, der in der nächsten Zeit nur noch Rollkragenpullover oder Schals trägt.» Sie klang schon wieder versöhnlich.

Van Appeldorn klopfte seine Taschen nach Zigaretten ab und sah sich dann suchend auf den Schreibtischen um. Cox schoss vor und brachte seine Lucky Strikes in Sicherheit. Seine Tagesration war abgezählt, und er konnte es schlecht ertragen, wenn jemand sein System durcheinander brachte.

Van Appeldorn griente kurz. «Tja, könnte schon sein, dass wir so jemanden suchen, allerdings nur, wenn die Bremsspuren auf der Pontonstraße tatsächlich was mit Geldeks Unfall zu tun haben und nicht schon vorher da waren.»

Astrid schob ihm ihre Zigarettenschachtel rüber. «Warum sollte Geldek seine Luxuskarosse zu Schrott fahren, wenn er nicht einem anderen Wagen ausweichen musste?»

Toppe stand auf, um das Fenster zu öffnen. «Irgendwo müssen wir anfangen, und unsere Hypothese ist doch nicht schlecht. Die B 220 ist immer stark befahren. Eigentlich müsste es irgendwelche Zeugen geben.»

«Aufruf an die Zeitungen.» Cox nickte zufrieden und schaltete den PC ein. «Wann machen wir die Pressekonferenz? Heute Nachmittag noch?»

«Es kann doch auch ganz anders gewesen sein.» Van Appeldorn hatte gar nicht hingehört. «Vielleicht hatte Geldek einen Beifahrer, und der hat ihm ins Lenkrad gegriffen», überlegte er. «Wäre genauso gut möglich. Und eine wichtige Frage noch: Was hatte unser Freund eigentlich auf dieser Pontonstraße zu suchen? Seine Frau sagt, er wollte nach Duisburg. Da hätte er, wenn er von zu Hause kam, links auf die Brücke gemusst.»

Toppe schnaubte. «Auf die Aussage dieser Dame kannst du nun wirklich nichts geben. Die war schon damals Geldeks schärfster Wachhund. Hat sie dir erzählt, wann er von zu Hause weggefahren ist?»

«Nein, so weit sind wir ja gar nicht mehr gekommen.»

Cox schaute auf die Uhr und gestattete sich danach die erste Zigarette des Tages. «Auf die Gefahr hin, dass ich euch mal wieder auf die Nerven falle, aber mir sagt der Name Geldek kaum was. Ihr seid dem alle nicht besonders grün, oder lieg ich da falsch?»

Toppe öffnete die alte Akte, die er vorhin geholt hatte. «Eine Sache aus ’91. Astrid und ich haben das damals bearbeitet.» Der Blick, den er ihr zuwarf, war schwer zu deuten. «Norbert war zu der Zeit gar nicht im Dienst. Es schadet also nichts, wenn wir das nochmal zusammen durchgehen.»

Die ersten Daten las er ab: «Eugen Geldek, 1938 in Duisburg geboren, in zweiter Ehe verheiratet mit Martina Marx; beide wohnhaft in Kleve-Brienen, Am Deich 1. 1991 besaßen Geldeks ein Baugeschäft in Duisburg, eine Bauträgergesellschaft in Kleve, mehrere Diskotheken und Spielhallen im Ruhrgebiet und Hotels am Niederrhein und in Holland. Mittlerweile dürften noch so einige Objekte dazugekommen sein. Als Geldek 1984 nach Kleve kam, war er kein unbeschriebenes Blatt: Er hatte etliche Vorstrafen wegen Körperverletzung in den fünfziger und sechziger Jahren, danach, bis Ende der Achtziger, taucht er immer mal wieder auf im Zusammenhang mit Geldwäsche, Bestechung und Brandstiftung. Allerdings ist es bei den Geschichten nie zu einer Anzeige gegen ihn gekommen.» Toppe überlegte kurz. «Ach ja, bevor ich’s vergesse, Geldek zockt, und zwar im alten Stil: zwielichtige Kaschemmen mit entsprechend hochkarätigen Klienten. Wie auch immer, als er hier runterzog, hat er schnell Fuß gefasst. Er hatte von Anfang an einen exzellenten Draht zur Stadtverwaltung. Außerplanmäßige Baugenehmigungen und dergleichen waren für Geldek nie ein Problem. Dass in diesem Zusammenhang die ein oder andere Mark den Besitzer gewechselt haben soll, pfiffen die Spatzen von den Dächern.»

«Moment mal», fiel ihm Cox ins Wort. «Hab ich nicht erst neulich was über einen Geldek in der Zeitung gelesen? Der hat doch diese Stiftung für Opfer von Gewalttaten ins Leben gerufen, mit der wir uns irgendwann mal zusammensetzen wollten.»

«Hat er», bestätigte Astrid. «War sogar dem Stern eine dicke Story wert: eine Stiftung mit Modellcharakter. Die haben ein Traumateam, ein Opfermobil, ein eigenes Kurhotel und wer weiß, was sonst noch alles.»

«Und das soll derselbe Mann sein?» Cox legte zweifelnd die Stirn in Falten.

«Tja, der Gute hat seine Weste so kräftig geschrubbt, dass man heute richtiggehend geblendet wird», spottete Toppe.

«Mir brummt der Schädel.» Cox gähnte ausgiebig. «Könnten wir kurz mal Pause machen?»

«Gute Idee», meinte van Appeldorn. «Lasst uns was essen gehen. Es ist zwar noch früh, aber ich habe einen Mordshunger. Vielleicht weil ich so übernächtigt bin.»

Peter Cox schaute ihn konsterniert an. «Ohne mich! Ich kann mittags keine größere Mahlzeit zu mir nehmen, das bringt meinen Biorhythmus völlig durcheinander.»

Van Appeldorn lachte.

«Sei doch kein Spielverderber. Es regnet gerade mal nicht, da können wir uns irgendwo in der Fußgängerzone draußen hinsetzen. Was meinst du, wie die frische Luft dein Gehirn auf Touren bringt», versuchte Astrid ihn zu begeistern. «Du musst ja nichts essen.»

Die Regenpause hatte viele Leute nach draußen gelockt. Holländische Rentnerpaare, die besonders gern donnerstags in Scharen in die Klever Supermärkte und die Innenstadt einfielen, saßen vor den Bistros und Cafés und taten sich an Kaffee und Sahnetorte oder einem frühen Bier gütlich.

Schließlich fanden die vier einen freien Tisch vor der Gaststätte neben dem Burgtheater.

Toppe, van Appeldorn und Astrid hatten ihre Wahl schnell getroffen, nur Cox studierte umständlich und mit großem Ernst die Speisekarte und murmelte vor sich hin: «Das werde ich noch tagelang bitter bereuen, aber gut, ich denke, ein bisschen Fisch kann nicht allzu viel schaden. Ich nehme den Heringstopf. Aber bitte ohne Zwiebeln.»

Der Kellner, der zähneknirschend gewartet hatte, runzelte unwillig die Stirn. «Da sind immer Zwiebeln drin.»

«Ach wirklich? Dann bereiten Sie den Topf also nicht frisch zu?»

«Selbstverständlich ist der frisch!»

«Aber mit Zwiebeln!»

«Wollen Sie jetzt den Heringstopf oder nicht?»

«Na gut», brummte Cox. «Dann picke ich mir die Zwiebeln eben raus.»

Der Kellner ergriff die Flucht.

«Augenblick noch! Der Fisch ist doch wohl gehäutet, oder?» Aber er bekam keine Antwort.

Astrid prustete. «Du hast wirklich eine Meise, Peter. Was macht es für einen Unterschied, ob der Hering mit Haut ist oder ohne?»

Cox grinste. «Es sieht einfach appetitlicher aus!»

Als sie bei Kaffee und Zigarette angekommen waren, zog sich der Himmel wieder zu.

«Wir sollten uns beeilen.» Van Appeldorn zeigte nach oben. «Gleich fängt’s an zu schütten.»

Aber sie hatten Glück. Erst als sie sicher im Büro angekommen waren, fielen die ersten dicken Tropfen.

Toppe trat ans Fenster und spähte durch den Regenschleier. «Also zurück zu Geldek, zurück zu 1991. Da hat sich unser Freund nämlich seine fast schon weiße Weste noch einmal gründlich eingeferkelt. Hatte sich mit zwei Projekten übernommen. Bei einem verpfuschten Bau in Nimwegen war er auf 1,8 Millionen Schulden sitzen geblieben, und gleichzeitig drohte sein Vergnügungsbad mit angrenzendem Ferienhauspark in Doornenburg Pleite zu gehen. Um diesen Laden wieder in Schwung zu bringen, wollte Geldek die Anlage um einen groß aufgemotzten Ponyhof erweitern, nach dem Motto: Immenhof am Niederrhein. Der sollte auf der deutschen Rheinseite in Keeken liegen und durch eine romantische Fährfahrt zu erreichen sein. An das entsprechende Gelände wollte er über einen Zockerkumpan kommen, einen gewissen Peter Verhoeven. Dessen Vater gehörte nämlich ein großer Bauernhof in Keeken, direkt an der Grenze. Das Problem war nur, der Alte wollte nicht verkaufen. Und er hatte sich auch schon jahrelang geweigert, den Hof seinem windigen Sohn zu überschreiben. Also beschloss Geldek – vermutlich zusammen mit Peter Verhoeven, aber das konnten wir nie beweisen – kurzerhand den Erbfall vorzuziehen und heuerte einen Killer an, Kurt Korten, ein Freund aus Duisburger Tagen. Der hat dann übrigens den Falschen erwischt, aber das tut im Augenblick nichts zur Sache. Jedenfalls, als wir Korten endlich weich geklopft hatten und der mit dem Namen seines Auftraggebers rausrückte, war Geldek längst über alle Berge. Seine Firma ging in den Konkurs, während er fröhlich in Südamerika auf der einen oder anderen Million saß, die er vorher noch abgezogen hatte. Übrigens, seine anderen Objekte und Firmen waren zunächst mal von der ganzen Misere nicht bedroht. Die gehörten nämlich allesamt seiner Gattin.»

Cox rubbelte sich verwirrt den kurz geschorenen Schopf. «Und wieso läuft der heute hier frei rum und lässt sich erschlagen?»

«Das», murmelte van Appeldorn, «ist die Hunderttausendmarksfrage!»

«Ganz einfach», sagte Toppe. «Nach ein paar Monaten kam Geldek zurück und stellte sich der Polizei. Wegen betrügerischen Konkurses wohlgemerkt, nicht wegen dem Mord an Verhoeven. Damit wollte er nichts zu tun haben. Seine Rückkehr war wohl vorbereitet. Er hatte glänzende Alibis für jedes Gespräch, das Korten in der Mordvorbereitung mit ihm geführt haben wollte. Es lief letztendlich darauf hinaus, dass Aussage gegen Aussage stand. Wir konnten uns ein Bein ausreißen, der Staatsanwalt hat alles abgeschmettert, nach dem Motto: Das sind doch nur Indizien, bringen Sie mir Beweise.» Toppe kam immer noch die Galle hoch, wenn er sich daran erinnerte.

«Wer war denn der Staatsanwalt?», fragte van Appeldorn.

«Escher. Der ist schon ein paar Jahre nicht mehr in Kleve, aber du müsstest dich an den erinnern. Der galt eigentlich eher als harter Hund.»

Van Appeldorn verzog das Gesicht. «Vielleicht stand der ja bei Geldek auf der Lohnliste. Ist auch egal.» Er drehte sich zu Cox. «Verstehst du jetzt, warum wir so begeistert sind, dass es ausgerechnet Freund Geldek erwischt hat?»

«Doch, doch», antwortete der. «Potenzielle Feinde, wo man auch hinguckt, Konkurrenten, Zockerkreise, Halbwelt … Wir sollten vermutlich inbrünstig beten, dass wir es mit einer aktuellen Geschichte zu tun haben, aber …» Er verschränkte die Hände im Nacken und lehnte sich zurück. «Wenn wir die Vergangenheit von diesem Typen aufrollen, das könnte doch ganz spannend werden.»

«Du hast eindeutig einen Schaden», meinte Astrid kopfschüttelnd. «Es kann dir doch keinen Spaß machen, monatelang im Dreck zu wühlen. Und außerdem, hast du eine Vorstellung davon, was der Fall für eine Öffentlichkeit kriegt?»

«Ach, das hat mich eigentlich noch nie gestört.»

Toppe klappte die alte Akte zu. «Pressekonferenz um vierzehn Uhr, okay? Wir müssen Zeugen finden.»

«In Ordnung», antwortete van Appeldorn. «Arbeiten wir also nach unserer ersten Hypothese.»

Toppe nickte. «Und die erste Anlaufstelle ist Martina Geldek. Warum wollte Geldek nach Duisburg? Mit wem wollte er sich dort treffen und wann? Wann ist Geldek zu Hause abgefahren? Wollte er vorher noch woanders hin? Übernimmst du das, Norbert, zusammen mit Astrid?»

«Klar!»

«Stopp!», griff Cox entschieden ein. «Bevor sich hier auch nur irgendeiner bewegt – wo ist der Bericht von gestern?»

Man hatte ihn im vorigen Monat zum Aktenführer gemacht. Bisher hatte mal der eine, mal der andere den Posten eher halbherzig ausgefüllt, aber Cox nahm diese Aufgabe, wie alles andere in seinem Leben, sehr ernst.

«Ich mach das schon», sagte Toppe. «Wir treffen uns noch einmal vor der Pressekonferenz. Sagen wir um eins.»

Van Appeldorn raffte Block, Stift und Jacke zusammen. «Ich muss heute übrigens pünktlich Schluss machen. Um fünf habe ich ein Partnergespräch bei Ullis Therapeutin.»

 

Astrid schnallte sich auf dem Beifahrersitz an. «Geht es Ulli denn mittlerweile ein bisschen besser?»

Ulli Beckmann war van Appeldorns Freundin. Sie hatten sich vor drei Jahren kennen gelernt und Hals über Kopf ineinander verliebt.

Damals war van Appeldorn noch verheiratet gewesen. Mit vierunddreißig Jahren war er, gegen seine innere Überzeugung, in eine Ehe geschlittert. Marion, die Witwe eines früheren Kegelbruders, war eine heiße Nummer gewesen, hatte seine wildesten Phantasien übertroffen. Dann war sie schwanger geworden, und er hatte gar nicht anders gekonnt. Er hatte sich sogar zu einem halben Jahr Erziehungsurlaub überreden lassen, in dem es ihm gegen seine Erwartungen gut gegangen war, den er sogar genossen hatte. Später hatte sich seine Tochter zu einem herrischen, raffgierigen, egoistischen Monster entwickelt, ihrer Mutter nicht unähnlich.

Als er Ulli traf, hatte ihn seine Ehe, in der es kaum noch etwas anderes gegeben hatte als Enttäuschungen, Schuldzuweisungen und Bitterkeit, schon lange zermürbt. Aber erst mit Ulli an seiner Seite war ihm der Absprung aus diesem bedrückenden Leben leicht gefallen. Sie waren zusammengezogen und hatten gerade angefangen, ihrem Glück wirklich zu trauen, als Ulli zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen war. Terroristen hatten sie mehrere Tage lang in einer Kiste gefangen gehalten, und bei ihrer Befreiung hatte sie nicht nur zusehen müssen, wie zwei Menschen auf abscheuliche Weise direkt neben ihr getötet wurden, sondern war auch selbst nur knapp mit dem Leben davongekommen.

Van Appeldorn hatte sofort Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um einen Therapieplatz zu finden, und nach ein paar Wochen schien Ulli wieder ganz die Alte zu sein und hatte ihre Arbeit als Leiterin einer Vorschule wieder aufgenommen. Aber dann kam es plötzlich zu Rückfällen: Sie konnte kleine Räume nicht mehr betreten, schlief keine Nacht mehr durch und bekam bei bestimmten Gerüchen Atemnot.

Van Appeldorn holte tief Luft. «Es geht auf und ab. Albträume hat sie immer noch, wenn auch nicht mehr jede Nacht. Und inzwischen kann sie fast jeden Tag zur Arbeit gehen. Sie sagt, die Kinder tun ihr gut. Es ist nur …» Er startete den Wagen. «Sie will kein Mitleid. Es macht sie wütend.»

«Dann ist es nicht gerade leicht für dich», meinte Astrid vorsichtig.

Van Appeldorn redete ungern über Gefühle und gab nur selten etwas von sich preis. Frauen gegenüber war er besonders verschlossen, und sein Verhältnis zu Astrid war von Anfang an sehr gespannt gewesen. Erst in den letzten ein, zwei Jahren verstanden sie sich besser und gingen ein bisschen milder miteinander um.

«Nein», antwortete er nur knapp, ohne sie anzuschauen.