Sechs

Alle kamen sie kurz nacheinander ins Büro zurück, und als jeder berichtet hatte, schien selbst Cox für eine Weile seine zuversichtliche Laune verloren zu haben.

«Wir müssen die Geldek gründlichst überprüfen», sagte van Appeldorn schon zum zweiten Mal. «Jeden Stein umdrehen. Zehn zu eins, dass die etwas zu verbergen hat.»

Toppe seufzte, sie brauchten einfach mehr Leute.

«Zeugen haben sich keine gemeldet?», fragte van Appeldorn.

«Nicht einer», antwortete Cox. «Wenn sich da bis morgen nichts tut, lasse ich den Anrufbeantworter laufen. Dann bin ich flexibler und kann mit raus.»

Über irgendetwas dachte er offensichtlich nach, aber er sagte nichts, sondern legte nur jedem einen Ausdruck des Namensabgleichs auf den Platz. «Ich habe mir beide Ohren wund telefoniert. Sechs von den feineren Kandidaten können wir schon mal streichen. Die sitzen entweder im Bau oder befinden sich im Ausland.»

Toppes Blick wanderte über die Liste, bis er Eschers Namen gefunden hatte. Er folgte dem Querverweis. Natürlich! Die Kindesentführung vor vier Jahren. Kein Wunder, dass er nicht gleich darauf gekommen war. Er selbst hatte an dem Fall nicht mitarbeiten können, weil die Meinhard ihn wegen «groben Fehlverhaltens» für vier Monate vom Dienst suspendiert hatte. Diese Zeit war heute für ihn lediglich ein graues Loch. Er erinnerte sich nur an dumpfe Wut, Müdigkeit, Astrids ungeplante Schwangerschaft, viele düstere Bücher, Schlafen. Aber er wusste, dass die Akte nicht geschlossen war. Das Kind war nie gefunden worden, Eschers Stieftochter.

Ein leises Klopfen an der Tür ließ ihn hochblicken.

Herein kam ein großer Mann, um die siebzig, mit einer beeindruckenden Nase. Er war kahl, bis auf einen flaumigen Haarkranz, dafür spross es ihm umso üppiger aus Nase und Ohren. «Bin ich hier richtig, was eine Zeugenaussage für den Unfall an der B 220 am 8. 8. angeht?»

Alle nickten. «Nur herein!», forderte Cox ihn freundlich auf.

«Beamter», dachte Toppe.

Der Mann schaute sich kurz um und wandte sich dann an ihn. «Schütz, mein Name, Oberamtmann a. D. Ich habe gezögert, ob meine Wahrnehmung für Sie überhaupt von Interesse ist …»

«Nehmen Sie doch erst einmal Platz!» Toppe holte einen Stuhl. «Jeder Hinweis kann für uns wichtig sein.»

Herr Schütz war am Mittwochnachmittag nach Emmerich unterwegs gewesen, um seine Schwester dort vom Bahnhof abzuholen. Das fand Toppe schnell heraus, aber dann wurde es schwierig. Der Oberamtmann a. D. neigte zur Umständlichkeit. «… als ein mir unbekanntes Fahrzeug mir von links kommend in verkehrsgefährdender Weise die Vorfahrt nahm.»

Toppe blieb geduldig und entlockte ihm nach und nach die ganze Geschichte: Schütz war auf die Brücke zugefahren – mit der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit selbstverständlich –, und plötzlich war vom Oraniendeich aus Richtung Griethausen ein Auto direkt vor seinem Wagen vorbeigeschossen und mit unvermindertem Tempo weiter in Richtung Grieth gerast. Nur durch eine Vollbremsung hatte Schütz einen Zusammenstoß verhindern können. «Es handelte sich um einen so genannten Kleinwagen. Den Hersteller kann ich Ihnen zu meinem Bedauern nicht nennen. Mit dererlei Dingen habe ich mich nie beschäftigt. Auch das Kennzeichen habe ich leider nicht bewusst wahrgenommen. Ich möchte mich da gar nicht entschuldigen, es wäre meine Pflicht gewesen, aber vielleicht können Sie mir nachsehen, dass ich in meinem Alter in einer solch extremen Situation Probleme mit meiner Gesundheit hatte.»

Toppe nickte nur. «Welche Farbe hatte das Fahrzeug, das Sie geschnitten hat?»

«Es war …» Schütz starrte ins Leere. «Es war rötlich, in gewisser Weise …»

«Kann man das genauer kriegen?», mischte van Appeldorn sich ein.

Der Oberamtmann richtete sich kerzengerade auf. «Nein, zu meinem größten Bedauern … Alles, was ich Ihnen sagen kann – wenn ich es noch einmal zusammenfassen darf – ist, dass ein Kleinwagen mit überhöhter, ungedrosselter Geschwindigkeit von links nach rechts die Vorfahrtsstraße gekreuzt hat, und dass ich eine Kollision durch eine Vollbremsung meinerseits gerade noch verhindern konnte. Das bewusste Gefährt war von rötlicher Farbe. Der Vorfall ereignete sich am 8. 8. um 15 Uhr 26.» 

Während sich Schütz ungelenk verabschiedete, zog Astrid das Telefon heran und wählte die Nummer des Pizza-Taxis. Etwas Warmes zu essen würde sie alle wieder in Schwung bringen. Ohne Zögern gab sie ihre Bestellung durch, die seit vielen Wochen immer dieselbe war: Einmal die «28», zweimal die «13» mit Gorgonzola und für Cox die «52» in entschlackter Form, denn von Pilzen bekam er Ausschlag und Peperoni griffen seinen Zahnschmelz an.

Toppe ging zur Tafel und schrieb «15 Uhr 26» neben den Zeitplan, den sie bisher aufgestellt hatten: Geldeks Abfahrt von zu Hause, die geschätzte Fahrzeit bis zur Brücke, der Anruf bei der Rettungsleitstelle.

«Es passt», begann Astrid. «Die beiden Ereignisse könnten zusammenhängen. Geldek ist vor der Kreuzung in die Pontonstraße abgebogen. Etwa zur selben Zeit schießt dieser Kleinwagen oben über die Kreuzung. Es klingt vielleicht weit hergeholt, aber es könnte doch sein, dass der Wagen Geldek in die Pontonstraße abgedrängt hat.»

«Du meinst, der Wagen hat Geldek verfolgt?», hakte van Appeldorn nach.

«Man könnte sogar noch weitergehen», warf Toppe ein, «wenn wir an die Beule in der hinteren Stoßstange denken.»

«Dann bietet sich mir folgendes Szenario …» Auch Cox beteiligte sich an ihrem Gedankenspiel. «Jemand verfolgt Eugen Geldeks Mercedes auf dem Oraniendeich, rammt ihn sogar, sodass Geldek versucht, über die Pontonstraße zu entkommen.»

«Der Verfolger rast geradeaus weiter über die Kreuzung, bremst dann, biegt ab und kommt Geldek auf der Pontonstraße entgegen», vollendete van Appeldorn das Bild.

«Das hört sich alles ganz gut an», meinte Astrid. «Aber wenn da wirklich eine richtige Verfolgungsjagd abgelaufen wäre, dann hätten wir Zeugen. Es kann nicht sein, dass das keiner gesehen hat. Wisst ihr, was um diese Tageszeit auf den Straßen los ist?»

«Holländer!» Toppe schlug sich gegen die Stirn.

«Klar!» Cox wusste sofort, was er meinte. «Mindestens dreißig Prozent der Autofahrer in der Ecke sind Holländer. Noch ein Zeugenaufruf, also. In welche Zeitung?»

«De Gelderlander», antwortete Toppe und schaute auf seine Uhr. «Vor Montag können die das wohl nicht mehr bringen.»

«Eins steht jedenfalls fest, falls unsere Geschichte stimmt», überlegte van Appeldorn. «Der Verfolger kommt aus der Gegend. Zumindest hat er ausgezeichnete Ortskenntnisse.»

«Und er muss einen verdammt leistungsstarken Kleinwagen haben, wenn er mit Geldeks dickem Mercedes mithalten konnte», sagte Astrid und sah ebenfalls auf die Uhr. «Hoffentlich kommt die Pizza bald. Viel Zeit habe ich nicht mehr, die Tagesstätte schließt heute früher.»

Aber zuerst einmal kam der Staatsanwalt, der den Mordfall Geldek bearbeitete.

Toppe seufzte stumm. Oberstaatsanwalt Günther war ein knochentrockener Typ, unzugänglich, phantasielos und ohne jeglichen Humor. Entsprechend umständlich und freudlos verlief das Gespräch.

Die Pizza kam und wurde kalt, während Günther immer noch die Fakten sortierte. Es rührte ihn nicht, dass Astrid mehrfach demonstrativ auf die Uhr schaute und auch van Appeldorns ungeniertes Gähnen ließ ihn kalt.

«Kann ich davon ausgehen, dass Sie auch am Wochenende ermitteln?», fragte er schließlich.

«Selbstverständlich», antwortete Toppe erschöpft.

«Bitte bringen Sie mich gleich am Montag früh auf den neuesten Stand.»

 

Als van Appeldorn endlich nach Hause kam, war es schon nach sieben, aber Ulli erwartete ihn fröhlich und nach langer Zeit mal wieder unternehmungslustig. «Ich habe heute den ganzen Tag schon Lust auf Friko mit Kartoffelsalat. Lass uns in die Kneipe gehen, ja?»

Die «Kneipe» war viele Jahre lang van Appeldorns Stammlokal gewesen, und als seine Ehe in den letzten Zügen lag, hatte er dort mehr Zeit verbracht als zu Hause – immer an der Theke, immer allein. Seit er mit Ulli zusammen war, hatte sich das geändert. Die Kneipe war zwar dieselbe, aber wenn er alle paar Wochen einmal herkam, saß er an einem Tisch, mit Ulli. Manchmal wunderte er sich, wie sehr ihm das gefiel. Oft blieben sie drei Stunden oder länger, und Ulli fragte ihn aus, wollte alles über die Fälle wissen, die er gerade untersuchte. Sich daran zu gewöhnen, war ihm nicht leicht gefallen. Früher hatte er, wenn er das Präsidium verließ, seine Arbeit, so gut es eben ging, aus seinem Kopf verdrängt.

Auch heute Abend spekulierte Ulli, nachdem sie ein paar Anekdoten aus der Vorschule erzählt hatte, lebhaft über alle möglichen Motive, die Geldeks Mörder gehabt haben konnte, und ihre Augen glänzten dabei. Van Appeldorn zog ihre Hand zu sich heran und küsste die Innenfläche. Es war schön, dass es ihr wieder so gut ging.

«Psst!» Sie legte einen Finger an die Lippen. «Hör doch!»

An der Theke war die übliche Expertenrunde versammelt, die allabendlich, so lange van Appeldorn die Kneipe kannte, die Welt ins Döschen packte. Auch er hatte mit halbem Ohr mitgekriegt, dass mehrfach schon Geldeks Name gefallen war und winkte ab. «Lass die doch reden. Ich hab da gerade so eine Idee …»

Aber Ulli entzog ihm ihre Hand und spitzte die Ohren. «Vielleicht erfährst du ja was Neues.»

Van Appeldorn schüttelte lachend den Kopf, nahm dann aber doch sein Bierglas in die Hand und lehnte sich zurück.

Die Männer an der Theke waren nicht gerade leise.

«Da kannste mich aber für angucken!», der Erste.

«Ach, geh mir doch weg!», der andere.

Dann wieder der Erste: «Doch, et is’, wie et is’, dat muss man einfach ma’ sagen! In eine Hinsicht lass ich auf Geldek nix kommen: Der hat noch nie ’n kleinen Mann beschissen. Tatsache! Ich mein’, wenn der einem wie uns hier wat inne Hand versprochen hat, dann konnteste aber drauf an.»

«Dat stimmt», meldete sich ein Dritter. «Ich mein’, als unser Jürgen dringend dat Grundstück haben musste und dat mit de Bank ’n bisken eng wurde, dat war für Geldek keine Frage. In so wat war der immer kulant. Wenn de gesacht has’, Geldek, ich weiß nich’, wer mir sons’ noch helfen könnt’, dann hat der sich für dich in’t Zeug gelegt un ers’ ma’ alle Fünf grade sein lassen.»

«Dat is’ doch Kokelores», sprang der Zweite dazwischen. «Der Geldek is’ doch nich’ bei de Wohlfahrt. Wenn et dem innen Kram passt, sicher, da kann ich auch großzügig sein, kann doch jeder, wenn er nix zu verlieren hat. Un’ ich sag nur eins: Der kommt ja nich’ ma’ von hier!»

«Da hasse auch wieder Recht, ma’ so gesehn. Ich hab mich schon immer gefragt, wieso hat der die Baugenehmigung da oben am Berg gekriegt, wo doch der Willi – un’ ich mein’, der hat ja auch wat anne Füße – wo doch der Willi sich jahrelang die Hacken danach abgelaufen is’. Aber wat war? Nix! Dat muss man schließlich auch ma’ überlegen.»

«Dat weiß doch wohl jeder, wie dat gelaufen is’! Wat meinste denn, wie der Chef vom Bauamt seine große Hütte bezahlt hat, he? Meinste, als Kackbeamter verdienste ’ne Million im Jahr, he?»

«Aber trotzdem», beharrte der Erste. «Dat einzige, wat ich sag, is’, mit unsereins is’ Geldek immer reell gewesen. Da lass ich nix drauf kommen. Un’ dat den einer von hier abgemurkst hat, dat glaub’ ich nich’. Ich mein’, der hat doch inne ganz andere Liga gespielt. Man darf et ja nich’ laut sagen, aber, wenn dat ma’ nich’ die Mafia gewesen is’ …»

Ulli kicherte, als van Appeldorn die Augen gen Decke schlug. «Komm, wir gehen nach Hause.»

 

Um halb drei in der Frühe wachte van Appeldorn auf, weil Ulli neben ihm im Bett saß, zitternd, die Arme um ihren Körper geschlungen, und wimmerte.

«Du hast geträumt.» Er setzte sich auf und wollte sie an sich ziehen, aber sie wehrte sich. «Ich gehe weg. Ich trenne mich von dir.»

«Ist gut», sagte er leise. «Komm her.»

Dann streichelte er sie, bis die Tränen kamen und sie schluchzte. «Ich bin ein Krüppel, Norbert, und das wird sich nicht mehr ändern, glaub mir. Ich gehe weg.»

«Das tust du nicht», entgegnete er ruhig. «Weil ich dich nämlich nicht gehen lasse. Ich will dich, hörst du? Ich liebe dich. Lass uns endlich heiraten.»