Zwölf
Der Mittwoch war ein Spätsommertag von fast schon beklemmender Schönheit – warm und erfüllt vom schweren Duft feuchter Erde, der Himmel tintenblau und die Luft so klar, dass man das Gefühl hatte, sich darin spiegeln zu können.
Aber Toppe, Astrid und van Appeldorn nahmen nichts davon wahr. Sie standen vor den Fotos, die Toppe aus der Pathologie mitgebracht hatte, und fragten sich, mit welcher Waffe man Joosten wohl so misshandelt hatte.
«Es könnte die Rückseite einer Sichel sein.»
«Nein, die ist schmaler und eckiger.»
«Vielleicht eine Spazierstockkrücke oder eine Sessellehne?»
«Die sind weniger gebogen, oder?»
Astrid raufte sich die Haare. «Wie sollen wir eine Tatwaffe finden, wenn wir überhaupt keine Ahnung haben, wonach wir überhaupt suchen?»
«Es wird uns wohl trotzdem nichts anderes übrig bleiben», antwortete Toppe.
«Hast du dich mal mit Sinn und Verstand auf dem Hof umgeguckt?», gab van Appeldorn zurück. «Du hast doch wohl auch gesehen, wie viel Gerümpel da rumliegt».
«Eine ungefähre Vorstellung von der Waffe haben wir doch», meinte Toppe. «Und müsste Blut dran kleben.»
«Ganz doof war der Täter ja nicht», sagte Astrid, «sonst hätte er die Waffe am Tatort zurückgelassen. Also wird er wohl auch das Blut abgewischt haben. Van Gemmern steinigt uns, wenn wir ihm bergeweise Zeug ins Labor schleppen, damit er es mit Luminol einsprüht. Wo steckt eigentlich Peter schon wieder?»
Toppe hob die Schultern. «Ich weiß es nicht, er hat sich nicht gemeldet.»
Mittlerweile war es zwanzig nach elf geworden, aber keine Spur von Martina Geldek.
«Sie hat unsere Vorladung bekommen», berichtete van Appeldorn. «Ich habe mit Look gesprochen, der die Nachtwache vor dem Anwesen hatte. Die Geldek hat um kurz nach Mitternacht ihren Briefkasten am Tor geleert. Ich rufe die Kollegen mal an.»
Das Gespräch dauerte nur eine Minute. «Sie ist zu Hause. Vor einer Viertelstunde ist ein Lieferwagen von einem Supermarkt da gewesen, und sie hat die Haustür geöffnet und zwei Kartons in Empfang genommen.»
Es blieb still. Van Appeldorn schaute Toppe abwartend an.
«Fein», sagte der schließlich und verstaute Zigaretten und Feuerzeug in seiner Jacke. «Dann fahre ich jetzt wohl am besten zu Günther und sorge für eine richterliche Vorladung. Wenn die Dame dann immer noch denkt, sie könnte mit uns Katz und Maus spielen, haben wir wenigstens eine Handhabe, sie aus ihrer Bude rauszuholen. Fahrt ihr ruhig schon zu Eberhard, ich komme nach.»
Aber Cox verhinderte den allgemeinen Aufbruch.
«Ihr setzt euch besser hin», sagte er und breitete Papiere auf seinem Schreibtisch aus. «Ich habe hier nämlich einen echten Knüller, wie es scheint.»
Eugen Geldek hatte dem Bauern Eberhard nicht nur ein, sondern zwei nebeneinander liegende Grundstücke abgekauft, eines 4800 qm, das andere rund 11 000 qm groß. Die Grundstücke konnten zum Zeitpunkt des Kaufes ausschließlich forstwirtschaftlich genutzt werden und waren nur durch einen Fußweg zu erreichen, deshalb war ihr Verkehrswert verhältnismäßig gering gewesen.
Für beide Parzellen zusammen hatte Geldek 25 000 Mark bezahlt. Offizieller Käufer war allerdings nicht Geldek selbst, sondern eine GmbH, die zum Zeitpunkt des Kaufes noch in Gründung und deren alleinige Gesellschafterin Martina Geldek war.
Die beiden Grundstücke wurden als Sacheinlage zum Stammkapital der GmbH.
Ein am Rand liegender kleiner Teil der Grundstücke – und das hatte Geldek anscheinend gewusst – war im Flächennutzungsplan der Stadt bereits als Verkehrsfläche ausgewiesen gewesen, und diese rund 1000 qm hatte die GmbH dann für 45 Mark pro qm an die Stadt verkauft, damit dort eine Straße gebaut werden konnte.
«Moment, warte mal», rief van Appeldorn und sah von seinem Zettel auf. «Ich habe mal mitgerechnet. Geldek hat Eberhard für an die 16 000 qm Land 25 000 Mark bezahlt. Das heißt rund eine Mark sechzig pro Quadratmeter. Und jetzt kassiert Geldek von der Stadt 45 000 Mark für bloß 1000 Quadratmeter? Das ist doch ein Witz, oder?»
Cox drehte die Handflächen nach oben. «Das ist der normale Preis für eine ausgewiesene Verkehrsfläche.»
«Und ein satter Gewinn von über 20 000 Schleifen!»
«Stimmt, aber das sind nur Peanuts, wie ihr gleich sehen werdet», antwortete Cox. «Es kommt noch viel besser. Zunächst einmal hat die Stadt den Bauauftrag für die Straße an eine von Martina Geldeks Baufirmen vergeben, und daran hat die schon mal nicht schlecht verdient, habe ich mir sagen lassen.»
Danach hatte Geldek, beziehungsweise seine Frau, 4800 qm Grund für private Zwecke vom Flurstück abgetrennt, die restlichen 10 000 qm waren bei der GmbH verblieben. «Der Preis für das 4800 qm große Grundstück ist übrigens nie gezahlt worden. Das hat die GmbH der Frau Geldek großzügig erlassen. Auf dieses Grundstück, und das finde ich besonders fein, hat das Ehepaar Geldek sich eine neue Villa hingesetzt, einen Riesenkasten.»
Durch den Bau der Straße war der Wert der beiden Grundstücke auf 250 Mark pro Quadratmeter gestiegen. «Hast du mitgerechnet, Norbert?»
«Ja, ja», murmelte van Appeldorn einigermaßen erschlagen. «Macht insgesamt 3,7 Millionen, 2,5 für das GmbH-Grundstück und 1,2 für das private.»
«Genau! Und jetzt kommt das Allerbeste.»
Geldeks hatten ihre GmbH in eine Stiftung eingebracht, in die Stiftung für die Opfer von Gewalttaten, und die Caritas als Träger und Betreiber dafür gewinnen können. Die Stadt Kleve hatte daraufhin die Bürgschaft für den Bau des Heimes übernommen, eine ausreichende Fläche als Baugelände ausgewiesen und einer Geldek’schen Baufirma den Bauauftrag erteilt. Als Bonbon, gewissermaßen als Dank für die großzügige Spende von 2,5 Millionen in Form der Stiftung, hatte die Stadt gleichzeitig die Baugenehmigung für Geldeks Einfamilienhaus auf dem Nachbargrundstück ausgestellt. Beide Gebäude waren gleichzeitig geplant worden, und so weit Cox hatte heraushören können, war das Privathaus vorwiegend aus Materialien des Opferheimes errichtet worden.
«Wenn wir mal alles zusammenfassen, hat Geldek also ein Grundstück im Wert von 1,2 Millionen kostenlos von der Stadt erschlossen gekriegt. Seine Villa ist fast geschenkt gewesen, weil er das Baumaterial dafür vom Opferheim abgezweigt hat. Dazu kommen noch die satten Gewinne von den Bauaufträgen für die Straße und das Heimgebäude. Und natürlich sollte man auch nicht vergessen, dass Geldeks Ansehen bei der Stadt Kleve erheblich gestiegen ist, weil er ja das Grundstück im Wert von 2,5 Millionen so selbstlos gespendet hat. Also hat er alles in allem ein verdammt gutes Geschäft gemacht.»
Die anderen hatten Mühe, die ganze Geschichte zu verdauen.
Cox schob seine Blätter zusammen. «Ich war eben noch bei Günther, deshalb bin ich auch so spät dran. Das Dumme ist, dass man Geldek für diese ganze Schweinerei nicht belangen kann. Was aber nichts daran ändert, das Knut Eberhard mit Sicherheit eine Mordswut auf Geldek gehabt hat. Und auch auf Tobias Joosten. Ich glaube nämlich, dass es Joosten war, der Geldek den Tipp mit den Grundstücken gegeben hat. Die Reichswalder haben mir erzählt, jeder im Dorf – auch Joostens Eltern – hätte gewusst, dass Eberhard bei der Stadt beantragt hatte, die Waldgrundstücke in Bauland umzuwandeln. Dann hätte er sie nämlich selbst teuer verkaufen können. Aber er ist beim Bauamt wohl auf taube Ohren gestoßen.»
Cox ließ sich auf seinen Stuhl fallen. «Ich weiß nicht, wie ihr das seht, aber für mich ist das perfekt. In unseren beiden Fällen ist Rache das Motiv.»
Es passte alles zusammen. Als Eberhard herausgefunden hatte, in welchem Maß er von Geldek über den Tisch gezogen worden war, hatte er rot gesehen. Außer sich vor Wut war er auf Geldek losgegangen. Mit der gleichen Rage hatte er auf Joosten eingeprügelt. Eberhard hatte die richtige Größe und Statur, er fuhr einen roten Kleinwagen, und er hatte für beide Tatzeiten kein überzeugendes Alibi.
«Ich denke, die Verdachtsmomente dürften ausreichen», wandte sich van Appeldorn an Toppe. «Besorgst du den Haftbefehl?»
«Nein, mach du das. Und besorge auch gleich eine richterliche Anweisung für eine Speichelprobe, damit der DNA-Abgleich gemacht werden kann. Wenn ihr Eberhard einkassiert habt, bringt ihr ihn erst mal in die Pathologie. Ich telefoniere in der Zwischenzeit mit Arend. Der soll den Amtszahnarzt kommen lassen. Die beiden können gleich einen Gebissabdruck nehmen und ihn mit den Bissmarken an Geldeks Hand vergleichen. Ich werde mich auch darum kümmern, dass das Auto eingeschleppt wird und bestelle die beiden Zeugen ein.»
«Du könntest auch schon mal eine Presseerklärung vorbereiten. Dann lassen diese Geier uns vielleicht eine Weile in Ruhe», schlug Cox vor. «Üblicher Tenor, du weißt schon: erste Verhaftung im Mordfall Geldek. Und als Sahneschnittchen vielleicht, dass es einen Zusammenhang zwischen den beiden Morden gibt.»
«Zu früh. Erst müssen wir Eberhard hier haben.»
Cox und van Appeldorn machten sich auf den Weg zu Günther, und auch Astrid nahm ihre Autoschlüssel. «Ich muss noch kurz was abholen, und dann fahre ich auch nach Reichswalde. Kann sein, dass Eberhard eine Generalbeichte ablegt und uns die Tatwaffe gleich in die Hand drückt. Aber wenn nicht, wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als sie zu suchen.»
Die Gespräche mit den beiden Zeugen waren schnell erledigt, der Anruf bei Bonhoeffer fiel Toppe schon schwerer, aber die größten Probleme hatte er mit dem vierten Telefonat.
Knut Eberhard stritt beide Taten ab. Obwohl van Appeldorn, der normalerweise mit seinem Vernehmungsstil sehr erfolgreich war, sämtliche Register zog, bekam er nicht viel mehr zu hören als: «Damit habe ich nichts zu tun.» Und als die Sprache auf den Verkauf der beiden Waldgrundstücke kam, kniff Eberhard verstockt die Lippen zusammen und fiel in beharrliches Schweigen.
Schließlich verließ van Appeldorn das Vernehmungszimmer und baute sich vor Toppes Schreibtisch auf. «Übernimm du ihn», blaffte er. «Mit so tumbem Säcken komm ich nicht klar. Du kriegst solche Typen leichter geknackt.»
Aber Toppe winkte ab. «Ich muss zur Pressekonferenz. Lass ihn schmoren. Eine Nacht in der Zelle wird ihn weich kochen.»
«Woher willst du das wissen? Du hast noch kein Wort mit ihm gewechselt!»
«Ich habe ihn gesehen. Wann wollte Arend sich wegen der Bissmarken melden?»
«Morgen Vormittag.»
«Prima! Eberhards Auto steht unten in der Garage, die Zeugen kommen um neun. Dann wissen wir mehr.»
Fürs Abendbrot hatte Astrid den Tisch auf der Terrasse gedeckt. Sie saßen entspannt beieinander, überlegten, welche Sträucher sie in ihrem neuen Gärtchen anpflanzen sollten, ob sie ein Staudenbeet wollten oder vielleicht doch lieber einen Baum, eine Linde oder einen Ahorn. Sie beobachteten ihre Tochter, die stillvergnügt zwei Spatzen mit Brotkrümeln fütterte. Schließlich nahm Astrid Katharina auf den Arm und ging mit ihr ins Haus. «Möchtest du heute Sesamstraße gucken?»
Als sie zurückkam, wedelte sie mit zwei Eintrittskarten. «Rate mal, was ich hier habe!»
Toppe lachte. «Nicht die leiseste Ahnung.»
«Zwei Karten für Mathias Richling am Freitag! Und einen Babysitter habe ich auch. Nein, warte! Du brauchst nicht so zu gucken. Es sind nicht meine Eltern!»
«Tut mir Leid.» Toppe räusperte sich. «Ich kann nicht. Ich habe heute Escher angerufen. Am Freitag fahre ich nach Büderich, um mit dem Mann zu reden. Aber weißt du was? Nimm doch Ulli mit, die freut sich bestimmt.»
Astrid starrte ihn einen Moment lang an, dann riss sie die Karten zweimal durch und ließ die Schnipsel auf Toppes Teller rieseln. «Aber heute hast du nichts vor? Gut, dann kümmere dich um deine Tochter. Ich gehe reiten! Das wolltest du doch so, oder?»
Astrid trat an Hectors Box heran. «Na, mein Schöner. Ja, komm her, lass dich anschauen.» Sie sprach sanft, aber der Wallach warf mit aufgerissen Augen den Kopf zurück und fing an zu tänzeln.
«Ein temperamentvoller Bursche, was?»
Astrid machte einen Satz. «Clemens! Meine Güte, haben Sie mich erschreckt! Ich hab Sie gar nicht kommen hören.»
Böhmer reagierte nicht darauf, er tätschelte Hector den Hals. «Ist übernervös, der Junge. Wenn man bei dem nicht die Ruhe selbst ist, geht man leicht baden.»
Er warf Astrid einen prüfenden Blick zu. Als er sich nach einem Heuballen bückte, streifte er mit dem Ellbogen ihre Brust.
«Super!», schallte es vom Stalltor her – Mareike in einem rosafarbenen Overall, die blonde Lockenpracht auf dem Kopf zu einem plustrigen Etwas zusammengebunden. «Du hast dich also endlich durchgerungen! Hector ist ein Goldstück, du wirst ihn lieben. Darauf müssen wir anstoßen. Los, komm!» Sie schob Böhmer beiseite. «Ach, hallo, Clemens …» Dann fasste sie Astrid bei der Hand und zog sie mit. «Ich habe zufällig eine Flasche Kribbelwasser dabei.» Aus einer Kühltasche, die auf dem Beifahrersitz ihres Cabrios stand, holte sie eine Flasche Champagner und zwei Gläser.
Astrid musste lachen. «Allzeit bereit! Bist du unter die Pfadfinder gegangen?»
«Ich kann mich bremsen. Nein, eigentlich hab ich ein Date.» Mareike kicherte. «Der Glückliche weiß nur noch nichts davon. Manchen Kerlen muss man ein bisschen auf die Sprünge helfen, und da ist so ein Fläschchen ganz hilfreich.» Sie zog den Reißverschluss ihres Overalls noch ein Stück herunter und gab den Blick frei auf den Ansatz ihrer Push-up-Brüste. «Und das hier natürlich.»
In diesem Augenblick kam ein zitronengelber Porsche auf den Hof gebraust.
Astrid blinzelte. «Dein Date heißt nicht zufällig Jörg Hellinghaus?»
Aber Mareike lachte zirpend. «Nein, zufällig nicht. Ich fische nicht gern in fremden Gewässern. Ihr seid ja ganz schön aufeinander abgefahren am Samstag.»
Astrid merkte, dass sie rot wurde. «Ach, Blödsinn! Ich hatte einfach nur zu viel getrunken.»
«Assi, Schätzchen, das ist es doch gerade. Du weißt doch, Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit. Du warst ganz schön heiß, und dass Jörg auf dich steht, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, konnte ja wohl keiner übersehen, der Augen im Kopf hatte.»
Jörg Hellinghaus beugte sich ins Auto und holte seine Reitstiefel heraus. Mareike stupste Astrid in die Seite. «Jetzt guck dir doch mal diesen Hintern an, allererste Sahne! Sei doch nicht so prüde, Mensch! So was Knackiges muss doch eine nette Abwechslung für dich sein. Naschen ist erlaubt, hör auf Tante Mareike.»
Hellinghaus kam herangeschlendert. «Wenn ich kein Glückspilz bin! Die beiden schönsten Frauen des Kreises!» Er hauchte Mareike zwei Küsschen auf die Wangen, dann schlang er seinen Arm um Astrids Taille, zog sie an sich und bedachte ihre Lippen mit einem sinnlichen Blick, bevor er sie küsste. «Ich merke, du hast mich vermisst.»
Astrid stieß ihn hastig von sich. «Lass den Quatsch, ja! Ich bin kein Freiwild.»
Hellinghaus kicherte. «Du kannst ja richtig giftig gucken. Wie niedlich! Komm, sei brav, ja? Du bist und bleibst eben meine große Liebe, und es ist eine Schande, dass du nicht auf mich warten konntest.»
«Hör doch auf, Jörg. Wir haben nie etwas miteinander gehabt!»
«An mir hat das bestimmt nicht gelegen», antwortete Hellinghaus und lehnte sich gegen Mareikes Cabrio, streifte die Schuhe ab und schlüpfte in die Stiefel. «Aber was nicht ist, kann ja noch werden.»
«Wo hast du eigentlich die ganzen Jahre gesteckt?», mischte sich Mareike ein.
Jörg Hellinghaus nahm ihr das Sektglas aus der Hand und leerte es in einem Zug. «Auf Fotosafari, mal hier, mal da. Musste mir ein bisschen die Hörner abstoßen, bevor ich sesshaft werde. Aber jetzt reicht es meinen Eltern. Sie wollen sich einen schönen Lebensabend machen und haben mir den Laden überschrieben.»
Mareike zwinkerte Astrid zu. «Toll, Jörg, dann bist du ja eine richtig gute Partie!»
Clemens Böhmer beobachtete die Szene vom Fenster aus. Was für ein Fatzke! Grabschte sie schon wieder an, aber heute schien sie nicht so begeistert. Fotograf war der Kerl und hatte sich bei seinen Alten ins gemachte Nest gesetzt. Der Teufel schiss immer auf den größten Haufen. Ihm war nie was geschenkt worden. Hatte er etwa nicht immer geschuftet wie ein Verrückter? Hatte es sogar in die Selbständigkeit geschafft, zweimal, aus eigener Kraft. Aber sie hatten ihn lang gemacht, alle wie sie da waren. Viel zu jung war er gewesen, als er seinen ersten Laden aufgemacht hatte, viel zu unerfahren. Sonst hätte er sich damit bestimmt über Wasser halten können. Dann hätte er auch keine Hypothek aufnehmen müssen, und sie hätten das Häuschen von Sibylles Oma behalten können, als sein Kurierdienst auch Pleite gegangen war. Konnte er ahnen, dass die Kunden ausblieben, dass die Leute ihn mieden wie die Pest? Er roch eben nach Armut. Was wusste dieser Casanova da draußen schon? Und die Steendijk hatte anscheinend auch keine Ahnung, was wirklich wichtig war im Leben. Sonst würde sie ja wohl ihr Engelchen nicht alleine lassen, bloß um sich hier zu vergnügen. Wenn er wieder auf die Füße kam, konnte Sibylle ihm gestohlen bleiben. Er würde schon eine Frau finden, er war noch nicht zu alt. Und dann würde er auch ein Kind haben, ein kleines Mädchen mit braunen Augen und dunklen Locken. Böhmer spuckte auf den Boden und wischte sich über den Mund. Dieses Arschloch Jörg hatte Dreck am Stecken, so viel war sicher. Man munkelte, dass er wegen irgendwas abgetaucht war. Er würd’s schon noch rausfinden …
Toppe wartete. Er hatte ein Windlicht auf den Terrassentisch gestellt, eine Flasche Rotwein getrunken, eine zweite aufgemacht. Zum Lesen war es zu dunkel, aber er war sowieso zu erschöpft, zu müde auch zum Nachdenken. Dicker Tau setzte sich auf dem Tisch ab, es wurde Herbst.
Um zwanzig nach elf endlich hörte er Astrids Schlüssel im Haustürschloss. Sie hatte anscheinend das Kerzenlicht gesehen und trat auf die Terrasse. «Bin wieder da.»
«War’s schön?»
«Ich stinke nach Pferd», meinte sie brüsk und ging ins Haus zurück.
Toppe sprang auf. «Astrid, warte!» Das Weinglas kippte um und zerbrach.
Er hielt sie an den Armen fest. «Es tut mir Leid», flüsterte er und presste seine Stirn gegen ihren Nacken. «Ich bin ein Egoist.»
Sie seufzte und drehte sich um. «Du kannst es wieder gutmachen. Am Wochenende ist Kinderfest auf dem Reiterhof, mit Kasperletheater, Zauberer und allem Drum und Dran.»
«Na, das ist doch Klasse», antwortete er. «Ich bin dabei, und zwar Samstag und Sonntag, versprochen.»
Sie seufzte wieder. «Ich nehme dich beim Wort. Und jetzt geh ich schlafen.»
«Ich räum nur schnell die Sachen rein, dann komme ich nach.»
«Helmut, mir tut jeder einzelne Muskel im Leib weh …»
«Ist schon gut.» Er holte Handfeger und Kehrblech.
Die Soko Alina hatte damals etliche Fälle ausgegraben, die Escher bearbeitet hatte, immer auf der Suche nach einem Menschen, der Escher hasste, der Rache üben wollte. Man hatte sorgfältig recherchiert, jeden Einzelnen, der infrage kam, überprüft. All das musste er eigentlich noch durcharbeiten, bevor er am Freitag nach Büderich fuhr.