Vierzehn
Er hatte zweimal erbrochen, aber ihm war immer noch übel. Seine Kleider stanken nach billiger Absteige. So konnte er nicht auf dem Reiterhof erscheinen.
Also fuhr er zuerst in die Schröderstraße – das Haus war leer –, duschte, putzte die Zähne, rasierte sich und schaffte es, sich dabei nicht in die Augen zu sehen.
Astrid bemerkte seine Ankunft auf dem Hof nicht. Sie hockte, Katharina zwischen den Knien, auf dem Rasen vorm Kaspertheater und lachte ausgelassen. Der Mann neben ihr hatte seinen Arm locker um ihre Schultern drapiert. Ein Yuppietyp in T-Shirt und Leinenjackett. Sein langes Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, war, bis auf eine schwarze Strähne über dem linken Auge, schlohweiß. Im Ohrläppchen funkelte ein Brillie.
Auch Katharina nahm ihren Vater nicht wahr. Sie hatte heiße Backen und vibrierte vor Aufregung und Grusel – das Krokodil hatte sich gerade auf die Bühne geschlichen –, und Astrid nahm sie ganz fest in die Arme.
Es war der Typ, der Toppe zuerst entdeckte. «Hej Assi, wenn mich nicht alles täuscht, kommt hier dein werter Lebensabschnittsgefährte.» Mit sportlichem Schwung kam er auf die Füße und tätschelte Toppe den Rücken. «Geht’s gut? Jörg Hellinghaus, wir hatten noch nicht das Vergnügen. Ihre Freundin und ich kennen uns schon seit Ewigkeiten, quasi seitdem bei uns beiden die Säfte eingeschossen sind.» Er wieherte anzüglich.
Der Tag zog in einem einzigen Strudel von Bildern an Toppe vorbei: Pferde, Clowns, Kinder, Ponys, Hellinghaus, Zauberer, Clemens Böhmer, Katharina mit Niko, mit Zuckerwatte, mit einem Negerkuss auf der Nase, völlig überdreht.
Dazwischen Astrid: «Was ist bei Escher rausgekommen?» – «Noch nichts.»
Und er: «Was hat Eberhard gesagt?» – «Kein Wort.»
Abends dauerte es ewig, bis Katharina endlich eingeschlafen war.
«Ich weiß wirklich nicht, ob wir ihr das morgen nochmal antun sollen», meinte Toppe matt.
«Aber morgen ist doch das Turnier! Meine Eltern haben für die Kleinen ganz süße Preise gestiftet, und Katharina weiß das.»
«Schon gut.»
«Ist was mit dir?»
«Was soll denn sein?»
«Ich weiß nicht, du bist irgendwie komisch. War’s denn schön mit deinen alten Freunden?»
«Ging so. Ich glaube, ich kann so was nicht mehr, ich hab immer noch einen Brummschädel. Ist was mit dir?»
«Wie kommst du darauf?»
«Mit dir und diesem Hellinghaus?»
«Um Himmels willen, nein!»
«Gut.»
Sie standen im Flur mit hängenden Armen.
Er war froh, als sie sagte: «Ich guck noch irgendwas Blödes im Fernsehen, und dann leg ich mich schlafen. Morgen wird’s nochmal turbulent.»
«Ich gehe jetzt schon hoch, okay? Schlaf gut.»
Sie nickte.
Als Toppe sich in Eschers alte Fälle vertiefte, fiel alle Müdigkeit, alle Unruhe und Scham von ihm ab.
Langsam kristallisierte sich ein Muster heraus. Das milde Strafmaß, das Escher für Geldek gefordert hatte, fiel keineswegs aus dem Rahmen. Menschen wie Geldek, Macher, die etwas auf die Beine stellten, halbseiden oder nicht, kamen in der Regel gut bei ihm weg. Es waren die kleinen Verbrecher, die Schwachen, die in ihrem Leben nichts auf die Reihe bekamen, gegen die Escher offenbar eine heftige Abneigung hatte.
Toppe machte sich ein paar Notizen, blätterte um und spürte, wie sein Herzschlag ins Stolpern geriet.
Fahrig huschte sein Blick über die Seiten, dann stürmte er die Treppe hinunter ins Wohnzimmer und brüllte: «Wusstest du, dass dein Freund gesessen hat?»
Astrid blinzelte verwirrt. «Welcher Freund denn?»
«Dein lieber Clemens Böhmer!»
Sie schnappte empört nach Luft. «Er ist weder mein Freund noch mein Lieber, verdammt nochmal! Wieso überprüfst du den überhaupt?»
«Ich hab ihn nicht überprüft. Böhmer ist in den Alina-Akten. Er gehörte zum Kreis der Verdächtigen.»
«Was? Das kann doch nicht sein!»
«Oh doch!»
Sie setzte sich auf und schaltete den Fernseher aus. «Also gut, Clemens war im Knast. Und weshalb hat er gesessen? Hat er sich tatsächlich an kleine Mädchen rangemacht?»
«Nein, nichts in der Art.» Toppe merkte, dass sein Pulsschlag sich langsam wieder normalisierte. «Böhmer war wohl mal Teilhaber in einer Gebrauchtwagenfirma. Leider hatten die sich auf geklaute Autos spezialisiert.»
Astrid nahm sich eine Zigarette. «Und mit der Entführung kann Clemens ja wohl nichts zu tun gehabt haben, sonst liefe er heute nicht frei rum, oder? Also, was ist jetzt? Was erwartest du von mir? Soll ich Katharina von Clemens fern halten, bloß weil der irgendwann mal Mist gebaut hat?»
«Hältst du mich wirklich für so spießig?»
Sie zuckte die Achseln, und er knallte die Tür.
Aus dem Kühlschrank nahm er eine Flasche Wasser mit und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Böhmer war ein Verlierer, wie er im Buche stand. Zwei Unternehmen hatte er nach kurzer Zeit in den Sand gesetzt. Finanziert hatte er die, indem er Hypotheken auf das Haus seiner Frau aufgenommen hatte, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte und das danach bis unters Dach verschuldet gewesen war. Schließlich hatte Böhmer sich in den Gebrauchtwagenhandel eines Bekannten eingekauft. Das Startkapital, 15 000 Mark, hatte er sich bei seinem Onkel geliehen.
Während des ganzen Prozesses hatte Böhmer beteuert, er hätte nicht die leiseste Ahnung gehabt, dass die meisten Autos ihrer Firma gestohlen gewesen wären.
Im Strafprozess, bei dem Dr. Stein als Staatsanwalt ermittelt hatte, war Böhmer mit neun Monaten Haft recht glimpflich davongekommen.
Im folgenden Zivilprozess war Escher zuständig gewesen, und der hatte eine Geldstrafe von 100 000 Mark gefordert.
Der Richter hatte ein milderes Urteil gefällt und das Strafmaß auf 60 000 Mark festgelegt.
An den Rand der Ermittlungsakte hatte Heinrichs mit Bleistift eine Rechnung gekritzelt:
60 000 × 2 = 120 000.
15 000 × 2 = 30 000.
120 000 + 30 000 = 150 000
Böhmer hatte für die fragliche Zeit, in der Alina verschwunden war, ein Alibi gehabt. Angeblich war er in Uedem gewesen, um seine Frau, die sich, während er im Knast saß, von ihm getrennt hatte, zu überreden, wieder zu ihm zurückzukehren. Nicht nur sie, sondern auch ihr neuer Partner hatten das bestätigt.
Wenn das Alibi wasserdicht gewesen war, warum hatte Heinrichs sich dann noch – schriftlich – seine Gedanken gemacht?
Toppe gähnte. Mittlerweile verschwammen ihm die Buchstaben vor den Augen.
Clemens Böhmer lag in seiner Kammer über den Ställen und fand keinen Schlaf.
Sein Magen ballte sich vor Wut.
Der Knast war bestimmt nicht das Schlimmste gewesen, die paar Monate hatte er locker abgesessen, er brauchte ja wahrhaftig nicht viel. Aber die fette Geldstrafe, die ihm dieser gottverfluchte Staatsanwalt verschafft hatte, die brach ihm das Genick.
Wer gab einem schon anständige, gut bezahlte Arbeit, wenn das Gehalt gleich gepfändet wurde? Jetzt musste er sich hier als Obertrottel krumm legen, und alles, was ihm blieb, waren ein paar Kröten Taschengeld. Aber dieses gemeine Schwein hatte doch noch seine Rechnung gekriegt. Wenigstens das!
Jeder hatte irgendwo eine Stelle, wo man ihn packen konnte, wo man ihm richtig wehtun konnte, jeder.
Auch dieser windige Kotzbrocken Hellinghaus, der ihn heute vor allen Leuten, auch vor der Prinzessin, zusammengeschissen hatte, wegen nichts und wieder nichts.
Der sollte sich schon mal warm anziehen!
Böhmer drehte sich ächzend auf die Seite. Morgen konnten die ihm allemal gestohlen bleiben. Da war Kinderturnier, und Katharina würde den ganzen Tag um ihn sein. Und dass sein Engelchen den Hauptpreis kriegte, dafür würde er schon sorgen!
Am Montag schwieg Knut Eberhard sich immer noch beharrlich aus, und Toppe war klar, dass er ihn nicht viel länger würde festhalten können.
Also machten er, Astrid und Cox sich mal wieder auf die Suche nach der Tatwaffe, halbherzig zwar, aber keiner hatte eine bessere Idee.
Van Appeldorn hielt die Stellung im Büro, er hatte sich mit Freuden bereit erklärt, die überfälligen Berichte zu schreiben. Stattdessen schlossen Look und eine weiterer grüner Kollege sich ihnen an. Es war ein grauer Tag, der Morgennebel löste sich nur langsam auf, und später würde es sicher Regen geben.
«Also, wenn ich der Mörder wär», meinte Look, «ich hätt die Waffe in die Jauchekuhle geschmissen.»
«Hab ich auch schon gesagt.» Astrid zog sich mit angeekeltem Gesicht ein paar Spinnweben aus den Haaren.
«Und warum lasst ihr die dann nicht leer pumpen?»
Sie zuckte die Achseln. «Werden wir wohl noch, wenn wir sonst nichts finden.»
Grummelnd machte sich Look wieder an die Arbeit.
Cox hatte sein Listenformular auf einem Klemmbrett festgemacht und notierte die bereits durchsuchten Räume, die sichergestellten Gegenstände und deren genauen Fundort. Toppe kam aus dem Haus und schaute ihm über die Schulter. «Das Weib ist endlich schlafen gegangen», sagte er.
Frau Eberhard hatte Nachtschicht gehabt, aber statt sich ins Bett zu legen, hatte sie ihnen die ganze Zeit im Nacken gesessen. «Dann können wir uns jetzt die frühere Milchkammer neben der Küche vornehmen.»
Stirnrunzelnd betrachtete er die möglichen Tatwerkzeuge, die Cox penibel auf der Mauer neben dem Misthaufen aufgereiht hatte. Er nahm einen rostigen Griff in die Hand, vielleicht der Bügel eines Futtereimers. «Der ist doch viel zu schmal.» Er sah hoch, als van Appeldorns Auto über den Feldweg gerumpelt kam.
«Ich hab hier einen abgebrochenen, alten Krückstock!» Looks Gesicht tauchte am Hühnerstallfenster auf. «Geht der auch?»
«Immer nur her damit», rief Cox zurück.
Norbert van Appeldorn schlenderte heran, die Hände in den Hosentaschen.
«Ihr stinkt nach Schweineköttel.» Gemächlich ging er an den Exponaten auf der Mauer entlang. «Interessante Ausbeute.» Er guckte verschmitzt. «Ihr seid ja schön fleißig.»
«Verbindlichen Dank, du Blödmann! Und du würdest dir bestimmt keinen aus der Krone brechen, wenn du mithilfst», fuhr Astrid ihn an. «Nimm dir mal die Milchkammer vor.»
«Nö.»
«Also, hör mal!» Ihre Wangen färbten sich zornrot.
«Komm wieder runter von der Palme, Astrid. Wir haben die Tatwaffe. Da hinten steht sie!» Er zeigte zur Obstwiese.
Alle Köpfe flogen herum. Toppe schaltete als Erster. «Der Schafsbock?»
«Der Schafsbock! Das Ergebnis aus Düsseldorf ist eben gekommen. An Joostens Kleidung befinden sich neben Lehm, Gras und Tierkot ausschließlich Spuren von Schafshaaren und Schafsblut.»
Toppe wischte sich übers Gesicht. «Die Hörner! Keine Tritte, keine Schläge mit einem Gegenstand, sondern Stöße mit den Hörnern!»
«Genau, und die kleineren Verletzungen könnten von den Hufen stammen.»
«Ich werd verrückt», flüsterte Astrid benommen.
Cox drückte ihr sein Klemmbrett in die Hand und trabte los. «Wenn das so ist, muss ja wohl Blut dran kleben.» Er stieg über den Zaun.
«Nicht, Peter», rief Toppe, «der ist nicht angepflockt!»
Aber Cox marschierte unbeirrt weiter.
Bis auf ungefähr sechs Meter ließ der Bock ihn herankommen, dann schob er die Hörner vor und stürmte los. Cox stieß einen gurgelnden Laut aus, warf sich herum und gab Fersengeld. Sein teurer italienischer Hut flog ihm vom Kopf und segelte durch die Luft. Mit einem eindrucksvollen Sprung setzte Cox über den Zaun und hielt sich dann hechelnd die Seite.
Look lachte meckernd und fing sich einen bösen Blick von Toppe ein.
Der Schafsbock war in der Mitte der Wiese stehen geblieben und glotzte Cox hinterher. Dann senkte er den Kopf und fraß den Hut.
«Du verdammtes Mistvieh», brüllte Cox. «Das ist ein Borsalino!»
Toppe drehte sich schnell weg. «Ich rufe in der Zentrale an. Die sollen uns einen Tierarzt mit einer Betäubungsspritze herschicken.»
«Besser wäre wohl ein Narkosegewehr», meinte van Appeldorn.
«Völliger Quatsch! Das ist doch bloß ein Tier. Als wenn ich so einem blöden Schaf nicht beikomme», regte sich Look auf und stieß seinen Kollegen an. «Los, Willi.»
«Lassen Sie’s lieber», warnte Toppe und ging zu seinem Auto. Aber er hatte die Tür noch nicht geöffnet, als ein Schuss ihn herumfahren ließ.
Look stand breitbeinig, die Pistole in den Händen, sein Kollege rieb sich den Hintern, der Bock lag niedergestreckt im Gras.
«Der hat uns angegriffen», wimmerte Willi.
«Eben.» Look klang zufrieden. Er steckte die Pistole ein. «Und da musste ich ihm leider eine plästern. Ihr könnt jetzt kommen.»
Astrid übernahm es, die hysterische Frau Eberhard, die mit nackten Füßen und im Schlafanzug aus dem Haus geschossen kam, aufzuklären und einigermaßen zu beruhigen.
An beiden Hörnern des Tieres klebte getrocknetes Blut, auch im Brustfell gab es dunkle Spuren.
Während sie auf van Gemmern warteten, sprachen sie kaum. Jeder von ihnen wusste, was diese Wendung zu bedeuten hatte.
«Werden Sie den Kadaver ins Labor bringen lassen?», fragte Toppe.
Van Gemmern sah ihn lange an. «Ich brauche euch hier eigentlich nicht mehr.»
Toppe nickte, er hatte sich so etwas gedacht. Vermutlich würde van Gemmern die Hörner hier gleich an Ort und Stelle abtrennen, und da wollte er gar nicht dabei sein.
«Mit Bonhoeffer setze ich mich selbst in Verbindung», fügte van Gemmern noch hinzu, dann war für ihn das Gespräch beendet.