Fünfzehn
Tobias Joostens Tod war – so schwer sie auch daran schluckten – nichts als eine tragische Verquickung ungewöhnlicher Umstände gewesen, ein Unfall, der mit Geldeks Ermordung in keinem Zusammenhang stand.
Sie waren wieder am Anfang.
Cox hatte sofort wieder die Bögen mit Geldeks Namensabgleich verteilt, über denen sie schon vor zehn Tagen gebrütet hatten, und stand jetzt grübelnd vor seinem großen Diagramm.
Die anderen brauchten und nahmen sich Zeit, den Schlag zu verdauen. Es blieb lange still.
Dann stand Toppe plötzlich auf. «Eine Frage haben wir uns bisher noch nie gestellt», sagte er.
Van Appeldorn blickte gespannt hoch, er kannte den Tonfall.
«Ich meine, wir wissen, dass Geldek auf dem Oraniendeich verfolgt wurde. Aber die Frage ist doch, seit wann wurde er verfolgt? Vielleicht sollten wir uns davon lösen, dass die Tat etwas mit Geldeks Geschäften oder mit seiner Vergangenheit zu tun hat.» Er hielt inne, als wäre ihm gerade ein neuer Gedanke durch den Kopf geschossen, sprach dann aber weiter: «Geldek fährt ganz normal von zu Hause los, und auf dem Oraniendeich wird er plötzlich verfolgt, von einem Einheimischen vermutlich, der ihn dann unter der Rheinbrücke erschlägt, im Affekt, wohlgemerkt. Liegt es da nicht nahe, dass zwischen Geldeks Haus und dem Deich irgendetwas passiert sein muss, das zu der Verfolgung geführt hat?»
«In Griethausen, meinst du?», fragte Astrid. «Das ist der einzige Ort, der dazwischen liegt.»
«Möglicherweise.»
«Griethausen ist ein Kaff», gab van Appeldorn zu bedenken. «Wenn da etwas vorgefallen wäre, hätte sich bei dem ganzen Presserummel längst jemand bei uns gemeldet.»
«Nicht unbedingt», antwortete Toppe. «Es kann sich doch um einen vordergründig ganz banalen Vorfall gehandelt haben, der nur für den Verfolger von Bedeutung war.»
Van Appeldorn raffte seine Sachen zusammen. «Na, dann los! Ich fahre.»
Cox, der immer noch vor dem Diagramm stand, sperrte den Mund auf. «Das kann doch nicht euer Ernst sein! Wegen so einer plötzlichen Eingebung wollt ihr hier alles stehen und liegen lassen? Wir haben doch gerade eben erst beschlossen, dass wir das hier noch einmal durchackern. Ich sehe da etliche neue Ansatzpunkte.»
«Dann halt du hier die Stellung und arbeite dran», meinte van Appeldorn.
Auch Astrid stand auf. «Haus-zu-Haus-Befragung?»
Toppe nickte. «Zu dritt müsste das ganz fix gehen.»
«Aber, aber …» Cox stammelte. «Das hat doch alles kein Hand und Fuß …»
Griethausen, vor Jahrhunderten einmal ein Fischerort, war ein Städtchen am Altrhein, zum Fluss hin von einer behäbigen Mauer eingefasst, die Schutz vor den alljährlichen Hochwassern bot. Enge, gepflasterte Gassen ohne Bürgersteige, Häuser aus den verschiedensten Epochen, die sich dicht aneinander schmiegten.
Sie stellten den Wagen auf dem Parkplatz am Anglerheim ab und begannen ihre Befragung in der Oberstraße, der Straße, durch die Geldek auf alle Fälle gefahren sein musste.
Wie immer war es ein zeitraubendes, ermüdendes Unterfangen. Die Leute waren misstrauisch, manchmal dauerte es lange, bis sie kapiert hatten, dass da die Polizei vor ihnen stand und nicht etwa ein Vertreter, der ihnen was andrehen wollte. Die meisten konnten sich nicht erinnern, was sie am 8. August gemacht hatten und ob da was Ungewöhnliches geschehen war. Einige kannten Geldek, auch seinen silbernen Mercedes, aber wann sie den das letzte Mal gesehen hatten – keine Ahnung. Neulich war ein Traktor mit hoch beladenem Hänger in der Bahnunterführung stecken geblieben, in der Kneipe hatte es vor vierzehn Tagen eine Schlägerei gegeben, aber das war abends gewesen, nicht am Nachmittag, und die Frau Poorten hatte neuerdings einen Geliebten, der immer kam, wenn ihr Mann auf Nachtschicht war.
Als sie sich wieder am Auto trafen, um die nächste Straße untereinander aufzuteilen, entdeckte Astrid am Anglerheim ein schon leicht ausgefranstes Plakat: Buntes Kinderfest am Mittwoch, dem 8. August, von 14 bis 17 Uhr – Tombola.
Die Tür des niedrigen Gebäudes war verschlossen, aber sie hörte drinnen jemanden sprechen und klopfte gegen die staubige Scheibe, die bedenklich klirrte.
Ein Mann kam, hob abweisend die Hände. «Wir haben zu», rief er mit übertriebenen Lippenbewegungen.
Astrid drückte ihren Ausweis gegen das Glas.
«Ob bei unserem Kinderfest was passiert ist? Nicht, dass ich wüsste. War eine Menge los. Aber warten Sie mal, ich meine, da wäre draußen irgendwann ein Kinderwagen umgekippt, mit dem Kind drin. Ist aber nichts passiert. Ich hab gehört, da soll ein Auto im Spiel gewesen sein, aber genau weiß ich das nicht. Nee, nee, gesehen haben wir das alle nicht. Wir waren ja noch mitten bei der Tombola. Wessen Kinderwagen das war? Der war von der jungen Frau Wächter. Die Kleine von der hat so geknötert, dass sie lieber nach Hause wollte. Die Frau Wächter? Die wohnt hier gleich um die Ecke im Mühlenweg.»
Sie klingelten schließlich an einem schmalbrüstigen, rosa getünchten Haus mit leicht angeschmuddelten Häkelgardinen.
«Frag erst, wer es ist, David!», hörten sie eine Frau. Dann ein Kinderstimmchen auf Höhe der Türklinke: «Wer ist da?»
Astrids Mund wurde weich, sie bückte sich. «Sag deiner Mami, hier ist die Polizei. Und wir würden gern mit ihr sprechen.»
«Ja.» Getrappel.
Schließlich öffnete ihnen eine junge Frau mit einem Säugling auf dem Arm, der Zeter und Mordio schrie.
«Ich bin gerade am Stillen …» Sie raffte ihre Bluse zusammen.
«Wir kommen gern später noch einmal wieder», meinte Toppe rasch.
Frau Wächter überlegte kurz, dann lachte sie freundlich. «Ach was, wenn es Sie nicht stört, dass ich weiterstille. Kommen Sie mit durch.»
Im Wohnzimmer machte sie es sich in einem Sessel bequem und legte das Kind an, das sofort gierig trank, ab und an aber immer noch einmal aufschluchzte. Die Mutter strich ihm sanft über die Brauen. Dann weiteten sich plötzlich ihre Augen. «Polizei? Oh, mein Gott, es ist doch nichts passiert, oder? Ist was mit meinem Mann?»
David kam angeflitzt, stellte sich dicht neben den Sessel und klammerte sich an die Lehne.
«Nein, nein, es ist nichts passiert», beteuerte Astrid hastig und erklärte, warum sie gekommen waren.
Frau Wächter schauderte. «Es war ganz schrecklich! Ich bin früher gegangen, weil Nele die ganze Zeit gequengelt hat. Meine Nerven lagen ziemlich blank. Vielleicht hab ich nicht richtig aufgepasst, ich weiß nicht. Jedenfalls hab ich den Kinderwagen auf die Straße geschoben, an der anderen Hand hatte ich David. Das Auto hab ich nicht gesehen, auch nicht gehört. Auf einmal gab’s einen Stoß, der Kinderwagen flog um und ich gleich mit. Und Nele kippte raus und rollte in den Rinnstein.»
«Was war das für ein Auto?», kam es kühl von van Appeldorn.
«Ich habe nur was Silbernes gesehen, es war mir auch völlig egal. Ich hab nur nach Nele geguckt, ob die sich was getan hat. Aber Gott sei Dank ging’s ihr gut.» Man hörte immer noch die Erleichterung. «Nicht mal ein Kratzer.»
David ließ die Sessellehne los und verschränkte die Hände hinterm Rücken. «Ihr habt gar keine Mützen auf.»
«Nicht alle Polizisten müssen eine Uniform tragen», antwortete Toppe. «Wir sind von der Kriminalpolizei.»
David nickte weise. «Krinalpolizei», wiederholte er.
«Und du, David, hast du das Auto gesehen, das den Kinderwagen umgefahren hat?», fragte Astrid.
«Jaa …»
«Welche Farbe hatte es denn?»
«Silber.»
«Und war da vielleicht noch ein anderes Auto?»
Wieder nickte David. «Da war noch ein kleines, das ist ganz schnell hinter dem großen hergefahren.»
«Toll», meinte Astrid anerkennend. «Wie alt bist du, David?»
«Wenn ich Geburtstag hab, bin ich fünf.»
«In drei Wochen», warf seine Mutter ein.
«Meine Güte, fünf Jahre alt, und du kannst schon der Polizei helfen!»
David strahlte zufrieden.
«Weißt du denn noch, welche Farbe das kleine Auto hatte?»
«Orange.»
«Hm … und weißt du, was ein Nummernschild ist?»
David schaffte es, herablassend zu nicken. «Da stand Kleve drauf.»
«Fein! Und wie viele Leute saßen in dem Auto?»
«Weiß nicht.» Der Junge senkte den Blick.
Frau Wächter strubbelte ihm das Haar. «David mag Autos. Weißt du, welche Marke es war?»
«Nö.»
«Hatte es denn Rallyestreifen oder Aufkleber oder so was?»
«Nö, weiß nicht.»
Seine Mutter strich ihm wieder über den Kopf. «Na ja, du hast ja auch einen gehörigen Schrecken gekriegt … Was hat es denn mit diesem Auto auf sich?», wollte sie wissen.
Toppe wich aus. «Zurzeit sind wir uns selbst noch nicht so ganz im Klaren darüber. Um wie viel Uhr ist der Unfall eigentlich passiert?»
«Ich weiß nicht genau, so drei, Viertel nach drei, vielleicht.»
«Das deckt sich mit dem, was der Pächter vom Anglerheim erzählt hat», bestätigte Astrid.
Reichlich frustriert fuhren sie zwei Stunden später nach Kleve zurück.
Davids Auto konnte nicht das Auto sein, das sie suchten, denn der Wagen von Geldeks Verfolger war, nach Aussage des holländischen Zeugen, auf keinen Fall orangefarben gewesen.
Andererseits war der Vorfall mit dem umgestürzten Kinderwagen das einzige spektakuläre Ereignis am Mittwoch, dem 8. August, in Griethausen gewesen, von dem sie erfahren hatten.
«Im Augenblick ergibt für mich nichts mehr einen Sinn», sagte Toppe. «Lasst uns Schluss machen für heute.»
Van Appeldorn lenkte den Wagen auf den Parkplatz. «Ich springe schnell noch hoch zu Peter. Wir sehen uns morgen.»
«Was stinkt denn hier so?»
«Duftbäumchen», antwortete Cox geistesabwesend.
«Hast du was?», fragte van Appeldorn.
«Ich weiß nicht genau …» Cox sah von seinen Papieren auf, er wirkte seltsam betreten. «Und wie war’s bei euch?»
«Ein Schuss in den Ofen.»
Cox nickte und hielt van Appeldorn einen Zettel hin. «Ich hab das hier gefunden, steckte zwischen den letzten Berichten.»
Es war Helmuts Handschrift: Eschers Neubau – Nössling – Donsbrüggen – Naturschutzgebiet! Baugenehmigung???
«Ich komme mir ein bisschen blöd vor, so als hätte ich in Helmuts Sachen rumgeschnüffelt», druckste Cox.
«Quatsch!»
«Na ja, jedenfalls bin ich der Sache nachgegangen und hab mit meinem neuen Freund beim Bauamt gesprochen.»
«Und?»
«Dieser Staatsanwalt Escher hat 1991, kurz bevor er den Prozess gegen Geldek übernommen hat, ein Einfamilienhaus in Donsbrüggen gebaut, und zwar tatsächlich in einem ausgewiesenen Naturschutzgebiet. Heute kann sich beim Bauamt angeblich keiner mehr erklären, wieso sie ihm damals die Baugenehmigung erteilt haben, war aber so. Das Interessante an der Geschichte ist, Eschers Hausbau ist von Geldeks Klever Unternehmen durchgeführt worden, und die Architektin war Martina Geldek!»
Van Appeldorn ließ sich auf seinen Stuhl fallen.
«Und da musste ich wieder an deinen Satz denken», fuhr Cox fort, «dass Escher bei Geldek auf der Lohnliste gestanden hat.»
«Das war eigentlich als Witz gemeint.»
«Kann sein, aber jetzt sieht es doch ganz danach aus. Ich verstehe bloß nicht, dass Helmut uns das nicht erzählt hat.»
«Ach, Helmut, der steht doch schon seit Wochen neben sich», murmelte van Appeldorn. «Trotzdem, wenn er einen Zusammenhang zum Mord an Geldek entdeckt hätte, wüssten wir das.»
«Das sag ich mir ja auch die ganze Zeit. Ich finde es bloß, ehrlich gesagt, nicht in Ordnung, dass er seine eigenen Ermittlungen führt.»
Van Appeldorn zuckte die Achseln. «Das macht er öfter. Ich hab mich daran gewöhnt. Gibt es eigentlich irgendeine Möglichkeit zu beweisen, dass Escher damals von der Geldek bestochen worden ist?»
«Wohl kaum.»
«Tja, dann würde ich sagen, wir machen für heute Feierabend. Und morgen soll uns Helmut mal erklären, was er eigentlich so treibt hinter unserem Rücken.» Mit spitzen Fingern hob er ein Plastiktütchen hoch, in dem ein pinkfarbener Papptannenbaum steckte, und rümpfte die Nase. «Was hast du mit diesem Zeug hier eigentlich vor?»
«Ist für mein Auto. Es riecht noch so neu, das kann ich nicht haben.»
«Und da brauchst du gleich zehn Stück? Dein Schlitten wird stinken wie ein rollender Puff.»
Cox nahm ihm das Bäumchen weg. «Ich hab mich noch nicht für eine Duftnote entscheiden können. Übrigens, Irina kommt.»
Van Appeldorn zog interessiert die Brauen hoch. «Tatsächlich? Dann würde ich mich an deiner Stelle für Birkenduft entscheiden. In Russland wachsen doch viele Birken, oder? Da fühlt sich deine Flamme gleich wie zu Hause.»
Cox betrachtete ihn missbilligend. «Du beziehst deine Informationen anscheinend nur aus irgendwelchen Kitschfilmen. Irina kommt aus Sibirien. Die natürlichen Vegetationszonen Sibiriens sind breitenparallel ausgeprägt als arktische Kaltwüste, Tundra, Waldtundra und Taiga. Die boreale Nadelwaldzone bedeckt rund 7 Millionen Quadratkilometer, und sie besteht bis zum Jenissej überwiegend aus Fichte, Tanne, Lärche, östlich davon aus Lärche, Zirbelkiefer, Föhre und Fichte.»
Van Appeldorn fing an, schallend zu lachen.
Katharina zappelte in ihrem Kindersitz herum und versuchte, sich das Malbuch und die Filzstifte zu angeln, die Opa ihr heute geschenkt hatte. «Ich will malen!»
«Nicht im Auto», beschied Astrid. «Außerdem sind wir in zwei Minuten zu Hause. Da kannst du dich an den Küchentisch setzen mit deinen Malsachen.»
«Wir müssen Zeitung drunterlegen, sonst wird der Tisch bekrickelt.»
«Stimmt genau!»
«Du darfst auch ein Bild ausmalen, Mama, und der Papa auch.»
Astrid kicherte. «Du bist aber großzügig heute.» Sie strich Toppe übers Knie. «Was sollen wir essen?»
«Ich will Pommes!», kam es von hinten.
Astrid drehte sich um. «Wie heißt das Zauberwort?»
«Ich will Pommes, bitte. Ich will bitte Pommes, bitte, mit bitte Mayo, bitte, und mit bitte Ketchup, bitte.»
«Gute Idee!» Astrid schaute Toppe an. «Ich hab heute nämlich überhaupt keine Lust zu kochen.»
Der feixte. «Schon gut, ich hole uns gleich welche, aber wie heißt das Zauberwort?»
Sie lehnte sich rüber und küsste ihn auf den Mundwinkel.
«Mama!», tadelte Katharina. «Das heißt, bitte, Papa, geh Pommes holen, bitte.»
Zu Hause angekommen, ging Toppe zuerst einmal nach oben in sein Zimmer. «Ich mache mich sofort auf den Weg. Ich will nur ganz kurz noch telefonieren. Ihr zwei könnt ja schon mal den Tisch decken.»
Katharina zog eine Schnute. «Ich will doch erst malen!»
«Dann los!» Astrid nahm eine Zeitung vom Stapel auf der Eckbank und breitete sie auf der Tischplatte aus. «Wir decken heute einfach nicht. Wir essen direkt aus dem Schälchen.»
«Das ist Ferkelei», befand Katharina.
«Nicht, wenn man Servietten hat.»
Toppe scharrte ungeduldig mit den Füßen. Erst nach dem siebten Klingeln nahm Escher ab.
«Haben Sie das Puzzleteil gefunden?»
«Möglich wär’s.» Toppe musste trotz aller Anspannung schmunzeln. «Sehen Sie, die Soko hat sich damals im Ermittlungsverlauf hauptsächlich auf Fälle aus Ihrer Vergangenheit konzentriert und sich um die, die Sie gerade in Bearbeitung hatten, nicht mehr intensiver gekümmert.»
«Weil es da überhaupt nichts von Bedeutung gab, nichts, was irgendwie mit Alinas Entführung zu tun haben konnte.» Escher klang deutlich enttäuscht.
«Vielleicht stimmt das, aber es gibt auch eine andere Möglichkeit», entgegnete Toppe. «Was Ihnen und der Soko vordergründig banal vorgekommen sein mag, könnte für den Täter eine besondere Bedeutung gehabt haben. Und denken Sie noch einmal an das Motiv. Wenn es nicht Rache war, kann es nur Erpressung gewesen sein. Aber dabei kann es nicht um Geld gegangen sein, 150 000 Mark sind einfach zu wenig. Also wollte man etwas anderes von Ihnen. Sie sollten etwas tun oder vielleicht auch lassen. Was kann das gewesen sein? Etwas, was damals aktuell war. Denken Sie darüber mal in Ruhe nach!»
Escher schwieg.
«Man hat Sie seinerzeit vom Dienst suspendiert, nicht wahr?», fragte Toppe. «Wann genau war das?»
«Nach zwei Tagen schon, als Ihre Kollegen anfingen, mich in die Mangel zu nehmen.»
«Das passt», brummte Toppe zufrieden.
«Ich verstehe nicht … Oder meinen Sie …?»
«Den Anruf, ja. Ein einziger Anruf, weil Sie nämlich dem Täter nach Ihrer Suspendierung nichts mehr nützten oder ihm nicht mehr schaden konnten. Das wäre eine Erklärung. Haben Sie meine Handynummer? Rufen Sie an, wenn Ihnen etwas einfällt, egal wann.»
Katharina hatte die Zungenspitze in den Mundwinkel geschoben, wie immer, wenn sie sich konzentrierte, und kommentierte nuschelnd ihr Tun: «Die Wolken müssen blau … und eine gelbe Sonne … oh, über’n Rand gemalt! Ist nicht so sslimm, Mami?»
«Ist überhaupt nicht schlimm, das kann schon mal passieren.»
«Und das Haus mal’ ich ganz orange, so!»
Astrid schaute ihr über die Schulter. «Das ist nicht orange, Liebchen. Das ist eher rosa.»
«Miederfarben», dachte sie und erstarrte.
«Was soll ich bei der Pommesbude holen?»
Sie zuckte zusammen, als Toppe plötzlich hinter ihr stand. Dann zögerte sie nicht länger. «Katharina, darf ich mir deinen Stift ausleihen? Danke!»
Schnappte sich ihre Handtasche und lief an Toppe vorbei. «Ist bestimmt eine Schnapsidee, aber ich muss trotzdem nochmal nach Griethausen.»
Draußen lief sie ihrer Nachbarin in die Arme, die gerade klingeln wollte, um Helmut und sie auf ein Bier einzuladen. Das war bereits der dritte Annäherungsversuch, und Astrid ärgerte sich, dass sie wieder einmal nicht zusagen konnte, denn die Frau war ihr sympathisch. Sie musste in ihrem Alter sein, hatte vier halbwüchsige Kinder, einen blinden Cockerspaniel und zwei Katzen. Es war ein Rätsel, wie die ganze Bande in dem kleinen Reihenhaus zurechtkam, aber es schien zu funktionieren, denn Astrid hatte die Nachbarin noch nie gestresst erlebt. Tagtäglich karrte sie auf ihrem Fahrrad zentnerweise Lebensmittel an und sang dabei Kunstlieder, sehr schräg und sehr laut. So war Astrid bereits in den Genuss der munteren «Forelle» und des herzigen «Veilchens» gekommen und natürlich des eines Rösleins ansichtig werdenden Knaben. Einen Ehemann und Vater gab es auch, aber der schien nicht oft zu Hause zu sein. Er war eine ganze Stange älter und ein gutes Stück kleiner als seine Frau und hatte verschmitzte Augen.
Astrid versprach hoch und heilig, an ihrem nächsten freien Vormittag auf einen Kaffee zu kommen und dann einen gemeinsamen Kennenlerntermin abzusprechen.
«David schläft doch noch nicht, oder?»
«Ach wo, wir haben noch nicht einmal gegessen. Kommen Sie schnell, sonst brennen mir meine Speckläppchen an.»
Frau Wächter nahm Astrid mit in die Küche, wo es in einer Pfanne kräftig brutzelte, eine große Schüssel Kartoffelsalat stand auf dem Tisch.
«Ich habe David hochgeschickt, damit er sich schon mal seinen Schlafanzug anzieht. Wollen Sie ihn noch etwas fragen?»
«Ist nur so eine Idee», meinte Astrid zögernd. «Hätten Sie wohl mal ein Blatt Papier?»
«In der Schublade am Tisch.» Frau Wächter wendete mit ausgestreckten Armen die Fleischstücke, Fett spritzte auf. «Nehmen Sie sich einfach eins. Da bist du ja, David! Komm her, die Tante will dich noch was fragen. Setzen Sie sich doch!»
Astrid holte Katharinas Filzstift aus der Tasche, zeichnete ein miederfarbenes Quadrat aufs Papier und füllte es aus. «Weißt du, was das für eine Farbe ist, David?»
«Das ist Orange!»
«Okay, du hast mir doch von dem kleinen Auto erzählt, das hinter dem großen silbernen hergefahren ist. Hatte das Auto diese Farbe?»
«Ja, genau so eine, Orange.»
Seine Mutter schüttelte lachend den Kopf. «Orange? Na, du bist mir vielleicht ein Held!»
Astrid wagte noch einen Schuss ins Blaue. «Kannst du vielleicht schon ein bisschen lesen, David?»
Der nickte stolz.
«Druckbuchstaben schreibt und liest er schon ganz gut», erklärte Frau Wächter.
Astrid lief ein Schauer über den Rücken. «Du hast mir doch erzählt, dass du das Nummernschild von dem orangefarbenen Auto gesehen hast. Meinst du, du könntest mir das aufmalen?»
«Mach ich.» Er kletterte auf den Küchenstuhl, kniete sich hin und sah Astrid auffordernd an. «Ich brauch aber Schwarz.»
«Ach klar, warte, ich hab einen Kuli.»
David malte langsam und sorgfältig: KLEVE. Dann legte er die Stirn in Falten. «Und ganz hinten war eine 5», sagte er. «Weil ich nämlich auch bald fünf bin.»
«Waren da noch mehr Zahlen drauf?»
«Nur eine, aber ich weiß nicht, welche.»
Astrid hätte den Kleinen am liebsten geküsst, aber das hätte ihm wohl kaum gefallen. Stattdessen drückte sie ihm die Hand. «Ich danke dir, David. Du bist wirklich großartig.»
Sie wischte sich die feuchten Handflächen an ihren Jeans ab und startete den Wagen. Mit diesen Angaben, würde es ein Leichtes sein, den Halter des Fahrzeuges im Computer zu finden. Allzu viele Autos mit VE und einer 5 im Kennzeichen konnte es nicht geben, schon gar nicht in dieser merkwürdigen Farbe. Wenn David nicht phantasiert hatte … aber er schien ein eher nüchternes Kind zu sein.
Ein bisschen mehr Nüchternheit konnte ihr auch nichts schaden. Sollte sie Helmut anrufen? Nein, Peter hatte Rufbereitschaft, der konnte ihr helfen.
Sie atmete tief durch, um ihre flirrenden Nerven zu beruhigen, und griff zum Telefon.
«Du bist ein Teufelsbraten!», rief Cox begeistert.
Keine zehn Minuten hatten sie gebraucht.
KLE – VE 65, ein VW Golf GTI, Baujahr 88, Farbe: marsrot.
«Das erklärt’s», sagte Cox. «Wer sich in den Achtzigern ein rotes Auto gekauft hat, war angeschmiert, besonders bei VW. Die Farbe ist schrecklich ausgeblichen, bis hin zu Schweinerosa.»
Der Halter des Wagens hieß Bastian Schönfelder, geboren am 11. 4. 74, wohnhaft in der Hagschen Straße. Astrid schaute auf die Hausnummer. «Das ist das Dreitürmehaus an der Linde. Wollen wir?»
Cox hob mit dramatischem Gesicht die Fäuste und drückte beide Daumen.
«Ziemlich schnieker Schuppen», meinte er, als sie wenig später ihr Auto auf dem Marktplatz abgestellt hatten und die Straße überquerten.
«Ja, billig sind die Wohnungen hier nicht. Es gibt sogar ein Penthouse, und das in Kleve!»
Schönfelder wohnte im ersten Stock.
Cox ließ seinen Finger lange auf dem Klingelknopf, aber nichts rührte sich.
«Ausgeflogen! Dann probieren wir’s mal bei den Nachbarn.»
Der Türsummer, das Treppenhaus aus Sichtbeton mit rot lackierten Geländern, auch die Wohnungstüren waren rot.
Im ersten Stock erwartete sie ein magerer Mann mit Nickelbrille und miesepetrigem Blick. In seiner Wohnung lief der Fernseher, und es roch nach Räucherstäbchen und Pizza.
«Den Schönfelder habe ich schon länger nicht gesehen.»
«Wie lange?»
«Keine Ahnung.»
«Lebt der Mann allein?»
«Weiß nicht, glaub schon. Ich wohne erst seit zwei Monaten hier.»
«Irgendwelche Verwandte, Freunde, Bekannte, Nachbarn, mit denen er Kontakt hat, an die wir uns wenden könnten?»
«Nicht, dass ich wüsste. Aber ich glaube, der arbeitet im Kaufhof. Jedenfalls hab ich den ein paar Mal da gesehen.»
«Kann nicht irgendwas einfach mal klappen?», regte Astrid sich auf, als sie die Treppe wieder hinunterliefen. «Mir fällt zum Verrecken der Name des Geschäftsführers vom Kaufhof nicht ein.»
«Das wissen die in der Zentrale.» Cox hatte sein Handy schon am Ohr.
Er bekam die Privatnummer, aber beim Geschäftsführer meldete sich keiner.
Astrid hätte am liebsten laut gekreischt.
Cox gab sich gelassen. «Wann macht der Kaufhof auf? Um halb zehn? Fein, dann sind wir beide die Ersten, die bei denen morgen früh auf der Matte stehen.»
Astrid legte den Kopf in den Nacken und ließ die Schultern kreisen. «Ich bring dich zu deinem Auto, und dann fahre ich heim. Helmut wird sich sicher schon wundern, wo ich abgeblieben bin. Rufst du Norbert an und erzählst ihm, dass wir vielleicht etwas haben?» Sie stöhnte leise und drückte die Hände auf den Magen. «Meine Güte, ich komme um vor Hunger, das merk ich erst jetzt. Ich glaub, ich hol mir noch irgendwo was.»
Cox schaute tadelnd auf sie herab. «Ich versteh euch nicht, ihr esst wirklich zu den unmöglichsten Zeiten. So was kann man doch planen! Wenn ihr wüsstet, was ihr eurem Körper damit antut.»
Dazu hätte Astrid eine Menge sagen können, aber sie hielt den Mund.