Siebzehn

In der Wohnung war es stickig, und es roch nach Toilettenreiniger.

Sie streiften Latexhandschuhe über und öffneten erst einmal alle Fenster, es nieselte nur noch.

Die kleine Küche war blank geputzt. Die Kühlschranktür stand offen, das Gerät war abgeschaltet und leer geräumt. Auch im Wohnzimmer sah es ordentlich aus, auf dem marineblauen Teppichboden erkannte man noch die Spuren des Staubsaugers.

Es gab eine Schrankwand, in der ein paar Fotoalben standen und eine Sammlung kleiner Glastiere. Kein einziges Buch, stellte Toppe fest und öffnete die Schubladen. Ein buntes Sammelsurium von Prospekten, Kinokarten, Minzbonbons, Einwegfeuerzeugen und Heftpflaster in der einen, eine Geldkassette, Büroklammern, Stifte, Schere, Klebstoff und irgendwelche Schnipsel in der anderen. In einem beleuchteten Barfach stand eine einsame Flasche Kokoslikör.

Auf dem Couchtisch lagen, gerade ausgerichtet in einer Reihe, ein paar Zeitschriften, Stern, Gala, Für Sie und Freundin. Astrid sah sie sich genauer an. «Die sind alle von vor vierzehn Tagen.»

Neben dem Fenster hingen zwei gerahmte Fotografien, beides Studioaufnahmen. Das Hochzeitsfoto: Ein großer, athletisch gebauter Mann mit blondem Haar und auffallend blauen Augen lächelte ein wenig linkisch in die Kamera, die Braut im weißen Spitzenkleid mit Reifrock reichte ihm nicht einmal bis zur Schulter. Auf dem anderen Bild saßen die beiden dicht nebeneinander und blickten andächtig auf das Baby im Taufkleid, das die junge Frau im Arm hielt.

Alles in diesem Raum blitzte vor Sauberkeit, nur der Videorecorder und die Kassetten auf dem Bord darüber waren mit einer dicken Staubschicht überzogen.

Im Schlafzimmer stand ein Doppelbett mit zwei Kopfkissen und zwei Decken, offensichtlich frisch bezogen, die Wäsche duftete nach Weichspüler. Die Nachttischlampe auf der linken Bettseite war mit einem rosa Chiffontuch verhängt. Gegenüber vom Bett ein verspiegelter Kleiderschrank, obendrauf ein roter Nylonkoffer, in der Lücke zwischen Schrank und Wand zwei leere Windelkartons.

Die letzte Tür, die sie öffneten, führte in ein himmelblaues Kinderreich. Wolkentapeten, Teddybären, wohin man schaute, auf den Vorhängen, der Bettwäsche, der Wickelauflage. Im Gitterbettchen tummelten sich Kuscheltiere, eine Spieluhr baumelte über dem Kopfende. Auch hier nirgendwo ein Stäubchen.

Cox betrachtete die Pflanzen auf der Fensterbank, die blattlos, genau wie die im Wohnzimmer und in der Küche, in trockener, rissiger Erde steckten.

«Manchmal hasse ich unseren Job aus tiefstem Herzen.»

Astrid hatte die Schubladen der Wickelkommode aufgezogen und strich leise über die Kleidungsstücke. «Größe 68», murmelte sie. «Mein Gott, der war noch so klein!»

Cox wandte sich um. «Ich nehm mir das Bad vor.» Es klang schroff.

Van Appeldorn ging ins Schlafzimmer, und Toppe verschwand in der Küche.

Sie brauchten nicht einmal zwanzig Minuten.

«In der einen Hälfte vom Kleiderschrank hängt nur Frauenkleidung», berichtete van Appeldorn. «Ich habe sämtliche Hosen-, Jacken- und Manteltaschen durchgesehen, aber nichts, nicht einmal ein Kassenbon. Der Koffer auf dem Schrank ist leer. In den Nachttischen liegen ein paar Duftkerzen und ein Taschenbuch, The Joy of Sex, das ist alles.»

Toppe hatte sich durch einen dicken Stapel Altpapier gearbeitet, dabei aber nur Tageszeitungen, Anzeigenblätter und Werbebroschüren gefunden.

«Im Badezimmer stehen lauter Kosmetika rum, Enthaarungscreme, Parfums und so», sagte Cox. «Und über der Heizung hängt ein Babybadetuch.» Er hielt ihnen einen Plastikbeutel hin. «Ich habe einen Kamm gefunden, in dem ein paar Haare steckten. Die meisten davon haben Wurzeln. Die dürften reichen für eine DNA-Analyse.»

«Tja», meinte van Appeldorn. «Es bleibt eigentlich nur noch das Zeug im Wohnzimmerschrank. Das haben wir nicht gründlich durchgeschaut.»

«Warte!» Cox holte die beiden Windelkartons aus dem Schlafzimmer. «Das passt alles hier rein, ist ja wenig genug. Im Büro gucken wir’s dann in Ruhe durch.»

Er wollte nur noch raus aus diesen gespenstischen Räumen.

Als sie die Kisten im Kofferraum verstauten, fiel es ihm wieder ein: «Zu Schönfelders Wohnung gehört ein Keller.» Er blinzelte, um die verblasste Schrift auf dem Schlüsselanhänger entziffern zu können: Keller 10 für Wohnungen 3 und 4.

Viel gab es nicht in dem kahlen Raum. An der einen Seite eine männliche Schaufensterpuppe, der beide Hände fehlten, ein Kleiderständer auf Rollen, ein Wäschekorb voll alter Schulbücher und Hefte, ein nagelneues Dreirad, an der gegenüberliegenden Wand ein brauner Karton, der offenbar zum größten Teil Fotos enthielt.

Wäschekorb und Karton nahmen sie mit. Auf der Rückfahrt sprachen sie kein Wort.

Astrid ging nicht mit ins Büro. «Ich muss Katharina abholen, sie ist auf dem Ponyhof.»

«Was?» Toppe blieb stehen.

«Ja, meine Eltern haben sie hingebracht, aber sie konnten nicht die ganze Zeit bleiben.»

«Wie bitte?» Er wurde kreidebleich. «Willst du mir erzählen, dass Katharina mutterseelenallein auf diesem Hof ist?»

«Himmel, natürlich nicht! Clemens passt auf sie auf, bis ich komme.»

«Bist du komplett verrückt geworden?», schrie er. «Bist du blind? Hast du nicht gesehen, wie dieser Kerl unser Kind immer anguckt? Der ist krank!» Er schob sie rüde beiseite und rannte zu seinem Auto.

Astrid war schwindelig. «Jetzt dreht er komplett durch.» Sie sah Cox und van Appeldorn an, voller Verzweiflung. Beide legten ihr gleichzeitig die Hand auf die Schulter. «Mach Feierabend für heute», raunte Cox.

Astrid schüttelte wie betäubt den Kopf.

Van Appeldorn stieß sie an. «Jetzt hau schon ab!»

Sie ging.

 

Toppe merkte nicht, dass er zu schnell fuhr, er hatte viel zu viel damit zu tun, die Bilder, die ihn überfielen, zu sortieren: Alina Escher, wie sie zerschmettert und blutend in einer Grube lag, ihr offener Blick auf dem Foto auf seinem Schreibtisch, Eschers gequältes Gesicht, immer noch nach all den Jahren, Katharinas Kirschenaugen, voller Freude und Vertrauen, und Böhmer, der sich mürrisch gab, wenn man ihn beobachtete, der völlig dahinschmolz, wenn Katharina zu ihm getrippelt kam. Er hatte sie Engelchen genannt und Prinzessin, wenn er dachte, keiner hörte ihn.

Die Einmündung zum Reiterhof nahm Toppe so schnell, dass das Heck des Wagens ausbrach und am Torpfosten entlangschrabte. Er achtete nicht darauf, bremste erst am Stallgebäude ab und stieß die Fahrertür auf.

Katharina schrie.

Sein Herz setzte aus, er stürmte um die Ecke.

«Nehmen Sie Ihre dreckigen Finger von meinem Kind! Sofort!»

Wieder schrie Katharina vor Wonne, denn Böhmer wirbelte sie im Kreis herum, dass ihr Haar nur so flog.

«Nochmal», jubelte sie.

Aber Böhmer hielt erschrocken inne, sein Lachen war weggewischt.

Toppe packte ihn am Arm und schüttelte ihn.

Katharina purzelte zu Boden und fing an zu weinen.

 

Astrid nahm Toppe die immer noch verstörte Katharina ab.

«Du lebst ja noch, Muckelchen! Wer hätte das gedacht? War’s schön?»

«Ja.» Katharina wurde schwer in ihren Armen.

«Ich hab dir Schokoladensuppe gekocht. Ist das gut?»

«Jaa …» Katharina legte ihren Kopf auf Astrids Schulter und steckte den Daumen in den Mund.

«So müde?»

«Will sslafen!»

Toppe schloss die Haustür. «Hör zu, Astrid, es tut mir Leid, ich weiß auch nicht, was …»

«Vergiss es!» Ihre Lippen bebten. «Ich bring sie ins Bett, sie ist viel zu müde zum Essen. Und danach geh ich nochmal weg.»

Er nickte. «Natürlich.»

 

Peter Cox fand keine Ruhe.

Wie jeden Dienstag hatte er seine Bettwäsche gewechselt und einen frischen Schlafanzug rausgelegt. Danach hatte er Irina eine lange Mail geschickt, ihr von den Fortschritten im Mordfall Geldek erzählt – natürlich ohne Namen zu nennen – und auch aus seiner Verwirrung keinen Hehl gemacht.

Seinen allabendlichen Becher Ovomaltine hatte er wie immer mit einer Prise Muskat gewürzt und es sich damit in seinem Ohrensessel bequem gemacht, um die «Tagesthemen» zu schauen, aber er konnte sich einfach nicht konzentrieren.

Es war ihm unbegreiflich, dass Astrid aus dem hohlen Bauch heraus mitten in die zwölf getroffen hatte, wie es schien. Und die anderen wunderten sich nicht einmal.

Er schaute auf die Uhr und haderte eine Weile mit sich selbst. Schließlich ging er zum Bücherregal, zog den Brockhausband BEG – DAM heraus und entnahm seinem Vorrat für «Krisensituationen» ein kleines Stückchen belgischen Konfekts und eine gelbliche Zigarette russischen Ursprungs.

«Nervennahrung», dachte er. Danach würde er bestimmt schlafen können.

 

Arend Bonhoeffer stammte aus einer wohlhabenden westfälischen Akademikerfamilie. Er war ebenso alt wie Toppe und lebte seit vielen Jahren mit einer bekannten Malerin zusammen. Seine Leidenschaft galt gutem Essen, gutem Wein, kostbaren Erstausgaben und englischen Autos. Früher hatten Toppe und Astrid sich regelmäßig mit ihm getroffen, sie hatten gemeinsam gekocht und gegessen und oft bis in den frühen Morgen über Gott und die Welt geredet.

Als er die Haustür öffnete, schaute er Astrid nur kurz an, zog sie dann wortlos in seine Arme und drückte tröstend ihren Kopf an seine Schulter.

«Wollen wir uns nach draußen setzen?», fragte er nach einer Weile. «Ich hab schon Wein aufgemacht.»

«Ich muss doch noch fahren», antwortete Astrid mit dünner Stimme.

«Wozu gibt es Taxis? Mach einem einsamen Mann die Freude, ja? Ich bin nämlich mal wieder Strohwitwer, Sofia bereitet in Stuttgart eine Ausstellung vor.»

Im Vorübergehen nahm er eine Rotweinkaraffe und zwei Burgundergläser von der Anrichte mit.

In der gemauerten Feuerstelle auf der Terrasse loderte ein Holzfeuer.

«Tut mir Leid, dass ich dich einfach so überfalle, aber ich weiß mir keinen Rat mehr, ich muss einfach mit jemandem reden.» Astrid fuhr sich durchs Haar. «Helmut zieht sich völlig von mir zurück. Wenn ich versuche, an ihn ranzukommen, lauf ich ins Leere. Er ist deprimiert, irgendwie vollkommen stumpf, meistens jedenfalls. Mittlerweile glaube ich, er will sich von mir trennen, aber ich weiß nicht, warum. Ich weiß nicht, was ich falsch mache.»

Bonhoeffer füllte die Gläser und zögerte einen Moment. «Du machst gar nichts falsch, Astrid. Es liegt an Helmut, nicht an dir.»

Sie begrub ihr Gesicht in den Händen. «Aber ich verstehe es nicht. Solange wir alle auf dem Hof gelebt haben, lief es doch gut mit uns, sehr gut.»

Bonhoeffer streckte die Beine aus, schaute ins Feuer und drehte das Weinglas zwischen den Händen. «Was weißt du eigentlich von Helmut, wie er groß geworden ist, seine Eltern, seine Kindheit?»

«So gut wie nichts. Ich weiß eigentlich nur, dass er ein Einzelkind war, dass sein Vater früh gestorben ist und dass seine Mutter ihn wohl ziemlich verwöhnt hat.»

«So kann man es auch ausdrücken!» Bonhoeffer schnaubte. «Ich habe seine Mutter noch gekannt. Sie war eine verbitterte Frau, die Helmut entsetzlich unter der Knute hatte, moralisch meine ich.» Er überlegte einen Moment. «Helmuts Vater ist als sterbenskranker Mann aus dem Krieg zurückgekehrt, er hatte Lungentuberkulose», fuhr er dann fort. «Die Mutter hatte panische Angst, dass Helmut sich anstecken könnte, und hat ihn nicht mal in die Nähe des Vaters gelassen. Helmut hat seinen Vater nie anfassen dürfen, er ist nie von ihm in die Arme genommen worden, hat nie auf seinem Schoß gesessen. Und die Mutter hat darauf geachtet, dass Helmut leise war, nicht herumtobte, nicht laut lachte, damit der Kranke nicht gestört wurde. Bestimmt hat Helmut sich angestrengt, aber er war eben ein kleiner Junge, beim Tod des Vaters erst vier Jahre alt, und er konnte nicht perfekt sein. Ich bin sicher, er hatte Schuldgefühle, als der Vater starb, und ich bin mir ebenfalls sicher, dass die Mutter ihm die nicht genommen hat, eher im Gegenteil.»

Astrid schluckte. «Woher weißt du das alles? Wieso hat er dir das alles erzählt und mir nicht?»

Arend Bonhoeffer strich ihr beschwichtigend über die Hand. «Wir haben so manche Nacht durchgezecht, als wir noch jung waren, da wird die Zunge schon mal locker. Und du darfst nicht vergessen, dass seine Mutter damals noch war und ihm das Leben schwer machte, das musste er irgendwo loswerden. Die Frau war ein wandelnder Vorwurf. Natürlich hatte sie hart arbeiten müssen, um sich und das Kind durchzubringen und Helmuts Ausbildung zu finanzieren, aber das hat sie ihren Sohn auch spüren lassen, immer.»

Astrid kämpfte mit den Tränen.

Bonhoeffer bückte sich zum Feuer und legte ein paar Holzscheite nach. «Helmut hat sich nie geliebt gefühlt.» Er drehte sich zu Astrid um. «Er hält sich nicht für liebenswert, und deshalb mag er auch nicht glauben, dass du ihn liebst.»

Sie schüttelte heftig den Kopf. «Wir sind seit über sieben Jahren zusammen, Arend, und die ganze Zeit ist es gut gegangen.»

«In der Wohngemeinschaft, sicher.» Er kam zum Tisch zurück und setzte sich wieder. «Da waren genug Leute da, die sich um dich kümmerten, die dich gern hatten, dir Geborgenheit gaben. Ich denke, so hat Helmut das empfunden. Und jetzt hat er das Gefühl, dass er ganz allein für dein Glück verantwortlich ist.»

«Das ist doch hirnrissig!»

«Natürlich ist das hirnrissig.»

Sie kaute auf ihrem Daumennagel herum. «Du meinst, er ist davon überzeugt, dass ich ihn eines Tages sowieso verlasse, und deshalb zieht er sich vorsichtshalber schon mal von mir zurück, damit es dann nicht so wehtut?»

«Das ist eine Möglichkeit. Oder aber er treibt dich mit seinem Verhalten so weit, dass du es nicht mehr aushältst und gehst, und damit wird er in seiner Überzeugung bestätigt: Man liebt mich nicht, weil ich es nicht wert bin.»

«Aber das ist krank, Arend», schluchzte sie auf.

Er griff nach ihrer Hand, aber sie merkte es gar nicht, starrte ins Leere. «Deshalb verhält er sich auch so paradox mit Katharina», murmelte sie. «Einerseits klammert er und andererseits …»

«Ich habe mich gewundert, dass Helmut sich überhaupt so eine enge Bindung an Katharina gestattet hat», meinte Bonhoeffer. «Zu seinen Söhnen hat er erst gar keine Beziehung aufgebaut, die hat er nur versorgt. Deshalb habe ich auch gedacht, er hätte sich endlich in den Griff gekriegt.»

Astrid biss sich auf die Lippen. «Jetzt kapier ich auch, warum er den Escherfall unbedingt lösen will.» Sie erzählte von der Entführung und von Toppes Besessenheit. «Ich hatte immer das Gefühl, er sieht in dem kleinen Mädchen seine eigene Tochter.»

Bonhoeffer ging, um eine neue Flasche Wein zu holen. Als er zurückkehrte, saß Astrid mit geschlossenen Augen da. «Ich bin auf einmal todmüde.»

«Du kannst gern bleiben, ich richte dir das Gästezimmer.»

«Das ist lieb, danke. Aber Weglaufen bringt’s wohl nicht. Außerdem will er ja anscheinend genau das erreichen. Den Teufel werd ich tun!»

Bonhoeffer lächelte.