Eins

«Sie wissen doch bestimmt, wer das ist», meinte Look, der Kollege von der Schutzpolizei, mit gewitztem Blick.

Helmut Toppe, Leiter der Klever Mordkommission, nickte – er hatte das Opfer gleich erkannt. Langsam ging er neben dem Toten in die Hocke und legte ihm die Fingerspitzen an den Hals – warm.

«Ja, lang ist der noch nicht hinüber», sagte Look. «Der Doktor hat es noch versucht, aber da war wohl nix mehr drin. Der war übrigens eher hier wie wir, der Doktor, und er wartet da vorne.»

Toppe kam wieder auf die Beine und sah auf die Uhr: 16 Uhr 25. Der Notarzt stand beim Brückenpfeiler und sprach mit den beiden Rettungssanitätern.

«Hat der Arzt ihn aus dem Auto geholt?»

«Nee, nee, der lag schon hier, sagt der Doktor, ziemlich genau da, wo er jetzt liegt.»

Toppe betrachtete das Autowrack, neben dessen offener Fahrertür der Tote im Staub lag.

Der Wagen war offensichtlich mit hoher Geschwindigkeit frontal gegen ein massives Absperrgitter geprallt.

Obwohl Toppe sicher Hunderte von Malen über die Emmericher Rheinbrücke gefahren war, hatte er diesen schmalen Weg aus groben Betonplatten nie bemerkt. Er verlief in einem leichten Bogen parallel zum Oraniendeich unter der Brückenauffahrt hindurch am Flussufer entlang, das jetzt, wo der Rhein Niedrigwasser hatte, mehr als hundert Meter entfernt war. Kurz bevor der Weg wieder zum Deich hinaufführte, bog ein kleiner Pfad scharf ab und lief geradeaus auf den Fluss zu. Der Pfad war gesperrt, und genau diese Absperrung hatte der Fahrer erwischt, obwohl sich rechts und links davon meilenweit flache, unbegrenzte Wiesen hinzogen.

Toppe runzelte die Stirn. «Wozu dient dieser Weg eigentlich?»

«Die Leute sagen Pontonstraße dazu», erklärte Look eifrig. «Ist eigentlich nur für Militär, dass die Pioniere hier eine Notbrücke bauen können, im Fall des Falles. Wird aber auch gern von Kennern benutzt, die keinen Bock haben, stundenlang oben an der Kreuzung zu stehen. Ah, gut», Look beschattete die Augen mit der Hand, «da sind ja auch endlich die Spurensicherung und Freund Norbert.»

Toppes Kollege Norbert van Appeldorn kam den Weg heruntergeschlakst, wie immer ohne Eile, hinter ihm der Mann vom Erkennungsdienst, Klaus van Gemmern, mit seinen beiden schwarzen Koffern.

Van Appeldorn und Toppe wechselten einen kurzen Blick. «Geldek», sagte Toppe und wies mit dem Kinn auf den Toten.

Norbert van Appeldorn bleckte die Zähne. «Na, guck mal an!» Er schaute sich gründlich um und schüttelte dann den Kopf. «Warum hast du uns eigentlich anrollen lassen?»

Eine zarte Röte kroch Look vom Hals hinauf in die Wangen. «Gibt keine Zeugen, was hier passiert ist», haspelte er, wurde aber schnell wieder ruhig. «Ich weiß, es sieht wie ein Unfall aus. Hab ich ja auch erst gedacht. Obwohl, dann wär es doch wohl eher Selbstmord gewesen. Der ist von Griethausen her gekommen und musste ganz scharf nach links, wenn er das Gatter erwischen wollte, und groß gebremst hat er auch nicht. Aber dann hab ich was gefunden. Kommt mal mit.» Er führte sie acht, neun Meter vom Toten weg und zeigte ihnen eine dunkle Bremsspur. «Die ist eindeutig von einem anderen Auto, wenn man sich die Profile anguckt, und für mich sieht die frisch aus. Und dieser Wagen kam aus der Gegenrichtung, da oben vom Coprayer Hof runter.»

«Na ja», meinte van Appeldorn gedehnt, und auch Toppe schaute skeptisch. Look war kein schlechter Polizist, aber er war nicht unbedingt der hellste.

Dessen Blick wurde trotzig. «Und der Doktor hat auch noch was entdeckt.»

Der Notarzt war nicht mehr ganz jung und angenehm kompetent. «Um 15 Uhr 37 hat uns ein Passant benachrichtigt – Unfall auf der Pontonstraße –, und wir waren fünf, sechs Minuten später hier. Wir hatten’s ja nicht weit. Der Mann lag neben der Fahrertür auf der Seite und hatte bereits keine Vitalfunktionen mehr. Wir haben trotzdem reanimiert, leider erfolglos.»

«Können Sie sagen, woran er gestorben ist?», wollte Toppe wissen, als sie sich beide über den Toten beugten.

«Nein, nicht mit Sicherheit. Der Mann hat zahlreiche Verletzungen, aber möglicherweise ist er einem Schädelhirntrauma erlegen. Sehen Sie hier.» Der Arzt deutete auf eine tiefe Wunde oberhalb der linken Schläfe des Toten. «Natürlich kann er sich diese Verletzung beim Aufprall zugezogen haben, vielleicht ist er aus dem Fahrzeug geschleudert worden. Da ist nur eine Sache …»

Behutsam drehte er die linke Hand des Toten so, dass man die Außenfläche sehen konnte. Über alle vier Finger und den Handrücken zogen sich tiefe, blaurote Zahnabdrücke.

Van Appeldorn gab einen leisen Pfiff von sich. «Alle Achtung!»

Der Arzt lächelte ein bisschen verlegen. «Es kann natürlich sein, dass der Mann sich vor Schreck oder in Panik selbst in die Hand gebissen hat, aber das will mir nicht so recht in den Kopf.»

Toppes Kommentar dazu ging in lautem Bremsenquietschen unter, das von der Brücke her kam. Auch auf dem Deich hatten inzwischen Autos angehalten, und Neugierige versuchten, sich einen Reim zu machen auf das Bild, das sich ihnen bot.

«Wie wär’s denn mal mit Absperren, Jungs?», rief van Appeldorn, aber Look telefonierte schon um Verstärkung.

Klaus van Gemmern, der die ganze Zeit unauffällig mit der Spurensicherung beschäftigt gewesen war, hatte offenbar gute Ohren. Er war jetzt dabei, dem Toten Plastiktüten über die Hände zu ziehen, damit keine möglichen Spuren verwischt wurden. Dann nahm er seine Kamera und machte, langsam die Leiche umrundend, weitere Aufnahmen. Sie sahen, wie er plötzlich innehielt und sich über die hintere Stoßstange des Unfallwagens beugte.

«Ist was?», rief van Appeldorn.

Van Gemmern drehte sich widerwillig um – er hasste es, wenn man ihn bei der Arbeit störte. «Weiß ich noch nicht. Lasst den Wagen einschleppen. Da gibt’s was abzuklären. Ach ja, und sagt denen in der Pathologie, bevor die die Leiche waschen, erst die Hände! Man weiß ja nie, wer Dienst hat.»

Toppe nickte. «Ich wette, der legt wieder eine Nachtschicht ein», meinte er leise.

Van Appeldorn zuckte die Achseln. «Wenn man sonst nichts hat im Leben … Ich wäre ihm aber durchaus dankbar, wenn er uns schnell was liefern würde, denn im Augenblick passt hier nichts so recht zusammen.» Der Wind wehte ihm das lange schwarze Haar in die Augen.

Helmut Toppe zündete sich eine Zigarette an. «Lass uns mal den ganzen Weg abgehen.»

Aber auch als sie eine halbe Stunde später wieder neben Toppes Auto standen, waren sie nicht schlauer geworden. Toppe gab die Kurzwahl für die Prosektur in Emmerich in sein Handy ein. «Ich rufe erst mal Arend an und frage, wann er die Sektion machen kann.»

Mit Arend Bonhoeffer, dem Chef der Pathologie, war er seit vielen Jahren befreundet, aber in den letzten Monaten hatten sie sich kaum gesehen. Bonhoeffer freute sich. «Dass du dich mal meldest! Ach so, beruflich. Nein, kein Problem, den kann ich mir gern noch heute vornehmen. Ich habe jetzt gleich allerdings noch einen Termin, hm, sagen wir gegen halb acht? Und komm doch selbst dazu. Vielleicht können wir hinterher noch ein Glas Wein zusammen trinken. Wann gebt ihr eigentlich endlich eine Einweihungsparty?»

«Wir sind doch noch gar nicht richtig zu Hause», antwortete Toppe säuerlich.

Van Appeldorn hatte währenddessen mit dem Bestatter telefoniert, der den Leichnam in die Prosektur bringen sollte. «Willst du bei der Obduktion dabei sein, oder soll ich dir das abnehmen?», fragte er und grinste frech – sie kannten ihre jeweiligen Schwächen.

Aber Toppe überraschte ihn. «Ich mach das schon. Du kannst inzwischen Geldeks Witwe benachrichtigen und rauskriegen, warum der hier unterwegs war.»

Van Appeldorn zog die Augenbrauen hoch. «Ich bin davon ausgegangen, dass du das übernimmst. Du kennst die Dame schließlich, ich nicht.»

«Eben drum.» Jetzt grinste Toppe. «Sollte Arend was Wichtiges finden, ruf ich dich an», sagte er und stieg ins Auto. «Ich denke, ich fahr nochmal kurz nach Hause.»

 

Im Schritttempo rollte er den Betonweg entlang und betrachtete den unruhigen Himmel, der nicht zu wissen schien, was er wollte – dunkelgraue und schneeweiße Wolkengetüme, dazwischen blaue Flecken mit dahineilenden Federwölkchen. Es war viel zu kühl für Anfang August, und den ganzen Tag waren kurze Schauer niedergegangen. Noch vor einer Woche waren es an die dreißig Grad gewesen, aber er hatte darüber nur geflucht und schwitzend mit Teppichrollen, Farbeimern und Möbelstücken gekämpft. Fast ihr ganzer Jahresurlaub war für den Umzug draufgegangen, Astrids und seiner.

An der Kreuzung hielt Toppe an und kurbelte das Fenster herunter. Der Rhein roch frisch, angenehm vertraut.

Sein wievielter Umzug war das nun gewesen? Er dachte an die verschiedenen Stationen seines Lebens und rechnete – der neunte –, und so, wie es aussah, der einzige, auf den er wirklich gern verzichtet hätte. Ob er sich in dem Reihenhaus in der spießigen Schröderstraße jemals zu Hause fühlen würde?

Endlich konnte er sich in den dichten Verkehr Richtung Kleve einfädeln.

Er dachte an ihre Wohngemeinschaft auf dem Bauernhof zurück, die sie hatten aufgeben müssen, und spürte einen Anflug von Wehmut. Die WG, die ihn in dieser Kleinstadt so in Verruf gebracht hatte: er zusammen mit seiner Geliebten Astrid Steendijk, mit seiner Ex-Frau Gabi und den beiden Söhnen. Helmut Toppe, der Casanova, der gleich zwei Frauen hatte. Tja …

Als Gabi und er sich getrennt hatten, war er schon eine ganze Weile mit Astrid zusammen gewesen, die als Küken ins KK 11 gekommen war. Dass die beiden Frauen hinter seinem Rücken Freundinnen geworden waren, hatte ihn schockiert und verunsichert. Er hatte sich verraten gefühlt. Und als sie ihm dann auch noch stolz den Bauernhof präsentierten, den man günstig kaufen konnte, und mit der Wohngemeinschaftsidee gekommen waren – weil es doch viel besser war für die Kinder und überhaupt ein großes Abenteuer –, hatte er alle Stacheln aufgestellt. Und dann war es die beste Zeit seines Lebens geworden. Auch als Henry dazugekommen war, Gabis neuer Freund, und natürlich Katharina, die Tochter, die Astrid und er nur halb geplant in die Welt gesetzt hatten.

Nach der Kurve hinter Warbeyen tauchten plötzlich die vertrauten Silhouetten der Schwanenburg und der Stiftskirche vor ihm auf, hoch oben auf dem Berg, der sich, wenn man vom Rhein her auf die Stadt zufuhr, ganz unvermittelt aus der Niederung erhob.

Seit fast dreißig Jahren lebte er jetzt in Kleve. Entwickelte er so langsam Heimatgefühle?

Er hatte ihren Bauernhof gemocht, das Haus, den alten Obsthof, den Gemüsegarten, die Schafe, die Hühner und besonders sein Zimmer mit dem großen Kamin und all seinen Büchern. Die Küche, in der jeder mal für alle gekocht hatte, in der man zusammenkam. Das Provisorische, das Unberechenbare. Christian und Oliver, seine beiden Jungen, waren nacheinander aus dem Haus gegangen, aber das hatte nicht allzu viel verändert. Vor fünf Monaten hatte man Henry eine Stelle in Wien angeboten, die er nicht ausschlagen wollte, und Gabi war ihm mit Freuden gefolgt. Von nichts auf gleich hatten sie den Hof verkauft, und von dem, was nach dem Abzahlen der Schulden für ihn und Astrid übrig geblieben war, hatten sie sich so gerade eben das kleine Reihenhaus leisten können.

Als er in die Schröderstraße einbog, wurde ihm die Kehle eng: fünfundfünfzig Jahre alt, und er war wieder genau dort, wo er vor mehr als zwanzig Jahren schon einmal gewesen war, Vater, Mutter, Kind, vier Zimmer, Küche, Diele, Bad und Gästeklo.

Er ließ den Wagen neben dem winzigen Vorgarten ausrollen, der mit seiner Konifere und den drei verhungerten Dahlienstauden noch deutlich die Handschrift des Vorbesitzers trug.

Als er ausstieg, schallte ihm Astrids gereizte Stimme vom offenen Badezimmerfenster oben entgegen: «Jetzt bleib bitte da sitzen und rühr dich nicht!»

Dann seine fröhliche Tochter: «Fein gemacht?»

«Nein, das hast du gar nicht fein gemacht, verdammt nochmal!»

Toppe seufzte stumm und schloss die Haustür auf – braunes Alu mit Strukturglas.

«Helmut? Komm rauf und hilf mir! Katharina hat das ganze Bad unter Wasser gesetzt. Und bring noch einen Aufnehmer mit.»

Astrid hockte auf dem Boden, klatschte den Aufnehmer in die Überschwemmung und wrang ihn über dem roten Eimer aus. Sie trug nur ein T-Shirt und einen knappen Slip, ihr langes, dunkles Haar war zerzaust, und er spürte, wie Begehren in ihm aufflackerte.

Katharina saß, rosig und feucht, eingemummelt in ein Badetuch, auf dem Klodeckel und baumelte mit den Beinen. «Mama is sauer», stellte sie sachlich fest.

«Das kann man wohl sagen!» Astrid funkelte Toppe so wütend an, dass dieser schnell sein Jackett auszog, es über das Treppengeländer warf und den zweiten Aufnehmer zückte.

«Wie ist das denn passiert?»

«Na, wie schon? Ich setze sie in die Wanne, und natürlich klingelt das Telefon. Ich war höchstens drei Minuten draußen, aber in der Zeit hat deine Tochter beschlossen, die Wanne müsse mal ordentlich geputzt werden, und zwar von außen, mit der Brause!»

«Warum hast du denn mit dem Baden nicht gewartet, bis ich komme? Wir gehen doch gern zusammen in die Wanne.» Toppe verkniff es sich, seiner Tochter zuzuzwinkern.

Astrid strich sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und sah ihn an. «Ich hatte heute einfach keine Lust auf ein langes Gesicht. Du kannst es doch nicht leiden, wenn sie nach Pferd riecht.»

«Ach, deine Eltern mal wieder», meinte er nur und leerte den Eimer über der Badewanne aus.

Seit ein paar Monaten holten Astrids Eltern ihre Enkelin nachmittags ein-, zweimal in der Woche von der Tagesstätte ab, um mit ihr zu einem Ponyhof zu fahren. Astrids Eltern, erfolgreiche Fabrikanten, Klever Hochadel, die es nie akzeptiert hatten, dass ihre Tochter mit einem sechzehn Jahre älteren Habenichts zusammenlebte, immer noch ohne Trauschein. Die es nicht nachvollziehen konnten, dass ihr einziges Kind gern bei der Kripo war und auch mit Baby von Anfang an Vollzeit arbeiten wollte. Wenn sie auch Toppe geflissentlich aus dem Weg gingen, ihre Enkelin hatten sie immer geliebt, und je älter Katharina wurde, umso mehr bemühten sie sich um engen Kontakt.

«Ja.» Astrid stand auf und sah ihn bedrückt an. «Ich sag’s dir besser gleich. Sie haben ihr heute ein eigenes Pony gekauft.»

Katharina gluckste zufrieden. «Niko!»

Toppe stellte den Eimer ab und drehte sich weg. «Wir sollten bald essen. Ich muss gleich nochmal los.»