Neun
Auf dem Weg zum Präsidium setzten sie Katharina bei Astrids Eltern ab.
«Früher haben wir sie mitgenommen, wenn wir beide am Wochenende ins Büro mussten», brummte Toppe.
«Da war sie auch noch ein Baby und hat die meiste Zeit geschlafen», gab Astrid gereizt zurück.
«Wenn sie nicht so verwöhnt würde, wäre sie nicht so anspruchsvoll und könnte sich auch mal eine Weile allein beschäftigen.»
«Sie ist nicht anspruchsvoll, sie ist bloß einfach erst drei Jahre alt. Für dich wäre sie am besten gleich erwachsen auf die Welt gekommen!» Astrid stieg aus und knallte die Autotür.
Ihr Vater kam mit ausgebreiteten Armen die Treppe heruntergelaufen. Er küsste seine Tochter, gab ihr einen Klaps auf den Po und ging dann in die Knie. «Da kommt ja meine kleine Opamaus!»
Katharina hüpfte ihm munter entgegen.
«Und wenn Kati dem Opa ein dickes Küsschen gibt, dann kriegt sie auch eine Überraschung.»
Toppe biss sich auf die Lippen. «Was ist es denn diesmal?», murmelte er und trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. «Ein eigenes Rennpferd? Oder vielleicht doch eher ein schnuckeliger, kleiner Lear-Jet?»
Astrid winkte noch einmal und stieg wieder ins Auto. «Du glaubst gar nicht, wie mich das nervt.» Sie klang zerknirscht. «Mit mir war der früher genauso.»
Toppe schwieg.
«Blöd, dass wir nachher extra nochmal nach Asperden fahren müssen, um meinen Wagen abzuholen», meinte sie. «Tut mir Leid, aber ich hätte nicht mehr selbst fahren können. Ich hatte ganz schön einen im Tee. Weiß gar nicht mehr, wann ich eigentlich zu Hause war.»
«Zwanzig nach fünf.»
«Meine Güte, kein Wunder, dass ich so kaputt bin! Hab ich dich etwa geweckt? Ich war doch ganz leise.»
«Ungefähr so leise wie eine Herde Büffel.» Wider Willen musste er schmunzeln. «Ich hab noch nie jemanden so laut schleichen hören.»
Astrid errötete. «Doof!»
«Ist doch egal, Hauptsache, du hattest Spaß.»
«Na ja», sie senkte den Blick, «mit dir zusammen wär’s schöner gewesen.»
«Da bin ich mir nicht so sicher. Ich glaube, ich bin in letzter Zeit nicht besonders amüsant.»
«Ist mir kaum aufgefallen.»
Toppe räusperte sich. «Wir können dein Auto auch morgen abholen. Katharina wird nach dem Kindergarten sicher zu Niko wollen, oder? Und du möchtest dich doch bestimmt mit deinem neuen Reitpferd anfreunden.»
Sie wandte sich ab. «Ich weiß gar nicht, ob ich wirklich wieder regelmäßig reiten will.»
«Aber warum denn nicht? Es wird dir gut tun.»
Sie lachte bitter auf. «So stellst du dir das also vor! Ich soll mich vergnügen, damit du in Ruhe Trübsal blasen kannst. Mein Gott, ich würde viel lieber was machen, das uns beiden gut tut, aber das scheint nicht in deinen Kopf zu gehen … Ach, Mist, vergiss es, falscher Zeitpunkt, wir reden später drüber.»
Der Parkplatz am Präsidium war praktisch leer, und auf der Wache ging es gemächlich zu. Der Diensthabende blätterte in einer Zeitschrift und mümmelte ein Stück Sahnetorte. «Morgen!» Er winkte sie heran. «Wollt ihr auch ein Stücksken? Hat Theo springen lassen, der hat heute Geburtstag.»
«Danke», meinte Toppe. «Später vielleicht.»
«Dann ist bestimmt nix mehr da.»
«Auch nicht schlimm. Ruhigen Dienst noch!»
Astrid schloss die Bürotür auf. «Haben Norbert und Peter gestern eigentlich irgendwelche Fortschritte gemacht?»
«Schon, ich erzähl’s dir gleich. Ich koche uns nur schnell eine Kanne Kaffee.»
Aber als er zurückkam, telefonierte Astrid schon mit Peter Cox. Toppe stellte den Kaffee auf dem Schreibtisch ab und studierte Cox’ sauber gezeichnetes Diagramm. Schließlich legte Astrid den Hörer auf. «Diese Liechtensteiner Stiftung ist ja wohl der Hammer!» Sie schien auf einmal hellwach. «Aber ob das irgendwas mit dem Mord zu tun hat?»
«Kaum, der einzige Geschädigte bei der Konstruktion ist der Staat, und der bringt im Allgemeinen keine Leute um.» Er setzte sich an den Schreibtisch, zog einen Block heran und fing an zu schreiben.
«Hat Norbert dir von der Geldek erzählt?», fragte sie.
«Hm …»
«Wir sollten uns die nochmal vorknöpfen.»
«Hm …»
Astrid verdrehte die Augen, nahm ihre Notizen, suchte die Namen der Geschäfte heraus, die Verhoeven am Mittwoch beliefert haben wollte, und griff zum Telefonhörer.
Toppe schaute gedankenverloren auf, nahm sein Handy und ging hinaus auf den Flur. Er erwischte Günther auf dem Golfplatz.
«Peter Verhoeven ist sauber», verkündete Astrid, als er wieder ins Büro kam. «Und wen hast du angerufen?»
«Günther, er soll mir bis morgen die Akte von Geldeks Prozess damals wegen seines betrügerischen Konkurses raussuchen. Mir kommt das Strafmaß, das Escher gefordert hat, reichlich milde vor, wenn ich es richtig in Erinnerung habe.»
«Was hast du bloß an diesem Escher gefressen?», schimpfte sie. «Mich interessiert im Augenblick viel mehr, was mit Martina Geldek los ist. Warum hat sie plötzlich solche Angst? Vielleicht hat sie ja doch was mit dem Mord zu tun. Vielleicht hat sie ja einen beauftragt, und der erpresst sie jetzt. Peter meint, ums Erbe könnte es ihr nicht gegangen sein, sie hätte selbst genug Geld. Aber es gibt auch noch andere Motive. Die Putzfrau hat erzählt, wie sehr die Geldek an ihrem Mann gehangen hat. Was ist, wenn Geldek eine andere hatte und seine Frau verlassen wollte, und sie ist einfach durchgeknallt?»
«Ein gedungener Mörder?» Toppe schüttelte den Kopf. «Überleg doch mal! Würde der sich auf eine Schlägerei einlassen, bei der er womöglich selbst etwas abkriegen könnte? Würde der als Waffe einen Stein wählen, der da zufällig rumliegt?»
«Nein, wahrscheinlich nicht.» Astrid rieb sich die schmerzenden Schläfen. «Du hast ja Recht. So einer würde schießen, oder sich eine andere sichere Methode aussuchen.»
«Eben, und wie sollte er Geldek unter die Rheinbrücke gelockt haben? Auf keinen Fall würde der ihn in einem Auto verfolgen, oder? Nein, die Tat riecht eindeutig nach Affekt.»
«Wenn wir mit unserer Verfolgungstheorie richtig liegen! Lass uns bloß hoffen, dass sich ein paar holländische Zeugen melden, sonst können wir wieder ganz von vorn anfangen.» Sie zündete sich eine Zigarette an und drückte sie nach dem ersten Zug angeekelt wieder aus. «Aber dass die Geldek urplötzlich – nach dem Mord an ihrem Mann – panische Angst hat, das willst du doch nicht abstreiten?»
«Natürlich nicht.»
«Aber warum, verflucht nochmal? Ob es irgendwas mit ihren Baufirmen zu tun hat?»
«Wir werden es herausfinden», erwiderte er ruhig.
«Warum sprichst eigentlich nicht du mal mit ihr?» Sie hob herausfordernd das Kinn. «Schließlich kennst du sie von früher und kannst sie am besten einschätzen.»
«Das wag ich zu bezweifeln.»
Der Montag begann mit einer kleinen Sensation: Peter Cox kam zu spät zum Dienst!
«Ich wollte nur kurz durch die Waschstraße fahren, aber das hat länger gedauert, als ich dachte.»
«Waschstraße?», staunte van Appeldorn.
«Na ja», druckste Cox, «eigentlich wollte ich gleich ganz lässig fragen, ob einer bei mir mitfahren will, aber jetzt hab ich’s versaubeutelt. Ich habe mir nämlich ein Auto zugelegt! Wollt ihr mal gucken?»
Bereitwillig folgten sie ihm alle auf den Parkplatz und bewunderten das gute Stück gebührend. Aber als sie ihre kurze Frühbesprechung abgehalten hatten, war ihre Laune wieder gedämpft, und der restliche Tag verlief zunächst einmal mehr oder minder unerfreulich.
Toppe traf sich mit dem Staatsanwalt und erfuhr, dass Günther 1991 noch gar nicht in Kleve gewesen war und Geldeks Fall nicht kannte. Aber er hatte sich, wie gewünscht, die Prozessakte angesehen, und Toppe musste sich belehren lassen, dass das Strafmaß «völlig im Rahmen des zu Erwartenden» gewesen sei. Er spürte Missbilligung, aber das wunderte ihn nicht. Was maßte er es sich als kleiner Kripomann, der nie eine Universität von innen gesehen hatte, auch an, etwas von Jura verstehen zu wollen?
Van Appeldorn und Cox durften sich Kurt Kortens mit Leidensmiene vorgetragene Lebensgeschichte anhören: Er wäre ohne Vater aufgewachsen, hätte mit fünfzehn Jahren Eugen Geldek kennen gelernt, der ihn von Anfang an wie einen Sohn behandelt hätte. Sicher hätte er krumme Dinger gedreht, manchmal auch in Geldeks Auftrag, und dafür riss er jetzt hier seine Zeit runter. Aber Geldek habe ihn niemals fallen lassen. Im Gegenteil, seit Korten im Knast war, hätte Geldek seine Mutter unterstützt, ihr eine schöne Wohnung besorgt, in der sie mietfrei wohnte, und ihr auch sonst finanziell unter die Arme gegriffen, damit sie sich ein ruhiges Leben machen und was Anständiges auf den Tisch bringen konnte, wenn ihr Sohn auf Urlaub kam.
Sie nahmen Korten ganz schön in die Mangel, besonders van Appeldorn war da nicht zimperlich, aber er blieb bei seiner Geschichte und verhielt sich vollkommen glaubwürdig. Norbert van Appeldorns Laune sank bis nahe an den Gefrierpunkt. Eugen Geldek – der barmherzige Samariter!
Astrid blieb im Präsidium, weil frühmorgens das DNA-Ergebnis der Speichelprobe aus der Bisswunde an Geldeks Hand gekommen war. Schon seit Jahren machte man bei Gewalt-, besonders bei Sexualdelikten, DNA-Analysen, seit 1998 gab es eine DNA-Datei. Astrid setzte sich also an den PC, um einen Abgleich zu machen, war aber bei den gespeicherten Personen noch nicht fündig geworden, als Toppe zurückkehrte.
Sie spürte, dass er wütend und frustriert war, ging jedoch nicht darauf ein, sondern erklärte, sie müsse für eine Weile vom Bildschirm weg und überredete ihn zu einem Besuch bei Martina Geldek.
Toppe, dem das Gewissen schlug, weil er sich an der alltäglichen Ermittlungsarbeit so wenig beteiligt hatte, willigte schnell, wenn auch halbherzig, ein. Wie er erwartet hatte, öffnete die Geldek ihnen nicht, obwohl sie zu Hause sein musste, denn die Hunde liefen frei, gebärdeten sich wie Furien, und die Überwachungskamera summte.
Erst als Cox und van Appeldorn von ihrem Ausflug nach Pont zurückkamen, schien der Tag eine neue Wendung zu nehmen. Im Flur vor dem Büro wartete nämlich ein Mann.
«Ach, toch! Ich dachte schon, du hättest Feierabend gemacht.»
Van Appeldorn stöhnte nur, schloss die Tür auf und ging voraus ins Büro. Ein Holländer der besonders freundlichen Art!
«Feierabend?» Cox zog die Augenbrauen hoch. «Um halb zwölf mittags?»
«Ja gut, ich weiß nicht so viel von die Arbeitszeit von die duitse Beamten. Was war es dann? Ein – wie nennst du das – ein Frühstückspause?»
Bei Cox fiel der Groschen recht langsam. «Was können wir denn für Sie tun?», fragte er aufgeräumt und überhörte van Appeldorns neuerliches Stöhnen.
«Du für mich? Das ist gewaltig! Ich hab in die Zeitung gelesen, dass du Hilfe nötig hast und da bin ich natürlich meteen – warte mal – da bin ich natürlich sofort gekommen.»
Van Appeldorn hielt die Tür weit auf. «Stap maar naar binnen, meneer! Wij zijn heel dankbaar, dat u ons helpen wilt.»
«Ou, eine Beamte, die multilinguale Talenten hat, das ist echt eine Überraschung! Willst du Unterstützung von die Euregio bekommen?»
Van Appeldorn rang sich ein Grinsen ab. «Keine schlechte Idee.»
«Ich soll trotzdem deine Sprache gebrauchen. Daran bin ich toch gewohnt in dein Land.»
Der Mann, der in Millingen aan de Rijn lebte, hatte am Mittwochnachmittag mit seiner Frau eine Spazierfahrt durch den Niederrhein gemacht.
«Wir wollten nach die Kernwasserwunderland von unsere Landsmann. Also, wir reiten lecker über die Deich, denn man hat da eine ausgezeichnete Ausblick auf die wunderbare chemische Fabriken von Emmerich, begreifst du. Und plötzlich ist da hinter uns so ’n laute Krach. In mein Spiegel sehe ich zwei verrückte Autos. Eine große und eine kleine, die gegen die große stoßt. Und sie kommen dicht bei.»
«Was haben Sie gemacht?», wollte Cox wissen. «Man kann doch dort nirgends ausweichen.»
«Ich habe gebetet und mein Frau hat ein bisschen geschrien.»
Als die beiden Wagen bis auf zwei, drei Meter herangekommen waren, sei plötzlich der größere – «das war vielleicht ein Mercedes» – nach links in einen Weg geschlingert. Der andere habe noch mehr Gas gegeben und den Holländer in der Kurve überholt.
«Ich bin beinah von die Deich abgekommen. Da hat mein Frau noch ein bisschen mehr geschrien und ich habe ein bisschen mehr gebetet.»
Er hatte gerade noch sehen können, wie der Kleinwagen ohne zu bremsen über die Kreuzung geschossen war und dabei um ein Haar einen anderen Wagen gerammt hatte.
«Haben Sie das Kennzeichen gesehen?», fragte van Appeldorn.
«Ja, natürlich, es war duits!»
Cox bemerkte van Appeldorns finstere Miene und schaltete sich ein: «Mehr wissen Sie nicht?»
«Ich nicht, aber mein Frau hat gesehen, dass es eine Nummernplatte von Kleve war. KLE, dann eine Buchstaben oder zwei und zwei Ziffern. Das denkt sie zumindest.»
«Was war das für ein Auto? Ich meine, welche Marke?»
«Marke? Ou, ich begreife. Das wissen wir nicht. Eine kleine, das ist klar. Und die Farbe war so etwas wie Rot.»
«Ach was?» Van Appeldorn legte den Kugelschreiber aus der Hand. «Und was bedeutet ‹so etwas wie Rot›? War der Wagen nun rot oder nicht?»
Der Holländer zog nur die Augenbrauen hoch und betrachtete sein Gegenüber interessiert.
«Also? War das Auto rot? War es pink, lila, purpur, bordeaux, orange?»
«Oranje?» Der Mann schmunzelte. «Das sollte ich wohl wissen. Oranje war es nicht. Aber welche andere Farbe precies, das erinnere ich mich nicht.»
«Und was passierte dann?», hakte Cox nach. «Sind Sie geradeaus gefahren, weiter Richtung Kernwasserwunderland?»
«Das ist richtig. Aber ich bin toch ein bisschen bang vor die duitse Polizei. Ich habe gewartet, bis die Straße frei war.»
«Wie mutig, dass Sie trotzdem zu uns gekommen sind», knurrte van Appeldorn. «Haben Sie den Kleinwagen danach noch einmal gesehen? Sie fuhren ja auf derselben Straße.»
«Mein Name ist nicht Schumacher.»
«Kurz nach der Kreuzung geht links ein Weg zum Rhein hinunter. Haben Sie den bemerkt?»
«Ich habe nicht nach links geguckt. Ich hab mein Frau angeguckt. Die ist nämlich noch schöner als deine chemische Fabriken. Und sie ist bijzonder schön, wenn sie wütend ist. Und sie war bijzonder wütend auf die duitse Autofahrer.»
Cox nahm das Protokoll auf, das der Mann erst unterschrieb, nachdem er es sorgfältigst durchgelesen hatte. Dann verabschiedete er sich. «Siehst du, nun kannst du endlich lecker dein Mittagspause machen!»
Toppe hatte das Protokoll gefunden.
Es war Walter Heinrichs gewesen, der Maren Escher gefragt hatte, warum sie selbst und nicht ihr Mann zur Polizei gefahren war, um Alina als vermisst zu melden. «Sie ist mein Kind», hatte sie geantwortet, mehr nicht. Walter schien das gereicht zu haben, denn er hatte nicht weiter nachgehakt.
Toppe rieb sich den verspannten Rücken, stand auf und öffnete beide Fensterflügel. Es war wieder wärmer geworden und in der Luft lag der Geruch von frisch gemähtem Gras. Die Dämmerung färbte alles grau, irgendwo lachte ein Mann.
«Sie ist mein Kind» … Was wollte sie damit sagen? Escher ist nicht Alinas Vater, er ist nicht für sie verantwortlich? Keiner ist mit einem Kind enger verbunden als die Mutter?
«Helmut?»
Er schreckte zusammen und drehte sich um. Astrid lächelte ihn an. «Ich hab uns eine Flasche Wein aufgemacht. Kommst du runter? Gleich läuft ein Hitchcock, ohne Werbepausen!»
Er schüttelte den Kopf und deutete mit einer vagen Handbewegung auf die fünf prall gefüllten Ordner, die er mit nach Hause genommen hatte. «Ich hab noch einiges zu tun …»
Das Lächeln verschwand. «Na, dann viel Spaß noch!» Damit war sie schon die Treppe hinuntergelaufen.
Er seufzte und schloss die Tür. Die Soko Alina war gleich am Tag nach der mutmaßlichen Entführung zusammengestellt worden: Vierzehn erfahrene Leute, die in den folgenden Wochen quasi rund um die Uhr gearbeitet hatten. Es gab keinen Hinweis auf mangelnden Einsatz oder Schlamperei.
Auf der anderen Seite aber gab es keine unlösbaren Fälle. Irgendwo in diesen Hunderten von Protokollen steckte eine Spur, eine Aussage, irgendetwas, das irgendjemand übersehen oder auch nur falsch interpretiert hatte, ein Häkchen, das in die falsche Öse gerutscht war.
Über sechzig Leute hatten sich damals bei der Soko gemeldet, weil sie Alina gesehen haben wollten, oder weil sich jemand, den sie kannten, ungewöhnlich verhielt, sich verdächtig machte. All diesen Tipps war man nachgegangen. Über sechzig Berichte, die er lesen musste. Er gähnte. Und er musste sich vor Ort ein Bild machen. Nössling – Eschers Haus, schrieb er auf seinen Block.
Von Anfang an hatte die Soko auch ein mögliches Sexualdelikt in Betracht gezogen. Man hatte Speichelproben von allen einschlägig bekannten Männern der Umgebung genommen, sogar Speichelproben von allen Freigängern der Forensik in Bedburg-Hau. Das alles in der Hoffnung, Alina zu finden und an ihrer Kleidung oder ihrem Körper Spuren von Körperflüssigkeiten oder Hautpartikel des Täters.
Toppe griff nach seiner Zigarettenschachtel, hielt aber plötzlich inne. Da war sie ja endlich – Eschers zweite Vernehmung! Zwei Tage nach Alinas «Verschwinden».
Escher hatte den Anruf des Entführers entgegengenommen – Zeugen dafür gab es nicht. Ein einziger Anruf, ein einziger Satz, danach Schweigen. Der angebliche Entführer hatte sich nie wieder gemeldet. Hatte Escher sich diesen Anruf aus den Fingern gesogen? Hatte er selbst etwas mit dem Verschwinden des Kindes zu tun?
Eschers Alibi für die fragliche Zeit an jenem 12. Juni 1997 war mager. Am Morgen hatte er zwei Verhandlungen gehabt, danach einige Besprechungen. Um 14 Uhr 20 war er in sein Büro gegangen, um zu arbeiten. Nach eigener Aussage hatte er es einmal verlassen, um zur Toilette zu gehen. Man hatte schließlich eine Zeugin aufgetrieben, eine junge Rechtsanwaltsgehilfin, die Escher auf dem Flur gesehen hatte. Die genaue Uhrzeit konnte sie allerdings nicht nennen, gegen fünfzehn Uhr, vielleicht früher, vielleicht später. Die Zeugin stand in keinem privaten Kontakt zu Escher, auch das hatte man überprüft. Der Anruf von Maren Escher war um kurz nach vier eingegangen, und ihr Mann hatte sich sofort auf den Heimweg gemacht. Ein Kollege erinnerte sich, Escher auf dem Parkplatz an der Schwanenburg gesehen zu haben. Aber auch dieser Zeuge konnte keine genaue Angabe zur Uhrzeit machen. Es müsse allerdings vor siebzehn Uhr gewesen sein, denn er habe sich gewundert, dass Escher früher als üblich das Gerichtsgebäude verließ.
In allen weiteren Vernehmungen war Escher bei seiner Version geblieben, und seine Frau hatte anscheinend nicht den geringsten Zweifel an seiner Geschichte.
Toppe fand einen handschriftlichen Vermerk von Walter Heinrichs am Rand und nahm sich daraufhin einen anderen Ordner vor. Pressearchiv, notierte er. Die Buchstaben verschwammen ihm vor den Augen. Er war todmüde. Umständlich streifte er seine Schuhe ab, ließ sich aufs Bett fallen und löschte das Licht. Escher war also schon vor der «Entführung» kein unbeschriebenes Blatt gewesen …