Zehn

Am nächsten Morgen war Astrid gereizt, nörgelte an Katharina herum, trieb sie zur Eile an. Toppe ließ sein Frühstück stehen und nahm seine Tochter auf den Arm. «Ich bringe sie heute in den Kindergarten, einverstanden? Dann hast du noch eine halbe Stunde Ruhe für dich.»

In der Tagesstätte war es noch still. Katharina war meistens das erste Kind, das kam, aber ihr gefiel das. Da hatte sie die Erzieherin eine Weile für sich allein, konnte schon mal das Kaninchen füttern oder sich ihr momentanes Lieblingsspielzeug schnappen, ohne sich mit einem anderen Kind einigen zu müssen. Toppe durfte sie immer nur bis zur Tür bringen, hineingehen wollte sie allein, weil sie schon «groß» war. Die Erzieherin winkte ihm zu, sie strotzte nur so vor Energie. Wie beneidenswert – er winkte zurück und ging. War er eigentlich auch im Kindergarten gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. Auch von seinen ersten Schuljahren hatte er nur verschwommene Bilder im Kopf.

Er fuhr gar nicht erst zum Präsidium, sondern gleich zum Pressearchiv. Dort kannte man ihn, wusste, dass er nicht gern am Bildschirm arbeitete, und gab ihm gleich den Schlüssel für den Keller, wo die gebundenen Jahrgänge der Niederrhein Post verstaubten.

Er war gerade dabei, die ersten schwarzen Bände vom Juni 1997 zu einem Tisch zu schleppen, als sein Handy vibrierte. Fluchend holte er es aus der Tasche und drückte auf den Knopf.

Es war Astrid: «Tobias Joosten ist tot!»

«Wie bitte?» Er setzte sich hin. «Geldeks Finanzberater?»

«Ja! Man hat ihn eben gefunden auf einem Bauernhof in Reichswalde. Die Kollegen sagen, er ist übel zugerichtet worden.»

«Zugerichtet?»

«Ja, Herrgott nochmal! Was ist denn los mit dir? Wo steckst du überhaupt? Wir sind schon unterwegs, du kommst also am besten direkt hin. Der Hof liegt gleich am Wald. Eberhard heißen die Leute, und die Adresse ist An der Hand. Weißt du, wie du dahin kommst?»

«Ich werd’s schon finden.»

Der Hof – ein Langhaus mit Wohnräumen vorn, Kuhstall und Tenne im hinteren Teil, quer dazu eine Scheune – lag einsam, weit außerhalb vom Dorf. An drei Seiten wurde er eingerahmt von Feldern mit jungen Zuckerrüben, Mais und Ackerbohnen, an der vierten Seite vom Reichswald, der hier besonders finster war, weil kaum Laubbäume das dunkle Geflecht der Tannen und Fichten auflockerten.

Toppes Wagen holperte über den unbefestigten Feldweg, der schlammig und nach dem vielen Regen in den letzten Tagen voller Pfützen war. Das ganze Anwesen wirkte ein wenig verwahrlost. Neben der Scheune watschelten ein paar schmutzige Gänse im Matsch und suchten vergeblich nach Futter. Hinter dem Haus grasten auf einer Obstwiese ein paar Mutterschafe und Lämmer unter den wachsamen Blicken eines kapitalen Bocks. Toppe fuhr im Schritttempo vorbei. In ihrer Wohngemeinschaft hatten sie auch Schafe gehabt, aber ihr Bock war längst nicht so ein Prachtexemplar gewesen wie dieser hier, dafür umso hinterhältiger.

Er verzog den Mund. Wahrscheinlich lebten seine Tiere schon nicht mehr. Das Paar aus Oberhausen, das den Hof mitsamt der Schafe, Hühner und Katzen gekauft hatte, war zwar ganz wild aufs Landleben gewesen, hatte jedoch von Tuten und Blasen keine Ahnung und schien auch nicht besonders langmütig zu sein.

Er hielt neben dem Polizeiwagen und wechselte ein paar Worte mit den Kollegen.

«Sie kannten das Opfer, hab ich gehört?»

«Na ja», meinte Toppe, «ich hab nur einmal mit ihm gesprochen.» Er sah das Kindergewusel in Grieth wieder vor sich und merkte, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte.

Der Tote lag kopfunter an einer Böschung, die die Weide zum Wald hin begrenzte. Neben ihm hockte van Gemmern und machte Aufnahmen. Ein paar Meter entfernt standen van Appeldorn und Astrid und sprachen mit einem vierschrötigen Mann, der seine Hände nicht ruhig halten konnte. Er fuhr sich damit über den Kopf, steckte sie in die Hosentaschen, rieb sich die Arme. Vermutlich war er es gewesen, der Joosten gefunden hatte. Toppe stieß das Gatter auf und ging zur Leiche hinüber. Joosten lag auf dem Rücken. Sein Haar war blutdurchtränkt, über der linken Augenbraue klaffte eine große Wunde, mitten auf der Stirn war eine bläulich verfärbte Beule, an der linken Halsseite eine eingeblutete Stelle. Er hatte Abschürfungen im Gesicht und an den Händen. Sein dunkelgrauer Anzug war lehmverschmiert.

Toppe trat einen Schritt zurück. Der laubbedeckte Boden hier war weich und feucht und teilweise von jungen Brombeerranken überwachsen.

«Haben Sie schon was?»

Van Gemmern nahm die Kamera runter. «Nichts.»

Astrid war herübergekommen. «Der Bauer hat ihn gefunden, Knut Eberhard, als er heute früh die Schafe tränken wollte. Viel gesagt hat er bis jetzt noch nicht. Er scheint mir ziemlich von der Rolle zu sein. Willst du mit ihm sprechen?»

«Nein, macht ihr das. Ich muss nochmal weg.»

«Wohin denn?»

«Erklär ich euch später.» Toppe hatte sich schon zum Gehen gewandt.

Van Gemmern, der sich gerade zu seinem Koffer hinunterbeugte, hielt mitten in der Bewegung inne und starrte ihm nach.

«Na, fein», murmelte Astrid und ging zurück zu van Appeldorn und dem Bauern. «Können wir uns vielleicht irgendwo hinsetzen, Herr Eberhard? Es schreibt sich dann leichter.»

Der Mann guckte verständnislos.

«Wir müssen ein Protokoll aufnehmen», erklärte van Appeldorn.

Eberhard nahm sie mit ins Haus und blieb einen Augenblick unschlüssig im dunklen Flur stehen, in dem es nach ungelüfteten Betten roch. Dann stieß er die Tür zur Linken auf. «Wir setzen uns wohl am besten an den Küchentisch.» Verlegen schob er das benutzte Frühstücksgeschirr zur Seite, holte einen fettigen Spüllappen und wischte auf der Tischplatte herum. «Ich bin noch nicht dazu gekommen …»

Die Küchenschränke, mit billigem Kunststoff furniert, hatten schon bessere Tage gesehen, der Herd war braun verkrustet, die Fensterscheiben blind. Auch der beigefarbene Fliesenboden war schon länger nicht mehr mit Putzmitteln in Berührung gekommen. Es gab zwei Stahlrohrstühle mit orangefarbenen Plastiksitzen und eine Eckbank, auf der ein Käfig mit einem fetten Meerschweinchen stand, das einen beißenden Geruch verströmte. Von der Decke baumelten mehrere Fliegenfänger mit dickem bräunlich gelbem Leim und reicher Beute, dennoch war die angestoßene Keramiklampe über dem Tisch voller Fliegendreck.

Astrid setzte sich vorsichtig auf die Stuhlkante und nahm die Personalien auf: Knut Eberhard, 53 Jahre, von Beruf Landwirt.

«Wir gehen einfach noch einmal alles durch», meinte van Appeldorn. «Also, um wie viel Uhr haben Sie den Toten gefunden?»

«Muss so um halb neun gewesen sein. Ich bin, wie gesagt, raus, weil die Schafe ihr Wasser brauchten, und wie ich um die Ecke komm, seh ich auf der hinteren Weide so ein Bündel liegen. Ich wusste erst gar nicht, was das war.» Er verschränkte die Hände und sah zu Boden. «Ja, und dann war das der Tobias …»

«Ach, Sie kannten Joosten? Das haben Sie vorhin gar nicht erwähnt.»

«Hab ich nicht?» Eberhard wischte sich über die Stirn. «Doch, den kenn ich, jedenfalls früher. Das ist der Sohn von unseren Nachbarn drüben am Ende vom Maisfeld. Wohnt aber schon lang nicht mehr zu Hause.»

«Und was wollte Joosten hier bei Ihnen?»

«Das wüsst ich auch gern!»

«Sie haben gesagt, Sie hätten nichts Ungewöhnliches bemerkt heute Morgen. Jetzt denken Sie noch einmal in aller Ruhe nach, vielleicht haben Sie ja zumindest etwas gehört. Manchmal fällt einem so was erst später wieder ein.»

Der Bauer legte den Kopf schief und stierte ins Leere. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Eine Schmeißfliege surrte träge herum und stieß immer wieder gegen die Fensterscheibe über der Spüle. Schließlich richtete Eberhard seinen Blick wieder auf van Appeldorn. «Nein, gehört hab ich auch nichts.»

«Waren Sie allein im Haus?»

«Ja.»

«Wer lebt außer Ihnen noch hier?»

Knut Eberhard war verheiratet und hatte drei Söhne und zwei Töchter, aber nur die Jüngste wohnte noch daheim. Sie war Zahnarzthelferin in Kalkar und um halb acht zur Praxis gefahren. Eberhards Frau arbeitete als Krankenschwester im St.-Antonius-Hospital, hatte in dieser Woche Frühschicht und das Haus schon um Viertel vor sechs verlassen. Der Bauer versorgte den Hof allein, eine Milchkuh, zwei Mastschweine, zwölf Rinder, die Schafe, die Gänse und ein paar Hühner. Bis auf die beiden Weiden und ein Stück Wald hatte Eberhard sein Land verpachtet.

«Und von der Pacht können Sie leben?»

«Nee», meinte der Mann düster, «wir sind schon auf das Gehalt meiner Frau angewiesen.» Er schaute Astrid an. «Ich war einzigster Sohn und musste den Hof übernehmen, ging ja nicht anders. Aber da war schon nicht mehr viel damit los, und ich hatte immerhin fünf Mäuler zu stopfen. Und als dann so nach und nach alles kaputtging … Haben Sie eine Ahnung, was neue Maschinen kosten? Ich musste verpachten, mir blieb gar nichts anderes übrig.»

 

Toppe staunte über die Flut der Zeitungsartikel, die damals erschienen war. Natürlich hatte eine Kindesentführung in dieser kleinen Stadt tagelang die erste Seite des Lokalteils beherrscht, aber auch Wochen später war sie noch der Aufmacher gewesen. Nur hatte sich der Ton deutlich geändert und wollte so gar nicht zum Stil des normalerweise seriösen Blattes passen. Urheber war anscheinend ein Reporter, den Toppe kannte und der ihm immer schon schmierig vorgekommen war. Offenbar hatte der in Eschers Vergangenheit herumgestochert und war dabei auf eine Goldader gestoßen, die er gründlich ausgebeutet hatte.

Toppe rümpfte die Nase: Klever Staatsanwalt unter schlimmem Verdacht. Exfrau bei der Scheidung: Ich hatte Angst um meine kleinen Mädchen.

Er konnte unmöglich den ganzen Tag hier bleiben und all diese Artikel durcharbeiten, es kamen ja auch noch die aus dem überregionalen Teil dazu. Also machte er sich daran, die entsprechenden Seiten zu kopieren. Es dauerte fast zwei Stunden.

 

Astrid kämpfte mit den Tränen. Sie hatte den Wagen geparkt, aber sie schaffte es noch nicht, auszusteigen und ins Büro hochzugehen.

Ihr war die Aufgabe zugefallen, Joostens Frau zu benachrichtigen. Oft hatte sie so etwas noch nicht gemacht, meistens übernahm das einer von den Männern.

Sie war mit Susanne Joosten ins Wohnzimmer gegangen, weil sie wollte, dass die Frau saß, wenn sie ihr die Schreckensnachricht überbrachte. Die fünf Kinder, die sich hinter dem Sofa versteckt hatten, hatte sie nicht bemerkt. Sie hatte ja nicht einmal gewusst, dass Joosten überhaupt Kinder hatte! Kleine Kinder, aber doch alt genug zu verstehen. Als die Mutter dann auch noch anfing, aus tiefer Kehle zu brüllen, hatten sich alle fünf weinend und schreiend auf Astrid gestürzt und mit ihren kleinen Fäusten auf sie eingeschlagen. Dann war die Oma gekommen und hatte mit sicherer Hand Ordnung in das Chaos gebracht, ohne erst zu fragen, was eigentlich passiert war.

Astrid schob die Erinnerung beiseite und gab sich einen Ruck.

Im Büro ging es drunter und drüber, die Presse gab keine Minute Ruhe, und van Appeldorn wusste nicht, wo ihm der Kopf stand. Tobias Joosten war kein Unbekannter. Als Geldek ihn zu seinem Finanzberater gemacht hatte, war das in Kleve in aller Munde gewesen: ein junger Kerl von fünfundzwanzig Jahren in einer solchen Position!

Vorhin am Tatort war es zu einem ärgerlichen Zwischenfall gekommen. Viele Reporter hörten routinemäßig den Polizeifunk ab, und eine ganze Reihe von ihnen war dann auch fast gleichzeitig mit der Kripo am Eberhardhof eingetroffen und hatte sich an der Absperrung herumgedrückt. Einer allerdings, ein Fotograf, war abgebrühter gewesen als die anderen. Er hatte sich durch den Wald an den Tatort herangeschlichen, und bevor er van Appeldorn aufgefallen war, hatte er schon seine Aufnahmen von der blutigen Leiche im Kasten. Van Appeldorn war ihm noch nachgesetzt, hatte ihn aber nicht erwischt, sondern sich bei der Aktion lediglich den rechten Fuß umgeschlagen, der jetzt schmerzhaft puckerte. Er wusste, dass er nichts ausrichten würde, aber es war ihm trotzdem eine Genugtuung, dem zuständigen Chefredakteur, nachdem er ihn einmal ausfindig gemacht hatte, ordentlich den Marsch zu blasen.

Der Leichnam war in die Pathologie gebracht worden, und Cox versuchte, Bonhoeffer zu erreichen, um einen Termin für die Sektion abzusprechen. Wie man ihm mitteilte, war der Pathologe im Krankenhaus, und Cox wurde -zigmal hin und her verbunden, hörte sich an die hundertmal an, dass seine «Leitung gehalten» würde, blieb in einer Warteschleife stecken, versuchte es noch einmal, mit demselben Ergebnis. Auch von den Pathologieassistenten war keiner aufzutreiben. Bonhoeffers Handy war abgeschaltet, und bei ihm zu Hause meldete sich nur der Anrufbeantworter.

Astrid hatte sich still an den PC gesetzt und angefangen, ihren Bericht zu schreiben, als van Appeldorn endgültig der Kragen platzte. «Bin ich denn hier im Irrenhaus?» Kurzerhand legte er den Hörer neben das Telefon. «Wo steckt Helmut, zum Teufel nochmal?», fuhr er Astrid an.

«Ich habe nicht die geringste Ahnung.»

Ihr Tonfall ließ van Appeldorn stutzen, und er schaute sie prüfend an. «Du bist reichlich blass um die Nase. War’s schlimm bei Frau Joosten?»

«Es war scheußlich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in den nächsten Tagen mit ihr reden können, dabei ist sie vermutlich die Einzige, die uns sagen kann, was Joosten bei diesem Eberhard zu suchen hatte. Ist der Arzt noch aufgetaucht?»

«Doch, schon, aber der war nicht gerade eine Leuchte. Ist im Zweimeterabstand um Joosten rumgeturnt und hat in sein Diktiergerät gebrabbelt. Wenigstens hat er die Körpertemperatur noch genommen, aber dann war er auch schon wieder verschwunden. Van Gemmern sagt, Joosten könnte allerhöchstens zwei Stunden tot gewesen sein.» Er rieb sich nachdenklich die Nase. «Keine Frage, Joosten hat mächtig Prügel bezogen, aber ich weiß nicht, für mich sahen die Verletzungen eigentlich nicht tödlich aus.»

«Und was ist mit der Riesenbeule auf der Stirn? Vielleicht hatte er ja eine Hirnblutung.»

«Ich vermute, es ist euch auch schon aufgefallen, dass wir ein Problem haben», meldete sich Cox zu Wort. «Wenn wir davon ausgehen, dass die beiden Morde im Zusammenhang stehen – und danach sieht’s ja wohl aus –, fällt unsere schöne Theorie mit dem Totschlag im Affekt ins Wasser.»

Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment kehrte Toppe zurück und legte einen dicken Packen Fotokopien auf seinen Schreibtisch. Astrid warf einen Blick auf das oberste Blatt. «Im Pressearchiv warst du also! Dieser Artikel hier ist von ’97. Was soll das?»

«Es geht um Escher.»

Norbert van Appeldorn schob mit einer heftigen Bewegung seinen Stuhl zurück und kam auf die Füße. «Würdest du bitte einen Augenblick mit mir nach nebenan kommen?» Er war weiß im Gesicht.

Toppe folgte ihm ins Vernehmungszimmer. «Ich weiß, was du sagen willst.»

«Gar nichts weißt du!» Van Appeldorn schäumte vor Wut. «Die ganze Zeit kochst du schon auf halber Flamme, aber das, was du dir heute geleistet hast, ist wirklich die Krönung! Wir wissen nicht, wo uns der Kopf steht. Wir haben einen neuen Mord, der unsere ganze schöne Konstruktion über den Haufen wirft, und du lässt uns hängen und jagst irgendeiner spinnerten Idee hinterher!»

Toppes Gesicht blieb ausdruckslos.

«Kannst du dir vorstellen, was hier los ist, wer uns alles die Bude einrennt, he? Mensch, Helmut, du bist nicht nur der Chef hier, du bist im Moment auch noch Meinhards offizieller Stellvertreter. Alle Welt will dich sprechen, und du bist wie vom Erdboden verschwunden! Wir stehen hier wie der Ochs vorm Berg, müssen wieder ganz von vorne anfangen, und du seilst dich ab!»

Toppe nickte müde und ging zur Tür. «Teilt mich einfach ein.»

«Was?» Van Appeldorn blieb der Mund offen stehen.

 

Van Gemmern hatte die ersten Fotos vom Tatort gebracht. «Ich habe kaum was Brauchbares bis jetzt», meinte er. «Mit Schuhspuren sieht es wegen der Brombeeren und dem ganzen Laub schlecht aus. Einen deutlichen Abdruck von Joostens linker Schuhsohle habe ich gefunden, aber das ist es auch. Ansonsten nur, wie auf der ganzen Weide, Hufabdrücke von Schafen und Rindern.»

«Und am Waldrand?», fragte Astrid.

«Auch nichts, es gibt keinen Weg dort, der ganze Boden ist mit trockenen Kiefernnadeln bedeckt, dichtes Unterholz, keine abgebrochenen Zweige, nichts niedergetrampelt, außer dort, wo du hinter dem Fotografen hergetobt bist.» Er schaute tadelnd zu van Appeldorn hinüber, der sofort wieder seinen geschwollenen Knöchel spürte.

«Wann ist die Obduktion?», fragte Toppe.

Cox zuckte die Achseln. «Ich habe Bonhoeffer noch nicht erreichen können.»

«Vielleicht versuchst du es gleich nochmal, Helmut», sagte van Appeldorn. «Ich finde, du solltest auch an der Sektion teilnehmen. Bei Geldek warst du schließlich auch dabei. Möglicherweise entdeckt ihr ja Parallelen. Aber erst mal sollten wir zusammentragen, was wir bis jetzt haben.»

Toppe reagierte nicht auf den Samt in van Appeldorns Stimme, sondern ging zum Fenster und schaute hinaus. «Wie ist Joosten eigentlich zum Hof gekommen?», fragte er. «Ich habe nirgendwo ein Auto gesehen.»

«Er hatte seinen BMW vor dem Haus seiner Eltern abgestellt, am Anfang vom Feldweg», antwortete van Appeldorn. «Ich nehme an, er wollte sich die Mühle auf diesem Schlammpfad nicht dreckig machen.»

«Stimmt!» Toppe drehte sich vom Fenster weg. «Er muss zu Fuß gegangen sein, seine Schuhe waren sehr schmutzig. Habt ihr mit den Eltern gesprochen?»

«Heute früh waren sie nicht zu Hause, sie arbeiten beide.»

«Dann kann Joosten also zu ihnen nicht gewollt haben.»

«Nein, ich habe vorhin seine Mutter erreicht. Sie ist Verkäuferin in einer Drogerie und arbeitet jeden Morgen, genau wie ihr Mann.»

«Konnte die dir sagen, was Joosten bei Eberhard wollte?»

Van Appeldorn schnalzte missbilligend. «Die konnte mir gar nichts sagen, wie du dir vielleicht vorstellen kannst. Joosten war übrigens ihr einziges Kind.»

Toppe nickte. «Fährt dieser Eberhard eigentlich einen roten Kleinwagen?»

«War nur so eine Idee», meinte er, als alle ihn verdattert anschauten, und setzte sich wieder. «Mir ist nur aufgefallen, wie groß der Mann ist. Über eins neunzig, schätze ich, und ziemlich kräftig erschien er mir auch. Ist er Rechtshänder?»

«Er hat jedenfalls mit rechts unterschrieben», sagte Astrid. «Da stand kein Auto, aber das muss nichts heißen. Eberhards Frau und seine Tochter waren beide zur Arbeit gefahren, wie er es ausdrückte.»

 

Früher hatten sie gern ausgiebig zusammen gebadet, aber seit Ullis Gefangenschaft in der engen Kiste hielt sie es in der Wanne nicht mehr aus. Inzwischen schaffte sie es manchmal an guten Tagen schon wieder, van Appeldorn Gesellschaft zu leisten, wenn er ein Entspannungsbad nahm, etwas, das er erst durch sie genießen gelernt hatte.

Sie brachte ihm einen Weinbrand, Salbe und eine elastische Binde für seinen Knöchel und hockte sich neben die Wanne. Ihr Gesicht lugte gerade eben so über den Rand. «Na, kommst du langsam zur Ruhe?»

Van Appeldorn trank einen großen Schluck und schloss die Augen. «Nicht so richtig. Mir geht zu viel durch den Kopf.»

«Ich bin dir gern ein bisschen behilflich», lächelte sie und zeichnete mit dem Zeigefinger kleine Kreise auf seine Brust, weiter den Bauch hinunter …

Er grinste. «Ich komme darauf zurück.»

Sie piekste ihm in den Bauchnabel. «Was bedrückt dich?»

«Ich weiß nicht genau. Helmut hat ja immer mal so seine düsteren Phasen, aber …» Und dann erzählte er, was in den letzten Tagen so gewesen war.

«Teilt mich einfach ein, das hat er wirklich gesagt? Helmut? Das ist nicht normal. Der ist doch eher zweihundertprozentig.»

«Na ja, nachher war er ja auch wieder bei der Sache, zumindest eine Zeit lang.»

«Trotzdem, Norbert. Das passt nicht zu Helmut.» Sie richtete sich auf. «Da ist was nicht in Ordnung. Du musst was unternehmen.»

«Ich?» Van Appeldorn machte große Augen. «Was soll ich denn unternehmen?»

«Red mit den anderen, sprich mit Astrid!»

«Nein, das lass ich lieber. Die beiden scheinen irgendwie Knies zu haben, und da misch ich mich nicht ein.»

«Astrid und Helmut? Das passt auch nicht. Dann red eben mit Arend Bonhoeffer, der kennt Helmut doch seit Ewigkeiten. Irgendwas ist da faul. Da steckt nicht nur eine düstere Stimmung dahinter, glaub mir.»

Van Appeldorn fröstelte. «Ich kann so was nicht.»

Sie griff in seinen dicken Haarschopf und gab ihm einen Kuss. «Dann wird’s aber Zeit, dass du’s lernst.»

 

An Dienstagabenden arbeitete Peter Cox normalerweise den Spiegel durch, aber heute fand er nicht die rechte Ruhe. Auf seinem Schreibtisch lag ein dicker Packen Akten über Eugen Geldek, in die er bisher nicht einmal einen Blick geworfen hatte.

Er zog sich ein frisches Oberhemd an und machte sich wieder auf den Weg ins Büro.

Es konnte sicher auch nichts schaden, wenn er später auf ein Bier in die Kneipe in Reichswalde ging und sich ein bisschen umhörte.

 

Astrid drehte die Flamme ab und ließ die gebräunten Filetstücke in die Soße gleiten – fertig, jetzt nur noch die Vorspeise. Eigentlich kochte sie gern. Sie entspannte sich dabei und konnte alles, was tagsüber passiert war, vergessen. In letzter Zeit fand sie nur selten die nötige Muße. Auch heute hatte es nur mit einem Trick geklappt. Helmut war, wie fast jeden Tag, gleich nach dem Dienst unter die Dusche gestiegen und dann in seinem Zimmer verschwunden. Aber sie hatte Katharinas Lieblingsbücher zusammengesucht, ihre Tochter davon überzeugen können, dass «der Papa» darauf brennen würde, ihr die alle vorzulesen, und sie hochgeschickt.

Sie nahm den Trüffelhobel aus der Schublade und fing an, die Champignons für die Pilzcarpaccio zu hobeln. Helmut hatte nie erfahren, wie teuer dieses Gerät damals gewesen war. Nachdem sie den Hof gekauft hatten, waren sie eine ganze Weile schrecklich knapp bei Kasse gewesen, aber ihr Vater hatte ihnen zum Einzug ein Kilo schwarzer Trüffel geschenkt, und die wollten verarbeitet werden. Tagelang hatten sie alle möglichen Kochbücher gewälzt und die verschiedensten Köstlichkeiten gezaubert. In der Wohngemeinschaft hatte Helmut mit Begeisterung gekocht. Sein italienisches Buffet für ihre Einweihungsparty war ein solches Meisterwerk gewesen, dass sie und Gabi nur noch gestaunt hatten.

Gabi – sie vermisste sie sehr und hätte gerade heute gern mir ihr gesprochen, aber ihre beste Freundin gondelte im Moment mit ihrem lebenslustigen neuen Liebsten irgendwo in Ungarn herum.

Astrid verteilte die Pilzscheibchen auf zwei Desserttellern.

Es war Gabi gewesen, die auf der Scheidung bestanden hatte, nicht Helmut. Später, als sie zusammen auf dem Hof lebten und Freundinnen geworden waren, hatte sie manchmal über die Gründe gesprochen. «Ich wollte einfach nicht mehr einsam sein.» Sie hatte es hingenommen, es ja auch gar nicht anders gekannt, dass Helmut sein Beruf immer am wichtigsten gewesen war, dass sie die beiden Jungen quasi allein großgezogen hatte, aber irgendwann war ihr bewusst geworden, dass sie im Grunde nebeneinander herlebten. «Ich konnte sein ewiges Wegtauchen nicht mehr ertragen. Eigentlich bin ich während unserer gesamten Ehe nie wirklich an ihn herangekommen, und ich wusste, dass sich das nicht ändern würde. Vielleicht war ich einfach die falsche Frau, und du hast mehr Glück.»

Astrid presste eine Zitrone aus und spülte sich die Hände ab. Hatte sie mehr Glück? Von Anfang an hatte sie es akzeptiert, dass Helmut viel Zeit für sich selbst brauchte, und seine grüblerischen, manchmal schwermütigen Phasen hatten sogar etwas Faszinierendes gehabt. Welch ein Kontrast zu der heilen, seichten Ponyhof- und Prinzessinnenwelt, aus der sie sich endlich verabschiedet hatte! Helmut war genau der Mann gewesen, nach dem sie sich gesehnt hatte, leidenschaftlich, phantasievoll, einfühlsam, klug und nicht leicht zu berechnen, niemals langweilig. Selbst Gabi hatte ja nie aufgehört, ihn zu lieben. Als Astrid ihr das auf den Kopf zusagte, hatte sie nur mit den Schultern gezuckt, ein bisschen wehmütig, ein bisschen bitter. «Wir Frauen stehen auf diese Heathclifftypen, nicht wahr? Die tiefen, stillen Wasser, die nur wir ergründen können. Mach es besser als ich, ich bin dabei fast abgesoffen.»

Astrid nahm die Pfeffermühle vom Bord. Warum wollte sie eigentlich mit Gabi sprechen? Die würde ihr nichts anderes sagen als vor fünf Jahren. Aber es wäre einfach tröstlich.

Sie hielt inne und starrte auf die Mühle in ihrer Hand. Brauchte sie denn Trost?

«Soll ich Katharina schon mal baden?», rief Helmut von oben.

«Ja! Aber macht nicht zu lange. In einer Viertelstunde ist das Essen fertig.»