Ausklang

Mehr als ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit ich das Privileg hatte, in Tibet zu leben. Der Dalai Lama sagte einmal: »Heinrich Harrer war einer von uns geworden und jetzt, wo wir älter geworden sind, erinnern wir uns an die glücklichen Tage, die wir zusammen in einem freien Land gelebt haben. Es ist ein Zeichen von echter Freundschaft, die sich nicht ändert, was immer auch passiert. Die Freundschaft und die Bereitschaft, sich gegenseitig zu helfen, bleibt für den Rest des Lebens. Heinrich Harrer war immer ein solcher Freund Tibets. Sein größter Beitrag für unser Anliegen aber ist ohne Zweifel das Buch ›Sieben Jahre in Tibet‹, welches Millionen von Menschen mit meinem Land bekanntgemacht hat.

Auch heute noch ist er im Kampf um die Freiheit des tibetischen Volkes aktiv, und wir sind ihm dafür dankbar.«

Als Peter Aufschnaiter und ich nach Überwinden von vielen Pässen, die bis zu 6000 Meter hoch waren, nach fast zwei Jähren Lhasa erreichten, hatten wir Erfrierungen und Blasen, hatten Hunger und waren krank. Wir wären nicht überrascht gewesen, wenn uns die tibetische Regierung zurück zur indischen Grenze gebracht hätte.

Tibet war doch ein verbotenes Land und die heilige Stadt ganz besonders. Aber das Gegenteil geschah. Sie hatten Mitleid mit uns, sie gaben uns Essen, warme Kleider und ein Heim, wir bekamen Arbeit und gehörten bald zu ihnen.

Während wir glücklich in Lhasa lebten, dachte niemand daran, daß der Tag kommen würde, an dem wir ausgerechnet dieses friedliche Land auf dem Dach der Welt verlassen müßten. Die Rote Armee Chinas marschierte ein, und der Dalai Lama und an die hunderttausend Tibeter flohen 1951 nach Indien.

Was seither im Schneeland geschehen ist, spottet jeder Beschreibung. 1,2 Millionen Tibeter verloren ihr Leben, und von den 6000 Sakralbauten wurden 99 Prozent zerstört. Es ist selbstverständlich, daß jetzt, da die Tibeter Hilfe brauchen, all jene, die das Land und sein tapferes Volk lieben, sich für sein Anliegen einsetzen. Vorträge für die verschiedenen Tibethilfsorganisationen, Veröffentlichungen der alten Bilder gehörten und gehören dazu, denn praktisch keiner der jetzt im Exil lebenden Tibeter hat seine Heimat gesehen, wie sie vor der Zerstörung war. Ich bin zudem stolz, daß das Buch »Sieben Jahre in Tibet« nun auch in tibetischen Lettern gedruckt wurde. Dazu kommt die Verfilmung in ein »documentary feature«. Der Produzent verspricht, die Invasion und das Leiden der Tibeter festzuhalten, um dem Anliegen der Tibeter zu helfen. Eine gewisse Garantie hierfür ist die Tatsache, daß Jean-Jacques Annaud in seiner bekannt gründlichen Art die Regie führt.

Immerhin war der Film ein Grund, daß China Druck auf alle Nachbarstaaten ausübte und die Aufnahmen aus dem Himalaja in die Anden verlegt werden mußten. Diese Angst und der Kotau vor der chinesischen Macht paßt auch zum Verhalten der Menschenrechtskommission, die im April 1996 in Genf sechs Nationen verurteilte, nicht aber China.

Was mich betrifft, so habe ich seit dem Verlassen Tibets viele andere interessante Länder und Völker kennengelernt, und im hohen Alter ändert man oft seine Motivation und Vorliebe — aber was Asien und im speziellen Tibet betrifft, ist meine Faszination ungebrochen, und jedes Jahr bereise ich eines der Himalaja-Länder. Nur die Grenzen Tibets sind tabu, als »persona non grata« betrachte ich dies jedoch geradezu als eine Auszeichnung.

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Zwischen den beiden Weltkriegen meinte ein britischer Offizier, daß mit der Erfindung der Flugzeuge die Welt endgültig erschlossen sei. Aber, meinte er, es gibt noch ein letztes Mysterium. Es gibt auf dem Dach der Welt ein riesiges Land, wo Wunder geschehen. Da gibt es Mönche, die den Geist vom Körper trennen, durch die Luft schweben und Orakel die Geschehnisse bestimmen. Das Land ist von den höchsten Bergen unserer Erde umgeben, und der Herrscher des Staates ist ein lebender Gott.

Seine Wohnung ist in einer unvergleichlich schönen Burg auf einem roten Felsen, es ist ein verbotenes Land, und die Hauptstadt Lhasa ist streng von Mönchen bewacht. Und für den Romantiker blüht im verborgenen hinter den Bergen sogar die Blaue Blume.

Kein Wunder, daß Missionare, Intellektuelle, Abenteurer und Wissenschaftler interessiert waren, die Geheimnisse und Mysterien dieses Landes zu erforschen.

Peter Aufschnaiter und mir war es vorbehalten, das geheimnisvolle Tibet in seinem Mittelalter zu erleben — aber auch seinen Untergang. Wir waren Zeugen, als der Vorhang gewaltsam aufgerissen und die jahrtausendalte Kultur zerstört wurde.

Schon in meiner frühesten Jugend habe ich nur abenteuerliche Forscherbücher gelesen. Meine großen Vorbilder waren Alexander von Humboldt und vor allem der legendäre schwedische Asienforscher Sven Hedin. Seine Tibetabenteuer haben mich besonders gefesselt, und als unser Gefangenenlager in Indien während des Zweiten Weltkrieges in die Vorberge des Himalaja verlegt wurde, konzentrierten sich meine Fluchtversuche ganz natürlich Richtung Tibet, jenes verbotene Land auf dem Dach der Welt, das selbst den britischen Kolonialnachbarn im Süden verschlossen war.

Eines möchte ich vorweg klarstellen: Die Briten behandelten uns nach den Vorgaben der Genfer Konvention. Hinter Stacheldraht zu sitzen war in keiner Weise etwas Unerträgliches. Es war eher angenehm. Wir hatten Bücher, sportliche Betätigung, Paroleausflüge in die nähere Umgebung und hatten immer reichlich zu essen — also keinen Grund, um von dort zu flüchten. Mein Wunsch, aus dem Stacheldrahtgefängnis herauszukommen, hatte die gegenteilige Motivation: Ich wollte weg, um etwas zu erreichen. Vielleicht war es der ewige Drang im Menschen nach Freiheit, aber bei mir war es sicher auch die Liebe zu den Bergen und im Geheimen wohl auch die phantastische Idee, das verbotene Land Tibet hinter den nahen Himajala-Bergen zu erreichen.

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Das Buch »Sieben Jahre in Tibet« endet im Frühling 1951, als ich nach Jahren von meiner zweiten Heimat Tibet und meinem jungen Freund, dem XIV. Dalai Lama, in Südtibet Abschied nahm. Dieses Mal war es nicht mein Wille oder Wunsch, fortzugehen oder gar zu flüchten. Im Gegenteil. Bevor ich die Grenze nach Indien überschritt, machte ich noch das allerletzte Bild von Seiner Heiligkeit im freien Tibet. Es wurde im LIFE-Magazin das erste Coverfoto in Farbe (7. Mai 1951). Die Welt erfuhr vom Einmarsch der Chinesen in Tibet.

Während ich 1952 nach Österreich zurückkehrte, beschloß der Dalai Lama, mit seinen Ministern in Tibet zu bleiben, immer im Glauben, die Chinesen würden sich wenigstens an den von ihnen selbst diktierten und von Seiten der Tibeter unter Zwang ausgehandelten 17-Punkte-Vertrag halten.

Die Jahre, die nun folgten, sind schnell erzählt. Das Leben mit den fremden Eroberern wurde schlechter und schlechter. Während eines Volksaufstandes in Lhasa im März 1959 konnte der Dalai Lama flüchten und nach entbehrungsreichen Wochen Indien erreichen. Pandit Nehru empfing den prominenten Flüchtling. Auch ich konnte ihn in Tezpur (Assam) begrüßen, genau 15 Jahre nachdem ich das Gefangenenlager in Dehradun verlassen hatte. Großzügig bekamen die Flüchtlinge Unterkunft und konnten in Dharamsala eine inoffizielle Exilregierung gründen.

Die nächsten Jahre waren schwierig. Der Dalai Lama verlor 1962 seine geliebte Mutter, und bald darauf starb auch sein älterer Bruder Lobsang Samten, nur fünfzigjährig. Dieser war im Exil seine größte Stütze gewesen.

Die Bewunderung und Verehrung für den Dalai Lama ist inzwischen weltweit. Zum Ärger der Chinesen ist das Anliegen der Tibeter für Freiheit und Unabhängigkeit gewachsen. Es ist das Verdienst des Dalai Lama, seines Charismas, daß man das Volk der Tibeter mit seiner zweitausend Jahre alten Kultur kennengelernt hat und die Zerstörung ihrer Werte als einen großen Verlust betrachtet. Zweifelsohne war die Verleihung des Friedensnobelpreises 1989 einer der Höhepunkte im Leben Seiner Heiligkeit.

Es ist verständlich, daß es mich mit Stolz erfüllt, wenn der Dalai Lama geehrt wird und diese große Persönlichkeit mein Freund ist. Ich bin auch stolz, wenn tibetische Flüchtlinge im Exil erfolgreich und beliebt sind. Ich bin aber auch immer noch dankbar, daß sie mich nach meiner Ankunft in Lhasa großzügig aufgenommen haben. Mein Einsatz für das Anliegen der Tibeter ist selbstverständlich.

Ein wunderbarer Zufall will es, daß Seine Heiligkeit und ich gemeinsam am 6. Juli Geburtstag haben. Es war sicher der größte Tag im Bestehen meines Geburtsortes Hüttenberg in Karaten/Österreich, als der Dalai Lama am 25. Juli 1992 das Heinrich-Harrer-Museum weihte und eröffnete.

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Die Zerstörung Tibets wird auch nach fast 40 Jahren Besetzung fortgesetzt. Von meinem alten Lhasa blieben vielleicht noch zwei Prozent erhalten. Lhasa ist eine chinesische Stadt geworden, eine Unzahl von chinesischen Läden, Hunderte von Trink- und Spielhäusern und rund um den Potala Lokale mit roten Laternen, um die Besatzungssoldaten zu unterhalten. Jahrzehnte der Zerstörung, Unterdrückung, Sterilisation, des Genozids und politischer Indoktrination — all das konnte den Willen der Tibeter zur Freiheit nicht brechen. Ihr Glaube und die Verehrung für ihren Dalai Lama ist ungebrochen.

Überall in der Welt bekommt der Dalai Lama Sympathiebezeugungen und mündliche Zusicherungen — leider folgen keine Taten. Die materiellen Gewinne scheinen wichtiger als die Menschenrechte. Trotzdem habe ich die Vision, daß der Tag der Freiheit kommen wird. Und alle, die den Dalai Lama und sein Volk lieben, werden in einer Prozession zum Potala gehen, dem einzigartigen Monument tibetischer Schöpferkraft.

Wenn die Vernichtung der Kulturgüter auch weitergeht, nicht einmal den Chinesen wird es gelingen, die höchsten Berge der Welt, die das Land umgeben, den Thron der tibetischen Götter, zu zerstören. Und deshalb werden die frommen Tibeter auch künftig, wenn sie die hohen Pässe überschreiten, rufen: »Die Götter werden siegen!«

Gruß des Dalai Lama an Heinrich Harrer zur Eröffnung der Tibet-Ausstellung im Wiener Völkerkunde-Museum, die Harrer zugunsten der tibetischen Flüchtlinge organisiert hatte

An meinen Freund Heinrich Harrer,

ich wünsche Dir von ganzem Herzen allen Erfolg zur Eröffnung der Tibet-Ausstellung. Zu diesem Anlaß entsende ich Dir meinen persönlichen Vertreter in Europa, Thubten Phala, meine Schwester Dschetsün Pema und meinen Bruder Lobsang Samten. Du hast sieben Jahre in Tibet gelebt und bist in dieser Zeit einer von uns geworden. Daher hast Du die besten Kenntnisse über unser Land und bist deshalb in der Lage, dem österreichischen Volk die tibetische Kunst und Kultur am lebendigsten nahezubringen.

Ich schließe in mein Gebet den Wunsch ein, daß der Ausstellung ein voller Erfolg beschieden sein möge.

Dalai Lama

Holz-Schlangen-Jahr der tibetischen Zeitrechnung

11. Monat 20. Tag (17.11.1966)