Nochmals heimlich über die Grenze

Mein Plan war, zusammen mit Kopp die erste Gelegenheit zu benutzen, die uns wieder nach Tibet zurückbringen konnte. Wir waren überzeugt, daß den kleinen Beamten, die wir bisher getroffen hatten, die Kompetenz fehlte, in unserem Fall eine Entscheidung zu treffen. Diesmal wollten wir es daher gleich an höherer Steile versuchen. Dazu mußten wir nach Gartok kommen, der Hauptstadt von Westtibet, wo der Sitz des Gouverneurs war.

Wir stiegen also die große, gepflegte Handelsstraße einige Meilen bis zum ersten indischen Dorf hinab.

Dieses Dorf hieß Namgya. Wir konnten uns dort aufhalten, ohne Verdacht zu erregen, da wir von Tibet kamen und nicht aus den indischen Ebenen. Wir gaben uns als reisende amerikanische Soldaten aus, kauften frische Vorräte ein und schliefen im öffentlichen Rasthaus. Dann trennten wir uns. Aufschnaiter und Treipel zogen die Handelsstraße entlang den Satledsch hinunter; Kopp und ich trieben unseren Esel in ein Seitental, das in nördlicher Richtung zu einem Paßübergang nach Tibet führte. Wie wir aus unseren Karten wußten, mußten wir zuerst durch das bewohnte Spiti-Tal ziehen. Ich war sehr froh, daß Kopp sich mir angeschlossen hatte, denn er war ein geschickter, praktischer Mensch und ein hilfsbereiter, fröhlicher Kamerad. Sein Berliner Humor versiegte selten.

Zwei Tage lang zogen wir den Spiti-Fluß aufwärts, dann folgten wir einem Nebental, das seiner Richtung nach über den Himalaja führen mußte. Dieses Gebiet war leider auf unseren Karten nicht eingezeichnet. Von Einheimischen erfuhren wir, daß wir bei einer Brücke, die Sangsam hieß, die Grenze bereits überschritten hatten. Während dieser ganzen Wanderung sahen wir zu unserer Rechten den formschönen Riwo Phargyul, einen fast 7000 m hohen Gipfel im Kamm des Himalaja. Wir hatten Tibet an einer der wenigen Stellen betreten, wo das Land über den Himalajagrat hinübergreift. Damit erwachte von neuem unsere Sorge, wie weit wir wohl diesmal kommen würden. Doch hier kannte man uns noch nicht, und kein unfreundlicher Beamter hatte die Bevölkerung alarmiert. So erzählten wir, daß wir Pilger wären, die zum heiligen Berg Kailas wanderten.

Das erste tibetische Dorf, das wir erreichten, hieß Kyurik und bestand aus zwei Häusern. Das nächste, Dotso, war schon bedeutend größer. Wir stießen auf eine Anzahl Mönche, mehr als hundert, die hier Pappelstämme holten, um sie für einen Klosterbau über die Pässe nach Traschigang zu schaffen. Das ist das größte Kloster der Provinz Tsurubjin und sein Abt zugleich der höchste weltliche Beamte. Auch er weilte hier bei seinen Mönchen, und wir fürchteten schon, daß unsere Reise ein vorzeitiges Ende gefunden habe. Doch als er uns ausfragte, gaben wir vor, die Vorhut eines großen europäischen Herrn zu sein, der Geleitbriefe der Zentralregierung in Lhasa besäße. Dies schien er zu glauben, und erleichtert setzten wir unseren Weg fort.

Beschwerlich war der Anstieg zu einer Paßhöhe, die von den Tibetern Büd-Büd La genannt wird. Dieser Paß muß ungefähr 5700 m hoch liegen, denn die dünne Luft machte sich unangenehm bemerkbar, und die Eiszunge eines nahen Gletschers ohne Namen leckte noch ein Stück über die Paßhöhe hinunter.

Unterwegs trafen wir einige Bhutia, die auch ins Landesinnere wollten. Ausnahmsweise waren es nette, freundliche Leute, die uns sogar an ihr Feuer und zu einer Tasse ranzigen Buttertees einluden. Da wir unser Lager in ihrer Nähe bezogen, brachten sie uns am Abend auch noch einen wohlschmeckenden Brennesselspinat.

Wir waren hier in einer völlig unbesiedelten Gegend, und in den nächsten acht Tagen trafen wir nur ab und zu eine kleine Karawane. Eine Begegnung ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben: Es war ein Nomade, ein junger Mann, in seinen langen Schafspelz gehüllt und mit dem üblichen Zopf aller männlichen Tibeter, die keine Mönche sind. Er führte uns zu seinem schwarzen Jakhaarzelt, wo seine junge Frau auf ihn wartete, ein fröhliches Geschöpf, das dauernd zu lachen schien. In dem Zelt entdeckten wir einen Schatz, der uns das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ: herrliche Wildbretschinken. Bereitwillig verkaufte er uns einen Teil seiner Beute für einen Spottpreis. Nur bat er uns, nichts von seiner Wilderei zu erzählen, da er sonst bestraft würde. Das Töten von Lebewesen, ob Mensch oder Tier, geht gegen die Religionsvorschriften des Buddhismus, und die Jagd ist daher verboten. Da Tibet durch ein Feudalsystem regiert wird, gehören Mensch, Tier und Land dem Dalai Lama, dessen Vorschriften für alle Gesetze sind.

Ich konnte mich bei dieser netten Bekanntschaft schon ganz gut verständigen, und es machte mir großen Spaß, meine Sprachkenntnisse wachsen zu sehen. Wir vereinbarten für den nächsten Tag eine gemeinsame Jagd und ließen uns bei dem jungen Paar häuslich nieder. Der Nomade und seine Frau waren die ersten lustigen Tibeter, denen wir begegneten, und sie blieben uns deshalb lange in Erinnerung.

Als Höhepunkt der Gastfreundschaft kam aus einer Zeltecke sogar eine Holzflasche mit frischem Gerstenbier zum Vorschein. Es war ein trübes, milchiges Getränk und hatte gar keine Ähnlichkeit mit dem, was wir Bier nennen, aber seine Wirkung war dieselbe.

Am nächsten Morgen gingen wir zu dritt auf die Jagd. Der junge Tibeter hatte einen vorsintflutlichen Vorderlader, und in seiner Brusttasche trug er Bleikugeln, Pulver und Zündschnur. Als wir die erste Herde wilder Schafe sichteten, brachte er umständlich seine Zündschnur mit einem Flintstein zum Glimmen. Wir waren schon gespannt, wie dieses Museumsstück funktionieren würde. Es gab eine donnerähnliche Detonation — bum, bum —, und als sich der Rauch verzogen hatte, war weit und breit kein Schaf mehr zu sehen. Ganz in der Ferne flüchtete das Rudel. Bevor es um den letzten Felsgrat verschwand, äugten einige noch einmal zu uns zurück, als ob sie uns auslachen wollten. Auch uns blieb nichts anderes übrig, als zu lachen. Um nicht mit ganz leeren Händen heimzukommen, sammelten wir die wilden Zwiebeln, die überall auf den Hängen wachsen und zum Wildbraten herrlich schmecken.

Die Frau unseres Jagdfreundes war anscheinend das Jagdpech ihres Mannes gewohnt. Als sie uns ohne Beute heimkehren sah, empfing sie uns mit einem Heiterkeitsausbruch, daß ihre Schlitzäuglein vor Lachen fast verschwanden. Sie hatte vorsorglich schon eine Mahlzeit von dem an den Vortagen erlegten Wild bereitet und widmete sich jetzt voll Eifer ihrem Braten. Wir sahen ihr beim Kochen zu und waren ziemlich erstaunt, als sie ihren riesigen Schafpelz, der um die Mitte durch einen bunten Gürtel festgehalten wurde, ohne Scheu von den Schultern streifte. Der unförmige Pelz hatte sie bei ihren Bewegungen behindert, und sie hantierte nun seelenruhig mit entblößtem Oberkörper weiter. Später begegneten wir noch oft derselben Natürlichkeit. Nur ungern trennten wir uns von dem freundlichen Paar. Wohlversorgt mit frischem Fleisch und völlig ausgeruht, machten wir uns wieder auf den Marsch.

Unterwegs sahen wir oft wilde Jaks wie schwarze Punkte fern auf den Hängen grasen. Ihr Anblick regte leider unseren Packesel an, sich selbständig zu machen; er flüchtete durch einen breiten Bach, und noch ehe wir ihn erreichen konnten, hatte er sich seiner Last erledigt. Unter Fluchen und Schimpfen fingen wir ihn endlich wieder ein. Indes wir noch am andern Ufer mit dem Trocknen unserer Sachen beschäftigt waren, sahen wir plötzlich zwei Gestalten auftauchen. Die erste erkannten wir sofort am regelmäßigen, langsamen Bergsteigerschritt — es war Peter Aufschnaiter, der mit einem angeheuerten Träger den Weg heraufkam. Ein solches Zusammentreffen in der einsamen Landschaft mag unwahrscheinlich klingen. Aber gewisse Täler und Pässe bilden eben schon seit Jahrhunderten die üblichen Übergänge, und wir alle hatten den meistbegangenen Weg gewählt.

Nach der sehr herzlichen Begrüßung begann Aufschnaiter zu erzählen, wie es ihm inzwischen ergangen war. Am 17. Juni hatte er sich von Treipel getrennt, der hoch zu Roß als »Engländer« nach Indien ritt. Diesen Luxus hatte er sich von seinem letzten Geld geleistet. Aufschnaiter selbst war krank geworden, und als er sich wieder erholt hatte, folgte er unserer Route. Er hatte unterwegs auch einiges von den letzten Ereignissen des Krieges erfahren, und obwohl wir hier wie in einer anderen Welt lebten, hörten wir begierig zu.

Aufschnaiter wollte anfänglich nicht mit uns nach Gartok gehen, denn er glaubte, daß wir dort wieder ausgewiesen würden; er hätte es klüger gefunden, direkt zu den Nomaden Zentraltibets vorzustoßen. Schließlich zogen wir aber doch gemeinsam weiter, und Aufschnaiter und ich sollten uns von diesem Tag an für die nächsten Jahre nicht mehr trennen.

Wir wußten, daß wir, wenn alles glattging, ungefähr fünf Tage bis Gartok brauchen würden. Noch einmal mußten wir einen hohen Paß überwinden, der Bongrü La hieß. Unsere Lager in dieser Zeit waren kein Vergnügen, es war sehr kalt in den Nächten, denn wir befanden uns in einer Höhe von mehr als 5000 m. Auch gab es immer wieder kleine Zwischenfälle: So trug Kopp einmal beim Durchwaten eines Flusses seine Schuhe in die Hose gewickelt unter dem Arm, als plötzlich einer davon in die Strömung fiel. Er warf sich ihm nach, doch die Strömung hatte ihn schon davongetragen, und alles Suchen blieb erfolglos. Niemals habe ich Kopp wütender gesehen — er war auf Gott und die Welt böse! Ich selbst besaß ein Paar tibetische Ersatzschuhe, die mir allerdings ein wenig zu klein waren, denn es gibt dort keine Größen, die ein Europäer tragen kann. Leider hatte Kopp noch größere Füße als ich, und so gab ich ihm meinen linken Militärschuh und hinkte selbst halb tibetisch, halb europäisch weiter.

Eine nette Abwechslung bot uns einmal das Schauspiel eines Kampfes wilder Esel. Wahrscheinlich waren es zwei Hengste, die um ihre Vormachtstellung im Rudel der weiblichen Kyangs kämpften. Rasenstücke flogen, Erde wirbelte unter ihren Hufen — sie waren so in ihr Duell vertieft, daß sie die Zuschauer gar nicht bemerkten. Sensationslüstern tänzelten die weiblichen Tiere um sie herum, und manchmal war der ganze Kampfplatz in eine Wolke von Staub gehüllt.

Nach dem Überschreiten der beiden Pässe lag nun der Himalaja wieder hinter uns. Diesmal trennte ich mich recht gerne von ihm, denn nun kamen wir endlich wieder in wärmere Regionen. Unser Weg hatte uns eben durch jene Provinz geführt, wo ein Jahr später einer der größten deutschen Bergsteiger, Ludwig Schmaderer, sein Leben verlieren sollte. Als er mit seinem Freund Paidar aus demselben Lager flüchtete wie wir und unseren Spuren folgen wollte, wurde er hier schändlich hinterrücks ermordet. Paidar konnte entkommen. Er hat inzwischen auf dem Großglockner den Bergtod gefunden.

Die Bevölkerung dieser Gegend ist weder für Tibet noch für Indien typisch. Sie ist zum Teil rassisch sehr vermischt, lebt nach lamaistischen Bräuchen, ist aber durch den Handel mehr an Indien gebunden.

Beim Abstieg in das Indus-Tal begegneten wir zahlreichen Jak-Karawanen, die Wolle nach Indien trugen. Die ungewöhnlich großen und kräftigen Tiere fielen uns auf; auch ihre Treiber waren stattlichen junge Burschen, die trotz der grimmigen Kälte den Oberkörper entblößt hatten. Wie die Frauen tragen auch die Männer den Pelz nach innen gekehrt auf der nackten Haut und schlüpfen aus den Ärmeln, um Bewegungsfreiheit zu haben. Mit einer Steinschleuder halten die Treiber ihre Jaks in Bewegung und hindern sie am Ausbrechen. Sie schienen nicht neugierig auf uns Fremde zu sein, und ungeschoren zogen wir unseres Weges.

Fünf Tage hindurch marschierten wir den Oberlauf des Indus entlang, um nach Gartok zu kommen. Der Weg ist mir unvergeßlich. Wir wanderten weit über der Baumgrenze durch sanft geschwungene Bergketten, aber es lag doch keine Eintönigkeit in dieser Landschaft. Es waren die Farben, die hier den Blick entzückten, und selten habe ich alle Tönungen der Palette so harmonisch ineinander übergehen sehen. Gleich an den klaren Wassern des Indus liegen gelbweiße Boraxfelder, daneben sprießt das zarte Grün des Frühlings, der hier erst im Juni seinen Einzug hält, und den Hintergrund bilden die leuchtenden Schneegipfel des Gebirges. Ein fernes Gewitter im Himalaja entfaltete gerade, als wir durchzogen, den unbeschreiblichen Zauber seines Farbenspieles.

Das erste Dorf jenseits des Himalaja ist Traschigang, ein paar Häuser, um ein festungsartiges, von einem Wassergraben umgebenes Kloster geschart. Auch hier wieder empfing uns die Bevölkerung in feindseliger Haltung. Doch versetzte uns dies jetzt nicht mehr in Erstaunen und störte uns auch weiter nicht. Denn diesmal kamen wir gerade in der Jahreszeit, in der die indischen Händler ins Land strömen, um Wolle aufzukaufen; von ihnen aber konnten wir ohne weiteres Proviant erstehen. Aufschnaiter versuchte hier vergeblich, sein goldenes Armband in Bargeld umzusetzen. Der Verkauf hätte es ihm finanziell ermöglicht, direkt nach dem Inneren Tibets vorzustoßen, ohne Gartok zu berühren. Während unseres ganzen Marsches wurden wir wiederholt von gutaussehenden, berittenen Tibetern angehalten, die nach unseren Handelswaren fragten. Da wir ohne Diener, mit bepacktem Esel reisten, gab es für sie nur die eine Erklärung, uns für Händler zu halten. Wir stellten überhaupt fest, daß jeder Tibeter, ob arm oder reich, der geborene Händler ist und Tauschen und Feilschen seine große Leidenschaft. Zwei Tage bevor wir Gartok erreichten, kamen wir klopfenden Herzens an Gargünsa heran. Das ist der Wintersitz der Gouverneure von Westtibet, und obwohl wir von Karawanen in Erfahrung gebracht hatten, daß derzeit noch nicht amtiert wurde, hatten wir doch Angst, am Ende schon hier festgehalten zu werden. Doch unsere Sorge war unbegründet, denn das kleine, aber sehr saubere Amtshaus stand noch leer.

Zeitweise schlossen wir uns nun Jak-Karawanen an, die getrocknete Aprikosen aus der indischen Provinz Ladakh nach Lhasa brachten. Diese Transporte sind viele Monate unterwegs und erreichen Lhasa kurz vor dem tibetischen Neujahr, einem großen Fest, das etwa acht Wochen nach unserem Jahresbeginn gefeiert wird. Die Karawanen waren von jungen Leuten aus Lhasa begleitet, die mit guten Schwertern und Gewehren bewaffnet waren und sie vor Räubern schützen sollten. Meist sind es Regierungstransporte, die unterwegs sind, und die Karawanenführer haben Pässe, die ihnen gestatten, Tragjaks und Reitpferde kostenlos zu requirieren. Wir hatten uns noch vor Gartok mit einem dieser Tibeter angefreundet, und sehnsüchtig betrachteten wir sein kostbares Papier mit dem großen viereckigen Siegel aus Lhasa. Angesichts dieser stattlichen Jak-Karawanen wurde uns unsere eigene Armseligkeit erst recht bewußt. Unser kleiner Esel legte sich oft mitsamt seiner Last nieder, und dann halfen selbst Schläge nichts. Er erhob sich erst wieder, wenn es ihm benagte. Es konnte aber auch geschehen, daß er einfach alles abwarf und übermütig das Weite suchte.

Kurz vor Gartok verbrachten wir noch einen sehr »nahrhaften« Abend in einem warmen Zelt. Eine nach Lhasa reisende Gesellschaft war von Kopps Kartentricks so begeistert, daß sie sein gesamtes Repertoire noch einmal sehen wollte und uns in ihr Zelt einlud.

Während dieser verschiedenen Begegnungen mit Karawanen schwebte mir immer die Gestalt des Paters Desideri vor Augen, dem es vor mehr als zweihundert Jahren gelungen war, mit einer solchen Karawane ungehindert bis nach Lhasa zu kommen. So leicht sollte es uns nicht gemacht werden.