Der Freiheitskampf der Tibeter
Die Geschichte des tibetischen Freiheitskampfes begann im Herbst 1954. Damals fingen die Rotchinesen an, ihre Gewaltherrschaft über Tibet in den Gebieten von Litang, Tschating, Batang und Tranko und in anderen osttibetischen, schon außerhalb der Staatsgrenzen liegenden Gebiete systematisch auszubauen. Dort in der osttibetischen Provinz Kham leben die berühmten Khampas. Es ist der »Wilde Westen« Tibets. Die Gegend ist voll von Räubern, und die Bevölkerung ist seit urdenklichen Zeiten daran gewöhnt, Gewehre und Pistolen zu ihrem Schutz zu tragen. Die Chinesen befürchteten nun, daß sich diese Waffen gegen chinesische Soldaten richten könnten, und befahlen darum im Oktober 1954, daß alle Waffen samt Munition der Polizei abzuliefern seien. Die Khampas weigerten sich jedoch.
Dieser Kampf um die Kontrolle der Khampa-Waffen ging durch das ganze Jahr 1955, wobei die Chinesen fast immer den kürzeren zogen. In Lhasa und im übrigen Tibet hatten die Führer des Volkes durchaus den guten Willen, mit den Chinesen auszukommen. Niemand kann leugnen, daß Lhasa, voran der Dalai Lama, die ehrlichsten Anstrengungen machte, um friedlich unter der aufgezwungenen chinesischen Herrschaft weiterleben zu können. Es waren die Chinesen selbst, die durch ihre harten Maßnahmen den Aufstand auslösten. Und gerade der Khampa-Konflikt von 1955 bildete den Ausgangspunkt für die Zwistigkeiten zwischen den Tibetern und ihren Unterdrückern.
Im Herbst verlangten die Chinesen, daß alle Pferde, Maulesel, Schafe, Ziegen und jedes Stück Weide- oder Ackerland zur Versteuerung einzutragen seien; der Steuerertrag sollte ohne Verzug nach Peking weitergeleitet werden. Außerdem gingen die chinesischen Steuerbeamten in alle Klöster, um den Wert der Idole und heiligen Bücher zu schätzen, damit Peking sie mit Steuern belasten konnte.
Die nächsten Maßnahmen waren Landreformen. Die Chinesen versuchten die Leibeigenen gegen ihre Herren aufzuhetzen. Sie fanden auch einige Unzufriedene, wie es sie in jedem Lande gibt, und bezahlten dafür, daß sie Unruhe stifteten. Im Herbst 1955 glaubten die Chinesen, daß alles genügend vorbereitet sei, um öffentliche Gerichtsverfahren gegen die tibetischen Landbesitzer inszenieren zu können. Aber gerade dies war reiner Hohn für ein Land, in dem der Feudalismus seit Jahrhunderten herrschte. Die Landbesitzer wurden vor Gericht geschleppt, wie Verbrecher behandelt und vom Pöbel beleidigt. Den bezahlten Hetzern hatte man versprochen, daß sie das ganze Land bekämen, nachdem man es ihren »Ausplünderern« weggenommen habe. Es gab ein schlimmes Erwachen für die Leute, als sie gewahr wurden, daß die besten Stücke des enteigneten Landes den chinesischen Ansiedlern und Soldatenfamilien vorbehalten blieben.
Viele Grundherren waren Khampas. Das ist ein außergewöhnlich harter, aufrechter Menschenschlag, der solch eine Behandlung keineswegs ruhig hinnimmt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß um diese Zeit dem Volk ein Held und Befreier in der Provinz Kham erstand. Es war der 44jährige Andrutshang, das Haupt einer der ältesten, reichsten und geachtetsten Familien der Khampas. Er war in ganz Tibet als gütiger, hilfsbereiter Mensch bekannt, der immer als einer der ersten tief in die eigenen Taschen griff, wenn andere sich in Not befanden. Diese Mann war es, der jetzt in die Wälder ging und sich an die Spitze einer Handvoll Freunde stellte, um die chinesische Fremdherrschaft zu bekämpfen. Zuerst begnügten sie sich damit, mit Steinlawinen die von den Chinesen als Verbindungswege benutzten Gebirgsstraßen unbrauchbar zu machen. Bald aber begannen sie, chinesische Außenposten zu überfallen und Waffen, Munition und die so bitter nötigen Nahrungsmittel zu requirieren. In drei Monaten war ihre Gefolgschaft zu mehreren Hundert angewachsen, welche die Chinesen in der ganzen Provinz bekämpften. Die Chinesen antworteten mit der Bombardierung von Tschating, Batang und Tranko und der Zerstörung von Klöstern.
Danach bombardierten sie Tschekundo und Litang, zwei Städte, die im Verdacht standen, die Khampas zu unterstützen. Inzwischen führte Andrutshang seine Männer gegen Lhasa, weil er hoffte, dort einen nachhaltigen Einfluß auf die lokale Regierung und verstärkten Druck auf die Chinesen ausüben zu können. Im Frühjahr 1958 waren große Gruppen kämpfender Khampas um Lhasa versteckt. Viele Händler und Grundbesitzer aus Kham und anderen Landesteilen waren in die Hauptstadt gezogen, weil sie sich dort vor der chinesischen Rache sicherer fühlten. Bald war die Hauptstadt übervölkert, von Tag zu Tag wurde der Mangel an Nahrungsmitteln spürbarer.
Zu diesem Zeitpunkt herrschte in ganz Tibet Unruhe. Die Khampa-Kämpfer übten die Kontrolle über große Gebiete aus. Die chinesischen Soldaten wagten es nicht mehr, sich weit von ihren Baracken zu entfernen, und der chinesische Gouverneur in Lhasa befürchtete ernsthafte Schwierigkeiten. Da er wußte, daß sich Hunderte von Khampa-Widerstandskämpfern in der Heiligen Stadt versteckt hielten, erließ er den Befehl, daß alle nicht in der Stadt Ansässigen sofort in ihre Heimstätten zurückzukehren hätten. Die Atmosphäre war aufs höchste gespannt, als an einem Aprilmorgen der chinesische Gouverneur seinen Truppen befahl, die auswärtigen kleinen Händler und Besucher der Hauptstadt zu verhaften. Sie faßten rund achthundert Tibeter an einem Tag und befahlen ihnen, Lhasa zu verlassen. Auch nur einen einzigen Khampa zu verhaften, wagten sie aber nicht, weil sie die Vergeltung des Andrutshang fürchteten.
Dieser hatte die Ereignisse von seinem Versteck aus beobachtet. Er spürte, daß die Zeit für größere Operationen gekommen sei. Seine Anhänger mußten alle zugänglichen Waffen mit Munition aufkaufen. Unter seiner Gefolgschaft von etwa dreitausend mutigenjungen Khampas bestanden viele darauf, in die »Khelenpa«, eine Art Himmelfahrtskommando, aufgenommen zu werden. Das waren ausgesuchte Gruppen junger Kämpfer, die eine Spezialausbildung erhielten und entschlossen waren, lieber für ein freies Tibet zu sterben als unter der chinesischen Fremdherrschaft zu leben.
Im Mai 1958 befahl nun Andrutshang seiner kleinen Armee, sich in Gruppen von drei oder vier Mann nach Nyemo, achtzig Kilometer südlich von Lhasa, zu begeben und sich außerhalb dieses Dorfes zu sammeln. Er wußte, daß sich in dem vor Nyemo gelegenen Kloster ein geheimes Arsenal der Regierung von Lhasa befand. Er wußte aber auch, daß er nur die chinesische Garnison von Nyemo zu vernichten brauchte, um die Mönche zur Öffnung des Arsenals zu veranlassen.
Nyemo lag in ruhigem Schlaf, als Andrutshangs Truppen in einer klaren Mondnacht losschlugen. Die chinesische Besatzung, rund zwölfhundert Mann, schlief ebenfalls, mit Ausnahme der meist aus jungen Zwangsrekrutierten bestehenden Schildwachen, die bereits genug davon hatten, in der »chinesischen Volksbefreiungsarmee« zu dienen. Kurz nach Mitternacht griffen Andrutshangs Männer an. Mit Gewehren, Pistolen und Schwertern bewaffnet, überwältigten sie im Überraschungsangriff zuerst die Wachen und dann die ganze Garnison. Im Morgengrauen lagen tausend Chinesen erschlagen auf dem Kampfplatz, der Rest war geflüchtet. Bis Tagesanbruch aber waren die Khampas wieder verschwunden. Fünfhundert neue Gewehre aus dem Klosterarsenal und eine große Menge Munition waren ihre Beute. Mit neuen Waffen konnten die Khampas auch neue Rekruten ausrüsten, die sich nun immer zahlreicher in die Reihen Andrutshangs drängten, der zu einem richtigen Nationalhelden geworden war. Sie fuhren fort, die chinesischen Verbindungswege zu zerstören und kleine Überfälle auszuführen. Sie schnitten auch die Straße zwischen Lhasa und Schigatse ab, wo der Pantschen Lama im Kloster Traschilhünpo residierte. Endlich zerstörten sie die wichtigste Fähre über den Brahmaputra und zogen dann nach Konka Dzong. Hier überraschten sie chinesische Verstärkungstruppen. Sie töteten zweihundert Chinesen in einer regelrechten Schlacht und zerstörten neununddreißig Lastwagen. Wieder erbeuteten sie große Mengen an Waffen und Munition.
Im Herbst 1958 fühlten sich die Khampa-Kämpfer stark genug, um eine offene Feldschlacht zu wagen. Andrutshang wählte Tsetang als Operationsfeld, eine größere Handelsstadt südlich des Brahmaputra. Die Chinesen hatten sie als Garnisonstadt befestigt. Sie hatten jahrelang Zeit gehabt, sich dort einzugraben. Ihre Hauptverteidigung bestand aus einem anderthalb Meter tiefen und drei Meter breiten Wassergraben. Niemand konnte hoffen, diesen Graben zu überqueren, ohne von den Soldaten entdeckt zu werden, die Tag und Nacht dort Wache standen. Dieser chinesische Stützpunkt galt deshalb als unangreifbar.
Die Bewohner von Tsetang aber waren der chinesischen Besatzung reichlich überdrüssig. Diejenigen, welche die Geheimnisse der chinesischen Verteidigung kannten, verrieten sie gern Andrutshang. So geschah es, daß in einer finsteren Nacht einige mutige Tsetanger ihr Leben riskierten, zu den Hauptkontrollpunkten schlichen, die Wachen töteten und die Räder in Bewegung setzten, die den Wassergraben leerten. Unter dem Schutz der Dunkelheit stürmten nun Andrutshangs Männer die Garnison. Die Schlacht dauerte mehrere Stunden, bis schließlich dreitausend Chinesen tot auf dem Schlachtfeld lagen.
Das war der größte Sieg der Khampas. Aber sie ruhten nicht. Im November 1958 kämpften bereits zwölftausend Khampas unter der Führung Andrutshangs und kontrollierten das ganze Gebiet südlich des Brahmaputra und östlich von Gyantse. Überall wurden sie von den Einwohnern unterstützt. Denn jetzt handelte es sich nicht mehr um eine Revolte von Grundbesitzern und Kaufleuten, sondern um einen allgemeinen, nationalen Aufstand, an dem alle Schichten der Bevölkerung teilnahmen, um ihr Land von den verhaßten Unterdrückern zu befreien.
In der Zwischenzeit hatte sich die Lage in Lhasa zugespitzt. Im Frühjahr 1958 waren die Chinesen bereits überzeugt, daß viele hohe Beamte der Regierung, die nach außen mit den Chinesen zusammenarbeiteten, heimlich den Khampas halfen. Aber sie konnten keine Beweise dafür finden. Im Sommer 1958 waren die Chinesen so beunruhigt, daß sie als »Beweis des guten Willens« verlangten, der Dalai Lama solle seine eigenen Soldaten und seine persönliche Leibgarde zur Bekämpfung der Khampas einsetzen.
Zu dieser Zeit begann des Dalai Lama wohlabgewogenes diplomatisches Spiel um Zeitgewinn. Die Tibeter sind von Natur aus ein friedliches Volk. Sie erheben niemals ihre Stimme, wenn sanfte Antwort Streit auszuschließen verspricht. Als die Chinesen nun den Dalai Lama baten, seine eigenen Soldaten gegen die Khampas auszusenden, antwortete er ihnen höflich, daß er dies gern tun würde, aber bedauere, daß seine Soldaten dafür zu schlecht ausgerüstet und keine ebenbürtigen Gegner der Khampas wären. Als die Chinesen daraufhin anboten, sie entsprechend zu bewaffnen, drückte der Dalai Lama wieder sein Bedauern aus: Es sei eine traurige Angelegenheit, aber er könne seinen eigenen Soldaten nicht so weit trauen, daß sie nicht zu den Khampas überlaufen würden.
Während dieser diplomatische Briefwechsel hin und her ging, nahte der Zeitpunkt, an dem der Dalai Lama seinen — alle paar Jahre fälligen — offiziellen Besuch bei den »Drei Säulen des Staates«, das heißt den drei Hauptklöstern Tibets, in Drebung, Sera und Ganden, zu machen hatte. Die Äbte dieser drei Klöster gehörten zu den einflußreichsten Männern Tibets. Sie benutzten den Besuch des Dalai Lama, um lange Ratssitzungen mit ihm und seinen Ministern abzuhalten. Es war Juli 1958, und die Führer des Volkes mußten damals schon um das Leben des jungen Königs bangen. So beschlossen sie, ein Edikt herauszugeben, nach dem niemand mehr zum Dalai Lama vorgelassen werden dürfe, der nicht vorher eine schriftliche Bewilligung der Kaschag, also des Ministerrats, erhalten hätte. Mit dieser Maßnahme hoffte man, die Chinesen dem Palaste des Dalai Lama fernzuhalten und seine befürchtete Ermordung oder Verschleppung zu verhindern.
Die Chinesen verstanden und waren über dieses Edikt wütend. Der Militärgouverneur antwortete, da die Kaschag nicht das Volk repräsentiere, sei dieser Erlaß ungültig. Der Ministerrat reagierte darauf sehr klug. Man bildete eine neue Tsongdü, eine neue Volksvertretung, um die beim Einmarsch der »Volksbefreiungsarmee« von den Chinesen aufgelöste zu ersetzen. Die alte Tsongdü war eine etwas schwerfällig funktionierende Versammlung von sechshundert Vertretern aus allen Schichten des Volkes gewesen: Adlige, Mönche, Kaufleute, Kleinhändler und Handwerker. Sie repräsentierten die Stimme des Volkes, und wenn sie auch keine ausführende Gewalt besaß, so hörte die Kaschag doch auf ihre Beschlüsse. Die neugebildete Tsongdü, deren Vertreter aus denselben Volksgruppen gewählt wurden, bestand nur aus sechzig Mann. Die Kaschag unterrichtete die Chinesen, daß sie fortan den Dalai Lama durch diese tibetische Volksvertretung erreichen könnten. Das war im Oktober 1958.
Ein schützender Wall umgab den jungen König. Der chinesische Gouverneur unternahm auf Befehl Pekings die größten Anstrengungen, ihn zu durchbrechen. Des Dalai Lama Berater dagegen machten gleiche Anstrengungen, ihn zu befestigen. Im November 1958 sandten die Chinesen dem Dalai Lama eine Einladung zur Teilnahme an der im Januar in Peking stattfindenden Nationalversammlung der chinesischen Volksrepublik. Nun begann das diplomatische Spiel um Zeitgewinn von neuem. Der Dalai Lama sandte Tschou Enlai eine Botschaft des Inhalts, daß er gerne bereit sei, teilzunehmen, aber bedauerlicherweise stünden ausgerechnet in diesem Monat seine Doktorexamen bevor und der chinesische Premierminister würde doch sicher Verständnis für deren Wichtigkeit haben. Die Chinesen — im Bestreben, den Dalai Lama unter ihren Einfluß zu bekommen — antworteten, daß sie die Nationalversammlung zu einem späteren Zeitpunkt abhalten könnten. Doch das ganze tibetische Volk verlangte nun, daß ihr Dalai Lama unter keinen Umständen nach Peking reisen dürfe.
Auch eine geheime Untergrundbewegung von Jugendlichen, die Tsogpa, arbeitete bereits in der Hauptstadt. Diese Jungen prägten schon die Schlagworte, die bald vom ganzen Volk verbreitet wurden: »Geht heim, Chinesen — wir wollen die Unabhängigkeit!«
In dieser äußerst kritischen Zeit — es war am 9. März 1959 um zehn Uhr vormittags — fuhr ein Verräter auf seinem Fahrrad zum Norbulingka-Palast, um den Dalai Lama in eine chinesische Falle zu locken. Als Judas hatten die Chinesen den Mönch Phagpala erwählt. Es war üblich, daß alle Mönchsbeamten zum Zehn-Uhr-Morgen-Empfang des Dalai Lama erschienen. Zu dieser täglichen Versammlung der hundertfünfundsiebzig höchsten Beamten erschien also am 9. März auch Phagpala. Er trug die übliche lose braune Mönchskutte und eine gelbe Jacke. Er benutzte die Gelegenheit, abseits im Flüsterton mit dem Dalai Lama zu sprechen. Im Namen des chinesischen Generalgouverneurs von Tibet, des Generals Tan Kuansan, lud er ihn unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit ein, am nächsten Tag an einer chinesischen »Theatervorstellung« in der Garnison des chinesischen Militärkommandos teilzunehmen. Der verräterische Mönch betonte ausdrücklich, daß es sich um eine inoffizielle Einladung handle und der Dalai Lama daher — im Interesse der chinesisch-tibetischen Beziehungen — ohne seine Kaschagminister und nur mit drei bis vier unbewaffneten Begleitern erscheinen solle.
Der Dalai Lama nahm diese »Einladung« mit gespielter Begeisterung an. Jedoch schon die Art und Weise der Aufforderung verstieß strikt gegen das Protokoll des Palastes. Der Dalai Lama verständigte deshalb sofort seinen ältesten Lehrer Jongdzin Rimpotsche. Der erkannte die große Gefahr und zog jene drei Mitglieder der Kaschag ins Vertrauen, deren Loyalität außer Frage stand: Surkhang, Schasur und Liuschar. Diese Getreuesten der Getreuen hatten eine lange Besprechung, die sich bis tief in die Nacht vom 9. zum 10. März ausdehnte. Sie waren überzeugt, daß die Chinesen den Dalai Lama aus Lhasa entfernen wollten, um ihn zu vernichten, wenn er sich nicht als gefügige Marionette von ihnen gebrauchen lassen würde. In dieser Nacht wurde zum erstenmal eine Flucht nach Indien in Erwägung gezogen. Da die Vertrauten aber zögerten, eine so schwerwiegende Entscheidung allein zu treffen, riefen sie die neugebildete Tsongdü der sechzig Volksvertreter zusammen. Diese wiederum beschloß, eine wesentlich größere Anzahl von Volksvertretern zur Beratung heranzuziehen. So trafen an diesem geschichtlichen Morgen des 11. März 1959 nahezu tausend Tibeter — Adlige, Kaufleute, Mönche, Kleinhändler und Handwerker — zusammen und berieten ganze sieben Tage hindurch, wie sie das Leben ihres geliebten religiösen und staatlichen Oberhauptes retten könnten. Allgemein war man sich darüber einig, daß der Dalai Lama in höchster Gefahr schwebte. Es war die größte Versammlung von Vertretern des Volkes, die jemals in Tibet zusammengetreten war, und ihre erste Entscheidung bestand darin, den völkerrechtswidrig zustande gekommenen Siebzehn-Punkte-Vertrag mit den Chinesen für null und nichtig zu erklären.
Während in aller Eile die Volksversammlung einberufen worden war, liefen in den Straßen von Lhasa die wildesten Gerüchte um. Leben und Sicherheit des geliebten Dalai Lama seien in Gefahr! Schon im Morgengrauen des 10. März stellten sich die Frauen von Lhasa vor den Toren des Juwelengartens des Norbulingka-Palastes auf. Um acht Uhr hatten sich dort bereits tausend Frauen versammelt. Sie waren entschlossen, keinen einzigen Chinesen durchzulassen. Um zehn Uhr erschienen die hohen Lamas zu ihrer täglichen Versammlung beim König. Bis zum Mittag wuchs die schützende Menschenmauer um den Palast zu einer dichten Menge von mehr als zehntausend Frauen, Männern und Kindern an, die alle Eingänge des Norbulingka undurchdringlich umgaben. Die Stimmung war explosionsgeladen. Die Menge wußte, daß der Dalai Lama zu einer »Theatervorstellung« in der chinesischen Garnison erwartet wurde — sie alle aber waren entschlossen, dies um jeden Preis zu verhindern.
Der Verräter Phagpala verließ an diesem Tag den Norbulingka— Palast am Ende des Morgenrates zusammen mit den anderen Mönchen. Kurz darauf jedoch kehrte er zurück — offensichtlich, um den Dalai Lama in die chinesische Garnison zu begleiten. Dieses Mal war er aber nicht mehr als Mönch gekleidet: Er trug eine chinesische Jacke und einen weißen Schal, der die untere Hälfte seines Gesichts verdeckte. Auf die Art hoffte er, unerkannt durchzukommen. Als ihn die Posten des Haupteingangs anhielten, zog er eine Pistole aus seiner Jacke. Bevor er sie aber abfeuern konnte, überwältigten ihn die Wachen und rissen den Schal von seinem Gesicht: Die Menge erkannte ihn sofort! Wilde Empörung flammte auf. Ein Mann spaltete den Kopf des Verräters mit seinem tibetischen Schwert.
Während der sieben Tage, als die Tsongdü zu Rate saß, blieb die Volksmenge Tag und Nacht um den Norbulingka-Palast versammelt. Es bildete sich spontan eine Volkswehr von fünfzehntausend Menschen, von denen jeder einzelne bereit war, sich für den Dalai Lama töten zu lassen.
Derweil blieben die chinesischen Soldaten in ihren Baracken. Kein chinesischer Offizier wagte es, sein Quartier zu verlassen. Eine große Zahl Tibeter staute sich vor dem indischen Konsulat und bat um indische Unterstützung. Da gab der chinesische Gouverneur den Befehl, zwei Granaten auf den Norbulingka-Palast abzuschießen. Doch gerade diese Schüsse entschieden die Situation: Wenige Stunden danach war die »Beute«, um die der Gouverneur kämpfte — der Dalai Lama, dessen Hilfe er brauchte, um die Tibeter zu unterdrücken —, bereits seinen Bewachern entkommen.
Schließlich war es einer jener bekannten fürchterlichen Sandstürme, der es dem Dalai Lama, seiner Familie, seinen Lehrern, Ministern und einem Gefolge von achtzig Begleitern, Wachen und Dienern ermöglichte, unentdeckt aus dem Palast zu fliehen. Der Sandsturm, der sich am Spätnachmittag erhob und bis in die Abendstunden tobte, verdunkelte auch die Strahlen der Scheinwerfer, welche die Chinesen auf den Juwelengarten gerichtet hatten. Jeder einzelne der fünfzehntausend wachestehenden Tibeter mußte sich den Mantel über den Kopf ziehen und so eingemummt sich stundenlang mit dem Rücken gegen den wütenden Sturm anstemmen, bis alles vorüber war. Trotzdem ging keiner nach Hause … Während die Naturgewalten tobten, war der geliebte Dalai Lama, als ein gewöhnlicher Leibeigener verkleidet, bereits mitten durch ihre Reihen hindurchgeschlüpft. Auf der bereitstehenden Ramagang-Fähre überquerte er den Fluß und ritt dann gegen den Brahmaputra in das von Khampas kontrollierte Gebiet.
Das geschah am Abend des 17. März 1959. Am 18. März um zwei Uhr morgens bildeten die letzten fünfhundert Mann des tibetischen Regiments eine Nachhut für den Dalai Lama. Von diesen Männern waren vierhundert ausgesuchte Mitglieder der Khelenpa, eben jener Selbstmordtrupps. Sie alle hatten geschworen, lieber zu sterben, bevor sich ein einziger Chinese auf Schußweite dem Dalai Lama nähern könne. Während der meisten Zeit dieser denkwürdigen Flucht blieben sie im Abstand eines Viertagemarsches hinter dem Dalai Lama zurück.
Noch weitere vierzig Stunden blieb die Volksmenge als freiwillige Leibgarde des Königs um den Norbulingka-Palast versammelt. Weitere Zwischenfälle ereigneten sich nicht; alle nahmen an, daß der Dalai Lama noch in seinem Palast weile, und dies allein gab ihm den erforderlichen Vorsprung.
Am Morgen des 19. März beriefen die Chinesen eine Versammlung ihrer Führer und einiger weniger tibetischer Kollaborateure ein. Dann forderten sie den Dalai Lama auf, den Norbulingka-Palast zu verlassen und »garantierten« ihm, seine Person zu respektieren und dafür zu sorgen, daß ihm nichts geschähe. Sie versprachen auch dem Volk von Lhasa, keine Repressalien zu ergreifen, erklärten aber, daß die im Sommergarten versammelten »obersten Reaktionäre« vernichtet werden müßten.
Als die Chinesen auf diese »Versprechungen« keine Antwort erhielten, begannen sie ein planmäßiges Bombardement des Sommerpalastes, um den Dalai Lama herauszulocken. Von drei Seiten waren die Kanonen gegen den Palast gerichtet. Die erste Granate zerstörte das westliche Tor. Das war jedoch nur der Beginn eines systematischen Beschusses des eine Quadratmeile umfassenden Palastgebietes. Darauf befanden sich nicht nur die Sommerresidenz des Dalai Lama, sondern alle Sommerheime der Äbte, Lehrer, des Kanzlers, der Minister und der Leibwachen. Auch die riesigen Stallungen standen dort, in denen außer den wunderschönen Reitpferden des Hofes auch viele ausgediente alte Gäule, Schafe, Ziegen und andere Tiere untergebracht waren, die nach buddhistischem Brauch gepflegt wurden und dort ihr Gnadenbrot erhielten.
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Das jetzt einsetzende chinesische Bombardement war erstaunlich zielsicher. Die Chinesen begannen damit, die Grenzen des ganzen Gebiets mit einer Serie von Schüssen abzustecken. Dann schalteten sie eine Pause ein. Der nächste Granatenring lag dem Zentrum schon etwas näher. So fuhren sie fort, den Ring immer enger werden lassend, bis sie schließlich das ganze Gebiet dem Erdboden gleichgemacht hatten. Sie zerstörten es systematisch von außen nach innen, mit verschiedenen Pausen, um dem Dalai Lama Gelegenheit zu geben, herauszukommen. Sie wollten ihn zwingen, sich den Chinesen auszuliefern.
Während dieses stundenlangen Artilleriebeschusses verließ nicht ein einziger der fünfzehntausend Tibeter seinen freiwilligen Wachtposten vor dem Palast. Viele von ihnen wurden an diesem Tag getötet. Andere wiederum rannten in die zerstörten Gebäude, um noch etwas von den heiligen Gegenständen dort zu retten. Noch während der Nacht vom 19. zum 20. März umgab die lebende Menschenmauer den Palast. Erst um die Mittagsstunde des 20. März wurde die Flucht bekannt.
Bewaffnete, mit Lautsprechern ausgerüstete chinesische Wagen fuhren durch die Straßen und verkündeten, daß »Räuber den Dalai Lama entführt hätten«. Die Wirkung auf die riesige Menschenmenge war dramatisch: Einerseits fühlte sie große Erleichterung, daß ihr König nun in Sicherheit war, andererseits war sie darüber aufgebracht, daß die Chinesen ihn aus ihrer Mitte vertrieben hatten.
Jetzt begann der grauenhafte Zwei-Tage-Krieg um Lhasa, in dem mehr als achthundert Tibeter ihr Leben verloren. Es war ein Morden von Wehrlosen. Die Chinesen schossen auf die unbewaffnete Menge und bombardierten Wohnstätten und Tempel genauso wie die vielen Klöster in und um Lhasa.
Unter den Gefallenen befanden sich viele Jugendliche. Die jungen Männer der »Tsogpa«, der tibetischen Untergrundbewegung, entpuppten sich als disziplinierte Geheimgesellschaft. Sie bestand hauptsächlich aus jungen Tibetern, die von den Chinesen zur Schulung nach Peking geschickt worden waren. Man hatte alles getan, sie zu bekehren. Die meisten von ihnen hatten drei Jahre unter kommunistischer Schulung in Peking zugebracht. Einer von ihnen, Ngawang Sengi, ein talentierter Sohn eines Kaufmanns, wurde von den Chinesen als vielversprechender Nachwuchs behandelt. Er wurde Vorzugsschüler in Peking und stellvertretender Oberlehrer an seiner Schule. Aber angewidert von allem, was er an kommunistischer Wirklichkeit in China und in Tibet sah, bildete er nach seiner Heimkehr mit Freunden und früheren Klassenkameraden die »Tsogpa«. Genau wie in Ungarn und Polen war es auch hier die Jugend — also jene Leute, welche die Kommunisten mit großer Mühe »umschulen« wollten —, die den Kern der Widerstandsbewegung bildete.
Sengi, ein prachtvoller, athletischer Jüngling, war bei allen Schichten der Bevölkerung von Lhasa beliebt. Im ersten Stadium der Revolte spielte die »Tsogpa« unter seiner Führung noch keine aktive Rolle. Aber er sammelte Waffen, Munition und Rekruten für die kämpfenden Khampas. Erst beim Ausgang der Schlacht von Lhasa stand Sengi bei der Ramagang-Fähre, um seinen Leuten zu helfen, noch in letzter Minute aus der Stadt zu entkommen. Bei anbrechendem Tageslicht sprang er als letzter auf die Fähre und hob dabei beide Arme hoch, um den Männern zuzuwinken, die sich wie Silhouetten am jenseitigen Hügelufer abzeichneten. Er glaubte, daß es Männer des tibetischen Regimentes seien, welche die Flucht der »Tsogpas« deckten. Aber es waren Chinesen. Als er winkte, schossen sie ihn nieder.
Noch ein junger Tibeter starb als Held an diesem Tag an der Fähre von Ramagang. Es war Lobsang Gendon Sadutshang, der schon 1950 ausersehen war, die damalige Flucht des Dalai Lama zu decken. Das sind nur zwei von vielen tausend Tibetern, die in dem Gemetzel dieser Tage umkamen. Doch vielleicht sind sie vor einem schlimmeren Schicksal bewahrt worden. Denn jetzt hatten die Chinesen den Mut, in das mit Toten übersäte Lhasa einzudringen. Sie verhafteten sofort alle noch lebenden Männer zwischen sechzehn und sechzig Jahren und verschleppten sie zu Zwangsarbeiten nach China.
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Mit der Unterstützung des ganzen Volkes, besonders der kämpfenden Khampas, erreichte der Dalai Lama unter dramatischen Umständen am 31. März 1959 mit seinem gesamten Gefolge die indische Grenze Assams und befand sich damit unter dem Schutz der indischen Armee.
Die Behauptung der Chinesen, der Aufstand sei von der »reaktionären Klasse« organisiert worden, ist längst widerlegt. Die Masse der Flüchtlinge, in der Mehrzahl dem armen Volk entstammend, spricht eine deutliche Sprache. Außerdem haben die Führer des Aufstandes, inzwischen in der »Nationalen Freiwilligenarmee zur Verteidigung von Tibet« organisiert, unter Zustimmung des Dalai Lama wesentliche Änderungen in der politischen und sozialen Organisation Tibets in Aussicht gestellt. In einer Erklärung vom 1. Januar 1959 heißt es: »Wir verpflichten uns, die Lebensbedingungen unseres Volkes und dessen Lebensstandard zu verbessern. Wir verpflichten uns, alle notwendigen Reformen im Lande in Übereinstimmung mit den natürlichen Bedingungen, Sitten und dem Geist unseres Volkes durchzuführen. Auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Entwicklung geloben wir, das Leben unseres nomadischen Volkes, der Ackerbauern, der Handwerker und Arbeiter nach besten Kräften zu fördern und Änderungen auf allen Gebieten unseres nationalen Lebens durchzuführen. Wir bekennen uns zu einer Politik, welche diese Änderungen durch friedliche Mittel erreichen soll.«