Bunte Gebetsfahnen säumen den Pilgerweg
Wieder fanden wir die typischen Steinhaufen und darauf die buntesten Gebetsfahnen, die ich je gesehen hatte. Daneben stand eine Reihe in Stein gehauener Gebetstafeln — unvergänglich gewordener Ausdruck der Freude vieler tausend Pilger, wenn nach den Mühen ihrer Wanderschaft dieser Paß ihnen den Weg zur heiligsten Stadt öffnet.
Und da kamen sie uns auch schon in erstaunlicher Menge entgegen, alle die Pilger, die das Ziel ihrer Sehnsucht gesehen hatten und nun wieder in die entfernte Heimat zogen. Wie viele Male mag dieser Weg das »Om mani padme hum« gehört haben, jene uralte und gebräuchlichste buddhistische Gebetsformel, die die Pilger ununterbrochen vor sich hin murmeln und von der sie sich nebenbei auch Schutz vor den »Giftgasen« erhoffen — so legen nämlich die Tibeter den Mangel an Sauerstoff aus. Klüger wäre es allerdings, wenn sie den Mund hielten! Immer wieder sahen wir tief unter uns die weißen Gerippe abgestürzter Karawanentiere, die von der Gefährlichkeit des Passes zeugten, und die Treiber erzählten, daß fast jeden Winter hier Pilger im Schneesturm ums Leben kamen. Wir dankten Gott für das gute Wetter, denn schon in den ersten Tagen mußten wir beinahe zweitausend Meter Höhenunterschied überwinden.
Als wir den Kamm überschritten hatten, lag eine ganz neue Landschaft vor uns. Die sanften Hügel des Tschangthang waren verschwunden. Auf unserem mühseligen Marsch hatten wir uns oft ausgemalt, wie gut man hier mit einem Jeep durchkäme. Nun wäre eine solche Fahrt zu Ende gewesen. Steil und schroff bricht das Gebirge ab, durch tief eingeschnittene Schluchten rauschen die Wasser, die bereits in die Ebene von Lhasa abfließen. Die Jaktreiber erzählten uns, von einem bestimmten Punkt knapp vor der Stadt könne man sogar die Eisgipfel sehen, durch die wir jetzt zogen. So nahe war die »Verbotene Stadt« gerückt!
Der erste Teil des Abstieges führte über einen Gletscher. Wieder mußte ich die Jaks bewundern, die mit unglaublicher Sicherheit ihren Weg über das Eis fanden. Bei unserem müden Dahinstol— pern kam mir unwillkürlich der Gedanke, wieviel leichter es wäre, auf Brettern über diese ideal spaltenlosen Flächen zu gleiten. Aufschnaiter und ich waren wohl die ersten, die sich auf dem Pilgerweg nach Lhasa über das Skifahren unterhielten … Auch eine Anzahl Sechstausender lockte sogar uns Ermattete, und wir bedauerten, keinen Eispickel zu haben, denn es wäre ein leichtes gewesen, einen von ihnen zu ersteigen.
Auf diesem Marsch holte uns ein junges Paar ein. Sie kamen auch schon von weit her und wollten wie wir nach Lhasa. Gern schlossen sie sich der Karawane an, und wie sich das unterwegs ergibt, kamen wir ins Gespräch. Ihr Schicksal war eine merkwürdige Geschichte, eine Romeo-und-Julia-Story in tibetischer Fassung.
Die hübsche junge Frau mit ihren roten Wangen und den dicken, schwarzen Zöpfen hatte fröhlich und zufrieden in einem Nomadenzelt des Tschangthang gelebt und ihren Männern — drei Brüdern — die Wirtschaft geführt. Da war eines Abends ein junger Fremder gekommen und hatte um Nachtquartier gebeten. Von diesem Augenblick an war alles anders — es muß die berühmte Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Heimlich hatten sie sich verständigt, und schon am nächsten Morgen verließen sie gemeinsam das Zelt. An die Gefahren einer Flucht über die winterliche Ebene dachten sie gar nicht. Nun waren sie glücklich bis hierher gekommen und wollten in Lhasa ein neues Leben beginnen.
Die junge Frau ist mir wie ein Lichtblick aus diesen schweren Tagen in Erinnerung geblieben. Einmal beim Rasten griff sie in ihre Brusttasche und reichte jedem von uns lächelnd eine getrocknete Aprikose. Diese kleine Gabe war für uns genauso köstlich wie damals am Weihnachtsabend das Weizenbrötchen des Nomaden.
Beim Weiterwandern fiel mir erst auf, wie kräftig und ausdauernd die Frauen in Tibet sind. Die blutjunge Frau hielt ohne weiteres mit uns Schritt und trug ihr Bündel wie jeder Mann. Sie brauchte sich wohl keine Gedanken um ihre Zukunft zu machen. In Lhasa würde sie sich als Tagelöhnerin verdingen und dank ihrer robusten Nomadengesundheit leicht ihren Lebensunterhalt verdienen.
Drei Tage waren wir schon wieder marschiert, ohne auf Zelte zu stoßen. Da sahen wir auf einmal in der Ferne eine riesige Rauchsäule zum Himmel steigen. Konnte das der Herdrauch einer menschlichen Siedlung sein? Oder ein Brand? Es schien uns nicht sehr wahrscheinlich. Beim Näherkommen fanden wir des Rätsels Lösung: Es war der Dampf von heißen Quellen. Bald standen wir vor einem Bild unerwarteter Naturschönheit. Mehrere Quellen brachen aus dem Boden, und mitten aus der Dampfwolke, die sie verhüllte, schoß ein prachtvoller Geiser vier Meter hoch in die Luft. Wir waren überwältigt von dem Anblick. Unser nächster Gedanke war etwas prosaischer: baden! Unser Pärchen hatte weder für das eine noch für das andere etwas übrig. Die junge Frau war über den Badevorschlag geradezu entrüstet. Wir ließen uns dadurch nicht stören. Das Wasser kam kochend aus dem Boden, wurde aber durch die Außentemperatur von ungefähr minus 10 Grad zu erträglicher Wärme abgekühlt. Wir vergrößerten einen der natürlichen Tümpel zu einem komfortablen Warmwasserbas— sin. Welcher Genuß! Seit den heißen Quellen von Kyirong hatten wir uns nicht mehr waschen oder gar baden können. Unsere Bartund Kopfhaare waren übrigens infolge der niedrigen Lufttemperatur gleich bocksteif gefroren.
Im Abflußbächlein der Quelle, das angenehm durchwärmt war, tummelten sich viele große Fische. Hungrig überlegten wir, wie wir einen fangen könnten — siedendes Wasser zum »Blaukochen« wäre bei der Hand gewesen … Aber aus dem Leckerbissen wurde nichts. Das Bad hatte uns sehr erfrischt, und wir machten uns wieder auf die Beine, um die Karawane einzuholen.
Die Nacht verbrachten wir gemeinsam mit den Jaktreibern im Zelt. Damals bekam ich zum erstenmal einen bösen Ischiasanfall. Ich hatte diese schmerzhafte Krankheit immer für eine Alterser— scheinung gehalten und mir nicht träumen lassen, daß ich so bald mit ihr Bekanntschaft machen würde. Wahrscheinlich hatte ich mich bei dem dauernden Übernachten auf dem kalten Boden verkühlt.
Eines schönen Morgens konnte ich nicht mehr aufstehen. Ich hatte fürchterliche Schmerzen. Eisiger Schreck fuhr mir in die Glieder: Wie sollte ich jetzt weiter? Ich konnte doch nicht hierbleiben. Mit zusammengebissenen Zähnen raffte ich mich auf und versuchte ein paar Schritte. Mit der Bewegung wurde es besser. Von jetzt ab waren jeden Morgen die ersten Kilometer besonders mühsam für mich.
Am vierten Tag, seitdem wir den Paß überschritten hatten, kamen wir aus dem engen Gebirgstal in eine riesige Ebene. Todmüde erreichten wir abends die Tasamstation Samsar. Endlich wieder eine Siedlung, feste Häuser, Klöster, eine Burg! Dies ist einer der größten Tasamkreuzungspunkte Tibets. Fünf Routen treffen hier zusammen, es herrscht ein lebhaftes Treiben, Karawanen kommen und gehen, die Unterkunftshäuser sind überfüllt, Trag- und Reittiere werden ausgewechselt … das rege Leben einer großen Karawanserei.
Unser Bönpo war schon seit zwei Tagen hier. Aber selbst als Regierungsbeauftragter mußte er fünf Tage auf frische Jaks warten. Er verschaffte uns einen Raum als Unterkunft, Feuerungsmaterial, einen Herddiener. Wieder einmal konnten wir eine Organisation bewundern, die man in diesem riesigen, unwegsamen Land nicht erwartet hätte. Jährlich waren hunderttausende Lasten auf Jakrücken unterwegs, viele tausend Kilometer wurden zurückgelegt, und doch klappte immer die Weiterbeförderung; frische Tiere waren hier, Unterkunftsmöglichkeiten standen bereit …
Augenblicklich herrschte besonders reger Verkehr. Wir mußten uns auf eine längere Rast gefaßt machen. Allein konnten wir nicht weiterziehen, denn wir besaßen ja keinen Jak mehr. Wir benutzten den Tag zu einem Ausflug. Nicht weit von Samsar stiegen weiße Dampfwolken zum Himmel auf — auch hier gab es also heiße Quellen. Das lockte uns. Gemächlich wanderten wir aus dem Ort hinaus, kilometerweit durch brachliegende Felder, die davon zeugten, daß die Bevölkerung sich vom Ackerbau ganz auf Handel und Transportunternehmungen umgestellt hatte.
Die heißen Quellen entpuppten sich als einzigartiges Naturwunder. Ein richtiger See lag brodelnd vor uns, sein Wasser schien schwarz und floß doch in einem Bächlein ganz klar ab. Wir konnten uns die Temperatur unseres Badewassers aussuchen. Dort, wo es angenehm warm war, stiegen wir ins Bächlein und wateten immer näher zum See. Es wurde heißer und heißer. Als erster gab Aufschnaiter es auf. Ich aber zwang mich zum Weitergehen, weil ich mein Ischias kurieren wollte. Ich schwelgte im heißen Wasser. Ein letztes Stück Seife hatte ich noch von Kyirong her mit. Nun legte ich es in Reichweite ans Ufer, kaum einen Meter von mir entfernt. Eine gründliche Abseifung sollte den Höhepunkt des Bades bilden. Leider war mir aber nicht aufgefallen, daß eine Krähe mich schon die ganze Zeit aufmerksam beobachtete. Plötzlich stieß sie blitzschnell zu — und weg war mein Schatz! Fluchend sprang ich auf, flüchtete aber zähneklappernd aus der kalten Luft gleich wieder in die Wärme. Die Krähen sind hierzulande so diebisch wie bei uns daheim die Elstern, und schon in Kyirong war mir einmal dasselbe wie hier passiert. Auf dem Rückweg sahen wir zum erstenmal ein tibetisches Regiment. Fünfhundert Soldaten waren hier auf Manöver. Die Bevölkerung ist von diesen militärischen Übungen gewöhnlich nicht sehr begeistert, denn die Soldaten haben das Recht zum Requirieren. Sie sind in eigenen, musterhaft in Reih und Glied aufgestellten Zelten untergebracht, so daß es keine Einquartierungen gibt, aber alle Transporttiere und sogar die Reitpferde muß die lokale Bevölkerung zur Verfügung stellen.