Dunkle Wolken über dem Potala
Schwer war mein Abschied, den ich nicht länger hinauszögern konnte, und sorgenvoll waren meine Gedanken über das Schicksal des jungen Königs. Der Schatten Mao Tsetungs würde drohend über dem Potala stehen. Statt der friedlichen Gebetswimpel würden die roten Fahnen mit Hammer und Sichel im Winde wehen — Anspruch auf die Weltherrschaft und Symbol einer neuen Ära in Asien. Vielleicht würde Tschenresi, der ewige Gott der Gnade, auch dieses Regime überdauern, wie schon so manche Einfalle der Chinesen. Ich konnte nur hoffen, daß das friedlichste Volk der Erde nicht durch allzu viele Verfolgungen würde gehen müssen und durch all die Neuerungen nicht zu sehr aus der Bahn geworfen werde! Mochte seine Klugheit ihm helfen, sich zu behaupten! Fast auf den Tag genau sieben Jahre nach meinem ersten Betreten tibetischen Bodens stand ich wieder vor den Steinhaufen und Gebetswimpeln eines Grenzpasses, der nach Indien führte. Damals war ich hungrig und müde gewesen, aber voll Freude, endlich das ersehnte Land erreicht zu haben. Heute begleiteten mich Diener und Pferde, und meine Ersparnisse enthoben mich der Sorge für die nächste Zukunft. Aber eine tiefe Niedergeschlagenheit wollte nicht von mir weichen. Nichts fühlte ich von der Neugierde und der prickelnden Erwartung, die mich sonst an der Grenze eines neuen Landes ergreifen. Voll Trauer blickte ich nach Tibet zurück. Dort ragte in der Ferne wie ein riesiger Tschörten die Pyramide des Tschomolhari als letzter Gruß.
Vor mir lag Sikkim, hoch überragt vom Kangtschendzonga, dem letzten Achttausender der Erde, den ich noch nicht gesehen hatte. Ich nahm die Zügel meines Pferdes in die Hand und stieg langsam in die indische Ebene hinab.
___________
Wenige Tage später war ich in Kalimpong, nach vielen Jahren zum erstenmal wieder unter Europäern. Ich war ihren Anblick und ihre Gesellschaft gar nicht mehr gewohnt. Die Reporter vieler Zeitungen stürzten sich sofort auf mich, sie wollten die neuesten Nachrichten vom Dach der Welt bekommen. Ich konnte mich lange nicht in das laute Treiben hineinfinden, und es fiel mir schwer, mit den Einrichtungen der Zivilisation wieder vertraut zu werden. Indes auch hier fanden sich Freunde, die mir halfen, mich einzuleben. Noch aber konnte ich mich von Indien nicht trennen, denn ich fühlte mich hier dem Schicksal Tibets näher, und immer wieder verschob ich meine Rückkehr nach Europa.
Im Sommer desselben Jahres noch kehrte der Dalai Lama mit seinem Gefolge nach Lhasa zurück. Die tibetischen Familien, die nach Indien geflohen waren, machten sich auf den Heimweg. Dann erlebte ich noch, wie der chinesische Generalgouverneur für Tibet durch Kalimpong zog, um seine Herrschaft in Lhasa anzutreten. Bis zum Herbst 1951 war ganz Tibet von chinesischen Truppen besetzt, und die Nachrichten aus dem Lamaland wurden immer verworrener und seltener. Während ich die letzten Zeilen dieses Buches schreibe, sind viele meiner traurigen Gedanken Wirklichkeit geworden.
Hungersnot herrscht im Lande, denn die zwanzigtausend fremden Soldaten sind eine zu große Belastung. Ich fand in europäischen Zeitungen Aufnahmen, die riesige Plakate am Fuß des Potala mit dem Bild von Mao Tsetung zeigen. Durch die Heilige Stadt rollen die Panzerwagen. Treue Minister des Dalai Lama sind bereits entlassen, und der Pantschen Lama hat unter dem Waffenklirren der Chinesen seinen Einzug gehalten. Die Chinesen sind klug genug, den Dalai Lama offiziell als Oberhaupt der Regierung anzuerkennen, in Wirklichkeit aber gilt kein anderer Wille als der der Besatzungsmacht. Die hat es sich in Tibet bereits bequem gemacht. Ihrer mächtigen Organisation war es eine Kleinigkeit, schon viele Kilometer Straßen fertigzustellen, die das unwegsame Land fest an das ihre knüpfen.
Ich verfolge alle Geschehnisse mit dem größten Interesse, denn ein Teil meines Ichs ist unlösbar mit Tibet verbunden geblieben. Wo immer ich auch leben werde, die Sehnsucht nach diesem Land wird mich begleiten … Manchmal glaube ich den Flügelschlag und den Schrei der Wildgänse und Kraniche zu hören, die in den klaren, kalten Mondnächten über Lhasa zogen …
Es ist mein großer Wunsch, mit diesem Buch ein wenig Sympathie und Verständnis zu wecken für ein Volk, dessen Wille, in Freiheit und Frieden leben zu dürfen, in der Welt bisher so wenig Beachtung gefunden hat.