Aufenthaltssorgen ohne Ende
Im Laufe des Sommers bestellten uns wieder einmal die Bönpos zu sich. Diesmal forderten sie uns ziemlich energisch auf, unseren Aufenthalt zeitlich zu begrenzen.
Wir hatten inzwischen von nepalesischen Händlern und aus Zeitungen erfahren, daß der Krieg zu Ende war. Es war uns bekannt, daß die Engländer nach dem Ersten Weltkrieg die Gefangenenlager in Indien erst nach zwei Jahren aufgelassen hatten. Daß wir keine Lust verspürten, jetzt noch unsere Freiheit einzubüßen, ist verständlich. Wir waren fest entschlossen, noch einmal den Versuch zu wagen, ins Innere des Landes vorzudringen. Tibet hatte uns immer mehr fasziniert, so daß wir alles daransetzen wollten, es weiter zu erforschen. Wir verfügten jetzt über gute Sprachkenntnisse und hatten viele Erfahrungen gesammelt — was sollte uns daran hindern? Beide waren wir Bergsteiger, und es war eine einmalige Gelegenheit, im Himalaja und in den Gebieten der Nomaden Aufzeichnungen zu machen. Die Hoffnung, bald nach Hause zu können, hatten wir längst aufgegeben, wir wollten nun durch die nördlichen Ebenen Tibets nach China gelangen, um vielleicht dort Arbeit zu finden. Durch das Kriegsende war unser ursprüngliches Ziel, die japanischen Linien zu erreichen, gegenstandslos geworden.
Wir versprachen also den Bönpos, im Herbst den Ort zu verlassen, wenn sie uns als Gegenleistung wieder Bewegungsfreiheit geben wollten. Dies wurde uns bewilligt, und von diesem Tage an hatten unsere Ausflüge den Zweck, im Schneegebirge einen Paß ausfindig zu machen, über den wir, ohne den Ort Dzongka zu berühren, das tibetische Plateau erreichen könnten. Bei diesen sommerlichen Ausflügen lernten wir die Tierwelt der Gegend kennen. Wir stießen auf die verschiedensten Tiere und sahen sogar Affenarten, die sich durch die Schluchten des Kosi-Flusses von Nepal bis hierher verirrt haben mußten. Eine Zeitlang schlugen Panther jede Nacht Kühe und Jaks, und man versuchte, sie in Fallen zu fangen. So mußten wir auf unseren Wanderungen Vorsicht üben, und meistens trug ich in meiner Tasche eine Zigarettendose voll Paprika als Abwehrmittel gegen die Bären. Der Bär ist nur bei Tag wirklich gefährlich, denn da greift er den Menschen an. Einige Holzfäller hatten tiefe Gesichtswunden, und einer von ihnen war durch einen Schlag mit der Tatze völlig erblindet. In der Nacht genügt ein Kienspan, um den Bären zu vertreiben.
An der Waldgrenze fand ich einmal im Neuschnee tiefe Spuren, die ich nicht zu deuten wußte und die auch von einem Menschen hätten herrühren können. Leute mit mehr Phantasie, als ich besitze, hätten daraus wohl auf einen der sagenhaften Schneemenschen geschlossen.
Immer war ich darauf bedacht, mich körperlich in Form zu halten. An Betätigung fehlte es nicht. Ich half auf dem Felde oder beim Dreschen, ich fällte Holz und hackte Kienspäne von den pechigen Föhren. Auch die Tibeter sind, durch das Klima und ihre schwere Arbeit bedingt, körperlich ausdauernde Menschen und lieben es, ihre Kräfte im sportlichen Wettkampf zu messen.
Jedes Jahr einmal wurde in Kyirong ein richtiges Sportfest veranstaltet, das mehrere Tage dauerte. Pferderennen, Bogenweit- und -hochschießen, Weit- und Hochsprung sind die Hauptdisziplinen. Für die ganz Starken gibt es noch einen schweren Stein, den sie hochheben und eine bestimmte Strecke weit tragen müssen.
Auch ich beteiligte mich zum allgemeinen Gaudium an einigen Übungen. Beim Wettlauf wäre ich beinahe Sieger geworden, da ich nach dem Massenstart die ganze Zeit führte. Ich hatte aber nicht mit den landesüblichen Methoden gerechnet. Im letzten und steilsten Stück holte mich einer der Teilnehmer ein und hielt mich am Hosenboden fest. Ich war darüber so verblüfft, daß ich stehenblieb und mich umsah. Darauf hatte der Schelm nur gewartet, er überholte mich und berührte noch vor mir den Zielstein. Auf solche Tricks war ich nicht gefaßt gewesen, und unter allgemeinem Gelächter erhielt ich die Schleife des zweiten Siegers.
Am Sport beteiligten sich in Tibet nur die Männer, die Frau weiß noch nichts von Emanzipation und begnügt sich damit, ein Picknick herzurichten und das Bier einzuschenken.
Auch sonst war in Kyirong für Abwechslung gesorgt. Im Sommer kamen täglich Karawanen durch. Nach der Reisernte in Nepal brachten Frauen und Männer den Reis in Körben und tauschten ihn hier gegen Salz um. Salz ist einer der wichtigsten Exportartikel des Landes und wird aus den abflußlosen Seen des Tschangthang gewonnen. Monatelang ist es auf Jak- und Schafrücken unterwegs bis zur Grenze, wo es vorteilhaft gegen Reis eingetauscht wird, da es höher im Werte steht.
Der Transport von Kyirong nach Nepal ist nur mit Kulis möglich, denn die Wege führen durch enge Schluchten, und manchmal müssen sogar Treppen in den Felsen gehauen werden, um einen Durchgang zu schaffen. Einen großen Teil der Träger stellen Frauen aus Nepal, mit billigem Schmuck behangen und mit dicken, muskulösen Beinen unter den kurzen Röcken. Ein eigenartiges Schauspiel erlebten wir einmal, als wir den Nepalesen zusahen, wie sie auf Honigsuche ausgingen. Die Tibeter dürfen infolge eines offiziellen Verbotes der Regierung den Honig nicht einsammeln, da ihr Glaube es verbietet, den Tieren Nahrung wegzunehmen. Aber da man es hier wie überall auf der Welt liebt, Gesetze zu umgehen, zahlen die Tibeter samt ihren Bönpos gern einen kleinen Tribut dafür. Sie überlassen also den Honig, der ihnen eigentlich umsonst zufallen würde, den Nepalesen und kaufen ihnen dann die geliebte Schleckerei ab.
Diese Honigsuche ist ein sehr gewagtes Unternehmen, denn die Bienen verstecken ihre Waben gern unter den Felsvorsprüngen der tiefen Schluchten. Lange Bambusleitern werden in die Tiefe gelassen, und an ihnen klettern die Männer, frei in der Luft pendelnd, oft siebzig bis achtzig Meter tief hinunter. Unter ihnen fließt der Kosi, und ein Reißen des Seiles würde den sicheren Tod bedeuten. Rauchschwaden halten die wütenden Bienen ab, während die Männer die Waben einsammeln. An einem zweiten Seil mit Behältern wird dann die Beute hochgezogen. Grundbedingung für dieses Unternehmen ist ein wohlausgeklügeltes Zusammenspiel, denn Zurufe oder Signale würden im Brausen des Flusses untergehen. Eine Woche lang arbeiteten damals die elf Männer in der Schlucht, und der Preis des Honigs rechtfertigte nicht im entferntesten die Gefahren, die sie auf sich nahmen. Mir tat es damals leid, daß ich keine Farbfilmkamera besaß, um dieses Schauspiel festzuhalten.
Als die schweren Regen des Sommers vorüber waren, begannen wir systematisch die langen Täler zu durchforschen. Oft blieben wir tagelang aus und nahmen Proviant, Zeichenmaterial und Kompaß mit. Dann wieder lebten wir auf Almen, zusammen mit den Sennen, die ganz wie bei uns während der Sommermonate auf den üppigen Bergwiesen das Vieh betreuen. Kühe und weibliche Jaks grasen zu Hunderten auf den grünen Almen inmitten der Gletscherwelt. Oft half ich beim Butterrühren und freute mich auf die goldgelbe, frische Belohnung. Damit die Butter schneller fest wird, holt man von den nahen Gletschern Eis und wirft es in die riesigen Buttermilchbottiche.
Auf allen bewohnten Hütten trifft man die sehr scharfen und angriffslustigen Hunde. Sie sind meist angekettet und beschützen in der Nacht durch ihr Bellen die zusammengedrängte Herde vor Panthern, Wölfen und wilden Hunden. Von Natur aus stark gebaut, gibt ihnen ihre übliche Nahrung — Milch und rohes Kälberfleisch — Riesenkräfte und macht sie besonders gefährlich. Ich hatte manche unliebsame Begegnung mit ihnen. Einmal riß sich bei meinem Kommen ein Hund von seiner Kette los und sprang mir an die Kehle. Ich wehrte ihn ab, er verbiß sich in meinem Arm und ließ erst nach heftigem Ringkampf los. Die Kleider hingen mir in Fetzen vom Leibe, dafür aber lag der Hund regungslos auf dem Boden. Mit den Resten meines Hemdes verband ich mir die Wunden, von denen ich noch heute tiefe Narben habe. Meine Verletzungen heilten indes rasch durch ständiges Baden in einer der Heilquellen, die um diese Jahreszeit nicht mehr von Tibetern, sondern leider nur noch von Schlangen besucht waren. Wie mir die Sennen später erzählten, hatte nicht nur ich bei diesem Kampfe mein Teil abbekommen, sondern auch der Hund, der eine Woche lang in einem Winkel lag und die Nahrungsaufnahme verweigerte.
Bei unseren Ausflügen fanden wir auch Unmengen von Erdbeeren, doch gerade wo es die schönsten gab, waren auch die meisten Blutegel. Ich wußte aus Büchern, daß diese Tiere die Plage vieler Himalajatäler sind, und hier mußte ich nun selbst erleben, wie hilflos man ihnen ausgeliefert ist. Sie lassen sich von den Bäumen auf Menschen und Tiere fallen und kriechen durch alle Kleideröffnungen, sogar durch die Schuhösen, um sich festzusaugen.
Reißt man sie weg, so ist der Blutverlust noch größer, als wenn man sie sich vollsaugen läßt, denn dann fallen sie von selbst ab. Es gibt Täler, in denen sie so zahlreich sind, daß man sich ihrer nicht erwehren kann. Mit welchen Sinnen sie ihre Opfer erahnen, weiß ich nicht, oft aber konnte ich mich nur durch rasches Laufen vor ihnen retten. Die warmblütigen Tiere dieser Gegend tragen oft Dutzende dieser Schmarotzer, die sich in ihren Körperöffnungen festgesaugt haben. Das beste Mittel, sie von sich abzuhalten, sind salzgetränkte Socken und Hosenbeine.
Das Ergebnis unserer Ausflüge war ein reiches Material an Karten und Skizzen, doch wir fanden keinen Paß, der für unsere Flucht zweckmäßig gewesen wäre. Ohne technische Hilfsmittel waren sämtliche Übergänge mit unseren schweren Lasten unpassierbar. Beide konnten wir uns nicht für den Gedanken erwärmen, den bekannten Weg über Dzongka zurückzugehen. Wir richteten daher noch einmal ein Gesuch nach Nepal, um uns zu vergewissern, ob wir ausgeliefert würden oder nicht. Nie bekamen wir eine Antwort darauf. Wir hatten noch ungefähr zwei Monate Zeit, bis wir Kyirong verlassen mußten, und benutzten die Tage zu eifrigen Vorbereitungen. Um unser Geld zu vermehren, verlieh ich es gegen die üblichen 33prozentige Verzinsung an einen Händler. Später sollte ich das bereuen, denn die Rückgabe verzögerte sich, und das hätte beinahe unsere heimliche Abreise verhindert.
Unser Kontakt mit dem friedlichen, fleißigen Völkchen hatte sich mehr und mehr vertieft. Sie arbeiteten, wie auch bei uns die Bauern, nicht nach Stunden, sondern nützten jede Minute des Tageslichts. Es herrschte ein ausgesprochener Arbeitermangel in den bebauten Gegenden, Hunger und Armut waren unbekannt. Die vielen Mönche, die als Arbeitskräfte ausfallen und nur für das Seelenheil sorgen, werden von der Gemeinde miterhalten. Bei den Bauern herrscht wirklicher Wohlstand, und in ihren Truhen liegen saubere Festtagskleider für die ganze Familie. Die Frauen weben selbst und lassen die Kleider im Haus nähen.
Es gibt keine Polizei in unserem Sinn, doch werden Übeltäter immer öffentlich abgeurteilt. Die Strafen sind ziemlich drastisch, aber in ihrer Art das einzig Richtige bei der Mentalität der Bevölkerung. Man erzählte mir von einem Mann, der eine goldene Butterlampe aus einem der vielen Tempel um Kyirong gestohlen hatte. Er wurde der Tat überführt, und das Urteil war für unsere Begriffe unmenschlich: Es wurden ihm öffentlich die Hände abgehackt und sein verstümmelter Körper lebend in eine nasse Jakhaut eingenäht. Dann ließ man die Haut trocknen und warf ihn in die tiefste Schlucht.
So grausame Strafen sahen wir selbst nie, auch scheinen die Tibeter mit der Zeit milder geworden zu sein. Ich erinnere mich an eine öffentliche Auspeitschung, die mir persönlich eher zu schwach erschien. Es handelte sich um eine Nonne der reformierten buddhistischen Kirche, die das Zölibat als strenge Regel vorschreibt. Die Nonne hatte mit einem Mönch derselben Kirche ein Kind, das sie gleich nach der Geburt tötete. Beide wurden angezeigt und an den Pranger gestellt. Ihre Schand war öffentlich angeschlagen, und sie wurden zu hundert Peitschenhieben verurteilt. Schon während der Auspeitschung baten die Leute, wie üblich durch Geldgeschenke an die vollstreckenden Beamten, um Gnade. Dadurch wurde die Strafe vermindert, und durch die dichtgedrängte Menge, in der viele weinten, gingen Seufzer der Erleichterung. Mönch und Nonne wurden aus dem Distrikt ausgewiesen und ihrer Würde für verlustig erklärt. Einmalig und für unser Empfinden beinahe unbegreiflich war das Mitleid der ganzen Bevölkerung. Geld- und Lebensmittelgeschenke flossen den beiden Sündern reichlich zu, und sie verließen Kyirong mit wohlgefülltem Säckel zu einer Pilgerfahrt.
Die reformierte Sekte, der die beiden angehörten, ist vorherrschend in Tibet; doch gerade in unserer Gegend gab es eine große Anzahl Klöster, die nach anderen Regeln geführt wurden. Dort konnten Mönche und Nonnen als Familien zusammenbleiben, und die Kinder blieben im Kloster. Sie arbeiteten selber auf ihren Feldern, bekamen aber nie Regierungsposten zugewiesen, die nur den Reformierten vorbehalten sind.
Die Herrschaft der Mönche in Tibet ist einmalig und läßt sich nur mit einer strengen Diktatur vergleichen. Mißtrauisch wachen sie über jeden Einfluß von außen, der ihre Macht gefährden könnte. Sie sind selbst klug genug, nicht an die Unbegrenztheit ihrer Kräfte zu glauben, würden aber jeden bestrafen, der Zweifel in dieser Richtung äußerte. So waren einige von ihnen mit dem Kontakt, den wir mit der Bevölkerung hatten, durchaus nicht einverstanden. Denn unser Verhalten, das von jedem Aberglauben unbeeinflußt war, mußte ja schließlich den Tibetern zu denken geben. Wir gingen nachts in die Wälder, ohne von den Dämonen bestraft zu werden, wir erkletterten Berge, ohne Opferfeuer zu brennen, trotzdem geschah uns nichts. In manchen Gegenden bekamen wir eine betonte Zurückhaltung zu spüren, die nur dem Einfluß der Lamas zuzuschreiben war. Auf der anderen Seite sprachen sie uns aber auch übernatürliche Kräfte zu, denn sie waren überzeugt, daß wir besondere Gründe für unsere Ausflüge hatten. Immer wieder fragten sie uns, was wir mit den Bächen und Vögeln vorhätten, da wir uns so oft mit ihnen unterhielten. Denn kein Tibeter macht einen Schritt ohne besondere Absicht. Daher konnten sie für unser Wandern und Sitzen im Walde oder an einem Bach keine andere Erklärung finden.