Prozession zum Norbulingka
Es war herrlicher Sonnenschein, richtiges Sommerwetter, und die ganze Stadt wanderte durch das westliche Tschörtentor hinaus, um die drei Kilometer lange Strecke zwischen dem Potala und dem Norbulingka zu säumen. Es war ein Kunststück, sich in dem lebensgefährlichen Gedränge einen guten Platz zu sichern!
Alles, was Beine hatte, war herbeigeströmt, von nah und fern. Schon dies allein war ein farbenprächtiges Schauspiel, und es tat mir wieder einmal leid, daß ich keine Kamera hatte. Aber es hätte ein Farbfilm sein müssen, der dieses bunte, bewegte Bild festhielt. Es war ein Tag der Freude für jung und alt, das Fest des Sommerbeginns, und ich selbst war froh für den jungen Menschen, der aus seinem dunklen Gefängnis in den schönen Sommergarten hinausziehen durfte. Es gab wenig genug Sonne in seinem Leben!
So herrlich und großartig auch der Potala nach außen hin durch seine Architektur wirkt, als Wohnung ist er äußerst düster und ungemütlich. Wahrscheinlich hatten alle Gottkönige den Wunsch, ihm so bald als möglich zu entrinnen. Denn der Sommergarten Norbulingka war schon vom 7. Dalai Lama angelegt worden, der 13. konnte ihn aber erst vollenden.
Dieser 13. Dalai Lama war ein großer Reformator und zugleich ein modern denkender Mensch. Als erster hatte er es sich erlaubt, drei Autos nach Lhasa zu bringen. Etwas Unerhörtes für die damalige Zeit! Sie waren, in ihre Bestandteile zerlegt, auf Jak- und Menschenrücken über das Gebirge getragen worden, und in Lhasa setzte sie ein Mechaniker wieder zusammen, der in Indien sein Handwerk gelernt hatte. Er wurde dann der »königliche Chauffeur« und erzählte mir jetzt oft traurig von seinen drei Wagen, die wohlverwahrt in einer Baracke standen. Alte Austins und ein Dodge, kurze Zeit die Sensation auf dem Dach der Welt — nun trauerten sie ihrem verstorbenen Herrn nach und verrosteten in Ehren. Man erzählte sich heute noch lachend, wie der 13. Dalai Lama seine Autos zur heimlichen Flucht aus dem Winterpalast benutzt hatte. Im Herbst machte er die große Prozession der Rückkehr mit allem Pomp mit, aber dann setzte er sich in einen seiner Wagen und war rasch und unauffällig wieder in Norbulingka draußen.
Posaunen und Trompeten klingen in der Ferne auf — die Prozession naht! Ein Murmeln geht durch die Menge, aber gleich ist alles wieder still, ehrfürchtiges Schweigen herrscht, denn die Spitze wird sichtbar. Die Vorhut bildet ein Heer von Mönchsdienern. Feierlich tragen sie in Bündeln die persönliche Habe Seiner Heiligkeit, jedes Bündel in ein gelbes Seidentuch geschlagen. Gelb ist die Farbe der reformierten lamaistischen Kirche, auch kurz die »gelbe Kirche« genannt. Eine alte Legende erzählt, warum man diese Farbe zum Symbol wählte:
Tsong Kapa, der große Reformator des Buddhismus in Tibet, stand bei seinem Eintritt in das Kloster Sakya als letzter in der Schar der Novizen. Als bei der Einkleidung die Reihe an ihn kam, waren die roten Hüte der üblichen Klostertracht ausgegangen. Um ihm überhaupt eine Kopfbedeckung zu geben, griff man nach dem erstbesten Hut. Es war zufällig ein gelber. Tsong Kapa legte ihn nie mehr ab, und die gelbe Farbe wurde das Zeichen der reformierten Kirche.
Auch der Dalai Lama trug bei Empfängen und Zeremonien die gelbe Seidenmütze, und diese Farbe kennzeichnete alle seine Gebrauchsgegenstände. Ein Vorrecht, das nur er hatte.
In großen Käfigen werden die Lieblingsvögel des Gottkönigs vorbeigetragen. Da und dort schreit ein Papagei ein tibetisches Willkommenswort, und die gläubige Menge nimmt es mit einem verzückten Seufzer auf, als wäre es eine persönliche Botschaft ihres Gottes. Auf die Diener folgen in einem gewissen Abstand Mönche mit religiösen Bannern, und dann kommt eine berittene Musikkapelle in bunter, alter Tracht mit altmodischen Instrumenten. Sie entlockt ihnen seltsam wimmernde Töne, und die Trommeln sind nicht ganz aufeinander abgestimmt; aber das alles wird mit viel Lärm und in großer Pose in Szene gesetzt. Nun kommt das Heer der Tsedrungs, ebenfalls beritten und genau nach den Rangstufen geordnet. Hinter ihnen führen Diener die prachtvoll geschmückten Lieblingspferde des Dalai Lama. Ihr Zaumzeug ist gelb, alle Metallteile und die Sättel sind aus purem Gold. Als Überwurf dienen schwere russische Brokate. Als ob die Pferde wüßten, welche Kostbarkeit sie darstellen, tänzeln sie selbstbewußt und feurig vorbei, von der Menge schweigend bewundert.
Und jetzt die höchsten Herren des Landes! Die obersten Ränge, die Männer, die das hohe Amt der persönlichen Betreuer des Gottkönigs bekleiden: Kämmerer, Mundschenk, Lehrer und alle die Würdenträger, die die Verbindung zu Regierung und Volk herstellen. Sie sind die einzigen, die außer den Eltern und Geschwistern mit dem jungen Gott sprechen dürfen; Mönche im Abtrang, mit dem gelben Seidengewand über der Kutte. Von riesigen Gestalten werden sie flankiert, der Leibgarde Seiner Heiligkeit, Männern, die nach Größe und Wuchs sorgfältig ausgesucht sind. Keiner von ihnen mißt weniger als zwei Meter, einmal, so hörte ich, erreichte einer sogar zwei Meter fünfundvierzig! Wahre Riesen, die mächtigen Schultern überdies ausgestopft, lange Peitschen in der Hand. Die einzigen menschlichen Laute in dieser atemlosen Stille kommen von ihnen: Immer wieder fordern sie in tiefem Baß die Leute auf, zurückzutreten und den Hut zu ziehen. Es muß ein Teil des Zeremoniells sein, denn überall stehen die Leute ohnedies ehrfürchtig am Wegrand, den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet, viele haben sich zu Boden geworfen.
Dann kommt feierlich der oberste Befehlshaber der tibetischen Armee. Er hält sein Schwert in Präsentierstellung. Das Khaki seiner Uniform wirkt merkwürdig nüchtern neben den schweren Brokat- und Seidengewändern der anderen. Da jedoch die Einzelheiten seiner Uniform völlig seiner eigenen Phantasie überlassen bleiben, sind seine Epauletten und Auszeichnungen aus solidem Gold. Auf dem Kopf trägt er einen Tropenhelm.
Und nun — alles hält den Atem an — naht die gelbseidene, im Sonnenlicht wie Gold glänzende Sänfte des jungen Lebenden Buddha. Sechsunddreißig Männer in grünseidenen Röcken, mit roten Tellermützen, tragen sie. Der Kontrast der satten, leuchtenden Farben — Gelb, Grün und Rot — ist hinreißend. Ein Mönch hält einen riesigen, in allen Farbtönen schillernden Schirm aus Pfauenfedern über die Sänfte — es ist ein Fest für das Auge, dieses Bild, das aus einem längst versunkenen orientalischen Märchen zu stammen scheint.