Tibet von Rotchinesen bedroht

Leider sollte es nie zu diesem Experiment kommen. Schon über dem Beginn unserer Freundschaft lag der Schatten der politischen Ereignisse. Immer anmaßender wurde der Ton der Rotchinesen im Sender Peking, und Tschiangkaischek hatte sich mit seiner Regierung bereits nach Formosa zurückgezogen. Die Nationalversammlung in Lhasa hielt eine Sitzung nach der anderen ab, die Aufstellung immer neuer Truppeneinheiten wurde beschlossen und durchgeführt. In Schö gab es Truppenübungen und Paraden, und der Dalai Lama selbst weihte die neuen Fahnen, die der Armee übergeben wurden. Der Engländer Fox hatte viel zu tun: Ununterbrochen mußten neue Funker ausgebildet werden, denn jede Einheit bekam mindestens einen Sender zugeteilt.

Die tibetische Nationalversammlung, das Instrument aller wichtigen Entscheidungen, besteht aus fünfzig weltlichen und geistlichen Beamten. Den Vorsitz führen je vier Äbte aus den Klöstern Drebung, Sera und Ganden, denen vier weltliche Finanzsekretäre und vier Mönchsbeamte beigegeben sind. Die Körperschaft der Nationalversammlung, die weltlichen und geistlichen Beamten, kommen aus den verschiedenen Ämtern, doch gehört keiner der vier Kabinettsminister dazu. Die Verfassung sieht vor, daß sie zur selben Zeit in einem anschließenden Raum tagen und sämtliche Beschlüsse vorgelegt bekommen. Sie besitzen jedoch kein Einspruchsrecht. Die letzte Entscheidung über alle Fragen trifft der Dalai Lama, und solange er noch nicht mündig ist, an seiner Statt der Regent. Natürlich würde niemand wagen, einen Vorschlag, der von so hoher Seite kommt, zu diskutieren. Den größten Einfluß in der Nationalversammlung üben stets die Günstlinge der Machthaber aus.

Bis vor wenigen Jahren wurde alljährlich neben der kleinen auch die sogenannte große Nationalversammlung einberufen. Sie bestand aus der gesamten Beamtenschaft und den Vertretern der Handwerkerinnungen, der Schneider, Steinmetze, Tischler usw. Dieses Treffen der fast fünfhundert Menschen wurde schließlich stillschweigend aufgehoben, denn es hatte praktisch keinen anderen Wert, als dem Buchstaben des Gesetzes Genüge zu tun, während im Grunde die Macht des Regenten diktatorisch war.

In den schweren Zeiten, die jetzt angebrochen waren, befragte man um so öfter das Staatsorakel. Seine Prophezeiungen waren düster und trugen nicht dazu bei, die Stimmung im Lande zu heben. »Ein mächtiger Feind bedroht von Norden und Osten das heilige Land«, hieß es, oder: »Die Religion ist in Gefahr.« Obwohl die Sitzungen streng geheim abgehalten wurden, sickerten die Orakelsprüche immer wieder durch und wurden flüsternd weitergetragen. Wie immer in Zeiten des Krieges und der Krisen summte die Stadt von Gerüchten wie ein Bienenstock, und die Macht des Feindes wurde oft ins Sagenhafte übertrieben. Die Wahrsager hatten gute Tage, denn nicht nur das Geschick des Landes war in der Schwebe, auch jeder einzelne bangte um sein privates Stück Wohlergehen. Mehr denn je suchte man den Rat der Götter, verließ sich auf die Omina und deutete jeden Vorfall als gutes oder böses Zeichen. Besonders Vorsichtige verlagerten bereits ihre Schätze nach dem Süden oder auf abgelegene Güter. Aber das Volk glaubte fest an die Hilfe der Götter und war überzeugt, daß ein Wunder das Land vor dem Krieg bewahren würde.

Die Nationalversammlung allerdings dachte nüchterner. Man sah endlich ein, daß die Isolationspolitik in dieser Zeit eine große Gefahr für das Land bedeutete. Es war höchste Zeit, diplomatische Beziehungen anzuknüpfen und den Unabhängigkeitswillen Tibets vor der ganzen Welt zum Ausdruck zu bringen. Denn bisher war die Behauptung Chinas, daß Tibet eine seiner Provinzen sei, offiziell ohne Entgegnung geblieben. Zeitungen und Sender der ganzen Welt hatten über das Lamaland sagen können, was sie wollten, es war nie eine Antwort gekommen. Denn in Anbetracht seiner Politik einer völligen Neutralität hatte Tibet es abgelehnt, sich mit Nachrichten auseinanderzusetzen. Jetzt erkannte man die Gefahr dieser Einstellung, man begriff die Wichtigkeit der Propaganda, und »Radio Lhasa« begann, täglich seinen Standpunkt in tibetischer, chinesischer und englischer Sprache in den Äther zu senden. Die Regierung stellte Delegationen auf, die nach Peking, Delhi, Washington und London reisen sollten, Mönchsbeamte und junge Adelige, die in Indien Englisch gelernt hatten. Aber sie kamen nicht weiter als bis Indien und blieben dort, denn die Unschlüssigkeit der tibetischen Regierung und Intrigen der Großmächte verhinderten immer wieder ihre Abreise.

Der junge Dalai Lama sah ohne Haß und Voreingenommenheit den Ernst der Situation. Aber er hoffte noch immer auf eine friedliche Entwicklung der Dinge. Bei meinen Besuchen merkte ich, wie rege bereits das Interesse des zukünftigen Herrschers am politischen Geschehen war. Wir trafen uns immer allein im Vorführraum des kleinen Kinos, und ich konnte oft aus Kleinigkeiten entnehmen, wie sehr er sich jedesmal auf mein Kommen freute. Manchmal kam er mir freudestrahlend durch den Garten entgegengelaufen und streckte mir die Hand zur Begrüßung hin. Trotz aller Herzlichkeit und obwohl er mich seinen Freund nannte, ließ ich es doch nie am nötigen Respekt fehlen und behandelte ihn als den künftigen König Tibets und meinen Vorgesetzten. Er hatte mich beauftragt, ihm Stunden in Englisch, Geographie und Rechnen zu erteilen, nebenbei mußte ich sein Kino bedienen und ihn über das Weltgeschehen auf dem laufenden halten. Er dachte von selbst daran, eine Gehaltserhöhung für mich zu beantragen, denn wenn er auch noch nicht den Befehl dazu geben konnte, so genügte doch sein Wunsch.

Immer wieder setzte er mich in Erstaunen durch sein rasches Auffassungsvermögen, seine Ausdauer und seinen Fleiß. Wenn ich ihm beispielsweise als Hausaufgabe zehn Sätze zum Übersetzen gab, machte er freiwillig das Doppelte. Sprachen lernte er sehr leicht, eine Fähigkeit, die ich schon bei vielen Tibetern beobachtet hatte. Es ist keine Seltenheit, daß Adelige und Geschäftsleute außer ihrer Muttersprache noch Mongolisch, Chinesisch, Nepalesisch und Hindi sprechen. Es ist nebenbei ein Irrtum, daß diese Sprachen viel Ähnlichkeit miteinander hätten. Nur ein Beispiel: Das tibetische Alphabet kennt kein F, aber zahlreiche R; im Chinesischen ist es umgekehrt. So bereitete die Aussprache des F im Englischen auch meinem hohen Schüler die meisten Schwierigkeiten. Es machte mir immer Spaß, ihm zuzuhören. Da mein Englisch auch nicht gerade perfekt war, nahmen wir sein Kofferradio zu Hilfe und hörten täglich die Nachrichten, die zum Mitschreiben langsam durchgesagt wurden.

Ich hatte auch entdeckt, daß in einem der Ämter in versiegelten Kisten englische Schulbücher lagen. Es bedurfte nur eine Winkes — noch am selben Tag hatten wir sie zur Hand und richteten uns im Vorführraum eine kleine Bibliothek ein. Er war über diesen Fund außer sich vor Freude, denn er bedeutete für Lhasa wirklich einen kleinen Schatz. Wenn ich so seinen Eifer und seine Lernbegier sah, mußte ich oft etwas beschämt an meine eigene Jugend denken.

Auch aus dem Nachlaß des 13. Dalai Lama war eine große Anzahl englischer Bücher und Landkarten vorhanden, aber ich merkte an dem Zustand der Blätter, daß sie kaum benutzt waren. Er hatte sich sein Wissen auf seinen jahrelangen Reisen in China und Indien angeeignet und verdankte seine Kenntnis der westlichen Welt seiner Freundschaft mit Sir Charles Bell. Der Name dieses Engländers war mir schon bekannt, ich hatte bereits in der Gefangenschaft seine Bücher gelesen. Er war ein großer Verfechter der Unabhängigkeit Tibets. Als politischer Verbindungsoffizier für Sikkim, Tibet und Bhutan hatte er den Dalai Lama auf seiner Flucht nach Indien kennengelernt, und damals begann die enge Freundschaft zwischen diesen beiden reifen Männern, die viele Jahre dauerte. Sir Charles Bell war wohl der erste Weiße, der in persönlichen Kontakt mit einem Dalai Lama trat.

Mein junger Schüler, der noch keine Reisen unternehmen konnte, interessierte sich nicht weniger für die weite Welt. Geographie, ein Fach meiner Lehramtsprüfung, wurde auch der Lieblingsgegenstand des Gottkönigs. Ich zeichnete ihm riesige Wandkarten von der ganzen Welt und besondere Karten von Asien und Tibet. Mit Hilfe des Globus konnte ich ihm beispielsweise erklären, warum Radio New York um elf Stunden in der Zeit hinter uns nachhinkte. Bald war er überall zu Hause, der Kaukasus war ihm ein ebenso vertrauter Begriff wie der Himalaja. Besonders stolz war er darauf, daß der höchste Berg der Welt in seinem Lande lag, und gleich vielen Tibetern staunte er sehr, als er hörte, daß es nur wenige Länder auf der Welt gebe, die in ihren Ausmaßen sein Reich überträfen.