Ein Gott hebt segnend die Hand

Jetzt kommt der große Moment. Die Tore der Kathedrale öffnen sich, und langsam tritt der Dalai Lama heraus, der junge Gottkönig, rechts und links gestützt auf zwei Äbte. Ehrfurchtsvoll beugt sich das Volk. Das strenge Zeremoniell würde fordern, daß man sich zu Boden wirft. Das ist hier aus Platzmangel nicht möglich. So neigen sich bei seinem Näherkommen die Rücken der Tausende wie ein Ährenfeld, über das der Wind streicht. Niemand wagt den Blick zu heben. Langsam und gemessen beginnt der Gottkönig seinen Weg um den Parkhor. Immer wieder bleibt er vor den Butterfiguren stehen und betrachtet sie. Ein glänzendes Gefolge hat sich ihm angeschlossen, alle hohen Würdenträger und Adeligen, dann folgt, genau dem Rang nach geordnet, die ganze Beamtenschaft des Landes. Und da können wir auch unseren Freund Tsarong erkennen. Entsprechend seiner hohen Stellung kommt er bald hinter dem Dalai Lama. Wie alle Adeligen trägt er einen schwelenden Weihrauchstock in der Rechten.

Die Menge schweigt, von Ehrfurcht ergriffen. Nur die Musik der Mönche ist zu hören: die Oboen, Tuben, Pauken und Tschinellen. Es ist ein Bild — wie eine Vision aus einer anderen Welt, eine seltsam unwirkliche Atmosphäre, der auch wir nüchternen Europäer uns nicht ganz entziehen können. Im gelben Flackern der vielen Lampen scheinen die Butterfiguren Leben anzunehmen — seltsame Blüten nicken in einem imaginären Windhauch, Falten prunkvoller Göttergewänder bewegen sich knisternd, eine Dämonenfratze verzieht den Mund — ein Gott hebt segnend die Hand …

Sind auch wir diesem verwirrenden, fremdartigen Traum verfallen? Die volle Scheibe des Mondes, Symbol der jenseitigen Welt, der diese großartige Huldigung gilt, lächelt auf die Gläubigen herab … Senden die Götter dies Zeichen ihrer Zuneigung?

Nun ist der »Lebende Buddha« ganz nahe herangekommen … jetzt geht er an unserem Fenster vorbei. Die Frauen verharren in tiefer Verbeugung und wagen kaum zu atmen. Die Menge ist erstarrt. Aufs tiefste ergriffen verbergen wir uns hinter den sich verneigenden Frauen, wollen uns wehren gegen die Macht, die uns in ihren Bann zieht …

Es ist ja nur ein Kind, sage ich mir immer wieder. Ein Kind … Und doch das Ziel des geeinten Glaubens Tausender, Inbegriff ihrer Gebete, Sehnsüchte, Hoffnungen — ob Lhasa oder Rom —, eines ist allen gemeinsam: der Wunsch, Gott zu finden und ihm zu dienen — mächtig über allem Trennenden. Ich schließe die Augen. Gemurmelte Gebete, feierliche Musik, Weihrauch, der in duftenden Schwaden zum Nachthimmel steigt …

Der Dalai Lama hat seinen Rundgang beendet und verschwindet wieder im großen Tsug Lag Khan. Die Soldaten ziehen mit klingendem Spiel geordnet ab.

Wie aus einer Hypnose erwacht, stürzten in diesem Augenblick die Zehntausende aus der Ordnung ins Chaos. Der Übergang ist so plötzlich, daß man fassungslos ist. Geschrei, wilde Gesten … sie trampeln sich gegenseitig zu Boden, bringen sich fast um. Aus den eben noch weinend Betenden, ekstatisch Versunkenen sind Rasende geworden. Die Mönchssoldaten beginnen ihr Amt! Riesige Kerle mit ausgestopften Schultern und geschwärzten Gesichtern — damit die abschreckende Wirkung noch verstärkt wird. Rücksichtslos schlagen sie mit ihren Stöcken auf die Menge ein. Die Butterheiligen sind in Gefahr. Ohne Sinn und Verstand drängt alles zu den Pyramiden hin. Heulend steckt man die Schläge ein, aber selbst die Geschlagenen kehren wieder zurück. Als ob sie alle von Dämonen besessen wären. Sind das noch dieselben Menschen, die sich erst demütig vor einem Kind beugten? Jetzt nehmen sie die Peitschenhiebe hin wie einen Segen. Rußende Pechfackeln über den Köpfen, Schmerzensschreie aus dem Toben der Masse, hier ein verbranntes Gesicht — dort das Stöhnen eines Niedergetrampelten!

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Es ist späte Nacht geworden. Nach diesem Erleben kann man keinen Schlaf finden. Bild für Bild rollt wieder ab vor den geschlossenen Augen, ein wirrer, bedrückender Traum. Noch dringt das Grölen aus den Straßen herauf. Langsam tropfen die Töne einer Oboe in mein Hinüberdämmern — stimmen mich traurig.

Am nächsten Morgen sind die Straßen leer, die Butterfiguren weggeräumt, keine Spur mehr von Demut und Ekstase der Nacht. Marktstände stehen schon wieder dort, wo die riesigen Gerüste waren … Die bunten Figuren der Heiligen sind zerschmolzen. Sie werden Butterlampen nähren oder als geweihte Medizin aufbewahrt.

Wir bekommen viele Besuche an diesem Morgen. Von weit und breit kommen die Tibeter zum Neujahrsfest in die Stadt, die Nomaden aus den Hochebenen, die Bewohner der westlichen Provinzen. Mancher Bekannte von unserer langen Reise ist darunter. Es war nicht schwer, uns zu finden, denn noch immer sind wir das Stadtgespräch von Lhasa, und jedes Kind weiß, wo wir wohnen.

Man bringt uns Geschenke — getrocknetes Fleisch, das hier eine Spezialität ist —, und bei dieser Gelegenheit erfahren wir auch, daß tatsächlich alle Beamten, durch deren Distrikte wir gekommen sind, von der Regierung gerügt wurden. Es gab Verwarnungen und Geldstrafen und die Ankündigung »drastischer« Maßnahmen bei Wiederholung eines solchen Falles.

Wir sind erst sehr kleinlaut darüber, daß wir Menschen, die uns freundlich aufgenommen hatten, solche Unannehmlichkeiten bereitet haben. Aber sie scheinen uns gar nicht böse zu sein. Wir treffen einen Bönpo, den wir mit unserem alten Geleitbrief an der Nase herumgeführt hatten — er lacht nur und freut sich, uns wiederzusehen.

Aber die Neujahrsfeierlichkeiten dieses Jahres sollten nicht ungetrübt vorübergehen. Am Parkhor war ein Unglück passiert — und bald verdrängte es jeden anderen Gesprächsstoff.

Jedes Jahr werden dort hohe Fahnenbäume errichtet, aus vielen schweren Stämmen zusammengefügt. Sie müssen von weit hergebracht werden, und ihr Transport nach Lhasa ist ein Kapitel für sich. Er geschieht auf eine so primitive Art, daß ich erschüttert und empört zugleich war, als ich zum erstenmal einen solchen Zug sah. Unwillkürlich fühlte ich mich an die Wolgaschiffer erinnert. Ungefähr zwanzig Leute schleppen den Stamm, der mit Stricken an ihren Leib gebunden ist, stumpf singen sie ihre monotonen Lieder und trotten im Gleichschritt dahin. Schweißtriefend und keuchend — aber der Vorsänger läßt ihnen keine Ruhepause. Diese Fronarbeit ist ein Teil ihrer Steuern, Tribut an das Feudalsystem! Die Träger werden von den einzelnen Ortschaften gestellt und bei jeder Siedlung neu abgelöst. Die eintönigen Weisen, die den Takt zu diesem Fronmarsch angeben, sollen sie wohl von der schweren Arbeit ablenken. Klüger wäre es, sie schonten ihre Lungen! Mich packte immer eine zornige Auflehnung gegen diese Art von Schicksalsergebenheit, und als moderner Mensch konnte ich nicht begreifen, daß man sich in diesem Land so rigoros gegen jeden Fortschritt verschloß.

Er mußte doch eine Möglichkeit geben, diese Lasten anders als durch Menschenkraft zu befördern. Wozu hatten die Chinesen vor Jahrhunderten das Rad erfunden! Transport und Handel, das ganze öffentliche Leben Tibets würde einen unvorstellbaren Aufschwung nehmen, der Wohlstand könnte immens steigen — aber nein, die Regierung wünscht das Rad nicht.

Als ich dann später Flußregulierungen leitete, machte ich verschiedene Funde, die mich in der Vermutung bestärkten, daß die Tibeter vor vielen hundert Jahren das Rad gekannt und verwendet hatten. Wir legten zugehauene Steinblöcke von Schrankgröße frei, nicht einen, nein, Hunderte! Sie konnten nur mit Hilfe von technischen Mitteln aus den viele Kilometer entfernten Steinbrüchen hergebracht worden sein. Wenn meine Arbeiter einen solchen Block nur wenige Meter weit transportieren sollten, zerschlugen sie ihn vorher in acht Teile. Welche Ironie!

Ich kam immer mehr zur Überzeugung, daß Tibet seine große Zeit schon hinter sich hatte. Ein Zeuge ehemaliger geschichtlicher Bedeutung ist ein hoher Steinobelisk aus dem Jahre 763 n. Chr. Damals waren die tibetischen Armeen bis vor die Tore der kaiserlichen Hauptstadt gezogen und hatten den Chinesen einen Frieden diktiert, der sie zu einem jährlichen Tribut von 50 000 Rollen Seide an Tibet verpflichtete.

Und dann der Potala! Auch er mußte aus einer Glanzzeit stammen, wenn auch aus einer anderen Epoche. Niemandem würde es heute einfallen, ein solches Bauwerk zu errichten. Einmal fragte ich einen Steinmetz, der bei mir arbeitete, warum man denn jetzt nicht ähnliche Bauten schaffe? Entrüstet antwortete er, der Potala sei ein Werk der Götter, niemals hätten Menschenhände so etwas fertiggebracht! Gute Geister und überirdische Wesen hatten in den Nächten dieses Wunderwerk geschaffen.

Hier schlug einem dieselbe Gleichgültigkeit gegen Ehrgeiz und Fortschritt entgegen, mit der die Holzträger ihre Stämme schleppten.

Tibet hatte sich von Kriegsruhm und Macht mehr und mehr der Religion zugewendet. Vielleicht war es so glücklicher …

Die vielen schweren Stämme also, die zum Neujahrsfest nach Lhasa gebracht wurden, band man mit Jakhautriemen zu einem zwanzig Meter langen und sehr dicken Mast zusammen. Dann wurde eine mit Gebeten bedruckte Fahne daran befestigt — im Gegensatz zu den europäischen Fahnen nagelt man den Stoff von der Spitze bis zum Boden an den Mast an. Wahrscheinlich waren die Stämme zu schwer für die Jakhautriemen gewesen — beim Aufrichten dieses Mastes war er in seine Bestandteile zerfallen, und die Stämme hatten drei Arbeiter erschlagen und mehrere verletzt.

Ganz Tibet war außer sich über dieses böse Omen, und man malte sich die Zukunft in den düstersten Farben aus. Naturkatastrophen wurden prophezeit, Erdbeben und Überschwemmungen, man sprach von Krieg und blickte bedeutungsvoll nach China. Jeder war dem Aberglauben verfallen, sogar die Adeligen mit englischer Schulbildung.

Trotzdem trug man die Verwundeten dieser Katastrophe nicht zu ihren Lamas, sondern brachte sie zum Sitz der British Mission. Dort stand immer eine Anzahl von Betten für Tibeter bereit. Der englische Arzt hatte viel zu tun. Jeden Morgen stand eine Schlange von Wartenden vor seiner Tür, und nachmittags machte er seine Visiten in der Stadt. Die Mönche duldeten diesen Einbruch in ihren Machtbereich stillschweigend, denn die Erfolge des Arztes ließen sich nicht ignorieren — und außerdem war England eine große Macht in Asien.

Die ärztliche Betreuung ist noch ein dunkles Kapitel in Tibet. Der Arzt der britischen und jener der chinesischen diplomatischen Vertretung, der auch mich behandelt hatte, waren die einzigen ausgebildeten Mediziner für dreieinhalb Millionen Menschen. Ärzte würden in Tibet ein reiches Betätigungsfeld finden, aber nie könnte es sich die Regierung erlauben, fremde Ärzte ins Land zu rufen. Alle Macht liegt in den Händen der Mönche, und sie kritisieren sogar Regierungsbeamte, wenn sie den englischen Arzt an ein Krankenbett rufen.