Das »Feuer-Hund-Jahr« beginnt
Der Frühling war mit aller Macht gekommen. Es war März geworden. Dieses Jahr begann das größte tibetische Fest, das Neujahrsfest, am 4. März. Drei Wochen lang wird da nur gefeiert. Aber leider konnte ich nicht dabeisein! Ich hörte nur von fern Trommeln und Posaunen und sah an dem Leben und Treiben, das im Hause herrschte, wie wichtig man es nahm. Tsarong und sein Sohn kamen jeden Morgen in neuen prächtigen Gewändern aus Seide und Brokat an mein Krankenlager und ließen sich bewundern. Aufschnaiter war natürlich überall dabei und mußte mir abends Bericht erstatten.
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In diesem Jahr feierte man den Beginn des »Feuer-Hund-Jahres«. Am 4. März legte der Stadtmagistrat seine Macht in die Hände der Mönche — die weltliche Gewalt gibt symbolisch ihr Amt der Kirche zurück, von der sie es übertragen bekam. Nun beginnt ein strenges und gefürchtetes Regiment. Den Anfang macht ein großes Reinemachen. Lhasa ist in dieser Zeit berühmt für seine Sauberkeit — was man sonst nicht gerade behaupten kann. Zugleich wird eine Art Burgfrieden proklamiert. Jeder Streit ruht, die Ämter schließen ihre Pforten, jedoch das Feilschen und Handeln in den Straßen ist reger und lebhafter denn je — ausgenommen während der Umzüge und Prozessionen; kriminelle Vergehen, alle Ausschreitungen, ja sogar das Spiel werden in dieser Zeit besonders streng bestraft. Die Mönche sind da unerbittlich und gefürchtet, denn es ist schon vorgekommen, daß Leute unter der rigorosen Auspeitschung — der üblichen Strafe — gestorben sind. Allerdings greift in solchen Fällen der Regent energisch ein und weiß die Verantwortlichen zu finden.
Im allgemeinen Festrummel blieb unsere Sache liegen. Man schien uns vergessen zu haben, und wir hüteten uns, uns bemerkbar zu machen. Wahrscheinlich genügte es vorläufig der Regierung, daß der englische Arzt mich noch nicht für gesund erklärt hatte. Wieder kostbare Zeit gewonnen! Vor allem mußte ich meine Krankheit loswerden. Dann konnte man weitersehen und vielleicht doch die Flucht nach China verwirklichen.
Tag für Tag sonnte ich mich im Garten und freute mich an der täglich zunehmenden Wärme. Um so größer war mein Erstaunen, als ich eines Morgens erwachte und die ganze Frühlingspracht tief verschneit fand. Ein so später Schneefall ist eine doppelte Seltenheit für Lhasa. Denn die Stadt liegt schon so tief im Innern Asiens, daß nur wenige Niederschläge sie erreichen. Auch im Winter bleibt der Schnee nicht lange liegen, denn die südliche Lage der Stadt und die durch die Höhe bedingte starke Sonneneinstrahlung bringen ihn rasch zum Schmelzen.
Auch an diesem Tag war der Schnee bald verschwunden und trug nur dazu bei, daß der Sandsturm in erträglichen Formen blieb. Die Feuchtigkeit hielt Sand und Staub gebunden, so daß nicht alles in der Luft herumwirbeln konnte.
Diese Stürme stellen sich jedes Frühjahr pünktlich ein und beglücken das Land etwa zwei Monate lang. Am frühen Nachmittag erreichen sie die Stadt, man sieht sie schon von ferne als riesig dunkle Wolke mit ungeheurer Geschwindigkeit näher kommen. Zuerst verschwindet der Potala — das ist das Zeichen, daß jeder fluchtartig seine Behausung aufsucht. Das Leben in den Straßen stockt, Fensterscheiben klirren, die Tiere auf der Weide kehren ergeben ihren Schwanz der Windrichtung zu und warten geduldig, bis sie wieder grasen können. Die zahllosen Straßenköter, die Säuberungstruppen der Stadt, rollen sich in einer Ecke zusammen. Für gewöhnlich sind sie nicht so friedlich. Aufschnaiter kam eines Tages mit zerfetztem Mantel heim, denn sie hatten eben ein verendetes Pferd verschlungen — die Meute hatte Blut geleckt.
Die Periode der Stürme ist die unangenehmste Zeit des Jahres. Selbst wenn man im Zimmer sitzt, knirscht einem der Sand zwischen den Zähnen, denn Doppelfenster gibt es hier nicht. Das einzige Positive ist, daß sie wirklich das Ende des Winters anzeigen. Jeder Gärtner weiß, daß er jetzt keinen Frost mehr zu fürchten braucht. Die Wiesen längs der Kanäle bekommen den ersten grünen Hauch, und das »Haar Buddhas« beginnt zu blühen. Das ist die berühmte Trauerweide vor dem Eingang der Kathedrale. Ihre zarten, hängenden Zweige mit den feinen gelben Staubblüten geben im Frühling diesem poetischen Namen seine Berechtigung.
Als ich wieder ein paar Schritte humpeln konnte, hätte ich mich gern irgendwie nützlich gemacht. Tsarong hatte in seinem Garten Hunderte junger Obstbäume stehen. Aber sie waren aus Samen gezogen und hatten noch nie Frucht getragen. Mit George, seinem Sohn, machte ich mich nun daran, sie systematisch zu okulieren. Da hatten die Bewohner des Hauses wieder was zu lachen! In Tibet kennt man das Veredeln kaum und hat auch kein Wort dafür. So nannten sie es »heiraten« und fanden es höchst komisch.
Ein glückliches Völkchen mit seinem kindlichen Humor! Die Tibeter sind dankbar, wenn sie eine Gelegenheit zum Lachen finden. Wenn jemand stolpert oder ausrutscht, ergötzen sie sich stundenlang daran. Schadenfreude ist eine sehr beliebte Freude, aber sie ist nie böse gemeint. Ihre Spottlust macht vor nichts und vor niemandem halt. Da es keine Zeitungen gibt, üben sie ihre Kritik an mißliebigen Vorfällen und Personen durch Spottverse und -lieder. Die Burschen und Mädchen promenieren dann abends über den Parkhor und singen die neusten Verschen. Auch die höchsten Persönlichkeiten müssen sich das Verrissenwerden gefallen lassen. Manchmal verbietet die Regierung ein solches Lied, aber man ist klug genug, niemanden zu bestrafen. Dann hört man es in der Öffentlichkeit nicht mehr, aber im geheimen macht es erst recht die Runde.
Der Parkhor hat zu Neujahr seine große Zeit. Diese Straße ist der innere Ring um die Kathedrale, und auf ihm spielt sich das ganze Stadtleben ab. Hier sind die meisten Geschäfte, hier beginnen oder enden alle religiösen und militärischen Aufzüge. Am Abend, besonders an Feiertagen, pilgern die Frommen scharenweise über den Parkhor, sie murmeln ihre Gebete, und viele Gläubige messen die Strecke mit dem Hinwerfen ihres Körpers aus. Aber auch ein weniger frommes Gesicht hat der Parkhor. Hübsche Frauen zeigen dort ihre neusten Toiletten, flirten ein wenig mit den jungen Adeligen, und auch die leichteren Schönen der Stadt finden dort, was sie suchen. Das Zentrum von geschäftlichem Leben, von Geselligkeit und Tratsch — das ist der Parkhor.
Am fünfzehnten Tag des ersten tibetischen Monats war ich soweit, daß auch ich mir die Festlichkeiten ansehen konnte. Dieser Tag ist ein Höhepunkt der Feiern. Eine großartige Prozession findet statt, an der seine Heiligkeit, der Dalai Lama, persönlich teilnimmt.
Tsarong hatte uns in einem seiner Häuser am Parkhor einen Fensterplatz versprochen. Er würde leider im Erdgeschoß sein. Denn niemand darf sich während der Prozession über den Köpfen der hohen Herren befinden, die da gemessen über den Parkhor ziehen. Überhaupt darf auch kein Haus mehr als zwei Stockwerke hoch gebaut werden, denn es gälte als Frevel, der Kathedrale oder gar dem Potala Konkurrenz zu machen. Und man hielt sich streng an diese Regel. Manchem Adeligen war sein düsteres verwanztes Haus zu klein und unbequem geworden. Da er aber nicht höher bauen durfte, behalf er sich damit, für die warme Jahreszeit ein zerlegbares Holzhäuschen auf sein flaches Dach zu stellen. Ich staunte immer wieder, wie rasch diese Häuschen verschwanden, wenn der Dalai Lama oder der Regent an einer Prozession teilnahmen.
Während durch die Straßen der Stadt eine bunte Menge wogt, in freudiger Erwartung der Prozession, sitzen wir mit Tsarongs Gattin am Fenster. Unsere Hausfrau ist eine freundliche ältere Dame, die uns immer sehr bemuttert hat. Wir sind jetzt besonders froh über ihre Gesellschaft. Denn für uns ist das alles eine fremde Welt, und ihre vertraute, freundliche Stimme ist uns die Brücke zu all dem Neuen, das sie uns eifrig erklärt.
Da wachsen geheimnisvolle Gerüste aus dem Boden, oft zehn Meter hoch. Für die Butterfiguren, erklärt sie uns. Gleich nach Sonnenuntergang werden diese Kunstwerke aus Butter gebracht, die Mönche in monatelanger Arbeit hergestellt haben. In den Klöstern gibt es dafür eigene Abteilungen, in denen besonders geschickte Mönche, wahre Künstler in ihrem Fach, mit unermeßlicher Geduld aus verschieden gefärbter Butter Figuren und Ornamente kneten und modellieren, feinste Filigranarbeit, die dann für eine Nacht zu einem wirklich sehenswerten Kunstwerk zusammengesetzt werden. Hunderte solcher Pyramiden säumen die Straße, durch die die Prozession geht, und zeugen mit ihrer Pracht vom Opferwillen der adeligen und reichen Familien Lhasas. Denn jeder solche Turm kostet ein schönes Stück Geld, und oft müssen sich mehrere Familien zusammentun, um eine Pyramide zu finanzieren. Man sucht sich gegenseitig dabei zu übertreffen, denn die schönste Pyramide erhält einen Preis von der Regierung. Seit Jahrzehnten haben ihn die Mönche des Klosters Gyü für ihre Arbeit bekommen.
Nun ist schon die ganze Straßenfront des inneren Parkhor-Ringes hinter den bunten, dreieckigen Türmen verschwunden. Eine unübersehbare Menge staut sich davor, und es wird ein Problem, etwas davon zu sehen. Es beginnt zu dämmern, und nun marschieren die Regimenter von Lhasa mit Pauken und Trompeten auf. Sie bilden ein Spalier, drängen die Zehntausende von Zuschauern zur Häuserfront zurück und halten die Straße frei.
Rasch bricht jetzt die Nacht herein, aber schon flammt ein Meer von Lichtern auf und beleuchtet alles taghell. Tausende zuckender Butterlämpchen und dazwischen einige Petrolgaslampen mit ihrem furchtbar grellen Licht. Dazu steigt die Scheibe des Mondes über die Dächer, denn der 15. jedes Monats ist hier immer der Tag des Vollmondes. Nun ist alles bereit — die große Feier kann beginnen. Erwartungsvolle Stille breitet sich über die Menge.