Der Orden der Tsedrungs
Deshalb war ich nicht wenig erfreut, als auch ich eines Tages in den Garten der Tsedrungs bestellt wurde.
Die Tsedrungs sind Mönchsbeamte, die eine Art Orden bilden. Durch ihre strenge Erziehung zum Gemeinschaftsgeist sind sie den weltlichen Beamten an Macht weit überlegen. Sie bilden die nächste Umgebung des Dalai Lama. Alle persönlichen Diener des jungen Gottes kommen aus diesem Orden, der Kämmerer, seine Lehrer und seine persönlichen Betreuer sind hohe Tsedrungs. Der Dalai Lama nimmt außerdem an ihren obligatorischen täglichen Zusammenkünften teil, die der Pflege des Gemeinschaftsgeistes dienen.
Die Mönchsbeamten des Tsedrung-Ordens haben ohne Ausnahme eine strenge Ausbildung hinter sich. Ihre Schule liegt im Osttrakt des Potala, und die Lehrer kommen traditionsgemäß aus dem berühmten Kloster Möndroling südlich des Tsangpo, das für die Pflege des tibetischen Schrifttums und der Grammatik bekannt ist. Jeder junge Mann des Landes kann in die Schule der Tsedrungs eintreten, aber die Aufnahme in den Orden selbst ist sehr schwierig. Es existiert nämlich eine viele hundert Jahre alte Vorschrift, die die Zahl seiner Mitglieder begrenzt, es darf immer nur 175 Tsedrungs geben. Diese Zahl galt früher auch für die weltlichen Beamten, so daß es im ganzen immer 350 Beamte in Tibet gab. Durch die Einführung einiger neuer Ämter wurde in letzter Zeit diese Zahl ein wenig vergrößert.
Wenn der junge Mönchsschüler das achtzehnte Jahr erreicht hat, kann er nach Ablegung bestimmter Prüfungen — und natürlich mit etwas Protektion — Tsedrung werden. Damit erhält er gleichzeitig den niedrigsten Rang und kann, je nach seinen Fähigkeiten, bis zum dritten Rang aufsteigen. Die Tsedrungs tragen die übliche rote Mönchskutte, darüber aber die Abzeichen ihres Ranges, der dritte zum Beispiel ein gelbes Seidengewand. Die jungen Tsedrung-Schüler kommen meist aus dem Volk und bilden ein gesundes Gegengewicht gegen den vererbten weltlichen Adel. Ein großes Arbeitsfeld wartet auf sie, denn es gibt keine Regierungsstelle, wo neben dem weltlichen Beamten nicht mindestens ein Mönchsbeamter sitzt. Durch dieses gemeinsame Ausüben eines Amtes soll eine despotische Diktatur des einzelnen verhindert werden, eine Gefahr, die ja beim Feudalsystem immer gegeben ist.
Der Oberste Kämmerer des jungen Gottes mit dem klangvollen Titel Drönyer Tschemo war es, der mich zu sich gebeten hatte. Er schlug mir vor, den Garten der Tsedrungs herzurichten. Das war eine große Chance für mich! Er ließ nämlich durchblicken, daß auch im Garten des Dalai Lama neue Anlagen notwendig seien und wenn man mit meiner Arbeit zufrieden sei … Ich sagte sofort zu. Eine Anzahl von Arbeitern wurde mir zur Verfügung geteilt, und ich machte mich mit allem Eifer ans Werk. Es blieb mir kaum noch Zeit für die Privatstunden in Englisch und Mathematik, die ich einigen jungen Adeligen erteilte.
Was konnte uns jetzt noch treffen? Unsere Aufträge gingen von den höchsten Stellen der Mönchsbeamten aus, sollte das nicht ein Zeichen sein, daß man sich mit unserer Anwesenheit abgefunden hatte und uns stillschweigend duldete?
Aber noch einmal kam ein schwerer Schock. Eines Morgens besuchte uns ein hoher Beamter des Außenamtes, Kyibub, der letzte der vier Tibeter, die vor vielen Jahren in Rugby studiert hatten. Sein Auftrag war ihm sichtlich peinlich. Unter vielen Entschuldigungen und großem Bedauern teilte er uns mit, daß der englische Arzt mich für reisefähig erklärt hätte und daß die Regierung unsere sofortige Abreise erwartete. Als Beweis zeigte er mir einen Brief des englischen Arztes. Es hieß darin, daß ich zwar noch nicht völlig genesen sei, daß aber die Reise für mein Leben keine Gefahr mehr bedeutete.
Aufschnaiter und ich waren wie vor den Kopf geschlagen. Damit hatten wir nicht mehr gerechnet! Aber wir nahmen uns zusammen und versuchten, höflich und gefaßt unsere Gegenargumente vorzubringen. Meine Krankheit könne beim geringsten Anlaß wieder in alter Heftigkeit ausbrechen. Was sollte aus mir werden, wenn ich mitten auf einer beschwerlichen Reise plötzlich keinen Schritt mehr tun konnte? Obendrein war gerade jetzt die Zeit, wo in Indien die Hitzeperiode begann. Kein Mensch, der so lange in der gesunden Höhenluft Lhasas gelebt hatte, konnte diesen Übergang ohne Schädigung überstehen. Und was sollte aus unseren Arbeiten werden? Wir hatten sie im Auftrag der höchsten Stellen begonnen und wollten sie unbedingt zu Ende führen. Wir würden nochmals ein Gesuch an die Regierung richten.
Innerlich stellten wir uns zwar darauf ein, uns bald auf den Weg nach Indien machen zu müssen, gleichzeitig jedoch planten wir, in der Region des Himalaja neuerlich auszureißen. Denn in Indien saßen unsere Kameraden ja noch immer hinter Stacheldraht, obwohl es schon April 1946 war.
Von diesem Tag an hörten wir aber nie wieder etwas von einem Ausweisungsbefehl, wenn wir auch noch eine Weile darauf warteten.
Wir waren inzwischen in Lhasa heimisch geworden. Auf der Straße erregten wir kein Aufsehen mehr, die Kinder zeigten nicht mehr mit dem Finger auf uns, man besuchte uns nicht mehr aus Neugierde, sondern aus freundschaftlichen Gefühlen. Auch die British Mission schien überzeugt von unserer Ungefährlichkeit, denn obwohl Delhi unsere Auslieferung verlangt hatte, war dies offenbar ohne sonderlichen Nachdruck geschehen … Und Tibets offizielle Stellen versicherten uns, daß wir gerne gesehen seien.
Immer mehr lebten wir uns ein. Wir verdienten jetzt so viel, daß wir nicht mehr ganz von der Gastfreundschaft Tsarongs abhängig waren. Unsere Arbeit machte uns viel Freude, und die Zeit verflog schnell … Das einzige, wonach wir uns sehnten, war, Post aus der Heimat zu bekommen. Schon über zwei Jahre waren wir ohne Nachricht. Man mußte uns längst für tot halten. Aber dann trösteten wir uns immer wieder damit, daß unsere Lage doch sehr erträglich war und daß wir allen Grund hatten, zufrieden zu sein. Wir hatten ein Dach über dem Kopf und keine Existenzsorgen mehr. Den Errungenschaften des Westens trauerten wir nicht nach. Europa mit seinen Wirren lag so fern. Oft schüttelten wir den Kopf, wenn wir beim Radio saßen und Nachrichten hörten. Sie ermutigten nicht zur Heimkehr …
Viel Abwechslung brachten in unser Leben die Einladungen zu den vornehmen Familien Lhasas. Wir bewunderten immer wieder die tibetische Gastfreundschaft und staunten über die auserlesenen Gerichte, die bei solchen Gelegenheiten auf den Tisch kamen.