In Gartok, dem Sitz des Vizekönigs
Aus der Literatur kannten wir Gartok als »Hauptstadt von Westtibet, Sitz des Vizekönigs«, und aus Geographiebüchern wußten wir, daß es als die höchstgelegene Stadt der Welt gilt: Als aber dieser berühmte Ort endlich vor uns lag, mußten wir beinahe lachen. Erst sahen wir ein paar Nomadenzelte, die verstreut in einer riesigen Ebene lagen, dann tauchten einige Hütten aus Lehm und Grassoden auf. Das war Gartok. Außer einigen herumstrolchenden Hunden war kein Lebewesen zu sehen.
Wir schlugen unsere kleinen Zelte am Ufer des Gartang-Tschu auf, einem Nebenfluß des Indus. Endlich kamen auch ein paar Neugierige, und von ihnen erfuhren wir, daß keiner der beiden hohen Beamten anwesend sei und nur der Verwalter des zweiten »Vizekönigs« uns empfangen könne. Noch am gleichen Tag machten wir uns auf zu unserem Bittgang. Schon beim Eintritt in das Amtsgebäude mußten wir uns tief bücken, denn statt der Türen gab es nur ein Loch, vor dem ein speckiger Vorhang hing. Wir kamen in einen düsteren Raum, dessen Fenster mit Papier verklebt waren, und als unsere Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sahen wir einen intelligent und vornehm aussehenden Mann in Buddhastellung vor uns sitzen. An seinem linken Ohr baumelte ein ungefähr fünfzehn Zentimeter langes Ohrgehänge als Zeichen seines Ranges. Außer ihm war noch eine Frau anwesend; später stellte sich heraus, daß sie die Gattin des verreisten Beamten war. Hinter uns drängten Kinder und Diener herein, die die sonderbaren Fremden in der Nähe besehen wollten.
In sehr höflicher Form wurden wir aufgefordert, Platz zu nehmen, und bekamen gleich Trockenfleisch, Käse, Butter und Tee angeboten. Die Atmosphäre war herzlich und berührte uns wohltuend, und auch die Unterhaltung ging mit Hilfe eines englisch-tibetischen Wörterbuches, unterstützt durch Gesten, ziemlich flott vonstatten. Unsere Hoffnungen schnellten in die Höhe, doch benutzten wir vorsichtigerweise dieses erste Zusammentreffen noch nicht, um alle unsere Sorgen anzubringen. Wir erzählten, daß wir deutsche Flüchtlinge seien, und deuteten an, daß wir um die Gastfreundschaft des neutralen Tibet bitten wollten.
Am nächsten Tag brachte ich dem Verwalter Medikamente als kleines Gegengeschenk. Er war darüber sehr erfreut, befragte mich nach ihrer Anwendung und schrieb sich alles genau auf. Dabei wagten wir die Frage, ob er uns nicht einen Reisepaß ausstellen wolle. Er schlug unsere Bitte nicht direkt ab, sondern vertröstete uns auf das Kommen seines Vorgesetzten, der auf einer Pilgerfahrt zum Berge Kailas begriffen sei. Seine Rückkehr wurde in wenigen Tagen erwartet.
In der Zwischenzeit freundeten wir uns immer mehr mit seinem Vertreter an; ich schenkte ihm ein Brennglas, einen Gegenstand, den man dort gut gebrauchen kann. Die übliche Revanche ließ nicht lange auf sich warten. Eines Nachmittags schleppten Träger Butter, Fleisch und Mehl als Geschenk zu unseren Zelten. Mit einem Gefolge von Dienern kam hinter ihnen der Verwalter geschritten, um uns seinen Gegenbesuch abzustatten. Als er sah, wie wir in unseren Zelten hausten, konnte er sich nicht fassen vor Verwunderung, daß Europäer ein so primitives Leben führten.
Doch je näher der Tag kam, an dem die Rückkehr seines Vorgesetzten erwartet wurde, desto merklicher flaute seine Freundlichkeit ab, und er zog sich fast ganz von uns zurück. Die Verantwortung begann ihn zu drücken. Bald ging er so weit, daß er uns nicht einmal mehr Lebensmittel verkaufen wollte. Aber auch hier gab es genug indische Händler, die uns für gutes Geld gerne aushalfen.
Eines Vormittags war es soweit. Von ferne hörte man Schellengeklingel, und eine riesige Maultierkarawane näherte sich dem Dorf. Voran ritten Soldaten, dann folgte eine Schar von Dienern und Dienerinnen, und nach ihnen kamen würdevoll die Angehörigen des tibetischen Adels geritten, die wir hier zum erstenmal sahen. Es war der höhere der beiden Vizekönige, die in Tibet »Garpön« heißen, der hier seinen Einzug hielt. Er und seine Frau trugen prächtige Seidengewänder und hatten an kostbaren Gürteln Pistolen umgeschnallt. Das ganze Dorf lief zusammen, um von dem Schauspiel nichts zu versäumen. Der fromme Garpön begab sich gleich nach seiner Ankunft in feierlichem Zug ins Kloster, um den Göttern für seine glückliche Rückkehr von der Pilgerfahrt zu danken.
Auch uns hatte die allgemeine Aufregung angesteckt. Aufschnaiter verfaßte einen kurzen Brief, in dem wir um Audienz baten. Als keine Antwort kam, hielten wir es vor Ungeduld nicht mehr aus und machten uns am späten Nachmittag auf, um beim Garpön vorzusprechen.
Sein Haus unterschied sich nicht wesentlich von dem seines Vertreters, nur die Inneneinrichtung war reinlicher und gediegener. Der »Garpön«, ein hoher Beamter, bekleidet für die Dauer seiner Amtszeit den vierten Adelsrang. Ihm unterstehen fünf Distrikte, die von Adeligen fünften, sechsten und siebenten Ranges verwaltet werden. Er selbst trägt während seiner Amtszeit im aufgesteckten Haar ein goldenes Amulett, das aber nur während seiner Regierungszeit sein Haupt schmücken darf. In Lhasa gehört er nur zum fünften Rang. Alle Adeligen Tibets sind nämlich in sieben Rangstufen eingeteilt, deren erste der Dalai Lama allein bekleidet. Alle weltlichen Würdenträger tragen das Haar aufgesteckt, die Mönche sind geschoren, und die gewöhnlichen Tibeter tragen Zöpfe.
Nun standen wir also diesem mächtigen Manne gegenüber. Wir legten unseren Fall in allen Einzelheiten dar, und der Garpön hörte uns überaus freundlich zu. Er konnte oft ein Schmunzeln über unsere mangelhaften Sprachkenntnisse nicht verbergen, und sein Gefolge lachte mitunter laut auf. Doch das trug nur zur Würze der Unterhaltung bei und schuf eine freundschaftliche Stimmung. Der Garpön versprach, unseren Fall genau zu überlegen und sich mit dem Vertreter seines Kollegen zu besprechen. Anschließend an die Unterhaltung wurden wir reichlich bewirtet und bekamen europäischen Tee gereicht. Nachher schickte der Garpön Geschenke zu unseren Zelten, und wir waren voll Hoffnung auf einen guten Ausgang.
Der nächste Empfang war etwas formeller, aber trotzdem herzlich. Es war eine richtige Amtsstunde; der Garpön saß erhöht, neben ihm etwas niedriger der Vertreter des anderen Garpön. Auf einem niedrigen Tisch lag ein Stoß Briefe, auf tibetischem Papier geschrieben. Der Garpön teilte uns mit, daß er uns nur für die Provinz Ngari Reisepässe und Transportmittel geben könne. Auf keinen Fall dürften wir weiter in das Landesinnere von Tibet vordringen. Wir berieten rasch untereinander und schlugen ihm dann vor, uns einen Paß bis zur Grenze von Nepal auszustellen. Nach einigem Zögern ging er darauf ein und versprach auch, einen Brief an die Zentralregierung in Lhasa zu schicken, in dem er unsere Wünsche darlegen wolle. Er machte uns darauf aufmerksam, daß die Antwort erst nach Monaten eintreffen könnte. Das wollten wir indes lieber doch nicht hier abwarten. Denn wir hatten unseren Plan, weiter nach Osten vorzudringen, nicht aufgegeben und wollten um jeden Preis die Reise fortsetzen. Da Nepal ein neutrales Land war und außerdem in der von uns gewünschten Richtung lag, konnten wir mit dem Erfolg der Verhandlung zufrieden sein.
Freundlich forderte uns der Garpön auf, noch einige Tage als seine Gäste zu bleiben, da erst Tragtiere und ein Begleiter für uns gesucht werden mußten. Nach drei Tagen bekamen wir unseren Paß ausgehändigt, in dem die Reiseroute mit folgenden Ortsnamen festgelegt war: Ngakhyü, Sersok, Möntshe, Barka, Thoktschhen, Lhölung, Schamtshang, Truksum, Gyabnak. Weiter stand darin, daß wir berechtigt waren, zwei Jaks zu beanspruchen. Besonders wichtig aber war die Klausel, daß uns die Bevölkerung zu den ortsüblichen Preisen Nahrungsmittel verkaufen müsse. Brennmaterial und Herddiener für den Abend sollten wir frei haben.
Wir waren sehr froh, daß wir so viel erreicht hatten. Der Garpön gab für uns noch ein Abendessen, bei dem es mir gelang, ihm meine Uhr zu verkaufen. Nachher mußten wir alle unser Ehrenwort geben, von seiner Provinz aus nicht nach Lhasa zu gehen. Schließlich nahmen wir Abschied von Gartok. Als wir am 13. Juli aufbrachen, bildeten wir eine stattliche kleine Karawane. Unser Gepäck trugen zwei Jaks, die von einem Nomaden getrieben wurden, dann folgte mein kleiner Esel, der sich gut erholt hatte und jetzt nur mit einem Teekessel beladen war. Unser Begleiter, ein junger Tibeter namens Norbu, war hoch zu Roß. Wir drei Europäer kamen weniger feudal zu Fuß daher.