Das Staatsorakel

Wie die Bevölkerung für die Sorgen ihres Alltags Rat und Hilfe bei Wahrsagern und Lamas sucht, so befragt die Regierung vor großen Entscheidungen das Staatsorakel. Ich bat meinen Freund Wangdüla einmal, mich zu einer offiziellen Befragung mitzunehmen, und in aller Frühe ritten wir hinaus zum Netschungkloster. Die Würde des Staatsorakel trug damals ein neunzehnjähriger Mönch. Er kam aus einfachen Verhältnissen, hatte aber schon bei allen Prüfungen durch seine medialen Fähigkeiten Aufsehen erregt. Obwohl seine Routine noch nicht so groß war wie die seines Vorgängers, der auch bei der Ermittlung des Dalai Lama mitgewirkt hatte, erwartete man viel von ihm. Ich habe mir oft den Kopf darüber zerbrochen, ob es nur seine unerhörte Konzentrationsfähigkeit war, durch die er sich vor vielen Menschen in kürzester Zeit in einen lang andauernden Trancezustand versetzen konnte, oder ob er Drogen und andere Hilfsmittel verwendete.

Um als Orakel zu wirken, muß der Mönch seinen Geist vom Körper trennen können, damit der Gott des Tempels von ihm Besitz ergreift und durch ihn spricht. In diesem Augenblick wird er durch seine mediale Veranlagung zur Manifestation des Gottes. Das ist die Überzeugung der Tibeter, und auch Wangdüla glaubte fest daran.

Unter solchen Gesprächen hatten wir die acht Kilometer bis zum Netschungkloster zurückgelegt. Aus dem Tempel klingt uns eine dumpfe, unheimliche Musik entgegen. Wir treten ein — der Anblick ist furchterregend! Von allen Wänden grinsen grausige Fratzen und Totenköpfe auf uns herab, die weihrauchgeschwängerte Luft beengt die Brust. Gerade wird der junge Mönch aus seinen Privatgemächern in die düstere Tempelhalle geführt. Er trägt einen runden Metallspiegel auf der Brust, Diener hüllen ihn in bunte Seidengewänder und geleiten ihn zu seinem Thron. Dann zieht sich alles von ihm zurück. Außer der dumpfen, beschwörenden Musik ist kein Laut zu hören. Das Medium beginnt seine Konzentration. Ich beobachte es scharf, wende kein Auge von seinen Zügen. Nicht das leiseste Zucken seiner Mienen entgeht mir. Mehr und mehr scheint das Leben aus ihm zu weichen. Jetzt ist es völlig reglos, das Gesicht eine starre Maske. Und da — wie vom Blitz getroffen bäumt sich der Körper auf. Ein Aufatmen geht durch den Raum: Der Gott hat von ihm Besitz ergriffen. Zittern befällt das Medium, wird immer stärker, Schweiß perlt auf seiner Stirn. Da treten Diener zu ihm hin und setzen ihm einen riesigen, phantastischen Kopfschmuck auf. Dieser ist so schwer, daß zwei Männer das ungeheure Ding halten müssen, während sie es ihm aufsetzen, und die schmächtige Gestalt des Mönchs sinkt unter dem Gewicht der Tiara noch tiefer in die Kissen des Throns. Es ist kein Wunder, daß die Medien nicht lange leben, geht es mir durch den Kopf. Die ungeheure körperliche und geistige Anstrengung dieser Séancen verzehrt ihre Kraft.

Das Zittern wird stärker, auf und ab schwankt der viel zu schwer belastete Kopf, die Augen quellen hervor. Das Gesicht ist aufgedunsen und von einem ungesunden Rot überzogen. Zischende Laute brechen zwischen den Zähnen hervor. Plötzlich springt das Medium auf — Diener wollen ihm helfen, er entgleitet ihnen, und zum Gewimmer der Oboen beginnt sich der junge Mönch in einem seltsamen, ekstatischen Tanz zu drehen. Sein Stöhnen und Zähneknirschen sind die einzigen menschlichen Laute im Tempel. Jetzt beginnt er mit einem riesigen Daumenring wild auf sein schimmerndes Brustschild zu schlagen — das Klirren übertönt das dumpfe Rollen der Trommeln. Jetzt dreht er sich auf einem Fuß, aufrecht unter der riesigen Krone, die vorhin zwei Männern zu schwer war. Diener füllen seine Hände mit Gerstenkörnern — er wirft sie unter die verängstigte Menge der Zuschauer. Alles duckt sich, ich fürchte schon, als Eindringling aufzufallen. Der Mönch ist jetzt unberechenbar … Störe ich bei der Götterbefragung? Nun wird er etwas ruhiger. Diener halten ihn mit festem Griff, und ein Kabinettsminister tritt vor ihn hin. Über den von der Last gebeugten Kopf wirft er eine Seidenschleife und beginnt die vom Kabinett sorgsam ausgeklügelten Fragen zu stellen. Die Besetzung einer Gouverneurstelle, die Auffindung einer hohen Inkarnation, Krieg oder Frieden, das alles wird dem Orakel zur Entscheidung vorgelegt. Oft muß eine Frage mehrmals wiederholt werden, bis das Orakel zu lallen beginnt. Ich bemühe mich, aus dem Murmeln verständliche Worte herauszufinden — unmöglich! Während der Regierungsvertreter demütig gebeugt steht und etwas zu verstehen versucht, schreibt ein älterer Mönch fließend die Antworten nieder. Er hat das schon hunderte Male in seinem Leben getan, denn er diente schon dem verstorbenen Orakel als Sekretär. Ich konnte mich des Verdachtes nicht erwehren, daß dieser Sekretär vielleicht das eigentliche Orakel war. Die Antworten, die er niederschrieb, waren bei aller Zweideutigkeit doch immer richtunggebend und genügten, das Kabinett der größten Verantwortung zu entheben. Gab ein Orakel dauernd falsche Antworten, dann machte man kurzen Prozeß: Es wurde seines Amtes enthoben. Das war eine Maßnahme, deren Logik ich nie begreifen konnte. Es war doch der Gott, der aus dem Medium sprach?

Trotzdem war die Stellung eines Staatsorakels sehr begehrt. Denn es bekleidet das Amt eines Dalama, das dem dritten Rang entspricht, und ist der oberste Herr des Netschungklosters mit allen seinen Pfründen.

Die letzten Fragen, die der Regierungsvertreter noch stellt, bleiben unbeantwortet. Haben den jungen Mönch die Kräfte verlassen, oder zürnt der Gott? Mönche treten zu dem vor Erregung bebenden Medium, reichen ihm kleine Seidenschleifen. Mit zitternden Händen knüpft es Knoten hinein. Diese Schleifen werden Bittstellern umgehängt und gelten als Amulette, die vor jeder Gefahr schützen. Noch einmal versucht es ein paar Tanzschritte zu machen, dann bricht es zusammen und wird von vier Mönchen bewußtlos aus der Tempelhalle getragen.

Ganz benommen verlasse ich den Tempel und stehe geblendet im Sonnenlicht. Mein nüchterner Europäerverstand weiß nicht, wohin mit dem eben Geschauten. Später habe ich noch oft an Orakelbefragungen teilgenommen — eine auch nur annähernde Erklärung dieses Rätsels ist mir nie gelungen.

Ein merkwürdiges Erlebnis war es immer, wenn ich dem Staatsorakel im Leben des Alltags begegnete. Ich könne mich nie ganz daran gewöhnen, mit ihm an einem Tisch zu sitzen und ihn genauso wie alle übrigen Adeligen seine Nudelsuppe schlürfen zu hören. Wenn wir einander auf der Straße begegneten, zog ich den Hut, und er lächelte mir mit höflichem Nicken zu. Sein Gesicht war dann das eines netten jungen Mannes seiner Altersstufe und erinnerte in nichts an die rote, aufgedunsene Fratze der Ekstase.

Und dann sah ich ihn am Neujahrstag durch die Straßen wanken … Diener stützten ihn rechts und links, und alle dreißig bis vierzig Meter sank er erschöpft auf den Sessel, der für ihn mitgetragen wurde. Alles wich vor ihm zurück, und das Volk genoß sprachlos das dämonische Schauspiel.

Noch einen großen Tag hat das Staatsorakel: die sogenannte »Große Prozession«, wenn nämlich der Dalai Lama zum Besuch der Kathedrale in die Stadt getragen wird — zum Unterschied von der gewöhnlichen »Prozession«, wenn er in den Sommergarten zieht.

Wieder ist ganz Lhasa auf den Beinen, man findet kaum ein Plätzchen zum Stehen. Auf einem freien Platz ist ein Zelt aufgeschlagen. Mönchssoldaten mit ihren Peitschen halten wie üblich die neugierige Menge zurück. Dieses Zelt verhüllt noch das große Geheimnis vor den Blicken des Volkes; der Netschung Dalama bereitet sich drinnen auf den Trancezustand vor. Langsam nähert sich nun der Gottkönig in seiner Sänfte mit den sechsunddreißig Trägern. Die Musik der Mönche begleitet den feierlichen Zug, Posaunen, Tuben und Trommeln zeigen den Höhepunkt an. Jetzt ist er vor dem Zelt des Orakels. In diesem Augenblick stürzt mit torkelnden Schritten der von seinem Gott besessene Mönch heraus. Wiederum ist sein Gesicht aufgedunsen, zischende Laute brechen aus seinem Mund, fast wird er zu Boden gedrückt von der Last der Tiara. Aber wild um sich schlagend drängt er die Träger beiseite, nimmt die Stangen der Sänfte auf seine Schultern und rennt durch das Spalier, während die königliche Bürde bedrohlich schwankt. Seine Diener und die Sänftenträger laufen mit und versuchen ihn beim Tragen zu unterstützen. Nach ungefähr dreißig Schritten bricht er ohnmächtig zusammen. Eine Tragbahre steht schon bereit, zugedeckt wird er in sein Zelt zurückgetragen. Gebannt hat die Menge diesen sekundenschnellen Vorgang verfolgt — schon nimmt die Prozession wieder ihren geordneten Fortgang. Nie konnte ich herausfinden, was dieses Ritual genau zu bedeuten hat. Vielleicht sollte es die Unterwerfung eines Schutzgottes gegenüber dem Lebenden Buddha symbolisch darstellen.

Außer dem Staats- und Wetterorakel gab es in Lhasa noch mindestens sechs Medien, darunter sogar eine alte Frau, die als Manifestation einer Schutzgöttin galt. Für kleine Spenden war sie bereit, sich in Trance zu versetzen und die Göttin sprechen zu lassen. Es gab Tage, an denen sie bis zu viermal diesen Zustand erreichte. In meinen Augen allerdings war sie eine ziemlich gerissene Scharlatanin …

Es gibt auch Orakel, die im Trancezustand riesige Schwerter zu einer Spirale verbiegen — in Lhasa haben mehrere Adelige solche Schwerter vor ihrem Hausaltar liegen. Jeder Versuch, ein solches Schwert auch meinerseits zu verbiegen, mißlang.

Das Befragen der Orakel stammt noch aus der vorbuddhistischen Zeit, als die Götter Menschenopfer verlangten, und wurde fast unverändert übernommen. Ich selbst war von dem unheimlichen Erlebnis immer tief beeindruckt, aber ich war doch froh, daß ich meine Entscheidungen nicht von Orakeln abhängig machen mußte.