Erdbeben und andere böse Omina

Unsere friedlichen Lehrstunden wurden in diesem Sommer durch verschiedene beängstigende Ereignisse unterbrochen. Es häuften sich die bösen Omina: mißgestaltete Tiere wurden geboren, das Kapitell der Steinsäule am Fuß des Potala lag eines Morgens zerbrochen auf dem Boden. Umsonst sandte die Regierung an die Stätten des Unheils Mönche, die mit ihren Gebeten die bösen Geister bannen sollten. Und als eines Tages bei strahlendem Wetter aus einem der drachenköpfigen Wasserspeier der Kathedrale Wasser zu tropfen begann, geriet ganz Lhasa außer sich.

Am 15. August versetzte ein heftiges Erdbeben die Heilige Stadt in Schrecken. Wieder ein böses Omen! Noch steckte das Entsetzen über den Kometen allen in den Gliedern. Im vergangenen Jahr hatte tage- und nächtelang ein leuchtender Schweif am Himmel gestanden. Ganz alte Leute erinnerten sich, daß nach dem Auftauchen des letzten Kometen ein Krieg mit China ausgebrochen war. Ich hatte durch das Radio schon vorher von seinem Erscheinen gewußt, denn Flieger hatten ihn bereits über Australien gesehen. Als er über Lhasa stand, machte ich bei seinem Schein mit meinem Freund Wangdüla eine Nachtwanderung, um den phantastischen Anblick zu genießen.

Das Erdbeben kam völlig überraschend. Die Häuser von Lhasa erzitterten plötzlich, und man hörte etwa vierzigmal ferne, dumpfe Detonationen. Sie mußten vom Bersten der Erdschichten herrühren. Bei wolkenlosem Himmel erschien im Osten ein riesiger Feuerschein, und die Nachbeben hielten tagelang an. Die Sender Indiens berichteten von großen Erdveränderungen in der Provinz Assam, die an Tibet angrenzt. Ganze Täler und Berge waren versetzt worden, und der durch Bergstürze aufgestaute Brahmaputra hatte ungeheure Verheerungen angerichtet. Doch erst einige Wochen später erfuhr man in Lhasa, wieviel größer die Katastrophe im eigenen Lande war. Das Zentrum des Erdbebens mußte in Südtibet gelegen haben. Durch die katastrophalen Erdbewegungen waren Hunderte von Mönchen und Nonnen in ihren Felsenklöstern begraben worden, so daß oft kein Überlebender blieb, der die Kunde davon zum nächsten Bönpo gebracht hätte. Burgen waren in der Mitte gespalten und ragten als Ruinen zum Himmel, Menschen waren, wie von Geisterhand erfaßt, in der plötzlich aufklaffenden Erde verschwunden.

Wahrscheinlich hätten sich für alle diese Vorfälle auch natürliche Erklärungen finden lassen. Doch den Aberglauben der Tibeter zerstören, hieße, ihnen etwas vom Leben nehmen. So groß der Schreck ist, den ein böses Omen verbreiten kann, so viel Kraft und Zuversicht wird auch wiederum aus guten Vorzeichen geschöpft.

Der Dalai Lama wurde über all das ominöse Geschehen genau informiert. Obwohl natürlich genauso abergläubisch wie sein Volk, war er doch immer sehr begierig, meine Meinung von den Dingen zu hören. So ging uns der Gesprächsstoff nie aus, und die Zeit war uns immer viel zu kurz. Es waren seine freien Stunden, die er mit mir verbrachte, und nur wenige wußten, daß er seine Erholungszeit auch noch zum Studium ausnutzte. Er hielt sich immer sehr genau an seine Zeiteinteilung. So freudig er mich erwartete, so ängstlich sah er auf die Uhr, wenn seine Freizeit um war. Denn pünktlich wartete schon sein Religionslehrer in einem Pavillon auf ihn.

Wie genau er es auch mit meiner Zeit nahm, erfuhr ich einmal durch einen Zufall. An einem Tag, an dem viele Zeremonien stattfanden, hatte ich nicht mehr mit dem Ruf in den Norbulingka gerechnet. Deshalb machte ich mit Freunden einen Spaziergang auf einen nahen Berg, hatte aber vorher meinen Diener instruiert, mir mit einem Spiegel Blinkzeichen zu geben, falls mich der Dalai Lama doch noch holen ließe. Tatsächlich kam zur üblichen Stunde das Signal, und ich rannte so schnell ich konnte in die Stadt zurück. An der Fähre wartete schon mein Diener mit dem Pferd, aber trotz aller Eile kam ich zehn Minuten zu spät. Von weitem schon lief der Dalai Lama auf mich zu, ergriff aufgeregt meine beiden Hände und rief: »Wo bist du so lange gewesen? Ich habe schon so gewartet, Henrig!« Ich bat um Verzeihung, daß ich ihn beunruhigt hatte, und damals ging mir erst ein Licht auf, was diese Stunden ihm bedeuteten.

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An diesem Tage waren seine Mutter und sein jüngster Bruder auch gerade anwesend, und ich führte ihnen einen der achtzig Filme vor, die der Dalai Lama besaß. Nach der Vorstellung brachte Sopön Khenpo, der Mundschenk, ein besonders großes Bündel mit Bäckereien für die Mutter Seiner Heiligkeit. Für mich war es sehr interessant, bei dieser Gelegenheit Mutter und Sohn einmal beisammen zu sehen. Ich wußte, daß die Familie vom Augenblick der Erkennung des Knaben als Inkarnation keinen Anspruch mehr auf ihn hatte und in ihm wie alle anderen nur den Lebenden Buddha sehen durfte. Deshalb war der Besuch der Mutter eine fast offizielle Angelegenheit, und sie trug ihr Festkleid mit allem Schmuck. Beim Abschied verbeugte sie sich, und der Dalai Lama legte segnend die Hand auf ihr Haupt. In dieser Geste war das Verhältnis der beiden wohl am besten ausgedrückt. Nicht einmal die Mutter bekam den Segen mit beiden Händen, der nur den Mönchen und hohen Beamten vorbehalten ist.

Als wir allein waren, zeigte mir der Dalai Lama voll Stolz seine Rechenaufgabe. Dieses Fach wurde von uns beiden etwas vernachlässigt, denn er verstand es sehr gut, mit der in ganz Tibet gebräuchlichen Abakus-Rechenmaschine umzugehen, und das genügte für seine Bedürfnisse. Die Tibeter erreichen eine erstaunliche Fertigkeit mit diesem Instrument, das früher einmal auch bei uns gebräuchlich war. Ich verlor manchen Wettkampf, den ich mit Bleistift und Papier gegen die Rechenmaschine führte. Das Volk, dem der Abakus nicht zur Verfügung steht, rechnet mit Tonscherben, Pfirsichkernen und Erbsen, wie es in den Schulen gelehrt wird. Ganz einfache Rechnungen werden mit dem Rosenkranz erledigt, den jeder stets zur Hand hat.

Manchmal, ganz selten, kam es auch vor, daß wir bei unserem Beisammensein gestört wurden. Einmal überbrachte ein Leibgardist einen wichtigen Brief. Der riesenhafte Kerl warf sich in seiner ganzen Länge dreimal zu Boden, zog der Etikette gemäß laut seinen Atem ein und überreichte den Brief. Dann verließ er, sich nach rückwärts tastend, den Raum und schloß lautlos die Tür. — In solchen Momenten kam mir erst recht zu Bewußtsein, wie sehr ich das Zeremoniell durchbrach.

Der Brief kam vom ältesten Bruder des Dalai Lama, dem Abt des Klosters Kumbum in der chinesischen Provinz Tschinghai. Dort waren die Rotchinesen bereits an der Macht und unternahmen nun den Versuch, durch Tagtshel Rimpotsche den Dalai Lama zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Sein Brief kündete sein Kommen an. Da er schon lange unterwegs war, mußte er wohl bald eintreffen.

Am selben Tag noch machte ich bei der Familie des Dalai Lama einen Besuch. Die Mutter empfing mich mit Schelten. Ihrer Mutterliebe war es nicht entgangen, wie sehr ihr Sohn an mir hing und wie oft er auf die Uhr gesehen hatte, als ich nicht kam. Ich erklärte ihr meine Verspätung und konnte sie überzeugen, daß ich nicht leichtfertig die Stunde versäumt hätte. Beim Abschied bat sie mich, nie zu vergessen, wie wenig an selbstgewählter Freude das Leben ihrem Sohn bot.

Es war vielleicht gut, daß sie selbst einmal gesehen hatte, wieviel dem Dalai Lama unsere gemeinsamen Stunden bedeuteten. Denn nach einigen Monaten wußte bereits ganz Lhasa, wohin ich gegen Mittag immer ritt, und wie zu erwarten war, hatten die Mönche ihre Bedenken gegen die ständigen Besuche geäußert. Da war sie es, die sehr energisch für den Wunsch ihres Sohnes eintrat.

Als ich wieder einmal durch das Tor des Gelben Gartens trat, kam es mir vor, als hätte ich den Dalai Lama durch sein kleines Fenster nach mir spähen gesehen. Dabei schien er mir Brillen zu tragen, und das wunderte mich, denn ich hatte noch nie Brillen bei ihm gesehen. Auf meine Frage gestand er, daß er schon seit einiger Zeit Schwierigkeiten mit seinen Augen hatte. Deshalb trug er zum Studium Augengläser, die sein Bruder ihm durch die indische Vertretung beschafft hatte. Wahrscheinlich hatte er sich als Kind die Augen verdorben, als es sein einziges Vergnügen war, stundenlang durch sein Fernglas auf Lhasa zu schauen. Das viele Lesen und Studieren im dunklen Potala mit seiner schlechten Beleuchtung war auch nicht gerade dazu angetan, sein Augenleiden zu bessern.

An diesem Tag hatte er ein kurzes rotes Jäckchen über seiner Mönchskutte an. Er hatte es selbst entworfen und war sehr stolz darauf. Aber er durfte es nur in seiner Freizeit tragen. Die größte Errungenschaft daran waren die Taschen. Denn die tibetische Kleidung kennt keine Taschen, und er hatte wohl in Zeitschriften gesehen oder an meinen Sakkos bemerkt, wie nützlich sie waren. Wie jeder Knabe seines Alters trug er darin ständig Messer, Schraubenzieher, Süßigkeiten und ähnliche Dinge mit sich herum. Auch seine Buntstifte und Füllfedern brachte er noch darin unter und war wahrscheinlich der erste Dalai Lama, der an solchen Sachen Vergnügen fand. Viel Freude bereitete ihm auch seine Uhrensammlung, die zum Teil noch aus dem Besitz des 13. Dalai Lama stammte. Aber sein liebstes Stück, eine Omega-Kalenderuhr, hatte er von seinem eigenen Geld erworben. Solange er nicht mündig war, stand ihm nämlich nur das Geld zur Verfügung, das an den Stufen seines Thrones geopfert wurde. Später einmal würden ihm die Schatzkammern des Potala und des Edelsteingartens offenstehen, und er würde als Herrscher Tibets einer der reichsten Männer der Welt sein.