Zwei Vagabunden bitten um Obdach und Nahrung

Nun stehen wir vor der Türkisendachbrücke und sehen zum erstenmal die goldenen Spitzen der Kathedrale von Lhasa. Langsam geht die Sonne unter und taucht das Bild in ein unirdisches Licht. In der Abendkühle fröstelnd, wollen wir Quartier suchen. Aber es ist nicht so einfach, hier in ein Haus zu treten, wie im Tschangthang in ein Zelt. Wahrscheinlich wird man uns sofort anzeigen. Herbergen oder Tasamhäuser gibt es hier nicht. Doch es muß versucht werden! Im ersten Haus treffen wir auf einen stummen Diener, der uns gar nicht anhört. Wir probieren es im nächsten. Wieder ist nur eine Dienerin da. Ihr Zetergeschrei ruft ihre Herrin heraus, die uns gleich mit erhobenen Händen anfleht, doch weiterzugehen. Wenn sie uns Quartier gibt, wird sie ausgepeitscht. Es will uns nicht recht eingehen, daß die Weisungen der Regierung so streng sein können, aber wir wollen der Frau keine Unannehmlichkeiten bereiten und gehen wieder hinaus. Durch ein paar Gassen irren wir und sind schon fast wieder am anderen Ende der Stadt.

Da ist ein Haus, viel vornehmer und geräumiger als alle bisher. Im Hof sind sogar Unterstände für Pferde. Wir fassen uns ein Herz und treten ein. Wieder sind gleich Diener da, die uns schimpfend und schreiend wegweisen wollen. Aber wir lassen uns nicht abschütteln und laden einfach unseren Esel ab. Der Eseltreiber drängt schon, wegzukommen, er hat längst gemerkt, daß hier etwas nicht stimmt. Wir geben ihm sein Geld, und er zieht erleichtert ab.

Die Diener sind verzweifelt, als sie merken, daß wir uns hier häuslich niederlassen. Sie heulen und bitten und betteln und malen sich die Strafe ihres Bönpo aus, wenn er heimkommt und die Bescherung sieht … Uns ist alles eher als behaglich zumute, daß wir uns mit Gewalt Gastfreundschaft erzwingen müssen, aber wir bleiben hier. Immer mehr Leute werden durch das Geschrei herbeigelockt, die Szenerie erinnert beinahe an meinen Abschied von Kyirong. Wir stellen uns taub gegen alles. Todmüde und halb verhungert setzen wir uns neben unserem ärmlichen Bündel auf den Boden. Es ist uns gleichgültig, was jetzt kommt. Nur sitzen … rasten … schlafen.

Das zornige Geschrei verstummt, als die Leute unsere verschwollenen und blasenbedeckten Füße sehen. Mitleid regt sich in diesen gutmütigen, offenen Menschen. Eine Frau macht den Anfang: Sie bringt einen Krug Buttertee. Es ist dieselbe, die uns erst angefleht hat, ihr Haus zu verlassen. Und nun schleppen alle etwas herbei: Tsampa, Lebensmittel, sogar Material zum Feuermachen. Die Leute wollen ihre Ungastlichkeit wieder gutmachen. Heißhungrig stürzen wir uns auf das Essen, vergessen ist im Augenblick alles andere.

Plötzlich hören wir uns in perfektem Englisch angesprochen. Wir blicken auf, und obwohl es inzwischen dunkel geworden ist, erkennen wir, daß der reichgekleidete Tibeter vor uns den vornehmsten Ständen angehören muß. Erstaunt und glücklich fragen wir ihn, ob er vielleicht einer der vier Adeligen sei, die in Rugby studiert haben? Das nicht, antwortet er, aber er hat viele Jahre in Indien verbracht. Wir erzählen ihm kurz unser Schicksal, sagen ihm, daß wir Deutsche sind und um Aufnahme bitten wollen. Er überlegt einen Augenblick und meint dann, daß auch er uns nicht ohne Bewilligung des Stadtmagistrates in sein Haus aufnehmen dürfe. Aber er macht sich sofort auf den Weg und will um die Erlaubnis ansuchen.

Die anderen Leute waren flüsternd im Kreis herumgestanden und hatten ihm ehrerbietig Platz gemacht. Als er ging, erzählten sie uns, daß er ein hoher Bönpo sei, unter dessen Verwaltung das Elektrizitätswerk stehe. Wir wagten es noch nicht, allzu große Hoffnungen auf sein Versprechen zu setzen, und begannen uns für die Nacht einzurichten. Indes wir uns noch am Feuer mit den Neugierigen unterhielten, die ständig kamen und gingen, traten 176 Thangme, der »Oberste der Elektrizität«, lade uns in sein Haus ein. Sie nannten ihn ehrfürchtig »Kungö«, das heißt »Hoheit«, und wir merkten uns das und sprachen ihn auch so an.

Thangme und seine junge Frau empfingen uns sehr herzlich in ihrem Haus. Fünf Kinder standen mit offenem Mund herum und bestaunten uns wie ein Wunder. Der Kungö hatte gute Nachricht für uns: Der Magistrat hatte ihm gestattet, uns für eine Nacht bei sich aufzunehmen, alles weitere müsse freilich erst dem Kabinett vorgelegt werden. Doch darum machten wir uns jetzt keine Sorgen. Wir waren in Lhasa, und eine adelige Familie hatte uns gastlich in ihr Heim aufgenommen. Ein Zimmer war schon für uns hergerichtet, ein richtiges, sauberes, gemütliches Zimmer. Ein kleiner Eisenofen stand darin und spuckte glühend seine Wärme in den Raum. Sieben Jahre hatten wir keinen Ofen gesehen! Dazu duftete es herrlich nach Wacholderholz, ein großer Luxus, denn es muß wochenlang auf Jakrücken nach Lhasa gebracht werden. Wir wagten es kaum, uns in unseren Lumpen auf die teppichbelegten Liegestätten zu setzen. Ein herrliches chinesisches Nachtmahl wurde gebracht, und ganz benommen begannen wir zu essen, immer wieder zum Zugreifen genötigt. Dabei standen alle um uns herum und redeten ununterbrochen auf uns ein. Was wir doch alles mitgemacht hatten. Sie konnten es kaum glauben, daß wir im Winter durch das Tschangthang und über den Nyentschenthanglha gekommen waren. Und unsere tibetischen Sprachkenntnisse erregten laute Bewunderung. Aber wie häßlich und schäbig kamen wir uns in dieser gepflegten. Umgebung vor! Unsere Sachen jahrelang als wertvollstes Gut überallhin mitge— schleppt, hatten plötzlich all ihren Glanz verloren, und wir wären sie am liebsten losgewesen.

Todmüde und verwirrt fielen wir endlich auf das Lager. Aber wir konnten gar nicht einschlafen. Zu viele Nächte hatten wir auf dem harten Boden verbracht, nur durch unseren Schafpelz und eine zerschlissene Decke vor der ärgsten Kälte geschützt. Nun wieder ein weiches Bett, ein geheiztes Zimmer! Der Körper kann sich nicht so schnell umstellen, und die Gedanken gehen wie ein Mühlrad in unserem Kopf. Alles ballt sich zusammen, dringt auf uns ein. Das Internierungslager! Einundzwanzig Monate waren vergangen, seit wir es verlassen hatten. Was lag nicht alles in diesen Monaten! Und unsere Kameraden durchlebten noch immer das tägliche Einerlei; obwohl der Krieg schon lange zu Ende war, waren die Gefangenen noch nicht frei. Frei … waren wir jetzt frei?

Noch ehe wir recht erwacht waren, stand ein Diener mit süßem Tee und Keks an unserem Bett. Dann brachte man uns warmes Wasser zum Waschen, und wir rückten unseren langen Bärten mit dem Rasiermesser zu Leibe. Nun sahen wir etwas manierlicher aus. Aber unsere Frisur macht uns noch große Sorge. Ein Mohammedaner wird gerufen, der als bester Haarschneider gilt, und er macht sich mit unseren Mähnen zu schaffen. Das Resultat sieht nicht sehr europäisch aus, trotzdem werden wir lebhaft bewundert. Diese Sorgen kennen die Tibeter nicht. Sie sind entweder kurzgeschoren oder tragen ihr Haar in Zöpfen.

Thangme sahen wir erst mittags wieder. Er kam sehr aufgeräumt nach Hause, denn er war im Außenamt gewesen und brachte uns gute Nachricht. Wir würden nicht an die Engländer ausgeliefert! Vorläufig dürften wir in Lhasa bleiben und würden nur höflich ersucht, bis zur Stellungnahme des Regenten, der gerade zur Meditation in Taglung Tra weile, das Haus unseres Gastgebers nicht zu verlassen. Man gab uns zu verstehen, daß dies eine Vorsichtsmaßregel sei wegen verschiedener Vorfalle mit fanatischen Mönchen. Essen und neue Kleidung wollte uns die Regierung zur Verfügung stellen.

Wir waren hochzufrieden. Monatelang waren wir unterwegs gewesen — ein paar Tage Ruhe würden gerade das Richtige für uns sein. Mit Begeisterung stürzten wir uns auf einen Berg von Zeitungen. Von den Neuigkeiten, die wir da erfuhren, waren wir allerdings weniger begeistert. In der ganzen Welt brodelte es, unsere Heimat durchlebte schwere Zeiten, und dann gab es Bilder von deutschen Kriegsgefangenen bei Zwangsarbeit in England und Frankreich …

Am selben Tag noch bekamen wir den Besuch eines Bönpo vom Stadtmagistrat. Sechs Polizisten begleiteten ihn — sie sahen etwas schmutzig und wenig vertrauenswürdig aus. Doch er bat uns nur ungemein höflich, unser Gepäck visitieren zu dürfen. Wir staunten über die exakte Arbeit der Behörden, denn der Mann hatte bereits einen genauen Bericht aus Kyirong in der Hand und verglich damit die Daten unserer Route. Wir wagten die Frage, ob denn wirklich alle Beamten bestraft würden, durch deren Distrikte wir gekommen waren. Der ganze Fall komme vors Kabinett, meinte er bedächtig, und die Bönpos müßten schon mit einer Strafe rechnen … Das tat uns furchtbar leid, und zu seiner Erheiterung erzählten wir ihm, auf welche Art wir den Begegnungen ausgewichen waren und wie oft wir geschwindelt hatten. Das Lachen war an uns, als er uns davon berichtete, daß er gestern abend schon an eine deutsche Invasion in Lhasa geglaubt habe. Denn alle Leute, die wir angesprochen und um Quartier gebeten hatten, waren sofort zum Magistrat gelaufen. Man habe den Eindruck gehabt, daß deutsche Truppen in die Stadt einmarschierten …