31
Ein niedriges, unbewohntes Haus stand abseits von der Straße auf dem Stück Heidegrund am Forst zwischen Lindwell und Nottingham. Ein paar Bäume und einiges Gebüsch verbargen es vor den Augen vorüberziehender Reisender. Ein trüber, mit Unkraut bedeckter Teich befand sich zwischen dem Haus und den Bäumen, der ungesunde Feuchtigkeit ausdünstete. Das armselig aussehende Gebäude war mit gelben Flechten überzogen und die Luft mit Myriaden von summenden Schnaken erfüllt. Das Haus musste schon lange leer stehen, denn alles Holz dran hatte man weggeschleppt, zum Teil fehlte sogar das Dach. Es war ein passender Unterschlupf für Mörder.
Vor der Tür ging ruhelos Richard de Ashby auf und ab. Sein Gesicht drückte heftige Spannung und große Sorge aus. Vor wenigen Augenblicken hatte er sich von seinen nichtswürdigen Kumpanen getrennt und sie weitergeschickt, um die blutige Tat zu vollbringen. Er trat jetzt in die Hütte, blieb einen Augenblick in der Mitte des Raumes stehen, schritt dann wieder zur Tür und murmelte: »Ich will sie zurückrufen, ich kann sie noch einholen.«
Aber dann dachte er an die Urkunde, die er ausgestellt hatte, an seine Pläne, an Reichtum und Würden, an Lucy de Ashby und an den Triumph über den verhassten Monthermer.
Er blieb stehen, ehe er die Schwelle wieder überschritt. Es ist zu spät, dachte er, die Würfel sind geworfen, und ich muss abwarten, wie sie fallen.
Eine Weile ging er in der Hütte auf und ab. Dann murmelte er wieder: »Jetzt müssen sie bei dem Weißdorn angekommen sein. Ich hoffe, sie werden sich gut verstecken, sonst schöpft der alte Mann Verdacht, er ist von Natur aus argwöhnisch. Es gibt dort dichtes Gehölz genug, um sich zu verbergen. Ich will gehen und das Pferd hinter dem Haus anbinden, damit es niemand sieht.«
Nachdem er dies getan hatte, begab er sich wieder in die Hütte.
»Und wenn die Sache schiefgeht?«, führte er das Selbstgespräch fort, »wie, wenn er etwas argwöhnt und Hilfe nachkommen lässt? Sie könnten gefangengenommen werden, und man fände meine Schenkungsurkunde bei ihnen. Sie könnten gestehen und, um sich zu retten, mich ins Unglück stürzen. Nein, nein, das ist ziemlich unwahrscheinlich. Horch! Das ist ein Pferd! Ich will nachschauen!« Er schlich um den Teich herum und spähte auf die Straße hinaus.
Aber er hatte sich getäuscht, das Geräusch hatte nur in seiner Einbildungskraft existiert. So kehrte er in sein Versteck zurück, fröstelnd in der herbstlichen Luft, obgleich der Tag gar nicht kalt war.
Endlich ließ sich in der Ferne Hufschlag vernehmen. Er fuhr auf und eilte hinaus. Diesmal hatte er sich nicht getäuscht, das Geräusch wurde jeden Augenblick lauter. Er starrte angestrengt nach Lindwell hinüber, aber statt der von ihm Erwarteten sah er einen großen Reitertrupp in aller Eile in Richtung Nottingham vorbeijagen. Seine Augen fielen sofort auf die um eine Haupteslänge über seine Begleiter emporragende Gestalt des Prinzen Edward. Das Stampfen der Rosse verklang schnell in der Ferne, und alles war still wie zuvor.
Etwa zwanzig Minuten verstrichen, dann wurde erneut der dumpfe Laut von Hufschlägen hörbar. Wieder schaute er hinaus, und jetzt sah er, viel näher als er erwartet hatte, vier Männer zu Pferde sich der Hütte nähern. Sie mieden die harte Heerstraße und ritten über den Rasen der Heide. Einer von ihnen stützte einen anderen, der vom Pferd zu fallen drohte. Schon waren sie heran. Ellerby sprang vom Pferd und half Dighton absteigen, während Parson die Zügel von Dightons Pferd hielt.
»Die Sache ist erledigt«, sagte Ellerby leise. »Aber Dighton ist schlimm zugerichtet. Der alte Mann durchstieß ihn mit dem Schwert, als er ihm den ersten Hieb versetzte, und er hätte ihn auf der Stelle getötet, wenn ich ihn nicht von hinten abgefangen hätte. Wir warfen ihn in die kleine Sandgrube dort am Bullen-Weißdorn. Aber den armen Dighton hat’s übel erwischt. Er konnte sich kaum auf dem Pferd halten.«
»Doch, doch, es geht schon«, sagte Dighton mit schwacher Stimme. »Wenn ich ein wenig Wein bekomme, kann ich durchaus weiterreiten.«
»Ich habe hier Wein in einer Flasche«, rief einer von den anderen rasch.
Dighton trank, und er schien sich wieder zu beleben. »Ich habe schon oft mehr abbekommen als heute«, sagte er aufseufzend. »Jetzt kann ich weiter. Wir täten gut daran, gleich fortzureiten. Mir war, als hätten sich Leute dem Weißdornbusch genähert!«
»Dann fort!«, rief Richard de Ashby leise. »Fort nach Lenton. Von dort weiter nach Bridgeford. Wenn Ihr heute Nacht noch bis Thorp kämt, wärt Ihr in Sicherheit. Ich will inzwischen aufs Schloss und meine schöne Cousine trösten, wenn die Nachricht vom Tod ihres Vaters sie erreicht.«
»Sie wird es schon wissen«, murmelte Dighton, »denn ich sage Euch, es näherten sich Leute.« Nachdem er noch einen Schluck Wein genommen hatte, war er wirklich imstande, beinahe ohne Hilfe zu seinem Pferd zu gehen und aufzusteigen. Aber er hatte eine blutlose Blässe im Gesicht, die verriet, dass seine Wunde nicht ungefährlich war.
»Vergesst nicht, mir Nachricht von Euch zu geben«, sagte Richard de Ashby zu Ellerby. Dann galoppierte er fort nach Lindwell, um das Schloss noch vor der traurigen Nachricht zu erreichen.
Selbst bei der raschen Gangart seines Pferdes konnte er seinen Gedanken nicht entfliehen. Die Angst saß ihm im Nacken, und unruhig ging er all die möglichen Folgen der Tat im Geiste durch. Wie hatte er sich nun zu benehmen? Was sollte er sagen? Was sollte er tun? Er musste die Rolle des völlig Ahnungslosen spielen. Richard de Ashby beschloss, bei seiner Ankunft auf Schloss Lindwell möglichst fröhlich zu erscheinen. Das fiel ihm nicht allzu schwer, denn Zweifel und Sorge, die Tat könnte fehlschlagen, das alles war vorüber. Sie war vollbracht, nicht nur ohne dass etwas schiefgegangen war, sondern begleitet von einem Umstand, der auch noch den einen der Mitschuldigen auf die Seite zu schaffen versprach.
Sein Pferd war gut, die Entfernung nicht groß. Schon nach einer Viertelstunde sah er die Türme von Lindwell über die waldigen Höhen der Gegend emporragen. Jetzt ließ er sein Pferd langsamer laufen, denn er wusste, dass immer Wächter auf den Türmen standen, die die Eile hätten bemerken können, mit der er heranjagte.
Er hatte bald den freien Platz vor dem Schloss erreicht und ritt den Berg hinauf. Die Zugbrücke war herabgelassen, die Tore des Hundezwingers standen offen, einer der Wächter saß geruhsam auf einer Bank in der Sonne, einige tüchtige Dienstmänner und Bewaffnete trieben zwischen den zwei Toren ihre Späße. Alle begrüßten den Verwandten ihres Herrn, als er an ihnen vorbeikam, ohne durch irgendetwas erkennen zu lassen, dass man innerhalb der Mauern von Lindwell von einem Unglücksfall Nachricht erhalten hätte.
Am inneren Tor stieg Richard de Ashby ab, übergab sein Pferd einem der Reitknechte und war im Begriff, nach seiner Cousine Lucy zu fragen. Aber er besann sich sofort auf seine Rolle, erkundigte sich, ob der Graf zu Hause sei, und fügte hinzu: »Ich hoffte, ihm zwischen hier und Nottingham zu begegnen.«
»Nein, Sir Richard«, versetzte der Pförtner und öffnete langsam die große Saaltür. »Mein Lord hatte zwar befohlen, dass seine Pferde samt Gefolge um Mittag bereit stehen sollen, um nach Nottingham zu reiten, aber es kamen Nachrichten aus der Stadt, die ihn aufhielten. Dann brachte der Sohn des alten Ugtred einen Brief, auf den hin mein Lord allein zu Fuß das Schloss verließ. Er wollte sich nicht einmal von seinem Pagen begleiten lassen, sondern trug sein Schwert selbst.«
»War das nicht leichtsinnig in diesen Zeiten?«, fragte Richard de Ashby. »Wisst Ihr, wo Lady Lucy ist? Kann ich mit ihr sprechen?«
»In ihrem Zimmer, glaube ich«, antwortete der Pförtner. »Geht, Ned, sagt ihr, Sir Richard sei in der Halle und möchte sie gern sprechen.«
Während der Page ging, um Lucy zu suchen, schritt Richard de Ashby in der Halle auf und ab, summte eine leichte Melodie und dachte dem Anschein nach an nichts Ernsthaftes. Als er ein Geräusch und laute Stimmen im Hof hörte, fuhr er auf. Aber bald war es wieder still, und in der nächsten Minute trat Lucy in die Halle.
Sie war blass und ernst, aber ruhig. Obgleich sie den Mann, der vor ihr stand, nie gemocht hatte, sagte sie doch freundlich: »Ich wünsche Euch einen guten Tag, Richard! Wir haben Euch lange Zeit nicht gesehen.«
»Ich bin in aller Eile von Nottingham hierhergeritten, weil ich dachte, ich könnte der Überbringer einer guten Nachricht für Euch sein. Aber Eure Miene lässt mich vermuten, dass Ihr sie schon gehört habt?«
»Was meint Ihr?«, fragte Lucy, und eine leise Röte überflog ihre Wangen.
»Nun«, antwortete Richard de Ashby, »dass ein gewisser edler Lord, mehr ein Freund von Euch als von mir, der in Nottingham Castle gefangengehalten wurde, in der letzten Nacht entflohen ist.«
»Das habe ich gehört«, versetzte Lucy, und schlug ihre Augen zu Boden. »Die Leute sagen, man hätte ihn zum Tode verurteilt, ohne ihn anzuhören.«
»Das stimmt nicht ganz«, sagte Richard de Ashby gedehnt. »Einmal haben sie ihn angehört, aber dann ...«
»Oh, Lady! Oh, Lady!«, schrie ein Diener, der mit einem Gesicht fahl wie Asche und mit entsetzter Miene in die Halle gestürzt kam. »Da ist ein Bauer aus Eastwood, der sagt, er habe meinen Lord ermordet in der Sandgrube beim Bullen-Weißdorn liegen sehen!«
Lucy starrte den Mann kurz an, die großen, dunklen Augen weit aufgerissen, als sträube sie sich, die entsetzliche Nachricht zu begreifen. Dann wurde sie plötzlich totenbleich und sank zu Boden. »Tor! Ihr habt sie getötet!«, schrie Richard de Ashby zornig. »Ihr hättet es ihr vorsichtiger mitteilen sollen! Ruft ihre Frauen herbei!«
Der Diener bemerkte in seiner Aufregung nicht, dass Richard de Ashby sich weniger erschüttert zeigte von der Nachricht als Lucy. Alles geriet jetzt in Unruhe und Verwirrung. Nachdem Lucy in ihr Zimmer gebracht worden war, wurde der Bauer aus Eastwood zu Richard de Ashby gerufen. Er meldete, dass er auf dem Weg über die Anhöhe plötzlich auf eine frische Blutspur gestoßen sei. Anfänglich habe er gedacht, es sei dort ein Hirsch erlegt worden. Aber als er durch die Büsche in die Sandgrube geschaut hatte, habe er einen Leichnam unten liegen sehen, und als er in die Schlucht hinabgestiegen war, hatte er den alten Grafen Ashby erkannt.
Er sei schon tot gewesen, gab der Bauer an. Ein Dolch habe in seinem Rücken gesteckt. Sogleich sei er fortgeeilt, um Leute zu holen. Nicht weit weg von der Grube hatte das Schwert des Ermordeten gelegen. Er hatte es aufgehoben und mitgebracht. Bei genauem Hinsehen hatte er Blut an der Klinge gefunden. Der Graf hatte sein Schwert offenbar nicht ohne Wirkung benuzt. Aber weitere Spuren eines Kampfes hatte der Bauer nicht gefunden, und er war so schnell wie möglich ins Schloss geeilt.
Ein flaches Brett, wie es damals, auf ein Gestell gelegt, als Speisetisch in der Schlosshalle diente, wurde jetzt von Dienern und Angehörigen des Grafen hinausgetragen, um darauf den Leichnam zu holen. Auf Richard de Ashbys Geheiß waren alle bewaffnet, damit sie nicht, wie er es ausdrückte, ein Trupp von Feinden überfallen könnte. Richard, der allen voranging, stellte sich betrübt und bestürzt. Als sie sich der ihm wohlbekannten Stelle näherten, fühlte er seine Knie weich werden. Aber entschlossen schritt er weiter und bereitete sich innerlich darauf vor, beim Anblick des toten Verwandten tief bekümmert zu erscheinen.
Bald sahen sie den alten Weißdornbusch, einen bekannten Treffpunkt für mancherlei Kurzweil im Walde. Dann standen sie schon am Rand der Grube, in der das grüne Gras und der gelbe Sand an verschiedenen Stellen von Blut gerötet waren. Die Diener waren von Jammer und Zorn erfüllt, und Richard de Ashby sagte pathetisch: »Oh! Das ist entsetzlich!«
»Wo ist denn der Leichnam?«, rief da jemand.
»Seht Ihr ihn nicht?«, fragte der Bauer, der die Nachricht überbracht hatte, und trat vor. Aber im gleichen Atemzug rief er: »Beim Himmel, er ist fort!«
Jetzt wurde Richard de Ashby tatsächlich unruhig und trat bestürzt an den Rand der Grube.
»Weg?«, rief er. »Weg? Die Mörder müssen zurückgekommen sein und ihn geholt haben!« Hastig kletterte er in die Sandgrube hinab.
Es war deutlich zu erkennen, wo der Leichnam gelegen hatte, denn dort waren Blutflecke und ein Fetzen vom seidenen Wams des Grafen, das er sich beim Fallen am Dornbusch zerrissen haben musste.
»Sie können noch nicht weit sein«, sagte der Bauer. »Der arme Gentleman war schwer, und es schien keine Menschenseele hier zu sein vorhin.«
»Pah!«, rief Richard de Ashby. »Es konnten Hunderte hinter Büschen und Bäumen versteckt gewesen sein, ohne dass Ihr sie saht! Lasst uns also die Umgebung durchstreifen. Einige müssen zum Schloss zurückeilen und Pferde holen. Wenn wir die Mörder rasch verfolgen, holen wir sie wahrscheinlich noch ein.«
»Es ist aber auch möglich, Sir Richard«, sagte einer der Diener, »dass einer von den Freisassen aus der Nachbarschaft auf den Leichnam gestoßen ist und ihn in sein Haus gebracht hat.«
»Das kann durchaus sein; wir müssen es herausfinden«, versetzte Richard de Ashby, der fürchtete, die Hälfte seines Planes könnte vereitelt werden, wenn man den Brief, den er unter dem Namen Hugh de Monthermer geschrieben hatte, nicht bei dem Toten fand. »Verteilt euch nach allen Seiten! Lasst uns jeden Pfad verfolgen und einander von Zeit zu Zeit zurufen, damit wir uns nicht ganz verlieren. Lasst sechs oder acht Männer hierbleiben, bis die Pferde vom Schloss kommen, dann lasst sie aufsteigen und in zwei oder drei Meilen im Umkreis jeden Weg verfolgen. Sie können sich noch nicht weit entfernt haben.«
Alle Bemühungen waren jedoch vergeblich. Keine Spur war zu entdecken von dem Toten oder von denen, die ihn weggebracht hatten. Obgleich Richard de Ashby anfänglich nicht daran gezweifelt hatte, dass sie ihn bei einem Bauern der Umgegend finden würden, und nur fürchtete, der wichtige Brief könnte durch einen Zufall verlorengehen, packte ihn nun doch die Unruhe. Er musste unbedingt erfahren, was aus dem Leichnam geworden war.
Vielleicht hatten ihn die kühnen Waidmänner des Sherwood gefunden, sagte er sich, deren Schlauheit und Entschlossenheit er gut kannte. Wenn das der Fall war, konnte womöglich der Dolch, den Ellerby in der Wunde hatte steckenlassen und mit dessen Knauf er selbst den Brief gesiegelt hatte, später einmal zur Entdeckung der wirklichen Mörder führen! Angst ergriff ihn bei diesem Gedanken. Gegen Einbruch der Nacht kehrte er höchst beunruhigt ins Schloss zurück, begleitet von den Männern, die mit ihm erfolglos nach dem alten Grafen gesucht hatten.