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An der Grenze des Sherwood, nicht weit von dem kleinen Fluss Lind und eingeschlossen von Wäldern, erhob sich in jenen Zeiten das normannische Schloss Lindwell, ein Kastell von beträchtlicher Größe. Es war in der Regierungszeit von William Rufus2 erbaut, auf Befehl Heinrichs II.3 zum Teil seiner Befestigungen beraubt und unter der Herrschaft des schwachen Tyrannen Johann4 wiederhergestellt worden. Da es nicht weit von Nottingham entfernt lag, wurde es häufig besucht von Edelleuten und Angehörigen der königlichen Familie und war oft Schauplatz der glänzenden und prunksüchtigen Gastlichkeit der alten Barone Englands.
Das Schloss, das auf einer sanften Erhöhung lag, war jetzt im Besitz des Grafen von Ashby. Das Gebiet gehörte eigentlich noch zum Sherwood, aber damals besaßen häufig gewisse Ritter Privatwaldungen im königlichen Forst, und dies war auch der Fall bei dem Grafen von Ashby auf seiner Besitzung Lindwell. Mochte er nun ursprünglich ein begründetes Recht auf die Jagd in dieser Gegend gehabt haben oder nicht, so war dieses Privileg während der Regierungszeit Johanns erteilt worden, und man erzählte sich, es sei zwischen ihm und dem jetzigen König5 zu manchen Streitigkeiten gekommen, weil er die Ausübung dieses Rechts über die gebührenden Grenzen ausgedehnt habe.
Am Tag nach den soeben beschriebenen Vorfällen zog eine heitere Gesellschaft auf frischen, feurigen Pferden aus den Toren des Schlosses und schlug den Weg in Richtung Nottingham ein. An der Spitze ritt des Grafen Tochter, Lucy de Ashby, mit ihren zwei Dienerinnen. Die drei jungen Frauen, die alle kaum zwanzig Jahre zählten, waren reich und farbenprächtig gekleidet. Außer einem Pagen folgten ihnen vier Dienstmänner.
Lucy de Ashby war klein von Gestalt und zart, doch offenbarte sich schon in jeder Linie die weibliche Fülle. Ihr Angesicht hatte eine warme und gesunde Farbe. Stirn, Nase, Mund und Kinn waren schön geschnitten, die Augen groß und von schwarzen Wimpern beschattet. Ihr Mund war voll schalkhafter Heiterkeit, denn der Kummer hatte hier nur einmal, beim Tode ihrer Mutter, gewohnt, und Tränen waren sehr seltene Gäste in ihren dunklen, glänzenden Augen.
Die Dienerinnen plauderten mit ihr in artiger Vertraulichkeit über den Gegenstand, der die weiblichen Gedanken in allen Zeitaltern bewegt: über die Mode.
»Nein, teure Herrin«, sagte eine von ihnen, »ich hätte den Wappenrock angezogen, um darin dem Vater nach Nottingham entgegenzureiten. Er sieht so prächtig aus mit dem silbernen Feld auf der einen, dem azurblauen auf der andern Seite und den schönen fliegenden Eidechsen darin!«
»Ich kann das Wappen nicht ausstehen«, entgegnete Lucy lächelnd. »Wenn ich bloß höre, ich solle die Felder an mir tragen! Man könnte ja glauben, ich sei ein Stück pflügbares Land, und was die Wappenröcke betrifft, Judith, so gefällt mir dieser neue Brauch überhaupt nicht. Frauen haben nichts mit Wappenröcken zu tun.«
»Dennoch kommt er mir viel schöner vor als das gold- und azurblaue Kleid, das Ihr so gern anzieht. Ich jedenfalls würde es nie tragen.«
»Warum nicht?«, fragte Lucy de Ashby überrascht. »Azur ist die Farbe des Himmels, Gold die der Erde. Warum wolltet Ihr sie nie tragen?«
»Weil es die Farben der Monthermer sind«, antwortete das Mädchen, »und die sind alte Feinde Eures Hauses.«
»Aber jetzt sind sie Freunde«, entgegnete Lucy, der das Blut heiß in die Wangen stieg.
In diesem Augenblick rief einer von den Dienstmännern: »Hölle und Teufel! Da wirft jemand ein Netz am Fluss aus! Schnell, Jakob, schnell ihnen nach! Ihr, Bill, reitet um den Wald herum und packt sie von der andern Seite! Seht, sie wollen fortlaufen!« Ihren Pferden die Sporen gebend, galoppierten die männlichen Begleiter Lucys, mit Ausnahme des Pagen, so schnell sie nur konnten, den Flüchtigen nach, laut schreiend, als verfolgten sie ein jagdbares Tier.
Lucy de Ashby zügelte ihr Pferd und rief dem Pagen, der sie jetzt auch verlassen wollte, zu, dazubleiben. Aber der Knabe schien von einer plötzlichen Taubheit befallen zu sein und war schon auf und davon. Lucy schaute ihm zuerst mit erzürnter Miene nach, dann lachte sie und sagte: »Das ist eine drollige Neigung von den Männern, allem nachzurennen, was vor ihnen wegläuft.«
Bei diesen Worten schüttelte sie die Zügel, hielt ihr Pferd im Schritt und ritt die Straße in den dichteren Wald hinein, es ihren Dienern überlassend, nachzukommen.
Nach etwa einer Viertelstunde erschien der Erste der Männer wieder an der Stelle, wo sie ihre Herrin verlassen hatten, aber er war zu Fuß und längst nicht mehr in dem glänzenden Aufzug wie zuvor. Seine Kleider wie auch seine Haare waren klatschnass, im Gesicht trug er die Spuren von tüchtigen Stockhieben. Er war entwaffnet und glich einem Manne, den man herzhaft verprügelt und durch eine Pferdeschwemme gezogen hatte. Ein lautes Echo, das vom Fluss her an sein Ohr drang, schien ihn mit nicht sehr angenehmen Empfindungen zu erfüllen, denn er stürzte sich mit einem Mal in die Büsche hinein und versteckte sich darin. Nun erschienen zwei seiner Kameraden, aber sie sahen nicht viel besser aus als er. Obgleich sie ihre Pferde behalten hatten, kehrten sie in entsetzlich zerschlagenem Zustand aus dem Kampf zurück.
»Wo ist Bill geblieben?«, sagte der eine zu dem anderen. »Ich habe ihn hierherlaufen sehen.«
»Der arme Teufel! Er hat sein Teil abbekommen!«, versetzte sein Kamerad.
»Und Ihr habt auch Euer Teil abbekommen, denke ich!«, schrie nun derjenige, der zuerst erschienen war, aus dem Gebüsch hervorkriechend. »Haha! Ich habe nie so einen Schlag gesehen und gehört wie den mit dem Knüttel über Eure Schultern, Jakob! Ihr ertöntet wie ein leeres Fass unter dem Hammer des Küfers!«
»Ja, Bill«, sagte der Mann, zu dem er sprach, grimmig, »und als der Mann Euch den Faustschlag aufs Auge versetzte, war es geradeso, als ließe der Küchenjunge den Apfelpudding fallen, und er zerplatzte auf dem Boden!«
»Ich will es ihm schon heimzahlen«, knurrte der Mann, den sie Bill nannten. »Aber wo sind der Page und Walther?«
»Sie sind davongaloppiert, dem Schloss zu«, antwortete der Dritte, »und Euer Pferd mit ihnen. So müsst Ihr eben zu Fuß zum Schloss zurückkehren. Wir müssen nun aber rasch dem Fräulein nach!«
»Ihr werdet eine schöne Figur machen, wenn Ihr so hinter ihr in Nottingham einreitet«, versetzte Bill. »Was wird aber mein Lord sagen, wenn er erfährt, dass wir vier und der Page von fünf Männern zu Fuß geschlagen wurden?«
»Es waren weit mehr als fünf!«
»Ich meine, einige im Gebüsch gesehen zu haben«, fügte der Dritte hinzu.
»Kommt, kommt!«, rief Bill. »Es waren nur fünf! Ich war kampfuntüchtig, weil ich ins Wasser gestürzt wurde, sonst hätte ich sie das Fürchten gelehrt.«
»Ich glaube fast, Ihr hättet Wunder getan«, erwiderte der andere höhnisch. »Aber wir müssen endlich weiter, und Ihr kehrt, so schnell Ihr könnt, ins Schloss zurück.«
In raschem Galopp ritten nun die beiden Dienstmänner los, in der Hoffnung, ihre junge Gebieterin einzuholen, bevor sie Nottingham erreichten.
Als sie jedoch nach ein paar Meilen noch immer nichts von Lucy de Ashby und ihren Dienerinnen erblickt hatten, sah Jakob seinen Kameraden nachdenklich an und sagte: »Es ist doch seltsam, dass wir sie noch nicht eingeholt haben – sie muss schnell geritten sein.«
»Das sieht ihr ganz ähnlich«, erwiderte der andere sorglos. »Sie ist drauflos galoppiert, um uns dafür zu strafen, dass wir sie mitten im Wald verlassen haben. Ich wollte ein schönes Stück Geld wetten, sie zieht ihre Zügel nicht an bis Nottingham.«
Aber Jakob war nicht so leicht ums Herz. Er heftete im Weiterreiten die Augen beständig auf den weichen Boden und spähte nach Spuren von Pferdehufen, doch konnte er keine entdecken. So erreichten sie schließlich die Tore von Nottingham und begaben sich sofort zum Quartier von Lord Ashby. Die Tore des großen Hauses standen offen, Diener eilten hin und her, Pferdebuben und Reitknechte schnallten Gurte los, nahmen Sättel ab, Küchenknechte und Brotmeister packten Körbe und Säcke aus, und Knaben und Bettler sahen zu.
»Was, ist mein Lord schon angekommen?«, schrie Jakob und sprang vom Pferd. »Wir erwarteten ihn erst heute Nacht oder morgen früh.«
»Er wird in einer halben Stunde hier sein«, versetzte der Pferdejunge, an den er sich gewandt hatte. »Wir sind vorausgeritten.«
»Wo ist unser junges Fräulein?«, fragte ein Diener. »Wir glaubten, wir würden sie hier finden, den Grafen erwartend.«
»Ist sie nicht hier?«, rief bestürzt der Dienstmann, der auf seinem Pferde sitzen geblieben war. »Sie ritt uns voraus!«
Jakob sprang, nicht weniger erschrocken als sein Kamerad, wieder in den Sattel und verkündete: »Das ist ein höllisches Komplott!«
Die Geschichte war bald erzählt und versetzte die Dienerschaft des Lords von Ashby in unbeschreibliche Verwirrung. Zehn, zwölf Männer bestiegen ihre Pferde, obgleich die Tiere von einem langen Tagesritt ermüdet waren, und brachen auf, um das Fräulein zu suchen, wobei sie die Waldwege nach allen Richtungen durchforschten. Aber sie konnten nicht die geringste Spur von ihr entdecken. Nach zweistündigem Suchen kamen die Männer mit dem Trupp des Grafen, der ihnen begegnet war, wieder zurück.
Der alte Lord Ashby wurde begleitet von nur vier oder fünf Dienern, hatte aber seinen Sohn Alured und Hugh de Monthermer bei sich. Lord Alured tobte wie ein zorniger Tiger, und der alte Lord schwor jede Art von Rache, als sie die Nachricht vom Verschwinden Lucys vernahmen. Hugh de Monthermers Lippe bebte, aber alles, was er sagte, war: »Das ist wirklich entsetzlich, mein Lord, dass Euer Lordschaft Tochter nicht ungefährdet von Lindwell nach Nottingham reisen kann! Was können wir tun?«
»Wir!«, rief Alured de Ashby. »Hugh von Monthermer, Ihr habt sehr wenig dabei zu tun, dünkt mich! Ich jedoch werde den Schurken die Ohren abschneiden, die ihr Fräulein aus irgendeinem Grunde verließen, als sie sie nach Nottingham geleiten sollten!«
»Mein Lord von Ashby«, sagte Hugh de Monthermer, sich zu dem Vater Alureds wendend, »ich bediente mich des Wortes ›wir‹ nur, weil ich als Euer Freund so innigen Anteil an der Angelegenheit nehme. Ich und meine Leute erwarten Euren Befehl, und wir wollen uns bemühen, Euch bei den Nachforschungen so gute Dienste zu leisten wie Eure besten eigenen Leute, wenn Ihr es uns erlauben wollt.«
»Aber gewiss«, erwiderte der Graf. »Alured ist zu unbesonnen! Vor drei Stunden, sagt man, sei dies vorgefallen? Sollten sie sich in den Wald gewandt haben, so können sie noch nicht weit gekommen sein. Wenn einer von uns zurückginge bis zu der zweiten Biegung der Straße, so muss er, wenn er den Reitpfad einschlägt, entweder dem Trupp selbst begegnen oder die Pferde finden, falls sie diese haben laufen lassen, um sich zu Fuß weiterzubewegen.«
»Sie sind nicht in den Wald hinein«, schrie Alured de Ashby aufgebracht. »Glaubt mir, es sind Leute des Königs oder des Bischofs! Es ist weit besser, wir durchstreifen das offene Land, immer an den Ufern des Trent entlang. Ihr werdet bald an den Brücken erfahren, ob jemand diesen Weg entlanggekommen ist.«
»Tretet vor, Jakob«, sagte der Graf. »Ihr seid einer von den Toren, die sich irreführen ließen. Was für Menschen waren es, die Euch von Eurem Fräulein weglockten?«
»Ich glaube, es waren verkleidete Waffenleute«, antwortete der Diener bekümmert. »Sie waren so geübt in der Handhabung ihrer Waffen, dass sie uns alle zusammenschlugen. Zudem hörte ich, als ich einem von ihnen einen Schlag versetzte, etwas klirren wie eine Rüstung.«
»Es scheint, dass Ihr recht habt, Alured«, sagte der Graf nachdenklich. »Aber es wäre wohl am besten, wir durchstreiften die ganze Gegend. Ihr übernehmt mit einem Teil der Männer die Ufer des Trent, ich will mit den anderen den Saum des Waldes von Nottingham bis Lindwell durchstöbern. Und unser junger Freund Hugh de Monthermer mit seinen zwei Dienern und zwei von den Unsrigen wird vielleicht den Wald selbst durchforschen.«
Alured de Ashby schien nicht sehr zufrieden mit der getroffenen Anordnung, denn seine Stirn war noch immer umwölkt. Aber er machte keine Einwände, und nach wenigen weiteren Worten trennte sich die Gesellschaft.
Es ist ein merkwürdiger Umstand und zugleich ein auffallender Beweis für die Gesetzlosigkeit jener Zeiten, dass keiner der Beteiligten annahm, das Verschwinden von Lucy de Ashby könne ein ganz gewöhnlicher Zufall sein.