Kapitel 38
5. Februar 2018
Sie veranstalteten eine kleine Prozession – einen Trauerzug, wie Julia es insgeheim bezeichnete –, wobei sie hinter dem als Leichenwagen dienenden Dünenbuggy zur Begräbnisstätte marschierten.
Gemäß einer stillschweigenden Vereinbarung bestiegen sie eine flache Anhöhe. Der Sonnenuntergang färbte den Himmel karmesinrot. Raoul steuerte mit dem Buggy, der mit einem speziellen Grabwerkzeug, einem sogenannten Hecktieflöffel ausgerüstet war, einen Punkt unterhalb der Steinpyramide an, die sie zu Beginn der Mission errichtet hatten – quasi zur Einweihung der Basis.
Julia schaute zu Claudine hinauf, die die Gruppe anführte. Ihr königsblauer Raumanzug sah noch immer aus wie neu und war kaum von rosigem Marsstaub überzogen. Ihr Gang war zögerlich, ruckartig, unsicher.
Schließlich erreichten sie den kleinen Steinkreis. In den darauffolgenden Monaten waren niedrige pinkfarbene Wanderdünen herangerückt, an denen an der windabgewandten Seite der Pyramide sich Sandverwehungen abgelagert hatten. Raoul hob mit dem Hecktieflöffel eine Grube aus. Viktor und Marc suchten ein paar Steine zusammen und errichteten zwei Pyramiden. Julia machte derweil Aufnahmen mit der Videokamera. Niemand sagte etwas.
Sie dachte an die vielen Vorposten auf der Erde, von denen auch jeder einen kleinen Friedhof hatte. Friedhöfe hinter Geisterstädten, Katakomben, die in den Fels gehauen worden waren, Mumien in Wüstengräbern, Gräber namenloser Pioniere in der Wildnis.
Der Akt des Gedenkens an die Toten verband sie mit dem Rest der Menschheit, über Myriaden Millennien und durch eine immense schwarze, sternenerfüllte Leere. Wie lang die Menschen diesen Brauch wohl schon pflegten? fragte sie sich. Er stammte aus einer Zeit, noch bevor sie den Gipfel der Menschwerdung erreicht hatten.
Neandertaler, sang- und klanglos untergegangene Hominide …
Diese Mission wurde ermöglicht durch hochentwickelte Technik und war motiviert durch Habgier, Neugier und durch etwas, das so alt war wie die Menschheit selbst – auch der Flug zum Mars war Ausfluß eines unaufhaltsamen Forscherdrangs, der einen ganzen Planeten erobert hatte und sich nun anschickte, einen zweiten sich Untertan zu machen. ›Wagenzug im Weltall‹, wie ein Witzbold eine alte SF-Fernsehserie genannt hatte. Das traf auch auf sie zu.
Sie legten einen Friedhof hinter Mars City an.
Boot Hill.
Die Steinpyramiden waren fast fertig, und nachdem Raoul den letzten Stein aufgetürmt hatte, senkten sie die in weiße Fallschirmseide gewickelten Leichen in die Erde. Sie sahen zu, wie der Hecktieflöffel rötlichen Sand über die ersten Menschen häufte, die auf einer fremden Welt begraben wurden.
Als er fertig war, reichte Raoul Claudine zwei flache Steine, von denen sie jeweils einen auf die Spitze der Pyramiden legte. Sie wirkte wie betäubt hinter dem Helmvisier. Wahrscheinlich war ihr auch kalt. Frierend und unter Schock. Als sie aufstand, glitt die Sonne hinter den scharf konturierten Horizont. Eine Windhose wirbelte über die Dünen im Norden. Der Mars folgte seinem endlosen Rhythmus.
Sie traten zurück und brachten den Steinkreis wieder in Ordnung.
Marc legte Claudine die Hand auf die Schulter. »Komm, wir genehmigen uns eine heiße Schokolade.«
»Ich könnte auch etwas vertragen«, sagte Viktor. »Ist die richtige Zeit zum Kaffeetrinken.«
* * *
Sie kehrten ins Habitat zurück, spülten den Staub von den Anzügen und hüllten sich in warme Kleidung. Dann gingen sie in den Gemeinschaftsraum und versammelten sich am runden Metalltisch.
Raoul und Marc waren schon dort und füllten fünf Tassen mit dampfender heißer Schokolade. Sie alle wußten, was nun kommen würde.
Julia genoß den leckeren, süßen Kakao. Wie oft hatten sie schon hier gesessen und gegessen, gearbeitet, geredet und gestritten – sogar sich geliebt, wenn Raoul und Marc mit dem Rover unterwegs waren, erinnerte sie sich mit einem leisen Schuldgefühl. Schlagartig wurde sie sich bewußt, daß das alles bald ein Ende haben würde, daß sie die längste Zeit hiergewesen waren. Zumal es eh nicht mehr wie früher war, wo Claudine nun das ›fünfte Rad am Wagen‹ war.
Bald würden sie nur noch von der Erinnerung an diese grandiose Erfahrung zehren.
Viktor starrte auf den Dampf, der träge aus der Tasse aufstieg.
»Was geschieht nun?«, fragte er und stieß ein kurzes bellendes Lachen aus. »Der Mars steckt mal wieder voller Überraschungen.«
»Richtig, was geschieht nun?«, sagte Marc mit feierlichem Gesichtsausdruck.
Claudine schüttelte den Kopf. »Ich werde mit euch zurückfliegen müssen. Der Preis ist natürlich passe. Airbus hat verloren.« Sie sprach langsam und versuchte, den Akzent zu unterdrücken.
Sie wechselten Blicke, während das Schweigen sich in die Länge zog.
Raoul zog mit der Faust imaginäre Kreise auf dem Tisch – er machte einen ernsten, sogar grimmigen Eindruck. Julia merkte, daß er das Versagen des ERV als persönliche Niederlage betrachtete und daß es ihm peinlich war, sich zu Wort zu melden.
Claudine saß steif da.
Julia versuchte, die Schwere von Claudines Schock einzuschätzen.
Sie schien sich der Situation nicht recht bewußt zu sein. Hatte sie etwa vergessen, daß das ERV nicht flugfähig war?
»Unterm Strich sieht es so aus«, sagte Viktor bedächtig, »daß wir nicht zu starten imstande sind und daß Sie nicht in der Lage sind, die Nuklearrakete allein zu fliegen. Beide Missionen stecken fest.«
»Genau«, sagte Marc mit Galgenhumor. »Ein echtes Mars-Patt.«
Es trat wieder eine Pause ein. Die am Tisch sitzenden Astronauten musterten sich gegenseitig: abgerissene Figuren allesamt.
Dann hatte sie einen Geistesblitz. »Nein, kein Patt, sondern eine Lösung. Wir müssen die Kräfte bündeln.«
Viktor schaute zwar skeptisch, aber er nahm die Vorlage trotzdem an: »Ja, das liegt auf der Hand. Doch wie sollen wir das anstellen?«
»Es muß mindestens einer von uns hierbleiben«, sagte Julia.
»Was?«
»Nein.«
Mit einer Handbewegung tat sie die Unmutsäußerungen ab. »Das ist die einzige Möglichkeit, und wir alle wissen das. Wir fünf haben keinen Platz in den Transportmitteln, die uns zur Verfügung stehen.«
»Was ist mit der Verpflegung?« fragte Claudine besorgt.
»Wir haben mehr als genug Proviant – das ERV ist mit Vorräten für sechs Personen und für einen siebenmonatigen Rückflug bestückt. Außerdem befinden sich noch Rationen für zwei weitere Personen in der Atom … im Airbus-Schiff.«
»Gerdas und Chens«, warf Claudine ein.
»Richtig. Und ihre restliche Ausrüstung haben wir auch noch. Verhungern werden wir also nicht.«
»Also haben wir Proviant für zweiundvierzig Mannmonate in eurem ERV und für vierundzwanzig Mannmonate in meinem Schiff«, sagte Claudine bedächtig. »Das reicht allemal für drei Leute.«
»Du sagtest doch, eine Person müßte hierbleiben«, sagte Marc.
»Eine Person wäre zu verwundbar.« Julia schaute in die Runde.
»Ich stimme ihr zu«, sagte Claudine. »Einer allein würde nicht überleben. Doch wie lang müßten sie hier ausharren?«, fragte sie.
»Bis ein … Rettungstrupp sie rausholt.« Viktor war von dieser Idee nach wie vor nicht begeistert.
Julia atmete tief durch. »Das nächste ERV könnte in einem Vierteljahr von der Erde starten und ein halbes Jahr später mit Nachschub hier eintreffen – falls er überhaupt benötigt wird.«
»Der wird auf jeden Fall gebraucht«, sagte Viktor. »Die Ausrüstung verschleißt.«
»Richtig. Doch wir könnten erst dann zur Erde starten, wenn in sechsundzwanzig Monaten das nächste Fenster minimalen Verbrauchs sich öffnet.«
»Eine beschissene Situation«, sagte Raoul düster. »Das RettungsSchiff ist zu klein, um die Überlebenden aufzunehmen.« Er stieß ein humorloses, heiseres Lachen aus.
Claudine straffte sich und schaute sie vorwurfsvoll an. »Ihr wißt, daß das nicht unsre Idee war. Wir waren weder eine Rettungsmission noch hatten wir euch Schwierigkeiten gewünscht. Vielleicht ein paar Leute bei Airbus, aber nicht wir. Niemand hatte die Besatzung gefragt, bevor … bevor irgend jemand diese Sache ausgeheckt hat.
Airbus-Manager haben sich das ausgedacht, und vielleicht nicht einmal sie. Sie sagen, sie wüßten nicht, auf wessen Mist das gewachsen ist.«
»Sie hatten trotzdem recht«, sagte Julia und schaute auf den Grund der Tasse, als ob dort die Lösung zu finden wäre.
»Ich akzeptiere dein Argument«, sagte Marc schließlich. »Drei Leute fliegen heim, zwei bleiben zurück.« Er ließ den Blick über die Kameraden schweifen. »Und was sagen die anderen dazu?«
Sie sah eine wachsende Zustimmung in ihren Gesichtern.
»Diese Lösung ist gar nicht mal so übel«, sagte sie. »Schon deshalb nicht, weil die Erde nun gezwungen ist, eine weitere Mission zu starten. Das ist es doch, was wir wollen, oder? Wir wollen den Mars nicht wieder aufgeben wie damals den Mond. Wir wollten nicht nur mal kurz vorbeischau’n, sondern den Boden für eine Kolonisierung bereiten.«
Marc nickte. »Ich bin mir aber nicht sicher, ob wir uns jemals als Kolonisten betrachtet haben.« Er verstummte und sagte dann: »Ich bestimmt nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte Viktor.
»Wie treffen wir nun die Auswahl?«, fragte Marc, als ob er einen Versuchsballon starten wollte. »Wieder Strohhalme ziehen? Freiwillige?«
»Das sollte der Kommandant entscheiden.« Viktor breitete die Arme aus.
»Stimmt«, sagte Julia, um ihm einen sachten Schubs in diese Richtung zu geben.
Viktor wiegte bedächtig den Kopf und starrte vor sich hin. »Eine so schwerwiegende Entscheidung will und kann ich nicht treffen.«
Claudine nickte nur.
»Ich werde bleiben«, sagte Julia, wobei sie den Eindruck hatte, ihre Stimme aus großer Entfernung zu hören.
Viktor war perplex. »Wieso willst du …?«
Auf einmal war alles so klar. »Eine Auswahl nach dem Zufallsprinzip hat keinen Sinn. Wir müssen jeweils die besten Teams zusammenstellen, sowohl jenes, das fliegt, wie das, welches bleibt.
Claudine muß mitkommen, weil sie sich als einzige mit der Atomrakete auskennt. Es wird schwer genug werden, uns mit den Systemen vertraut zu machen.« Sie legte eine Pause ein. »Ich glaube, Raoul ist zu wichtig, als daß wir ihn nicht mitnehmen sollten.«
»Danke«, sagte Raoul, »aber ich habe das verbockt und …«
»Nein, es stimmt – du bist unverzichtbar«, sagte Viktor.
»Außerdem«, fuhr Julia fort, »hat er eine Familie, die auf ihn wartet. Im übrigen …« Sie zuckte die Achseln. »… kann ich nur für mich sprechen.«
»Wieso willst du hierbleiben?« fragte Marc. »Ist es etwa wegen der Mars-Matte?«
Sie runzelte die Stirn. »Ich glaube schon. Ich würde die Vorstellung nicht verkraften, sie nie wiederzusehen. Außerdem hatte ich heute nachmittag während der Beerdigung eine seltsame Anwandlung. Ich hatte plötzlich das Gefühl, Bewohnerin einer Grenzsiedlung zu sein und keine Astronautin auf einer Raum-Kreuzfahrt.« Sie schaute Viktor an. »Tut mir leid, ich hätte es dir früher sagen sollen.«
»Vielleicht sollten wir uns die ganze Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen, bevor wir eine endgültige Entscheidung treffen«, sagte Marc.
»Dazu haben wir keine Zeit mehr«, sagte Raoul.
»Wir sollten auf jeden Fall die Erde informieren. Vielleicht haben sie eine Idee«, sagte Marc.
»Die Erde kann Vorschläge machen, aber wir entscheiden. Neues Weltraum-Gesetz«, stellte Viktor klar.
Kopfnicken reihum. Für kurze Zeit herrschte Schweigen. Julia verspürte ein sonderbares Gefühl der Leichtigkeit, doch sah sie zugleich, welcher nervlichen Anspannung die anderen unterlagen.
»Eins würde mich noch interessieren. Wie hast du das gemeint, als du sagtest, du hättest eine ›Mars‹-Lösung?«, fragte Marc.
Sie freute sich über die Gelegenheit, aus dem Nähkästchen zu plaudern. »Es ist eine reine Gefühlssache, aber ich glaube nicht, daß die Mars-Matte nur ein einziger Organismus ist. Es handelt sich um eine Lebensgemeinschaft aus verschiedenartigen einzelligen Organismen. Wie zum Beispiel ein Stromatolith oder eine Qualle.«
»Stromatolithen … hilf mir auf die Sprünge«, sagte Raoul.
Sie wunderte sich über eine solche Frage von Raoul, der sich bisher nämlich kaum für Biologie interessiert hatte. Sie hatte den Eindruck, daß die aktuelle Problematik ihn belastete und daß er deshalb das Thema wechseln wollte.
»Stromatolithen sind Schichten aus lebendigen Organismen, die auf vom Meer überfluteten Steinen leben. Diese Schichten bestehen im wesentlichen aus Grünalgen und Schlick. Als Lebensform sind sie sehr alt, vielleicht drei Milliarden Jahre. Zumindest gibt es in manchen Gesteinsformationen wellenförmige Schichten dieses Alters, bei denen es sich vielleicht um Stromatolithen-Fossilien handelt.«
»Die Vergangenheit der Erde ist die Gegenwart des Mars?«, fragte Claudine.
»O nein, sie existieren nicht nur als Fossilien. Ich habe lebende Stromatolithen an der australischen Westküste in der Nähe von Perth gesehen. In den Küstengewässern des Indischen Ozeans.«
»Sie existieren schon seit drei Milliarden Jahren? Mon Dieu! Ich hatte ja keine Ahnung.«
»Worauf ich eigentlich hinauswill, ist nicht ihr Alter, sondern wie sie überleben. Anaerobe mit verschiedenen metabolischen Anforderungen sind imstande, ein ›Tandem‹ zu bilden, wobei der ›Hintermann‹ von den Ausscheidungen des ›Vordermanns‹ sich ernährt.
Das ist eine gemeinschaftliche Überlebensstrategie.«
»Die notwendig wurde, weil auf dem Mars von Anfang an sehr ungünstige Lebensbedingungen geherrscht haben?«, fragte Raoul.
»Das ist plausibel. In gewisser Weise entspricht das auch der alten
›Erd-Lösung‹. Bevor die sauerstoffatmenden vielzelligen Lebensformen die Wettbewerbsbedingungen verschärften, hatten die Anaeroben ein anderes System angewandt. Im Grunde tun sie das heute noch. Werden Bakterien in ihrer Umgebung mit einem Gift konfrontiert, müssen sie nicht erst warten, bis eine zufällige Mutation ihnen aus der Patsche hilft. Sie besorgen sich einfach ein nützliches Gen bei einem anderen Bakterium. Und nicht nur bei gleichartigen Stämmen, sondern auch bei solchen, zu denen nicht einmal eine enge Verwandtschaft besteht. Aus diesem Grund nimmt auch die Resistenz gegen Antibiotika so schnell zu.«
Weil die anderen etwas verständnislos schauten, setzte sie nach:
»Was ich damit sagen will, ist, daß die Anaeroben zusammenarbeiten anstatt gegeneinander. Anstatt im Konkurrenzkampf mit anderen Organismen derselben Art einen Vorsprung anzustreben, marschieren alle gemeinsam voran. Ich glaube, genau das hat die Mars-Matte getan. Und wir sollten das auch tun.«
»Das ist eine überaus erfreuliche Erkenntnis«, sagte Marc lächelnd.
»Du hast viel gelernt bei deinen bisherigen TriVid-Auftritten.«
»Schönfärberei lag nicht in meiner Absicht.« Julia warf ihm einen verweisenden Blick zu und schaute dann zu Viktor hinüber. Der verzog keine Miene.
»Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber wir stehen hier mit dem Rücken zur Wand. Welche Möglichkeiten hätten wir sonst noch?« fragte Marc.
Raoul schaute auf. »Ja, aber wer ist die Nummer Zwei?« Er nickte in Richtung des Erd-Mars-Chronometers, das an der Wand hing. Ein gespanntes Schweigen trat ein. »Ein Freiwilliger?«
Julia schaute in die Runde und sah allenthalben zusammengepreßte Lippen und betrübte Blicke.
»Wir müssen was tun«, sagte Raoul eindringlich. »Will jemand die Erde anrufen?«
Marc nickte. »Wir können es nicht ewig aufschieben.« Er stand auf.
»Wir sollten eine Lösung gefunden haben, bevor wir anrufen«, sagte Viktor. »Ich habe einen Entschluß gefaßt. Ein Kapitän sollte sein Schiff nicht aufgeben. Claudine fliegt mit ihrem Schiff zurück, und ich bleibe mit meinem hier.«
»Bist du sicher?«, fragte Raoul fassungslos. »Es gibt doch bestimmt noch eine andere Möglichkeit.«
Viktor zuckte die Achseln. »Zumal jemand auf Julia aufpassen muß.«
Julias Herz schlug höher. Auf einmal traten ihr Tränen in die Augen und flossen die Wangen hinunter. Sie senkte den Kopf und wischte sie verstohlen mit der Serviette weg. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, zu ihm hinübergerannt und hätte ihn umarmt, doch sie beherrschte sich und blieb an ihrem Platz.
Sie würde wirklich hierbleiben. Für weitere zwei Jahre!
Bis zu diesem Augenblick war die Vorstellung ihr abwegig und irreal erschienen.
»In Ordnung. Noch Fragen?« Marc ließ den Blick über die Anwesenden schweifen. Sie nickten zustimmend. »Dann rufen wir die Erde an.«
Die anderen gingen in die Kommunikationszentrale. Julia und Viktor blieben zurück. Sie ergriff seine Hand und drückte sie an ihre Wange. Es war ein so gutes Gefühl, ihn zu berühren.
»Bist du dir wirklich sicher, daß du das tun willst? Ich hatte nicht die Absicht, dich zu nötigen …«
»Du wolltest damals nicht ohne mich zum Mars fliegen. Wie sagst du immer? Nun kommt die Revanche.«
»Ist das der einzige Grund? Liegt dir wirklich nichts am Mars?«
Er zuckte die Achseln. »Der sibirische Winter ist auch nicht viel wärmer«, sagte er dann mit einem Lächeln. »Wir gehören einfach zusammen, ob in Sibirien, der Arktis oder auf dem Mars.«
Sie schaute ihn an. »Ich hätte auch nicht ohne dich zurückbleiben wollen.« Dann spürte sie, daß ihr schon wieder Tränen über die Wangen liefen.
Für eine Weile sagten sie beide nichts.
»Es ist beschlossene Sache. Wir bleiben.«
Sie nickte. »Mars City.«
»Nun kommt der schwierige Teil. Wir müssen die Erde überzeugen.«
»Glaubst du denn, die Sache eben wäre einfach gewesen?« Sie schneuzte sich.
»Nein. Es war nicht einfach. Trotzdem wird es mit der Erde schwieriger werden. Du wirst schon sehen.«
* * *
Viktor sollte recht behalten. Axelrod verlangte nämlich, daß ›seine‹ Besatzung die Atomrakete beschlagnahmte, um dem Konsortium den Sieg in die Scheuer zu fahren. Sein Aufgebot an Anwälten würde dahingehend argumentieren, daß der Vorgang mit der Bergung eines Schiffs auf hoher See zu vergleichen sei, sagte er.
Als die Besatzung dieses Ansinnen ablehnte, geriet er in Rage.
Claudine machte Airbus Meldung, worauf Axelrod der Mars-Piraterie bezichtigt wurde. Airbus argumentierte, das genaue Gegenteil sei der Fall und das Konsortium habe verloren.
Legionen von Anwälten rüsteten sich für den Papierkrieg.
Die fünf Astronauten wußten nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand. Bei einem ausgiebigen Abendessen erörterten sie die Lage. Julia vertrat vehement die Ansicht, man solle alle ›Erd-Lösungen‹, bei denen es nur einen Sieger gab, fahren lassen und statt dessen die
›Mars-Lösung‹ favorisieren. Andererseits war es auch nicht möglich, die Wünsche der Erde völlig zu ignorieren. Schließlich waren sie darauf angewiesen, daß irgend jemand eine Rettungs-Mission organisierte.
Sie versprachen Axelrod, den Rettungsflug auf Aspekte zu durchforsten, von denen er profitieren würde.
»Fortsetzung des Dramas«, sagte Marc trocken. »Das kann er dann vermarkten.«
Schließlich bewogen sie sowohl Axelrod als auch Airbus zu der Einsicht, daß weder die Konsortiums-Besatzung noch Claudine die Atomrakete allein zu fliegen vermochten. Es würde keinen Sieger, sondern nur Verlierer geben. Axelrod und Airbus mußten eine einvernehmliche Lösung finden.
In einer spektakulären TriVid-Botschaft, die als Appell an die Weltöffentlichkeit gedacht war, präsentierten die fünf in einem gemeinsamen Auftritt der Erde ihre Lösung und erklärten, der wahre Mars-Preis bestünde in der Kooperation.
Sie übertrugen eine kleine Zeremonie, in der sie die Atomrakete auf ›The Spirit of Ares‹ umtauften. Sie füllten Viktors Wodkaflasche mit Schmelzwasser von den Pingos und ließen sie am Rumpf der Rakete zerschellen. Es schien zu funktionieren.
Doch das Tüpfelchen auf dem i fehlte noch. Über ihren Vater, der einzigen Strecke, die Axelrod nicht ›kreativ zu redigieren‹ vermochte, setzte Julia sich mit dem Mars-Vertragsgremium in Verbindung und legte ihm den Kompromiß in allen Einzelheiten dar: Der Rückflug war eine echte Gemeinschaftsaktion.
Während der nächsten zwei Tage saßen sie auf glühenden Kohlen.
Dann erklärte eine UN-Sonderkommission sich bereit, sich an der Finanzierung der Rettungsmission zu beteiligen.
Wieder einmal hatte Viktor recht behalten: was auf dem Mars, in der Wüstenei, so logisch und einfach erschien, erwies sich im blubbernden Medien-Sumpf der Erde als überaus kompliziert.
Der Mars war zu einem Rorschach-Test geworden. Jede Gruppierung, die glaubte, sich profilieren zu müssen, stürzte sich ins Getümmel. Religionsführer sagten, es sei moralisch bedenklich, daß drei unverheiratete Leute die Besatzung des Retour-Schiffs bildeten.
Die Gesellschaft zum Schutz des Mars, eine Fraktion des Tierschützer-Verbands, verlangte, daß sie den Landeplatz sterilisierten und den Planeten unverzüglich verließen. Die Terraform Today Society forderte die Vernichtung der Mars-Matte. Zwei Sekten – von denen die eine in Indien beheimatet war und die andere in Montana sich verschanzt hatte – wollten angesichts des bevorstehenden Ausbruchs einer Mars-Seuche kollektiven Selbstmord begehen.
»Sollen sie doch«, sagte Marc.
In der Rubrik ›Leserbriefe‹ der Medien entspann sich ein lebhafter Diskurs zwischen Personen, die zwar nicht die geringste Ahnung von der Materie hatten, sich aber um so detaillierter darüber ausließen. Die ganze Biographie der Besatzungsmitglieder kam nun auf den Seziertisch, ihre mißliche Lage wurde analysiert, unter philosophischen Gesichtspunkten betrachtet und immer wieder durchgekaut.
Julia gelangte in den darauffolgenden Wochen zu dem Schluß, daß sie und Viktor auf jeden Fall die bessere Wahl getroffen hatten. Sie würden auf dem Mars ihre Ruhe haben, während Claudine, Marc und Raoul nach der Rückkehr den Kopf in den Rachen des Medien-Löwen stecken mußten.