Kapitel 24
24. Januar 2018
Sie blieben nun doch nicht zum Mittagessen.
Die Rückfahrt war unerfreulich, und nicht nur deshalb, weil die Verpflegung aus den Notrationen bestand.
Nach Chens Ankündigung hatten sie keine Wahl gehabt. Viktor hatte sich geweigert, sich mit ›der Konkurrenz‹ an einen Tisch zu setzen und war mit seinen Leuten stolz aus dem Airbus-Schiff ausgezogen. Julia hätte eh keinen Bissen hinunterbekommen. Sie war mit kritischen Situationen immer überfordert – Gott sei Dank war Viktor der Kommandant. Er hatte nicht eine Minute lang gezögert.
Die Notrationen des Rover Boy bestanden aus Müsliriegeln und gezuckertem Wasser, das schon unter den günstigsten Umständen eine eklige Brühe war, doch nun herrschten eher widrige Umstände.
Den Transportbehälter mit vernünftigen Nahrungsmitteln hatte Raoul ausgeladen, weil er Platz für die Reparaturwerkstatt brauchte, die zum ERV transportiert werden mußte.
Sie schauten sich düster an und mampften vor sich hin. Jeder war so in Gedanken versunken, daß niemand außer Marc, der als Fahrer fungierte, einen Blick auf die im Schein der Nachmittagssonne liegende Landschaft warf. Der weiße Punkt von Phobos hing am östlichen Horizont. Julia saß auf dem Beifahrersitz, während die anderen beiden auf den hinteren Klappstühlen hockten.
»Bastarde«, sagte Raoul. »Stehlen unsere Ergebnisse …«
»Wir haben sie doch der ganzen Welt zugänglich gemacht«, sagte Julia. »Das Konsortium hat ein Vermögen mit dem Verkauf dieser Virtual Reality-Reisevideos verdient. Ich finde, in gewisser Weise geschieht es ihnen recht.«
»Nur daß wir die Zeche dafür zahlen«, sagte Marc zähneknirschend. »Und zwar doppelt.«
»Ja. Wir haben geschuftet wie die Brunnenputzer«, sagte Viktor.
»Und Chen weiß nun, wo er suchen muß und kann die Fundstellen der Reihe nach abklappern«, sagte Marc. »Wirklich toll.«
»Aber wir haben noch ein As im Ärmel«, sagte Julia. »Das Fumarolen-Leben.«
»Gott sei Dank haben wir das geheimgehalten«, sagte Marc.
Raouls Miene hellte sich auf. »Genau – das Mars-Vertrags-Gremium. Nach unsrer Rückkehr, selbst wenn wir nur Zweiter werden…«
»Dann lassen wir die Katze aus dem Sack und präsentieren ihnen richtige Lebensformen«, sagte Julia mit Elan. »Wir sagen, es würde nicht genügen, ein paar Gesteinsproben mitzubringen und die Mars-Matte zu ignorieren. Dann sagen wir noch, daß Airbus nur bei uns abgestaubt und überhaupt keine wissenschaftlichen Forschungen angestellt hat.«
»Genau, das ist nämlich der formelle Wortlaut der Verträge«, sagte Marc fröhlich. »… ›die gründliche Erforschung einer wissenschaftlich relevanten Landezone, insbesondere mit Blick auf die frühere oder gegenwärtige Existenz von Leben auf dem Mars‹. Airbus wird diese Bedingungen sicher nicht erfüllen.«
»Du hast dir den Text gemerkt«, sagte Julia lächelnd.
»Immerhin wird es einem mit dreißig Milliarden Mäusen vergolten, wenn man den Sermon beherzigt«, sagte Marc. »Da kannst du deinen Arsch drauf wetten, daß ich mir den Text gemerkt habe.«
Viktor nickte. »Gutes Argument. Leider gibt’s hier keine Rechtsanwälte. Wir wissen nicht, ob wir beim Gremium damit durchkommen.«
»Ich wette, daß sie es uns abkaufen werden«, sagte Marc.
»Ich würde es gern glauben«, sagte Viktor.
»Trotzdem müssen wir es noch geheimhalten«, sagte Raoul.
»Wir dürfen Airbus nicht den geringsten Hinweis auf die Fumarole geben.«
»Klarer Fall«, sagte Julia. »Vor einer Stunde hätte ich noch ganz anders geredet«, ergänzte sie, als sie Viktors erstaunten Blick sah.
»Damit sind die Bastarde weg vom Fenster«, sagte Raoul erfreut.
»Trotzdem stimmt etwas nicht«, sagte Julia.
»Es stimmt vieles nicht. Was genau?« fragte Viktor mit düsterem Blick.
»Sie wußten nicht, daß wir ein Wasserreservoir in der Nähe haben – daß es sich bei den Hügeln um Pingos handelt, habt ihr Jungs erst kurz vor ihrer Ankunft herausgefunden. Wo wollten sie also ursprünglich den Brennstoff für den Rückflug hernehmen?«
»Beim Start hatten sie den Plan, zum Nordpol zu fliegen und Eis abzubauen«, sagte Raoul. »Gerda hat mir gegenüber entsprechende Andeutungen gemacht. Der Atomreaktor liefert die Energie, die benötigt wird, um das Eis zu fördern, zu schmelzen und die Pumpen anzutreiben.«
»Aber die Arbeitsbedingungen sind hier günstiger«, sagte Viktor.
»Es ist wärmer, und sie kennen das Gelände. Damit sparen sie Zeit.
Sie schmelzen das Pingo-Eis und nehmen gleichzeitig Proben an den Stellen, die wir schon erkundet haben.«
»Schöner Zug, uns den Reparatursatz zu liefern«, sagte Julia.
»Wieso auch nicht?«, grummelte Marc. »Immerhin haben wir ihnen eine Brennstoffquelle erschlossen. Und ich hatte mich für so verdammt clever gehalten, als ich die Pingos anbohrte.«
»Oder doch etwas anderes …« Raoul starrte Löcher in die Luft.
»Wo sollte es sonst noch Brennstoff geben?«, fragte Viktor.
»Angenommen, sie setzen voraus, daß wir scheitern. Daß das ERV nicht fliegt. Dann könnten sie das Methan des ERV verwenden«, sagte Raoul bitter.
»Sehr nett«, sagte Julia resigniert. »Sie hatten einen ganzen Katalog von Strategien, und eine hat funktioniert.«
»Aber nur, wenn sie vor uns zurück sind«, sagte Raoul mit Nachdruck.
Schweigen. »Sind wir imstande, sie zu schlagen?«, fragte Viktor stirnrunzelnd.
»Möglicherweise. Wir sind zu sehr auf die Hohmann-Bahnen fixiert. Ich muß mich mit der Erde kurzschließen, um non-Hohmann-Optionen zu prüfen.«
»Es gibt doch eine ganze Reihe von Startdaten mit den dazugehörigen Delta-Vaus«, sagte Raoul. »Ich erinnere mich an eine entsprechende 3D-Grafik.«
»Es gibt unendlich viele Möglichkeiten«, sagte Viktor. »Vielleicht auch unendlich hoch unendlich. Ich bin kein Mathematiker.«
»Sie müssen eine große Menge Eis schmelzen und in die Tanks pumpen«, sagte Raoul. »Dann sind sie auf keinen Fall in der Lage, gleichzeitig genügend Proben zu sammeln.«
»In der Sardinenbüchse hatten sie aber ein halbes Jahr Zeit, nach einer Lösung zu suchen«, sagte Marc.
»Dann lassen wir es eben drauf ankommen«, sagte Viktor. »Mit der veralteten Technik einer chemischen Rakete nehmen wir den Kampf gegen eine moderne Atomrakete auf.«
»Chemische Raketen haben sich hundertfach bewährt«, sagte Raoul. »Sie sind zuverlässiger als alle anderen Systeme.«
»Auf lange Sicht«, sagte Viktor, »wird die Erforschung und Erschließung des Sonnensystems nur mit Atomraketen möglich sein.
Vor allem mit Blick auf die Ausbeutung der Asteroiden und den interplanetaren Gütertransport.«
Raoul runzelte die Stirn. »Ja, wird wohl stimmen. Aber die alte Technik sollte wenigstens dieses eine Mal sich noch durchsetzen.«
Alle nickten beifällig und mummelten ihre Riegel.
* * *
Als die Zubrin-Basis in Sicht kam, stülpten sie sich die Helme auf, streiften sich die Handschuhe über und trafen Vorbereitungen für den Ausstieg. Marc setzte Viktor und Raoul beim Dünenbuggy ab und fuhr anschließend mit Julia zur Luftschleuse des Habitats weiter.
Viktor und Raoul brachen zum ERV auf. Sie zogen eine staubige Schleppe hinter sich her, wobei die rostbraunen Partikel gemächlich zu Boden sanken.
Marc kam die undankbare Aufgabe zu, Axelrod von den Airbus-Plänen in Kenntnis zu setzen. »Obwohl er nicht überrascht sein wird«, prognostizierte Marc.
Während er die geologischen Proben für den Transport zum ERV zusammenpackte, hielt er über die offene Leitung den Kontakt mit Julia aufrecht. Diese Art der Bereitschaft war ein System, das seit langem angewandt wurde, wenn zwei Besatzungsmitglieder in geringer Entfernung voneinander arbeiteten.
»In Ordnung, ich setze mich in Frankensteins Treibhaus ab«, sagte sie, kurz bevor sie im Hautanzug das Habitat verließ.
Als sie ihr ›Luftschloß‹ betrat, stellte Julia erstaunt fest, daß die durchsichtigen Wände des Gewächshauses mit einer dünnen Schicht aus Kondenswasser überzogen waren. Verwirrt ging sie zur entgegengesetzten Schmalseite des Treibhauses, um die Regler zu kontrollieren. Die Heizung war aufgedreht. Natürlich! Sie nahm den Helm ab und wurde von einer warmen Brise umfächelt. Sie hatte die Heizung voll aufgedreht, damit sie bei der Arbeit nicht fror. Ich muß vergessen haben, sie gestern abend runterzudrehen. Ein Glück, daß wir die Stromrechnung nicht zahlen müssen. Trotzdem sollte ich heute daran denken. Dankbar entledigte sie sich des Parkas und der Überhandschuhe und deponierte die Kleidungsstücke sowie den Helm auf der Bank neben den Reglern. Wenn ich die Sachen wieder abhole, komme ich zwangsläufig an den Reglern vorbei, und dann fällt mir auch wieder ein, daß ich sie zurückstellen muß.
Sie sog die warme, feuchte Luft ein. Leben! Das einzige für Menschen zuträgliche Biosystem im Umkreis von hundert Millionen Meilen. Bevor sie zum kalten, trockenen Mars geflogen waren, hatte kein Mensch eine Ahnung gehabt, wie lebensfeindlich der Rest der Schöpfung überhaupt war. In diesem Raum, der sich an den Boden schmiegte, befand sich ein winziger Garten Eden. Die Feuchtigkeit erinnerte sie an den Abstieg in die Fumarole.
Sie ging zur Nebelkammer zurück. Das Innere war durchs Kondenswasser kaum zu erkennen, doch schien die Mars-Matte sich an der Treibhauswand entlangzuziehen. Interessant. Sie strebt dem Licht entgegen wie eine Pflanze. Nur daß der Vergleich mit einer Pflanze völlig fehlgeht; es ist ein Alien. Na gut, ich werde es später inspizieren. Mein Gott. Ich weiß plötzlich gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht.
Im Geiste erstellte sie einen Arbeitsplan. Wo das Fumarolen-Leben sich nun reproduzierte, mußte sie unter dem Mikroskop den Teilungsvorgang ermitteln und ermitteln, ob es nur Chromosomen besaß oder wirklich prokaryotisch(prokaryotisch: Einzeller ohne einen echten (von einer Membran eingehüllten) Zellkern. – Anm. d. Übers. ) war. Und dann gab es noch ein ganzes Maßnahmenbündel, anhand dessen man festzustellen vermochte, auf welche Umweltreize es reagierte …
Sie vermochte ihr Glück kaum zu fassen. Mit dieser Arbeit war sie nicht nur für Wochen, sondern auf Jahre hinaus ausgelastet! Sie seufzte. Falls sie bald starteten, um Airbus auf die Plätze zu verweisen, würde sie nach einem Weg suchen müssen, um die wertvollen Proben für mehr als ein halbes Jahr am Leben zu erhalten. Doch war dieses Problem noch nicht akut.
Heute würde sie sich mit der Frage beschäftigen, ob die Fumarole einen entfernten Verwandten beherbergte oder ein Alien.
Sie sichtete die Gen-Bibliothek. Sie umfaßte ein breites Spektrum von Organismen, die Ingredienzen, die irdisches Leben ergaben.
Die Vermutung lag nahe, daß Mars-Leben am ehesten den primitiven irdischen Anaeroben, den Archaebakterien gleichen würde – und zwar aus mehreren Gründen. Falls vor Urzeiten zwischen Erde und Mars wirklich ein Austausch von Leben stattgefunden hatte, hätten derartige Organismen auf beiden Planeten vertreten sein müssen. Schließlich hatten beide Welten in der Frühzeit ihrer Entstehungsgeschichte eine dichte CO2-Atmosphäre besessen.
Auf der Erde hatten photosynthesetreibende Bakterien -früher als Grünalgen bezeichnet – das CO2 aufgenommen und als Abfallprodukt Sauerstoff erzeugt. Und zwar mit solchem Erfolg, daß sie die Atmosphäre des Planeten verändert hatten. Nach ungefähr zwei Milliarden Jahren enthielt die Erdatmosphäre nur noch einen verschwindend geringen CO2-Anteil, doch dafür etwa zwanzig Prozent Sauerstoff. Bald darauf entstand vielzelliges Leben, dessen Lebenselixier der energiereiche Sauerstoff war.
Auf dem Mars indes hatte diese Revolution wahrscheinlich nie stattgefunden. Die Atmosphäre hatte sich schon vor dem Aufkommen des Photosynthese treibenden Lebens verflüchtigt. Als die Luft dünner wurde und die Temperatur abfiel, gefror das Oberflächenwasser erst und sublimierte dann.
Und Leben? Nun, es ging in den Untergrund – und hier war es, gedieh keinen Meter entfernt.
Viele Leute glaubten zu wissen, daß Leben nie eine Chance auf dem Mars gehabt hatte. – Setzen, Sechs! – Wie sah nun die wahre Geschichte des Mars-Lebens aus? Und wäre sie überhaupt in der Lage, sie in drei Wochen nachzuzeichnen? Oder in noch kürzerer Zeit?
Fang einfach an.
Sie wählte nach dem Zufallsprinzip jeweils ein Genom von drei verschiedenen Archaebakterien-Arten aus und widmete sich dann der Aufgabe, sie mit der gelösten Mars-Matten-DNA zu vergleichen.
Sie ging methodisch vor und glich das bauartbedingte Handicap des Handschuhkastens dadurch aus, indem sie langsam und gründlich arbeitete. Sie erinnerte sich an ein Poster im Büro eines Hochschuldozenten, der in ihren Augen ein richtiges Ekelpaket gewesen war. Unter der Abbildung eines Rhinozerosses standen die Worte
›Ich bin vielleicht langsam, aber ich habe immer recht‹.
Mit einem angreifenden Nashorn würde niemand sich anlegen – mit ihr schon. Sie durfte sich keinen Fehler erlauben.
Schließlich hatte sie die Protokolle vervollständigt und schob das erste präparierte Genom in den Scanner, der an ihren Computer angeschlossen war.
Die grafische Darstellung des Genoms erschien. Auf dem biologischen ›Spielbrett‹ leuchtete ein paarmal die fluoreszente Trefferanzeige auf. Bingo. Ein Abschnitt des Bretts war besonders lebendig.
Nachdem der Scanner die Untersuchung beendet hatte, speicherte sie die Ergebnisse ab, nahm die Probe heraus und legte die nächste ein. Das Muster glich dem ersten: ein paar verstreute Treffer und eine Konzentration in einem schmalen Bereich. Schließlich wurde die dritte Probe gelesen. Mal schau’n; irgendwo in diesem Programm gibt es eine Liste der Gene in diesem Feld …
Vierzig Prozent der archaebakteriellen Gene wiesen keine Ähnlichkeit mit den Genen des irdischen Lebens auf. Waren sie zu primitiv oder was?
Niemand vermochte es zu sagen. Dennoch waren sie in die Gen-Bibliothek aufgenommen worden.
Plötzlich wurde sie in der intensiven Konzentration gestört.
Was…?
Eine leichte Brise strich ihr durchs Haar. Gleichzeitig fielen ihr die Ohren zu.
Druckabfall? Macht die Schleusendichtung etwa schlapp?
»O nein – nicht jetzt!«
Dann kam die Ausbildung zum Tragen. Sie aktivierte das Mikrofon im Kragen des Hautanzugs. »Marc, ich habe hier einen Druckabfall.« Man mußte Probleme immer melden, auch wenn man zunächst nicht wußte, was überhaupt los war.
Er reagierte sofort. »Sprich weiter.«
Sie streifte die Innenhandschuhe ab und ließ den Blick schweifen.
Die Wärme und Feuchtigkeit hatten die Wände mit Kondensat überzogen. »Die Schleuse scheint unbeschädigt, aber …« Daß eine Dichtung defekt war, merkte man immer erst dann, wenn …
Die Brise frischte auf. Aber sie wehte nicht in Richtung der Schleuse. Der Luftzug kam von links oben.
Sie ging in die Hocke und schaute sich um. Das Gestell des Handschuhkastens war mit der Bank verschraubt; unter der Bank sah sie auch nichts. Der Dunst war angenehm warm, trübte aber den Blick.
Sie ging um den Hartplastik-Kasten herum. Mit der rechten Hand wischte sie den Beschlag ab und spähte ins Innere.
Hörte sie da etwa ein leises Pfeifen? »Ist vielleicht ein Mikrometeoriten-Einschlag. Ich versuche, das Leck zu finden …«
Sie erstarrte. Etwas wuchs senkrecht aus dem Boden der Kammer.
Ein fahles Gebilde, geriffelt wie Sellerie. Auf halber Höhe krümmte es sich – in Richtung der Wand des Handschuhkastens. Sie schaute auf die Dichtung zwischen dem Kasten und der Gewächshauswand.
Ein dünner Nebel hing dort in der Luft.
»Es hat den Anschein, als ob eine meiner Proben Amok läuft. Das Mars-Leben hat sich in der Ecke verkeilt, wo der Handschuhkasten…«
Das Pfeifen schwoll plötzlich zu einem Heulen an.
Vor Schreck wäre sie fast umgefallen. Der Wind zerzauste ihr das Haar. Er blies in Richtung der Wand. Die Ohren fielen ihr wieder zu.
»Verdammt! Das Leck wird größer.«
Nun sah sie es. Der Strunk ragte aus der Ecke, wo der Handschuhkasten mit der Wand abschloß. Er bewegte sich eindeutig und versuchte sich irgendwo hindurchzuzwängen.
Etwa in die Spalte?
Sie wollte nicht glauben, daß das Gebilde sich aus eigener Kraft bewegte.
Wieso wächst es auf den Rand zu?
Die Mars-Pflanze hatte den zähen Kunststoff durchbohrt und ragte nun ins Gewächshaus herein. Der Trieb war spitz und ledrig. Er war an der denkbar ungünstigsten Stelle durchgebrochen und war nun gleichzeitig dem Mars-Druck und der Gewächshaus-Atmosphäre ausgesetzt.
Impulsiv griff sie danach. Kalt, feucht, glitschig, zäh. Sie zog daran. Gummiartiger Widerstand.
»Versuche, das Leck zu flicken«, meldete sie.
Aber womit? Die Hand rutschte an der Pflanze ab, und Luft strömte aus. Mit der Hand vermochte sie das Leck jedenfalls nicht abzudichten.
Sie holte tief Luft. Versuchte es zumindest.
Der Zeitablauf verlangsamte sich. Das Blut pulsierte in den Ohren.
Sie ließ den Blick schweifen. Alle Pflanzen im Treibhaus wiegten sich im Wind. Die Ausrüstung …
Sie war auf der anderen Seite des Handschuhkastens. Zumal es ihr wahrscheinlich nicht gelingen würde, mit den Flicken, die sich im Werkzeugkasten befanden, diesen gezackten Riß abzudichten.
Der Wind heulte. Sie schnappte sich eine Probentasche und stopfte sie in die Ecke. Sie blieb stecken, dichtete den Riß aber nicht vollständig ab.
Das reicht nicht.
Sie sprang auf und ging um den Kasten herum. Marcs Stimme drang quäkend aus dem Lautsprecher. Die verdammten Probenbeutel wurden herumgewirbelt. Sie schnappte nach einem, erwischte ihn aber nicht. Die Ohren fielen ihr wieder zu.
Schließlich fing sie einen Beutel ein und ging zum Riß zurück. Sie stolperte über irgend etwas und verlangsamte den Schritt. Streckte den Arm aus, griff zu. Hand auf die Kante des Handschuhkastens.
Stützte sich ab und richtete sich auf. Machte weiter. Irgend etwas berührte sie leicht am Kopf.
Sie schaute auf. Die Decke kam herunter. Kein Druck mehr da, um sie oben zu halten.
Sie duckte sich und kämpfte sich zum Riß vor. Er glich einem aufgerissenen Maul, das Wutschreie ausstieß. Sie stopfte den Beutel ins Maul, aber …
Reicht nicht. Wo ist der Rest? … Die Luft strömt zu schnell aus.
Erst jetzt fiel ihr wieder der Helm ein.
Idiot! Wo hast du …
Als sie aufstand, versetzte die kollabierende schwere Plastikplane ihr einen Schlag ins Gesicht. Sie duckte sich, watschelte herum und versuchte sich zu erinnern, wo sie den Helm abgelegt hatte.
Üblicherweise an der Schleuse, auf der Werkbank.
Im Entengang bewegte sie sich darauf zu. Sie atmete schwer, doch sog sie keine Luft in die Lunge. Es dauerte eine Ewigkeit, die zehn Meter zu bewältigen. Die Decke drohte sie unter sich zu begraben.
Sie stieß die Plane weg, doch sie war erstaunlich schwer. Es gelang ihr mit Mühe und Not, sie um einen halben Meter anzuheben.
Wo ist der Helm?
Sie sah nichts im Dunst. Die Dichte nahm schnell ab, und Wasser kondensierte in dichten Wolken.
Sie blinzelte, um die Sicht zu klären. Die Augenlider sprachen träge an.
Erfrieren? Austrocknen?
Helm!
Die Idee kam ihr schlagartig, und sie wußte instinktiv, daß sie die Rettung bedeutete. Der Helm war irgendwo in der Nähe, doch hatte sie bereits das Gefühl, daß die Augen verklebten. Sie würde den Helm nicht rechtzeitig finden. Sie sah fast nichts mehr.
Muß ins Hab.
Die Schleuse ist gleich hier!
Sie rollte sich zur Seite. Der Rahmen der Schleuse war gut zu sehen. Sie tastete sich unter dem herabsinkenden Kunststoff vor.
Dort. Der Öffnungsmechanismus war einfach – ein Hebel. Sie zog daran.
Das Schott schwang auf, während der Druck im Gewächshaus stetig sank. Das Heulen verhallte, weil die Luft entwich, die den Schall getragen hatte. Ihr wurde die Luft nun auch knapp.
Sie kroch in den kleinen Schleusenbereich. Tastete fahrig nach dem Griff für das äußere Schleusenschott. Fand ihn. Zerrte daran.
Mit der Schulter stieß sie es auf. Vage erinnerte sie sich daran, was man ihr vor einer halben Ewigkeit über Druckabfall erzählt hatte.
Nicht die Luft anhalten.
Sie kam auf die Füße und drückte das Schott ganz auf. Es schien tonnenschwer.
Nun hörte sie gar nichts mehr. Doch das Herz hämmerte so stark, daß das Blut in den Ohren rauschte.
Man muß die Atemwege offenhalten, damit kein Druck sich aufbaut … so viel wußte sie noch. Sie öffnete den Mund, und ein Luftschwall entwich mit solcher Geschwindigkeit, daß sie es rauschen hörte.
Gleißendes Licht hüllte sie ein. Sie blinzelte wieder. Schien Sand in den Augen zu haben.
Die Sonne stand als lodernde Kugel am Horizont. Lanzen aus Licht trafen ihr Gesicht. Volle UV-Dosis. Saukalt.
Mit einer massiven Willensanstrengung rannte sie los. Das Prickeln im Gesicht breitete sich über den ganzen Körper aus, und ein Teil des Bewußtseins versuchte das Phänomen zu ergründen. Egal.
Im grellen Sonnenlicht traten die Konturen der Umgebung scharf hervor, was ihr die Orientierung erleichterte. Nun erkannte sie erst, wie stark die Optik des Mars durch den Helm gefiltert wurde.
Weiter. Die Beine wurden ihr schwer, und in der Kehle staute die Luft sich, die aus der Lunge drängte und als Dampfstrahl ausströmte. Die ausgestoßene Luft kondensierte sofort zu winzigen Kristallen, die im gleißenden Licht funkelten. Über dem zusammenfallenden Gewächshaus stand ein aufsteigender Pilz aus Wasserdampf, der sich in Schnee verwandelte.
Sie hatte noch immer das Gefühl, die Lunge sei mit Luft gefüllt.
Dabei faserten die letzten Luftschwaden gerade unter dem geringen Außendruck aus.
Sie steckte den Kurs ab. Zuerst ums Habitat herum.
Jeder Schritt schien eine Ewigkeit zu dauern.
Die Haut gibt einen recht guten Raumanzug ab, hatte ein Ausbilder einmal gesagt, irgendwo, irgendwann.
Der Druck war auch nicht das Problem. Der hämmernde Kopfschmerz beeinträchtigte zwar das Denkvermögen, doch bewirkte er auch, daß sie den Mund offenhielt. Mach dir die Gasgesetze zunutze.
Nachdem sie zehn Meter gegangen war, waren die Beine völlig taub. Sie stampfte mechanisch mit den Füßen auf den Boden. Während sie das Habitat umrundete, betrachtete sie mit einem Anflug von Neugier die Landschaft.
Die Details waren plastisch und scharf konturiert. Sie atmete noch immer aus. Ein Nebel hing ihr an den Lippen, in dem Eiskristalle schimmerten. Das Gesicht schmerzte. Die Lippen erfroren allmählich.
Ihr gelang ein letztes Blinzeln. Die Augenlider klappten herunter und verharrten in dieser Stellung. Sollte sie etwa blind weiterlaufen?
Stampf, stampf, stampf, ertönte aus der Ferne das Geräusch der Füße.
Was nun …? Halte die Augen geschlossen, damit die Hornhaut nicht erfriert.
Vielleicht frieren die Augenlider an der Hornhaut fest. Schwer, sie dann wieder zu öffnen.
Stampf, stampf.
Das Aufschlagen der Augenlider fiel ihr so schwer, als ob sie Gewichte gestemmt hätte. Irgendwo knirschte Sand in den Augen.
Sie hatte das Habitat fast zur Hälfte umrundet. Nun sah sie auch die Schleuse, die den Horizont ausfüllte wie ein unhaltbares Versprechen.
Sie stakste mit steifen Beinen weiter. Die Luft war aus ihr entwichen und hatte ein Vakuum zurückgelassen. Sie verspürte ein Kratzen im Hals und versuchte, einen letzten Rest von Luft auszustoßen, den ersten Schrei auf dem Mars, doch es kam nichts, rein gar nichts.
Die Schleuse. Sie sah sie auf sich zukommen, schwankend wie ein kleines Kind, das freudig auf sie zulief.
Die Knöpfe zeichneten sich klar und deutlich vor ihr ab, und nun mußte sie nur noch die Arme heben, um den grünen Knopf für die Schleusenöffnung zu drücken. Sie brauchte lang dafür, lang genug jedenfalls, um sich zu fragen, wieso selbst die kleinste Bewegung ihr so schwerfiel.
Die Arme drohten ihr den Dienst zu versagen. Plötzlich verengte das Blickfeld sich zu einem Tunnel aus diffusem Licht, der sie wie ein Taschenlampenstrahl leitete. In diesem Licht sah sie, wie die rechte Hand hochkam, nach dem Knopf suchte und ihn verfehlte.
Versuch’s nochmal. Kann doch nicht so schwer sein … wieder daneben…
Die Hand wollte nicht so, wie sie wollte.
Die andere nehmen? Nein, die wäre so bald nicht hier.
Etwas anderes. Bewegung. Nicht die Hand.
Die Schleuse.
Öffnete sich.
Noch dazu so schnell. Sie trat zurück, versuchte zu atmen und spürte, wie etwas in der Brust zersprang.
Marc. Er wirkte so groß im grünen Anzug.
Doch er kippte nach hinten und verschwand, und dann war da nur noch der Himmel. Fiel ihr auf den Kopf.
Ein dunkles Loch in der Oberseite. Schwarz auf pink. Wunderschön.