Kapitel 23

22. Januar 2018

Der nächste Arbeitstag war ebenfalls lang und anstrengend. Raoul und Viktor erneuerten jede nur mögliche Dichtung, überprüften jedes Ventil, kontrollierten die elektrischen Schnittstellen und prüften auch alle anderen Systeme gründlich durch.

Julia und Marc mußten sich wieder als ›Hilfsarbeiter‹ betätigen.

Nur daß Marc geradezu begierig schien, ihr einen Teil der Arbeit abzunehmen. Das versetzte Julia in die Lage, ein paar Stunden im Gewächshaus zu verbringen. Sie fragte Marc jedoch nicht nach dem Grund für seine Hilfsbereitschaft; allerdings vermutete sie, daß seine Sorge wegen des ERV das Interesse an der Fumarolen-Matte überwog. Vielleicht wollte er sich auch nur nützlich machen und dem zunehmenden Desinteresse entgegenwirken, das die anderen an seiner Arbeit zeigten.

Doch all diese Gedanken fielen von ihr ab, sobald sie das Gewächshaus betrat.

Die Mattenproben wuchsen tatsächlich. Die Stücke waren größer geworden und zusammengewachsen, bis sie fast die gesamte verfügbare Fläche bedeckten. Wo immer sie sich berührten, wuchsen sie nahtlos zusammen: ein erstaunlicher Vorgang, der gleichzeitig ein Indiz für ihre Komplexität war. Individuelle Bakterienkulturen wahrten nämlich Abstand zueinander, wogegen kultiviertes Gewebe von höheren Pflanzen und Tieren zusammenwuchs. In manchen Fällen ergaben sich sogar Hinweise auf komplexere Strukturen.

Ihr stand nun genügend Material zur Verfügung, um kompliziertere biochemische Untersuchungen durchzuführen. Vorsichtig schnitt sie ein Stück von der Matte ab und harrte irgendeiner Reaktion. Doch nichts geschah.

Sie fror Teile der Matte ein und schabte Fragmente ab, die sie dann biologisch anfärbte und unter dem Mikroskop untersuchte. Die Farben zeigten, daß die Grundbausteine des Lebens – Proteine, Lipide, Kohlenhydrate und Nukleinsäuren – mit denen des irdischen Lebens identisch waren oder zumindest eine solche Ähnlichkeit mit ihnen aufwiesen, daß sie auf die gleichen einfachen chemischen Tests ansprachen.

»In Ordnung!«

Allein das war schon ein großer Schritt. Obwohl die Biologen darauf gewettet hatten, Mars-Leben würde auf Kohlenstoffbasis existieren, hatten sie nicht mit letzter Sicherheit zu sagen vermocht, was man finden würde. Andere Wissenschaftler hatten spekuliert, Leben auf dem Mars sei siliziumgestützt oder es handele sich vielleicht sogar um eine Art von selbstorganisierendem mineralischem Leben.

Doch die bisherigen Ergebnisse waren nicht annähernd so spektakulär gewesen.

Eine sorgfältige Durchführung der Tests erforderte einen entsprechenden Zeitaufwand. Sie wollte gerade Feierabend machen, als sie den Dünenbuggy mit den Jungs vorbeiholpern sah.

* * *

Der nächste Tag war langweilig und aufregend zugleich: er wurde von sorgfältiger, bedächtiger Arbeit ausgefüllt, für die sie mit dem Anblick des schnell wachsenden und immer komplexer werdenden Biofilms belohnt wurde. In den Pausen sah sie durch die Kunststoffwände der Nebelkammer. Ich bin in einem Alien-Zoo, sagte sie sich.

Doch verspürte sie bei dem Gedanken keine Furcht, nur ein Gefühl des Wunders.

Sie war bereit für den nächsten Schritt: Herauszufinden, wie groß die genetische Übereinstimmung mit irdischem Leben war.

Sie arbeitete mit den Standard-Labortechniken und extrahierte etwas aus den Mikroben, das nach einer DNA aussah. Wie groß war nun die Ähnlichkeit zur irdischen DNA?

Die DNA besteht aus Aminosäuren, die Zelleiweiß bilden – sowohl für die strukturellen Komponenten der Zelle als auch für die Enzyme, die für das Funktionieren der Zelle verantwortlich sind.

Falls die Mars-DNA den gleichen Code wie die irdische DNA hatte, wäre das der Beweis für einen gemeinsamen Ursprung des Lebens.

Biotechnik mit dem Teststäbchen.

Sie traf Vorbereitungen für ein paar Vergleichstests, wobei sie sich der DNA irdischer Mikroben bediente, die sie mitgebracht hatte. Im Grunde mußte man nur die DNA-Doppelhelix durch Wärmezufuhr entwirren und die Suppe aus einzelnen Strängen mit einzelnen Strängen einer fremden DNA vermischen. Das abgekühlte Gemisch bestand dann aus Strängen, die eine solche Ähnlichkeit aufwiesen, daß eine Paarbildung möglich war.

Noch vor zehn Jahren hätte sie eine Reihe langwieriger Laborversuche durchführen müssen. Trotz der Routine, die sie in der Schule erworben hatte, würde sie im Gewächshaus unter schwierigen Bedingungen arbeiten.

Zum Glück hatten die Entwicklung einer neuen chipgestützten Technik und die komplementäre Theorie es ihr ermöglicht, eine Bibliothek zum Mars mitzunehmen, die, wie sie hoffte, eine repräsentative Auswahl von Genen irdischer Organismen enthielt. Besagte Bibliothek enthielt hauptsächlich Gene von Mikroben, wobei der Schwerpunkt auf primitiven Anaeroben, den Archaebakterien, lag.

Craig Venter, ein Biotech-Unternehmer vom Format eines Axelrod, hatte ein paar der kleinsten irdischen Mikroben sequenziert und bei ungefähr 300 Genen eine Übereinstimmung festgestellt. Er behauptete, dies sei das für Leben erforderliche Minimal-Genom.

Diese These war zwar nicht unumstritten, doch immerhin so plausibel, daß Julias Gen-Bibliothek auch Venters Auswahl enthielt.

Die neue Technik glich im Prinzip den simplen Schwangerschafts-Tests für den Hausgebrauch und den Glukose-Teststäbchen. Die unverwechselbaren Sequenzen der Mikroben-Gene wurden auf Glasplättchen aufgebracht, die ihrerseits rechteckig angeordnet waren.

Anschließend wurde jeder Träger mit einer fluoreszenten Markierung versehen.

Falls die Mars-Matten-DNA eine ähnliche Sequenz erkannte und eine Verbindung mit ihr einging, würde der Farbstoff fluoreszieren, worauf ein kleiner ladungsgekoppelter Detektor die Ergebnisse an Julias Computer übermittelte. Die ›Treffer‹ aus ähnlichen Sequenzen würden auf den konfigurierten Glasplättchen aufleuchten – vergleichbar mit ›Schiffeversenken‹. Die Anzahl der Treffer entsprach der Anzahl der Gene, welche die Mars-Matte mit irdischen Mikroben gemeinsam hatte.

Als sie an jenem Nachmittag den ersten Test durchführte – unter Verwendung von Venters 300 ›essentiellen‹ Genen –, erzielte sie 79 Treffer.

79 … welche Bewandtnis hatte es mit dieser Zahl?

Die Antwort war nicht eindeutig. Immerhin war die Anzahl der Paarbildung ein Indiz dafür, daß Leben auf beiden Planeten dasselbe Vier-Buchstaben-Alphabet benutzte und wahrscheinlich auch denselben Code.

Sie hätte sich zu gern mit Chen beraten oder ihrem alten Freund Joe Miller in Texas oder ihrem Vater. Im Alleingang eine Entdeckung dieser Größenordnung bearbeiten zu wollen, war verrückt.

Möglicherweise übersah sie etwas Wichtiges – bestimmt würde sie etwas übersehen.

Als die Beleuchtung sich automatisch einschaltete, schreckte sie auf. Die Dämmerung hatte schon eingesetzt, und sie würde im Temperatursturz zum Habitat zurückeilen müssen.

Der Rest mußte warten.

Während sie den Anzug anlegte, fühlte sie sich wie Viktor Frankenstein, der in der Abgeschiedenheit seines zugigen alten Schlosses irre Experimente anstellte. Doch hatte selbst Frankenstein noch Igor, mit dem er Gespräche führen konnte.

* * *

Als sie am Ende des Tages aus der Dusche kam, war Viktor im Gemeinschaftsbereich und hielt Zwiesprache mit dem Großbildschirm.

Sie hielt inne. Der Monitor zeigte rötliche Hügel, an denen die ersten, schräg einfallenden Sonnenstrahlen sich brachen. Im Vordergrund stand Lee Chen in einem himmelblauen Raumanzug.

»… haben interessante Auswüchse am östlichen Abhang gefunden. Wir sind weiter gegangen als ihr … eure Spuren waren noch zu sehen. Unser Ziel ist es, eine breitere Palette von Proben zu sammeln und auf euren bisherigen Erkenntnissen aufzubauen.« Chen ging langsam nach links und trat aus dem Blickfeld. Die Kamera folgte ihm. Julia sah den Schatten ihres Rovers.

»Sie benutzen unseren Übertragungssatelliten«, flüsterte Viktor ihr zu.

»Eine Abmachung mit Axelrod?«

»Oder mit der NASA. Ich weiß nicht, ob und an wen Axelrod die Rechte abgetreten hat.«

»… Gerda und ich werden in Kürze Bodenproben in einem Terrain nehmen, das dem gleicht, wo Marc und Julia Proben genommen haben. Ich beabsichtige, unabhängig von Ihnen die stratigraphische Dichte und die Datierung verschiedener Gesteinsformationen zu verifizieren.«

»Gute Idee«, sagte Julia und beugte sich in den Erfassungsbereich der Kamera. »Wir hatten uns schon gefragt, wieso wir euch nicht erreicht haben.«

Chen nickte. »Ein Übertragungsproblem. Ich hoffe, es ist nun gelöst.«

»Ihr drei seid für drei Tage draußen gewesen?«, fragte sie.

»Ja. Wir haben die Ausrüstung getestet. Weil wir uns über Satellit verständigen, arbeiten wir mit anderen Frequenzen als Sie.«

»Friert ihr euch wenigstens einen ab?« fragte Viktor sarkastisch.

»Wir gewöhnen uns dran. Die Temperaturschwankungen sind enorm. Im Schatten ist es immer kalt. Wenigstens kühlt die dünne Atmosphäre nicht so schnell aus wie der Boden.

Ich friere immer an den Füßen. Wie schützen Sie sich denn vor der Kälte?«

»Haben eine Heizung im Rover installiert«, sagte Viktor. »Und ihr solltet nun auch in euren Rover gehen. Ich würde von einer Betrachtung des Nachthimmels abraten.«

»Ein sehr guter Rat. Wir haben ihn letzte Nacht leider mißachtet; Claudine hat sich vielleicht Erfrierungen an einem Zeh zugezogen.«

»Autsch!« Viktor zuckte zusammen. »Ist mir in der ersten Woche auch passiert.«

»Aber ich rufe noch aus einem anderen Grund an«, sagte Chen.

»Wir werden morgen zum Schiff zurückkehren. Kommen Sie doch zum Mittagessen vorbei.«

»Danke. Wir werden kommen.« Viktor schaute über die Schulter.

»Ich sehe schon, daß nicht alle in der Lage sein werden, der Einladung zu folgen. Die Vorbereitungen für den Start …«

»Julia und ich werden auf jeden Fall kommen«, sagte Viktor. »Sollen wir etwas mitbringen?«

»Keine Sorge, wir haben genug zu essen.«

Sie tauschten noch ein paar Höflichkeiten aus, und dann brach Chen die Verbindung ab. »Was wollte er überhaupt?«, fragte Julia.

»Vielleicht fühlen sie sich einsam.«

»Oder sie wollen herausfinden, wie wir mit den Arbeiten am ERV vorankommen.«

Viktor grinste. »Auf der Erde werden Wetten in Höhe von mehreren Milliarden Dollar aufs ERV abgeschlossen, habe ich in den Nachrichten gehört.«

»Du meinst, an Axelrod vorbei?«

»Logisch. Ich wünschte, ich könnte selbst eine Wette plazieren.«

Sie erhaschte einen Blick auf seine schelmisch zuckenden Mundwinkel. »Du hast’s schon versucht, nicht wahr?«

»Wollte mein Bankguthaben an meine Mutter transferieren, damit sie die Wette für mich abschließt. Aber das sei nicht erlaubt, hieß es.«

»Axelrod?«

»Ich nehm’s an. Er will nicht, daß die Besatzung Wetten auf ihr eigenes Schicksal abschließt.«

»Würde aber für gute Publizität sorgen, wenn wir auf uns selbst wetten würden.«

»Trotzdem wundert es mich nicht. Schließlich kann er es nicht als Nachricht verkaufen.«

Sie küßte ihn flüchtig, als sie hörte, wie Marc und Raoul polternd in die Luftschleuse einstiegen. »Wenn wir erst einmal zurück sind, wirst du diesen Zynismus schon ablegen.«

»Das ist ein genetisches Merkmal der Russen.« Er ging in die Küche, um das Abendessen zuzubereiten.

»Ich komme gleich, um dir zur Hand zu gehen, alter Brummbär«, rief sie ihm nach.

Doch vorher sichtete sie die private Post, die sich in den letzten Tagen angesammelt hatte. Zuerst kam eine lange Nachricht von Mums und Dad. Ihre Eltern saßen auf der Wohnzimmercouch. Sie lächelten zwar, wirkten aber seltsam steif. Während sie die obligatorischen Begrüßungsformeln zur Kenntnis nahm, fühlte sie sich schuldig wegen der Drohung, die Bombe vom Fumarolen-Leben von ihnen zünden zu lassen. Familienangehörige als Sprachrohr zu benutzen, war geschmacklos, selbst wenn es vielleicht notwendig war. Sie hoffte, daß es nie dazu kommen würde.

Plötzlich wurde sie aus ihren Überlegungen gerissen und setzte sich kerzengerade hin. »… anscheinend ist es ziemlich ernst«, sagte ihr Vater in seiner nüchternen Art.

Sie schaltete auf Rücklauf. Was hatte sie im Tagtraum verpaßt?

»Wir wollten, daß du es von uns erfährst und nicht über die Medien, falls die Wind davon bekommen. Das verdammte Virus hat nochmal zugeschlagen, und diesmal ist es anscheinend ziemlich ernst. Es hat sich in der Leber eingenistet und Krebs verursacht. In dieser Hinsicht ist die Erkrankung mit Hepatitis 4 zu vergleichen, nur daß sie viel schneller abläuft. Ich weiß nicht, inwieweit du über Leberkrebs Bescheid weißt. Die Ärzte sagen jedenfalls, daß kein räumlich begrenzter Tumor entstünde. Das Virus streut im ganzen Lebergewebe, so daß die Behandlung erschwert wird. Die Behandlungsmethoden sind nicht sehr angenehm: Chemotherapie, Bestrahlung, Lebertransplantation. Ich werde zunächst nichts unternehmen, sondern mich erst nach anderen Therapiemöglichkeiten erkundigen.« Er holte tief Luft, als ob er erschöpft wäre. »Tut mir leid, daß ich dich damit überfalle, wo du eh schon genug Probleme hast; aber Robbie und ich hielten es für angebracht, dir die ungeschminkte Wahrheit zu sagen.« Er lächelte matt und sank in die Kissen zurück.

Sie hielt das Band an und schaute aufs Sendedatum: vor zwei Tagen! Mein Gott. Sie wurde von einem Gefühl der Reue überwältigt.

Die Dinge hier haben mich so in Anspruch genommen … sie müssen glauben, es interessiert mich überhaupt nicht.

Sie blinzelte und fühlte einen fast körperlichen Schmerz bei der Vorstellung, daß ihre Eltern diese Sache allein durchstehen mußten.

Bill war tot, und sie war viele Millionen Kilometer entfernt. Würde sie rechtzeitig zurück sein?

Ohne sich den Rest der Nachricht anzusehen, von der sie annahm, daß sie mit ›interessanten‹ Meldungen gespickt war, sendete sie einen kurzen Gruß mit besten Wünschen und dem Versprechen, daß bald eine längere Botschaft folgen würde. Sie verspürte den Drang, ihnen von der Mars-Matte zu berichten, damit sie auf andere Gedanken kamen. Muß Axelrod bitten, daß er mir eine abhörsichere Verbindung schaltet; dann werde ich es ihnen sagen.

In ihr tobte ein emotionaler Sturm. Sie lehnte sich zurück, ordnete in einer Willensanstrengung die Gedanken und entspannte sich. Auf dem Bildschirm sah sie, daß die Dunkelheit schnell hereinbrach. Sie schaltete auf die rückwärtige Kamera, um sich den Sonnenuntergang anzusehen. Es hatte ihr immer Freude bereitet, den Sonnenuntergang auf der Erde zu betrachten; sie hatte sogar das Auto geparkt und gebannt zugeschaut, wenn ein besonders schönes Farbenspiel stattfand. Hier auf dem Mars setzte sie diese Tradition fort – wenn möglich, gemeinsam mit Viktor. Das war einer der beschaulichen Momente, die sie miteinander teilten. Raoul und Marc indes schienen kein Auge dafür zu haben.

An diesem Abend handelte es sich um einen ›Standard-Sonnenuntergang‹ – gelbe Sonne an stahlgrauem Himmel. Der Sonnenuntergang auf der Erde war flammend rot, doch auf dem Mars wich das Rot des Tages in der Dämmerung oft einem blauen Himmel. Sie starrte auf den Bildschirm, bis er schwarz wurde und schaltete dann zögerlich ab. Falls der Triebwerkstest erfolgreich verlief, hätte sie wohl die meisten Sonnenuntergänge auf dem Mars gesehen.

Sie schwankte zwischen dem Wunsch, hierzubleiben und zur Erde zurückzukehren. Der Abschied würde ihr schwerfallen, denn sie wußte, es wäre für immer. Sie hörte, wie Viktor eine Tür weiter in der Küche mit dem Geschirr klapperte. Trotz der körperlichen Anstrengungen und der bescheidenen Lebensverhältnisse war sie hier glücklich gewesen.

Zum Glück liegt die Entscheidung nicht bei mir.

Sie ging in die Küche und schnetzelte blindwütig den Kohlkopf.

* * *

»Wir können uns vor gesellschaftlichen Verpflichtungen kaum noch retten«, sagte Julia, während sie sich dem Aufzug des Airbus-Schiffs näherten. Der Name des Schiffs, Valkyrie, prangte in großen xenonblauen Lettern an der blütenweißen Hülle.

»Falls wir uns überhaupt dafür revanchieren müssen«, sagte Viktor, »dann erst wieder auf der Erde.«

»Wollen wir schon so bald starten?«, fragte Marc, wobei er vernehmlich ins Anzugmikro schnaufte.

»Ich schätze, daß wir in drei Wochen den Spielraum haben«, sagte Viktor.

»Ich bin zum gleichen Ergebnis gelangt«, sagte Raoul. »Bei diesem frühen Startdatum müssen wir uns ranhalten, aber …«

»Toll! Endlich nach Hause.« Marc strahlte übers ganze Gesicht, während sie die Fahrstuhltür schlossen und nach oben fuhren.

»Kein Wort davon beim Essen«, befahl Viktor und ließ den Blick über seine Leute schweifen.

»Logo. Schließlich erfolgt der Start auch erst nach dem Essen«, sagte Marc launig.

»Wir sind hier, um uns schlau zu machen«, sagte Viktor bedächtig.

»Ich wäre am liebsten gar nicht hier«, nölte Raoul.

»Vergiß die Arbeit für ‘ne Weile«, sagte Viktor. »Gut für die geistige Gesundheit.«

»Was meint ihr: ob sie auch geistige Getränke haben?« Marc war noch immer in Hochstimmung wegen der guten Nachricht.

»Wir haben selbst noch Alkohol«, sagte Julia.

Es war irgendwie typisch für Viktor, Marc die Neuigkeit mitzuteilen, bevor sie in die heikle Diskussion mit der Airbus-Besatzung eintraten. Er folgte der – vielleicht typisch russischen – Theorie, daß die Leute die besten Leistungen erbrachten, wenn sie mit einer kurzfristigen Herausforderung konfrontiert wurden. Vielleicht bereitete es ihm auch nur Vergnügen, gelegentlich an den Ketten der Leute zu zerren – schließlich ist niemand vollkommen.

»Ja, aber nach dem Start machen wir Halligalli«, sagte Marc. »Deshalb sollten wir unsre Vorräte schonen und ihre wegsaufen.«

»Nach dem Essen muß aber noch jemand zurückfahren«, gab Raoul zu bedenken.

»Wen ernennen wir also zum Chauffeur?«, fragte Marc mit einem Grinsen.

»Es wird überhaupt niemand trinken«, sagte Viktor. »Wir haben heute noch zu arbeiten. Und ich will vermeiden, daß jemand sich verplappert.«

Sie nickten; nur Marc grinste noch immer blöde. Die Airbus-Schleuse war eng, und es war nur ein Schlauch vorhanden, mit dem sie nacheinander die Anzüge abspülten. Julia betrat die Quartiere als erste. Chen empfing sie wieder mit Pflaumenwein. Sie hatte ihr Glas schon in der Hand, als Viktor hereinkam. Die anderen nahmen höflich ihre Gläser entgegen, tranken aber noch nicht. Sie indes schüttete den Inhalt ihres Glases sofort hinunter, was Viktor mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis nahm. Sie schenkte ihm ein kokettes Lächeln. Marc sah das und nahm seinerseits einen Schluck. Die Disziplin ließ bedenklich nach.

»Wir haben ein kleines Mittagessen angerichtet«, sagte Chen und geleitete sie in die winzige Messe. Nur daß keine Speisen zu sehen waren. »Doch zuvor …«

Er führte sie in den Laderaum. Dort posierten Gerda und Claudine neben …

»Trailblazer!« Dort stand das Modell 2009, ein als Rover und Prospektor verwendbares Mehrzweckfahrzeug. Das Gerät wies die starken Verschleißspuren eines fast zehnjährigen Einsatzes auf. Julia bückte sich impulsiv und berührte das Fahrzeug.

Nach der Landung im Jahr 2009 hatte es einen großen Teil des Gusev-Kraters erkundet und den menschlichen Forschern den Weg bereitet. Bei ihrer Ankunft war das Fahrzeug noch immer einsatzbereit gewesen. Julia hatte vom Habitat aus weitere Exkursionen damit unternommen, bis das Gerät nahe des sechzig Kilometer entfernten nördlichen Kraterrands den Geist aufgegeben hatte.

»Wir sind quasi darüber gestolpert«, sagte Gerda, »und haben es mitgenommen.«

»Um es zu reparieren?«, fragte Raoul irritiert.

»Nein, als Andenken«, sagte Claudine.

Julia runzelte die Stirn. »Wollt ihr es etwa zur Erde mitnehmen?«

»Wir haben es schon an einen Sammler verkauft«, sagte Gerda.

»Ihr wollt es über die ganze Distanz mitschleppen …« Viktor schüttelte perplex den Kopf. »Euer Kontrollzentrum muß was an der Waffel haben.«

Chen strich über die verschlissenen Sonnensegel des Trailblazer.

»Darüber hinaus erteilt das Fahrzeug uns Aufschluß über die hiesigen Witterungsbedingungen.«

»Ihr werdet ohnehin reichlich Zeit haben, um das Wetter zu beobachten«, sagte Marc sardonisch.

Chen blinzelte und kniff indigniert die Lippen zusammen. »Nicht so viel wie Sie.«

Julia hatte lang genug mit Chen zusammengearbeitet, um seine Stimmung zu spüren. »Ihr wollt euch die Zeit mit biologischen Forschungen vertreiben? Aber ihr seid doch nur zu dritt …«

»Nein«, sagte Chen und drehte sich zu ihr um. »Obwohl ich das gern in allen Einzelheiten mit Ihnen besprechen würde. Ich habe eine Laborausrüstung mitgebracht, die zum Teil im Licht Ihrer Forschungsergebnisse konzipiert wurde. Insbesondere werde ich die fossilen Zellen untersuchen und hoffe, daß ich noch viel mehr davon finde.«

Julia bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Es würde sie schwer ankommen, mit Chen Fachgespräche zu führen, wo sie ein ganzes Gewächshaus mit dem Originalzeug hatte – und es mit keinem Wort erwähnen durfte. Das tat weh! »Auf diese Art werden wir die Geschichte des Lebens auf dem Mars nachzeichnen.«

»Wir haben die ersten Tage mit der Sammlung von Proben und ein paar Flachbohrungen verbracht«, sagte Gerda. »Ihre Berichte waren korrekt. Die Anzüge sind bei der Arbeit nur hinderlich.«

»Wartet ab, bis ihr Schwielen an Körperteilen bekommt, wo ihr es nie erwartet hättet«, sagte Marc zu Claudine. »Diese Anzüge sind mörderisch.«

»Ich bin für jeden Hinweis dankbar, wie das zu vermeiden wäre«, versicherte Claudine mit sanfter Stimme.

»Wir nehmen an, daß wir den Umfang des Gusev-Kraters in vielleicht einer Woche abgefahren haben«, sagte Chen. »Wir werden alle zehn Kilometer Proben aus den Kraterwänden nehmen.«

»Ihr habt meine topographischen Karten gesehen, nicht wahr?«

fragte Marc. »Wenn ihr zwischen meinen Löchern bohrt, werden wir ein besseres Proben-Gitter erhalten.«

Viktor musterte noch immer mit gerunzelter Stirn den Trailblazer.

»Ja, wir wären in der Lage, komplementäre Methoden zu entwickeln und zu kooperieren.«

»Während unsres sechzigtägigen Aufenthalts wird es uns höchstens gelingen, Ihre Grundlagenforschung mit ein paar Details anzureichern …«

»Sechzig Tage?«, sagte Viktor.

»Wir werden am Ende des Rückkehr-Fensters starten.«

»Euch schwebt eine andere Trajektorien-Klasse vor?«, fragte Viktor.

Noch bevor Chen zu sprechen anhob, sah sie die Antwort in seinem Pokergesicht. Er musterte Viktor wie eine Labor-Probe. »Ja, eine beschleunigte. Schneller als Ihre Hohmann-Trajektorie.«

Im langen Schweigen, das darauf folgte, erinnerte sie sich an die verlegene Stille vor ein paar Tagen, die nur von unterdrücktem Gekicher durchbrochen worden war. Nun beäugten alle sieben sich, während sie die Tragweite der Worte erfaßten. Zorn funkelte in Viktors Augen, Marc war vor Erstaunen die Kinnlade heruntergefallen, und Raoul hatte die Lippen zu einer schmalen Kurve zusammengepreßt. Die Airbus-Frauen gaben sich ruhig und unbeteiligt.

»Ihr wollt uns abhängen«, sagte Raoul laut.

»Sie wußten doch, daß es sich um ein Rennen handelt«, sagte Chen.

»Aber der Mars-Vertrag!« platzte Julia heraus. »Es wird euch nie gelingen, unsere Studien in Breite und Tiefe zu übertreffen! Wir haben ein paar hundert Kilo …«

»Ist natürlich alles von unschätzbarem Wert«, sagte Chen bräsig.

»Versteht sich, daß wir uns überwiegend auf Ihre Berichte stützen werden.«

»Wie? Was?«, blubberte Marc. »Ihr …«

»Wir werden die Orte aufsuchen, deren Ergiebigkeit Sie am höchsten eingeschätzt haben«, sagte Gerda langsam und formell. »Die gleichzeitige Probenentnahme an benachbarten Orten wird Ihre Arbeit verifizieren und ein interessantes Spektrum von …«

»Verifizieren?« Julias Gedanken jagten sich. »Der Mars-Vertrag verlangt aber eine Menge repräsentativer Proben und einen Querschnitt …«

»Wir glauben, es wird uns gelingen, das Vertrags-Gremium davon zu überzeugen, daß wir den Mindestanforderungen genügt haben«, sagte Gerda süffisant.

Sie haben das geprobt, sagte Julia sich. Die Atmosphäre im Raum war so gespannt, daß sie es schon knistern hörte. »Verdammt, das ergibt doch gar keinen Sinn. In der Gegend rumrennen und ein paar Brocken grapschen …«

»Ach«, sagte Gerda. »Aber wir haben Ihre gründliche Arbeit als Vorlage. Binnen zwei Tagen waren wir in der Lage, einen hinreichenden Teil der geologischen …«

»Ihr tretet in unsre Fußstapfen!«, rief Marc.

»Natürlich«, sagte Gerda in dem Bürokraten-Tonfall, der Julia allmählich auf die Nerven ging. Wo sie noch dazu in diesem engen Raum eingepfercht war und vor Wut kochte … Gerda hob in belehrender Manier den Zeigefinger. »Es ist keineswegs zu beanstanden, daß die Wissenschaft auf der Arbeit von …«

»Das hat mit Wissenschaft nichts zu tun!«, explodierte Viktor.

»Es ist ein gottverdammtes Wettrennen!«, vollendete Raoul den Zirkelschluß.

»Und ihr wollt abstauben«, sagte Julia, »unsre Fundstellen ausbeuten und zur Erde zurückflitzen. Niemand hätte das für möglich gehalten, denn wir haben hier echte Forschungsarbeit geleistet und …

und …« Sie keuchte und wurde sich plötzlich bewußt, daß sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.

»Wir werden den Mindestanforderungen genügen«, sagte Gerda.

»Allen Anwesenden müßte hinlänglich bekannt sein, daß die Bestimmungen des Mars-Vertrags während Ihres Aufenthalts hier ein paarmal … äh … neu interpretiert worden sind, um Ihr Arbeitspensum zu steigern. Das Vertrags-Gremium ist wohl zu gierig geworden. Wir beabsichtigen indes, die ursprünglichen Leistungsnormen zu erfüllen und die Revisionen gegebenenfalls vor Gericht anzufechten.«

Sie ist keine Ingenieurin, sondern eine gottverdammte Anwältin, sagte Julia sich benebelt.

»Ihr wärt dazu nicht in der Lage«, sagte Viktor mit belegter Stimme, »wenn ihr kein Eis unter den Pingos gefunden hättet.«

Chen hatte sich in den letzten Minuten zurückgehalten und Gerda die Initiative überlassen; offensichtlich war das auch abgesprochen.

»Das war der Durchbruch, auf den wir so lang gehofft hatten«, sagte er nun. »Ursprünglich hatten wir nämlich geplant, zum Nordpol zu fliegen und den Schnee zu verarbeiten. Allerdings hätten wir in der Kälte unter erschwerten Bedingungen gearbeitet. Die korrekte Durchführung der wissenschaftlichen Studien hätte viel mehr Zeit in Anspruch genommen. Doch nachdem Sie die Pingo-Hügel entdeckt und die Dicke der Eisschicht gemessen hatten – ja, das hat uns rausgerissen.«

Als Marc mit der Faust gegen ein Schott hieb, schreckten alle auf.

»Ich habe den Weg für euch bereitet.«

»Ich wünschte, wir alle würden die Sache vom Standpunkt eines Wissenschaftlers aus betrachten«, sagte Chen mit einem falschen Lächeln.

Plötzlich traf Julia die Erkenntnis, daß es für Chen ein innerer Vorbeimarsch war, Marc zu reizen. Er weidet sich daran. Er hegt noch immer einen Groll gegen Marc, weil er zum Konsortium zurückgegangen ist, erkannte sie.

»Ein paar von uns sind Ingenieure«, sagte Viktor mit einem sonderbaren Unterton. »Piloten sind auch dabei.«

Chen nickte nachdenklich. »Wir wollen Ihnen auch nicht den Ruhm streitig machen, die Ersten gewesen zu sein.«

»Euch genügt’s, wenn ihr als Erste zurückkehrt«, sagte Julia schroff.

»Nun ja«, konzedierte Chen leutselig. »Wir werden den Mars-Preis gewinnen. Ein Rennen gewinnt in der Regel der Schnellste. Mit diesem Ergebnis haben Sie doch aber bestimmt schon gerechnet.«