Kapitel 22
21. Januar 2018
Die Mahlzeiten wurden nach einem Tag im ›Außendienst‹ regelrecht zelebriert. Marc hatte ein delikates Fleischgericht mit Gewächshauserzeugnissen kreiert, eine Variante seines Mars-Gulaschs, das inzwischen Berühmtheit erlangt hatte. Das Originalrezept war auf beiden Planeten ein großer Erfolg geworden. Millionen Menschen goutierten es regelmäßig und verlangten nach einem Nachschlag. Das Kochbuch ›Rezepte vom Mars‹, das die Besatzung daraufhin herausgegeben hatte, fand reißenden Absatz. Es war Teil des Mars-Fiebers, das die Erde seit dem Beginn der Mission gepackt hatte. Der Witz dabei war, daß die meisten Rezepte von den Müttern der Besatzungsmitglieder stammten und von den Ernährungswissenschaftlern der NASA leicht modifiziert worden waren.
Die ersten zehn Minuten verstrichen, indem sie dem Koch mit vollem Mund Komplimente machten.
»Hört mal«, sagte sie, um ›Butter bei die Fische‹ zu tun, »ich frage mich, wie wir die Entdeckung in der Fumarole am besten verkaufen.«
»Sollen die Leute vom alten Axelrod sich doch drum kümmern«, sagte Marc.
»Man muß es richtig anstellen, sonst werden noch mehr Märchen in Umlauf gebracht«, sagte Viktor.
»Du meinst, noch schlimmere, als über dich schon kursieren?«
fragte Raoul grinsend. »RUSSE MACHT DIAMANTMINE AUF.«
»ALTEN ÄGYPTISCHEN TEMPEL GEFUNDEN! nicht zu vergessen«, ergänzte Marc.
Raoul schüttelte ungläubig den Kopf. »Nachdem du und Julia diese fossilen Zellen ausgegraben hattet, wurden DINOSAURIERKNOCHEN IM MARSGESTEIN gefunden.«
»Natürlich wurde sofort die ENTDECKUNG VON DINOSAURIERN AUF DEM MARS nachgeschoben«, sagte Viktor.
»Das war die Sensationspresse«, sagte Marc. »Medien-Müll. Aber die Tokyo Times brachte unter der Schlagzeile SANDSKI AUF MARSHÄNGEN einen großen Artikel mit Bildern. Sie waren alle von der Aufnahme meines Sturzes abgeleitet! Man hatte die Aufnahmen digital nachbearbeitet, mir virtuelle Skier unter die Füße geschnallt und die Bilder veröffentlicht.«
»Nicht zu vergessen die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die einen METEOR-HAGEL! meldete, als wir ein winziges Leck hatten«, sagte Raoul.
»Die Rundfunkstationen spielten das Geräusch tagelang ab«, erinnerte Julia sich, »und dann komponierte irgend jemand aus diesem Pfeifen einen Soundtrack für einen Popsong und zahlte Axelrod Tantiemen.«
Viktor nickte. »Mit der Meldung MARSBEBEN hat er aber kein Geld verdient. Lag wohl daran, daß es gar kein Beben gegeben hat.«
»Mit der Wahrheit nehmen sie es nicht so genau«, sagte Raoul.
»Habt ihr schon DAS ERSTE MARS-BABY UNTERWEGS? vergessen?«
Julia lachte. »Das war vor ABTREIBUNG SPALTET MARSEHEPAAR.«
»Danach kam SCHEIDUNG AUF DEM MARS? DAS KONSORTIUM GIBT KEINEN KOMMENTAR«, sagte Viktor.
»Jeder von uns hat sein Fett abgekriegt«, sagte Marc. »FLOTTER
DREIER IM GUSEV-KRATER, titelte ein chinesisches Käseblatt.«
Raoul schnitt eine Grimasse. »Es nimmt kein Ende. Letzte Woche sah mein Medien-Resümee so aus: KONSORTIUM AN AIRBUS:
›WIR WERDEN EUCH ABSCHIESSEN‹ und ATOMRAKETE STERILISIERT AIRBUS-BESATZUNG. Und das war, nachdem mein Text-Editor den meisten Müll schon eliminiert hatte.«
»Wie will ein Programm Unsinn erkennen?«, fragte Julia.
»Oder die Öffentlichkeit? Nachdem Marc Eis gefunden hatte, meldete eine vermeintlich respektable Show VERSCHÜTTETE ALTE KANÄLE ENTDECKT. Die Wissenschaft wird wie Knetmasse behandelt.«
»Axelrod hat mir einmal gesagt, Zeitungsartikel seien der Waschzettel der Geschichtsbücher«, sagte Raoul. »Ich hoffe, das gilt nicht auch für uns.«
»Unsere Welt leidet an Reizarmut«, konstatierte Viktor nüchtern.
»Deshalb erfindet man Dinge hinzu.«
Julia nickte beifällig. »Sie haben die üblichen Kriege und Skandale, Feierlichkeiten und Katastrophen. Aber was sollen sie tun? Vielleicht den Rekord beim Hundertmeter-Lauf um ein paar Hundertstel Sekunden überbieten, wofür sie ihre ganze Jugend dem Training opfern. Oder als Hundertster einen hohen Berg besteigen – muß gar nicht mal der Everest sein, denn dessen Gipfel ist heute längst eine Müllkippe. Die meisten Einwohner der Industrieländer hocken heute zuhause und lassen das 21. Jahrhunderte auf dem Bildschirm an sich vorbeiziehen.«
»Wir nicht«, sagte Marc leise.
»Gott sei Dank!«, sagte Julia. »Vielleicht hat durch den langen Aufenthalt hier mein Blick sich geschärft, aber die meisten Lebensläufe sind doch so trivial.«
»Hier nicht«, sagte Raoul. »Hier ist das Leben ein einziger Kampf.«
»Und wir kämpfen darum, es hinter uns zu lassen«, sagte Viktor.
Für eine Weile aßen sie schweigend, wobei Julia noch immer in Gedanken versunken war. Dann legte Marc Mozart auf, der als Erkennungsmelodie für den Nachtisch galt. Es gab Erdbeertörtchen, ihr Lieblings-Dessert. Nachdem das Gehirn die Kontrolle über den Magen zurückerlangt hatte, schaute sie zu Raoul hinüber. An seinem abgespannten und ernsten Gesicht erkannte sie, daß er einen langen Tag hinter sich hatte und in Gedanken woanders war. Gerade weil es ein so heikles Thema war, hatte niemand die Reparaturarbeiten erwähnt.
»Wir sollten uns mal die neusten Nachrichten von der Erde ansehen«, sagte Raoul, als sie kurz davorstanden, die Tafel aufzuheben.
»Verschon mich damit«, sagte Viktor. »Du guckst, und ich lege mich hin.«
»Nein, ich habe die Nachrichten aufgenommen. Sie sind wichtig.«
Sie versammelten sich um den großen Bildschirm. Julia und Marc hatten die obligatorische Story des ersten ›gesellschaftlichen Anrufs‹ vom Mars samt Bildmaterial verfaßt. Der erste Teil des Überrang-Videos war eine gestraffte, redigierte und grafisch optimierte Version.
Raoul wollte es im Schnelldurchlauf abhandeln, doch die anderen wollten sehen, wie sie auf dem Video rauskamen – natürlich nicht schlecht, wobei der Schwerpunkt eher auf den strahlenden Gesichtern als auf den dampfenden Pingos lag.
Dann erschien ein besorgter Axelrod. Das Marine-Jacket war etwas zerknittert, und er schaute betrübt.
»Ihr habt eine Top-Reportage über das Treffen mit Airbus gebracht. Aber wir brauchen noch eine Prognose bezüglich ihrer Pläne. Werden sie es schaffen, die Erkundung in ein paar Monaten abzuschließen? Ich meine, wie lang wird es dauern, bis sie das ganze Eis geschmolzen und in die Tanks gepumpt haben? Raoul und Viktor, unsre Ingenieure müssen wissen, wie ihr die Airbus-Kapazitäten einschätzt.«
»Können vor Lachen«, sagte Viktor zum Bildschirm, ohne daß der jedoch geantwortet hätte. »Wir haben weder Pumpen noch Schläuche und auch keine Grubenausrüstung gesehen.«
»Sag ihm, er soll seine Schlapphüte darauf ansetzen«, warf Marc ein.
»… und achtet darauf, wie sie sich einrichten. Ich meine, stellen sie eins von diesen aufblasbaren Habitaten auf, von denen wir gehört haben?« Axelrod blendete auf dem Bildschirm Fotos von Versuchen mit aufblasbaren Habitaten ein, von denen eins sogar in den Orbit geschickt worden war.
»Keine zehn Pferde werden mich in so ein Ding bringen«, sagte Raoul. »Kein Strahlungsschutz.« Er hatte schon am ersten Tag nach der Landung darauf bestanden, das Dach des Habitats mit Sandsäcken zu belegen. Um die Schutzwirkung zu erhöhen, hingen auch Säcke von der Traufe herunter. Viktor hatte das Julia damit erklärt, daß Raoul noch ein paar Kinder haben wollte.
»… und auf ihre Vorräte. Ich und meine Leute, wir fragen uns nämlich, ob Airbus euch vielleicht im Endspurt packen will. Sie starten einen oder zwei Monate nach euch und überholen euch auf dem letzten Stück. Mit ausreichend Wasser, sagen meine Ingenieure, würden sie es vielleicht schaffen.«
»Unmöglich«, sagte Raoul. »Sie haben vielleicht das Tankvolumen, aber sie werden es nie schaffen, das Eis in der erforderlichen Zeit abzubauen. Das ist eine mühsame Arbeit.«
»… deshalb sind wir auch darauf angewiesen, daß ihr uns alles sagt, was ihr wißt. Stattet ihnen einen Besuch ab und schnüffelt ein wenig rum. Ladet sie ins Hab ein und serviert ihnen ein üppiges Essen mit allem Drum und Dran. Gebt ihnen vielleicht noch den Rest von eurem Sprit, um ihnen die Zunge zu lockern. Ich würde sagen, ladet sie einzeln ein, damit Chen sie nicht die ganze Zeit im Auge hat.« Axelrod lächelte verschmitzt. »Wir bringen also die Story raus, daß wir die Nachzügler begrüßen und so. Aber ich rieche den Braten.«
»Er liegt falsch«, sagte Raoul.
»Stimmt«, sagte Viktor. »Es wird ihnen auf keinen Fall gelingen, alle Vertragsbestimmungen zu erfüllen und noch dazu die Wasser-Reaktionsmasse zu erzeugen. Nicht in ein paar Monaten.«
Doch Axelrod war längst noch nicht fertig. Auf dem Bildschirm wurden die ›Jahresringe‹-Grafiken eingeblendet, welche die von der Himmelsmechanik geöffneten Startfenster auswiesen. In der Mitte war die minimalenergetische Zone grafisch dargestellt. Das Fenster war zwar breit, hatte aber einen steilen Gradienten. Vom minimalenergetischen Bereich ging eine Kurve mit hoher Steigung aus, über der die Energiekosten förmlich explodierten.
Ein Blick auf die Grafik, und man wußte Bescheid: Das Zeitfenster für den Abflug vom Mars erstreckte sich von Ende Januar bis Ende März, wie aus den Daten hervorging, die in die Statuszeile eingeblendet wurden. Dieser Zeitraum umfaßte alle Orbits, für die der Energieaufwand für den Flug zur Erde das absolute Minimum darstellte. Auf der linken Achse waren die Ankunftszeiten auf der Erde angegeben.
»Ich weiß natürlich, daß Ihnen das alles bekannt ist, Viktor, aber ich will mich nur vergewissern, daß ich es auch verstanden habe …«
Die Definition einer Trajektorie war prinzipiell einfach. Man wähle ein START-DATUM und ziehe eine gerade Linie zum minimalenergetischen Punkt. Es gab eine Reihe von Ankunftsterminen auf der Erde, die jeweils von der Länge der Ellipse abhingen, für die Viktor sich entschied. Legte man eine horizontale Linie zur rechten Ordinate, wußten die Lieben zuhause, wann man wieder am irdischen Himmel erscheinen würde.
»… wenn ich das richtig sehe, könntet ihr sofort starten und wärt verdammt nah am Minimum. Die Kontur am 22. Januar – das wäre in ein paar Tagen – ist geringfügig höher als das absolute Minimum.
Wenn ich mich nicht irre, beträgt die Fluchtgeschwindigkeit acht Kilometer pro Sekunde. Im Vergleich zu … äh … 6,1 Kilometern pro Sekunde, wenn man den Termin am 14. März abwarten wollte. Ich weiß natürlich, daß das ein beträchtlicher Unterschied ist. Meine Leute sagen mir, während wir hier quasseln, würde der Brennstoffverbrauch um etwa fünfundsiebzig Prozent ansteigen. Keine Kleinigkeit.«
»Der Energieverbrauch verhält sich wie das Quadrat der Geschwindigkeit. Jede Wette, daß es keine Kleinigkeit ist«, sagte Viktor.
»Unmöglich«, sagte Raoul trocken.
Julia rief sich in Erinnerung, daß Axelrod in einer Unternehmenskultur agierte, wo man mit einem Lächeln und selbstsicherem Auftreten viel zu erreichen vermochte. Ein Wissenschaftler war er freilich nicht. Sie hatte vielmehr den Eindruck, daß er es allen Ernstes für möglich hielt, die Natur dadurch zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, indem man nur den richtigen kommunikativen Ansatz wählte. Er schaute erst versonnen, dann ernst und schließlich respektvoll – die gleiche Metamorphose, die sie schon von ihrem ersten Gespräch unter vier Augen her kannte. Aber sie hegte keinen Zweifel daran, daß diese Gefühle echt waren. Sie hatte ihn nun schon seit Jahren gründlich studiert – das war der Notwendigkeit entsprungen, die wirkliche Bedeutung seiner Aussagen zu ermessen, wenn Rückfragen nicht möglich waren.
Nun strahlte er wieder Zuversicht aus. »Doch irgendwann zwischen dem heutigen Tag und dem 14. März gibt es eine Startmöglichkeit. Ich überlasse es euch, den günstigsten Zeitpunkt zu ermitteln.« Er verschränkte die Arme und neigte sich zur Kamera hin.
»Doch sobald die Gelegenheit für einen Start sich bietet, ergreift sie.
Gebt Airbus Saures, falls sie ein Überraschungsmanöver planen.
Teufel, ihr werdet auf jeden Fall früher zuhause sein!«
»Dann hat er sich also mit der Himmelsmechanik vertraut gemacht«, sagte Raoul und schaltete auf Standbild, worauf Axelrods zuversichtliches Lächeln gefror.
»Aber nicht sehr gut«, sagte Viktor. »Diese Diagonalen, die die gesamte Flugdauer abbilden, müßten selbst Axelrod zeigen, daß wir länger unterwegs sind, wenn wir früher starten.«
Marc lachte in sich hinein. »Vielleicht hat er geglaubt, wir würden es nicht merken.«
»Nein, das bezweifle ich«, sagte Julia. »So ein tiefschürfender Denker ist er nun auch wieder nicht.«
»Du hast’s erfaßt«, sagte Marc.
»Er wird von Ängsten geplagt«, diagnostizierte Julia.
»Immerhin geht’s für ihn um dreißig Milliarden Dollar«, sagte Viktor.
»Dann glaubt er wohl, je eher wir starten, desto früher wären wir auch zurück«, sagte Raoul. »Leider hat er nicht bedacht, daß die früheren Starttermine alle oberhalb der 200 TAGE-Diagonale liegen.«
»Wir starten früher, brauchen länger und kommen kaum etwas früher an«, sagte Viktor.
»Wie hoch ist denn die Wiedereintrittsgeschwindigkeit?«, fragte Raoul. »Das ist aus dieser ›Jahresringe‹-Grafik nämlich nicht ersichtlich.«
»Muß nachschau’n«, sagte Viktor. »Auf allen Flugbahnen würden wir mit niedriger Geschwindigkeit reinkommen. Der Unterschied zwischen allen Bahnen beträgt vielleicht einen Kilometer pro Sekunde.«
»Wie sieht’s mit der Raumschiffshülle aus?«, fragte Raoul eindringlich.
Viktor schüttelte nachdenklich den Kopf. »Sie wird’s aushalten.
Wir werden die Delta Vau locker aufzehren. Es ist fast so, als ob wir vom Mond zurückkämen.«
»Na gut«, sagte Raoul mit Nachdruck. »Dann machen wir es eben so, wie Axelrod es haben will.«
»Nicht so schnell«, sagte Viktor. »Wir brauchen einen Spielraum – eine Brennstoffreserve von vielleicht zwanzig Prozent.«
»Das ist aber eine Menge«, sagte Raoul.
»Für ein Schiff, das seit Jahren auf dem Mars rumsteht, ist es ziemlich wenig«, erwiderte Viktor barsch.
Raoul schaute die anderen an. »Wir könnten die Nutzlast verringern.«
»Wenig Spielraum«, sagte Marc. »Sie besteht eh fast nur aus Lebensmitteln und Wasser.«
»Das Handgepäck macht vielleicht einen Unterschied von einem Prozent aus«, sagte Raoul.
»Wäre möglich«, sagte Viktor.
Julia sah, wie Viktor sich im Geiste zurücklehnte, die Unterhaltung an sich vorüberziehen ließ und abwartete, was dabei herauskam. Allerdings war nicht einmal sie in der Lage, seinen Gesichtsausdruck jederzeit zu deuten. Vielleicht machte gerade das einen guten Kommandanten aus. »Ich habe kaum etwas, das ich entbehren könnte.«
»Marcs Proben machen den größten Teil der Masse aus«, sagte Raoul, wobei er es geflissentlich vermied, Marc anzusehen.
»He, die Bestimmungen des Mars-Vertrags verlangen das«, sagte Marc.
»Aber nicht so viel«, erwiderte Raoul.
»Aber auch nicht viel weniger.« Marc stand auf. »Ich werde mich auf keinen Kompromiß einlassen …«
»Hat keinen Sinn, sich zu streiten«, sagte Viktor ruhig. »Ich lege einen Spielraum fest. Marc, ich muß die genaue Masse wissen, die du mitnehmen willst.«
Marc sträubte sich. »Du denkst dabei nicht an …«
»Richtig, ich denke nicht. Ich rechne. Ich brauche von jedem die Gesamtmasse.«
»Du kalkulierst mit einem so geringen Spielraum?«, fragte Julia verwundert.
»Es ist noch nichts entschieden.«
»Fehlte nur noch, daß wir um Raouls Kaffeepott feilschen«, sagte sie bemüht heiter.
Der Versuch scheiterte kläglich. Raouls Gesicht umwölkte sich.
»War nur ein Scherz«, sagte Julia. »Einen Aspekt haben wir noch gar nicht behandelt: ich muß mich intensiv mit dem Fumarolen-Leben beschäftigen. Ich brauche mindestens noch einen Monat, um …«
»Auf dem Rückflug wirst du reichlich Zeit dafür haben«, sagte Raoul.
»Davon habe ich aber nichts – jedenfalls nicht, wenn ich mich an die Bio-Bestimmungen halten soll. Ich müßte mit dem kleinen Handschuhkasten an Bord des Schiffs arbeiten, und es ist dort viel zu eng, um die Experimente richtig durchzuführen …«
»Die Wissenschaft ist im Moment zweitrangig«, sagte Raoul. »Das hat Zeit, bis wir wieder auf der Erde sind.«
»Die Proben werden eingehen! Ich weiß nicht einmal, ob sie die Nacht überleben werden …«
»Falls sie es nicht überleben, hätte die Sache sich eh erledigt«, sagte Raoul.
Sie holte tief Luft. »Von wegen. Dann werde ich eben noch einmal runtergehen und mehr …«
»Keine Exkursionen mehr«, sagte Viktor. »Raoul hat recht. Die Wissenschaft ist abgehakt.«
»Es ist noch zu früh, um das zu sagen! Ich …«
»Die Sache ist gelaufen«, sagte Viktor ruhig und drehte sich zu ihr um. »Es geht nun darum, so schnell wie möglich zurückzukehren.«
»Wenn wir die großen Fragen unbeantwortet lassen …«
»Airbus soll sie beantworten«, sagte Viktor. »Sie haben Zeit.«
»Aber … aber …« Sie wußte nicht, wie sie ihn packen sollte. »Hören wir uns erstmal den Rest von Axelrods Nachricht an.«
Das war ein ziemlich durchsichtiges Manöver; doch wußten sie nicht, daß sie eigens bei Axelrod nachgefragt hatte, wann sie ihre Entdeckung verkünden sollte, die sie an die Aufzeichnung des Airbus-Empfangs angehängt hatte.
Axelrod reagierte prompt. »O ja, Julia«, sagte er nach den üblichen Begrüßungsfloskeln. »Ich werde die Live-Story nicht vorab veröffentlichen. Sicher, es ist eine Riesen-Story – aber die Anwälte sitzen mir im Genick. Die Leute vom Planetaren Protokoll werden in die Luft gehen, wenn wir die Geschichte veröffentlichen. Ich werde es tun, nachdem ihr gestartet seid. Dann wird euch nichts mehr aufhalten – und ich glaube, das ist in diesem Fall das Wichtigste. Irgend jemand – Teufel, vielleicht sogar die Bundesbehörden – wird mir eine einstweilige Verfügung reinwürgen und versuchen, euch an der Rückkehr zu hindern. Das ist mein voller Ernst. Ihr habt ja keine Ahnung, was das hier unten für ein Zirkus ist.«
»O nein«, sagte sie schwach.
»… und Raoul, ich möchte eine Meldung über den Fortschritt der Reparaturarbeiten – und zwar sofort. Ehe Sie für heute den Hammer fallen lassen. Ich weiß, daß ihr alle hart gearbeitet habt und müde seid. Aber wir müssen hier Bescheid wissen, um eine Planungsgrundlage zu haben.« Er legte eine Pause ein und sagte mit strahlendem Gesicht: »Um die Siegesfeier zu planen, sobald wir das Startdatum kennen.«
Sie saßen schweigend da, während der Bildschirm grau wurde und nur noch rieselte.
Julia kochte vor Wut. »Zum Teufel mit ihm. Das ist die größte Story …«
»Er ist besser über die Lage auf der Erde informiert als wir«, sagte Raoul.
»Er ist der Boss«, sagte Viktor.
»Alles hat er nun auch wieder nicht unter Kontrolle«, sagte sie.
»Wenn ich wollte, könnte ich die Geschichte jederzeit lancieren.«
Raoul traten die Augen aus den Höhlen. »Was?«
»Ich rufe mal wieder meine Eltern an und verplappere mich dummerweise. Sie würden schon die richtigen Schlüsse daraus ziehen.«
»Das würdest du nicht tun«, sagte Raoul.
»Doch, würde ich.« Sie legte mehr Zuversicht in die Stimme, als sie eigentlich verspürte. »Nicht einmal Axelrod wäre imstande, eine so große Neuigkeit unter Verschluß zu halten! Er würde sich bis auf die Knochen blamieren, wenn wir erklären, weshalb wir mittendrin abgebrochen haben.«
»Er ist der Boss«, wiederholte Viktor sein Credo.
»Wenn er dir sagen würde, du solltest deine Edelsteine wegwerfen, würdest du es tun?«, fragte sie scharf.
Viktor schien das als Affront aufzufassen. »Sie gehören zum Handgepäck.«
»Ich würde sagen, wir sollten alle Karten auf den Tisch legen«, sagte sie mit einer Stimme, von der sie hoffte, daß sie Ruhe ausstrahlte.
»He, nur die Ruhe«, sagte Marc.
»Ich bin müde«, pflichtete Raoul ihm bei. »Muß eh noch meinen Bericht an die Erde absetzen.«
Sie suchte nach einer Möglichkeit, die Situation zu entschärfen. Es wäre nicht gut, wenn ungelöste Probleme sie um den Schlaf brachten. »Wie läuft’s denn?«
»Ziemlich gut.« Raoul lächelte. »Ich erneuere alle Dichtungen, an die ich herankomme.«
»Und was ist mit den anderen?«, fragte Marc.
»Am liebsten würde ich alle ersetzen. Sie sind schon seit Jahren dem verdammten Peroxidstaub ausgesetzt. Ich habe keine Ahnung, ob sie Mikroporen-Schäden aufweisen – dazu müßte ich jeden Quadratmillimeter unter dem Mikroskop untersuchen. Durch die Temperaturschwankungen kommt es zu Materialermüdung und Rißbildung. Peroxide dringen ein und zerfressen das Material – ein Alptraum.«
Für Raoul war das eine lange Rede, zumal zu dieser späten Stunde. »Sie müssen nur einmal funktionieren«, sagte Julia.
»Richtig. Einmal standhalten. Mehr verlange ich auch gar nicht.«
Raoul lächelte matt.
»Wenn ich den Startbefehl gebe, starten wir«, sagte Viktor. »In Ordnung?«
Daran gab es nichts zu deuteln. Er war der Kommandant. Trotzdem kochte Julia vor Wut.