Kapitel 37

2. Februar 2018

Der nächste Tag dehnte sich wie Kaugummi. Marc und Julia waren erschöpft und deprimiert und schliefen im Red Rover bis in den späten Vormittag. Das Frühstück glich einer stummen Meditation über bitterem Kaffee und erwärmten Haferflockenbrei mit steinharten Rosinen.

Keiner von beiden war in der Stimmung, über Funk einen ausführlichen Bericht über die Vorkommnisse in der Fumarole zu geben. Julia setzte eine kurze Meldung ab, und sie reagierten auch nicht, als auf der Rückfahrt durch die Pingo-Hügel ein Funkspruch einging.

Als sie die schicke Airbus-Rakete erreichten, die wie ein Turm in den rötlichen Mittagshimmel ragte, war niemand zuhause. Zumindest hatte es den Anschein.

Claudine sah sie von einem zweihundert Meter entfernten Pingo; sie war gerade damit beschäftigt, die Schläuche mit dem automatischen Bohrer zu verbinden.

Sie kam herbei. »Ich habe mich in die Arbeit gestürzt, um auf andere Gedanken zu kommen.«

»Es war …« Julia fehlten die Worte. »Seltsam. Sie sind auf eine Art und Weise gestorben, die wir nicht so recht begreifen.«

»Viktor hat mich gestern abend angerufen und es mir gesagt. Ich hätte es heute nicht ausgehalten in der engen Kiste.« Sie wirkte abgespannt, und die Augen lagen tief in den Höhlen. Man sah es sogar durchs Helmvisier.

»Wenigstens hast du Ruhe vor der Erde, solange du den Anzug anhast«, sagte Marc. »Komm mit rein.«

Claudine ging mit tapsigen Bewegungen um den Rover. Noch eine Woche, und sie würde sich an die Fortbewegung in 0,38 Ge gewöhnt haben, sagte Julia sich. Die mit einem blauen Anzug bekleidete Claudine wies auf die Rakete. »Vielleicht sollte ich vorher noch einmal ins Schiff gehen. Ich will duschen und mich umziehen …«

»Nee«, sagte Marc. »Wir nehmen dich zum Hab mit. Dort gibt’s auch eine Dusche.«

Nachdem Claudine in den Rover geklettert war, staunte sie über die Sonderausstattung in Form eines Geruchsfilters, fließend kalten Wassers und eines Lebensmittelspenders mit Aufwärmfunktion – alles von Raoul nachgerüstet.

Erst dann meldete Julia sich bei Viktor. »Wir werden die Sache besprechen«, sagte er.

Während der Fahrt wurden kaum Worte gewechselt, und wenn sich doch einmal eine Unterhaltung entspann, dann über den Mars im allgemeinen, die Landschaft im besonderen und über die Finessen, mit der man einer Welt, die einem ständig nach dem Leben trachtete, ein Schnippchen schlug.

Als sie das Hab betraten, füllte gerade Axelrod den Bildschirm aus.

»… haltet die Stellung, Leute. Wir haben wirklich gute Karten. Airbus glaubt doch selbst nicht, daß sie etwas in der Hand hätten. Ihr müßtet mal die langen Gesichter sehen, die ihre Anwälte inzwischen machen! Zumal meine Ingenieure es für ausgeschlossen halten, daß es ihnen gelingen wird, die Fuhre allein zurückzubringen …«

Viktor stellte das Geschwafel ab und wandte sich ihnen zu. »Willkommen.« Nachdem er mit sanfter Stimme ein paar Beileidsbekundungen vorgetragen hatte, umarmte Viktor Julia. Dann gingen sie in den Gemeinschaftsraum, wo Raoul Tee serviert hatte. Weil es schon später Nachmittag war, geriet es zu einem ›Fünf-Uhr-Tee‹. Der Wandbildschirm zeigte wieder die Außenansicht: die Schatten, die auf die zerklüftete Landschaft fielen, waren quasi die menschliche Signatur auf dem roten Planeten.

»Er hat recht«, sagte Claudine. »Ich bin nicht in der Lage, das Schiff allein zu fliegen.«

»Chen muß die begrenzte Kapazität des Lebenserhaltungs-Systems doch erwähnt haben«, sagte Viktor.

»Hat er auch«, sagte Claudine. »Wir können maximal vier Personen aufnehmen.«

»Fünf sind nicht drin«, sagte Viktor. Das war eine Frage.

»Auf keinen Fall.«

»Dann hat er also doch die Wahrheit gesagt«, sagte Marc. »Nur daß wir uns bisher nicht sicher waren. Ich meine, was glaubte er, wo ihr den Brennstoff hernehmen solltet?«

Sie blinzelte. »Es gibt doch genug Eis.«

»Dann hattet ihr es gar nicht auf das Methan abgesehen?« hakte Raoul nach.

»Es gehört doch euch. Außerdem hätten wir das Schiff in der Nähe landen müssen … aber das wäre zu gefährlich gewesen.«

»Das hatte ich mir auch schon gesagt«, sagte Viktor milde, wobei er es geflissentlich vermied, Marc und Raoul anzuschauen.

»Dann muß also eine Person hierbleiben«, sagte Claudine mutlos.

»Es sei denn, wir bleiben alle hier.«

»Was?«, sagte Raoul.

»Um das Schiff mit Wasser zu betanken, müßte man bohren, verdampfen, kühlen, pumpen … und dazu hätten wir eben Gerda gebraucht.«

»Ich schaffe das auch«, sagte Raoul schnell.

»Sicher, wir werden alle mit anpacken«, bekräftigte Marc.

»Natürlich«, sagte Viktor. »Das versteht sich doch von selbst. Eine grundsätzliche Frage möchte ich aber noch klären, ehe wir ins Detail gehen.«

Claudine runzelte die Stirn. »Ich wüßte nicht, wie wir den Rückflug planen sollten.«

»Der Grundsatz lautet«, sagte Viktor sachlich, »daß wir selbst über diese Dinge entscheiden. Weder Axelrod noch Airbus. Wir allein.«

* * *

Dann machten sie sich an die Bergung der Leichen.

Julia hatte sich dafür ausgesprochen und schon mit Widerspruch gerechnet, aber es wurde keiner laut. »Wir dürfen nicht zulassen, daß die Matte sich durch die Anzüge frißt«, sagte sie zur Begründung. »Sie wird sicher einen Weg hinein finden. Wer weiß, welcher Schaden vielleicht entsteht, wenn die Zellen sich vermischen?«

Außerdem würden wissenschaftliche Forschungsergebnisse verfälscht werden!

Humanitäre Gründe rangierten für sie erst an zweiter Stelle – zumal es nur darum ging, den Angehörigen auf der Erde zu beweisen, daß die Toten eine würdige Bestattung bekommen hatten.

Fünf Erdlinge, zwei Rover und drei Winden – die Basis, auf der die vier Personen im Habitat planten. Viktor blieb im Red Rover, um die Erde auf dem laufenden zu halten und nach Lösungen zu suchen. Der Knöchel war noch immer nicht ausgeheilt, so daß er sich an schweren Arbeitseinsätzen nicht zu beteiligen vermochte.

Sie nahmen alle verfügbaren Sauerstoffflaschen mit. Sie planten akkurat und kontrollierten jeden Schritt dreimal, so daß die erste Phase des Abstiegs reibungslos verlief. Raoul und Claudine machten die Airbus-Winde wieder gängig, um die Bergung überhaupt erst zu ermöglichen. Am Ende war es dann doch nicht so schwer, wie sie es sich vorgestellt hatten.

Als sie in die riesige Kaverne abstieg, verspürte Julia wieder dieses Prickeln, das sie beim erstenmal gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Es war keine Angst und auch keine Neugier … es hatte eher etwas mit Staunen zu tun. Ehrfurcht.

Die Matte war stumpf. Sie glühte fast gar nicht und reagierte auch nicht aufs Scheinwerferlicht. »Vielleicht ist sie vom letztenmal noch erschöpft«, sagte sie zu Marc, während sie vorsichtig abstiegen.

»Pflanzen haben nämlich eine lange Regenerationsphase.«

»Du sagtest doch, die Matte sei keine Pflanze.«

»Richtig. Aber die grundlegenden metabolischen Gesetze gelten auch für sie. Anaerobe haben einen langsameren Stoffwechsel als Sauerstoffatmer.«

Das ›Ventil‹ war bei ihrer Ankunft offen gewesen. Julia und Marc waren in die Kaverne abgestiegen und hatten Raoul und Claudine an der Engstelle zurückgelassen.

»Ich möchte keine schlafenden Matten wecken«, scherzte Marc und dämpfte das Licht des Handstrahlers.

Die Leichen wirkten unverändert. Die Matte erstreckte sich nach allen Seiten wie ein matt schimmernder Teppich. Sie schien sich nicht weiter über die Anzüge ausgebreitet zu haben. Die blauen Stränge hingen schlaff herunter. Der Nebel hatte sich gelichtet, so daß Julia die Stränge nun deutlicher sah. Sie wiesen doch eine größere Ähnlichkeit mit Röhrenwürmern auf als mit Linguini. Ein Füllhorn für die Wissenschaft.

Doch heute war kein Tag für die Wissenschaft.

Gewissenhaft sicherten Julia und Marc die Airbus-Seile mit Klammern, Befestigungen und Bügeln. Obwohl sie dicht über den Toten schwebten, trat das Leuchten nicht auf, mit dem die umliegende Matte das letzte Mal ihr Erwachen signalisiert hatte.

Dann gaben sie das Signal. Die Airbus-Winde wurde hart beansprucht, als sie versuchten, die Anzüge aus der Matte herauszureißen. Schließlich kamen die beiden Leichen frei; die Matte rutschte von ihnen ab und fiel nach unten. Nicht einmal auf diese Brachialgewalt reagierte sie.

Gemeinsam stiegen sie durch die diesige Atmosphäre der riesigen Gruft auf. Am liebsten hätte Julia haltgemacht und untersucht, wie sie auf die Abluft reagierte. Als sie sich der Ventil-Membran näherten, wurde der Nebel von einem Farbenspiel unbekannten Ursprungs durchbrochen. Sie wußte immer noch nicht, welche Ausdehnung diese riesige Kaverne hatte. Vielleicht erstreckte sie sich über ein paar Kilometer, war gar Teil eines verwunschenen Labyrinths …

Sie hievten die Leichen durch den Schlitz des Ventils – sie war sich inzwischen sicher, daß dieser Begriff die Funktion präzise beschrieb.

Irgendwie sättigte die Matte diese Region mit Wasserdampf, was gemäß den Gasgesetzen nur für eine bestimmte Zeit möglich war.

Also mußte das Ventil verhindern, daß der Dampf an die Oberfläche entwich – es regulierte diese bizarre Umwelt. Eine Druckschleuse.

Doch woher wußte das Ventil, wann es sich zu schließen hatte?

Wie es auf eine Änderung von Druck und Feuchtigkeit reagieren mußte? Sie war davon überzeugt, daß das Glühen und die Gasdichte eine Regelfunktion hatten und dieses Schattenreich organisierten.

Ohne Raoul und Claudine wäre es wohl kaum zu schaffen gewesen, die Leichen um die Kanten und Vorsprünge des Schachts zu bugsieren. Sie behandelten die Toten behutsam und arbeiteten sich ohne viele Worte den mehrere hundert Meter hohen Schlot hinauf.

Oben winkte verheißungsvoll das Sonnenlicht, und plötzlich verspürte sie einen unerklärlichen Energieschub. Dennoch waren alle erschöpft, als sie den Red Rover erreichten.

»Es ist diese gespenstische Atmosphäre, die einem den Rest gibt«, sagte Raoul. »Das hätte ich nicht für möglich gehalten.«

»Sag bloß«, sagte Marc knapp.

* * *

Sie ruhten sich im Hab aus und aßen dann etwas. Es führte kein Weg daran vorbei, die Reaktionen der Erde zumindest zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn sie nicht die geringste Lust hatten. Milliarden Voyeure drängten sich vor dem Medien-Schlüsselloch, um einen Blick auf fünf Menschen zu werfen, die viele Millionen Meilen entfernt waren … und die auch keinen Kommentar abgeben wollten, vielen Dank.

Ihr Rechner enthielt die Mitteilung, daß Airbus ihr und dem Konsortium den Vorsatz unterstellte, ›die beiden in den Tod zu treiben‹ – weil sie sich geweigert hatte, die Mars-Matten-Proben mit ihnen zu teilen.

Axelrods PR-Leute hatten sich der Sache angenommen und gleich eine Reihe von Gründen für die Bergung der Leichen genannt: die wertvollen Anzüge mußten gerettet werden, und eine Kontamination der Matte sollte vermieden werden. Der Tenor lautete jedoch: ›Es wäre nicht richtig gewesen, sie dort zurückzulassen‹.

Als sie den Wust von Dateien sah, schauderte sie. ›ZWEI MENSCHEN AUF DEM MARS VON ALIENS GETÖTET‹ schrien die Schlagzeilen der Revolverblätter.

Julia hatte das Gefühl, Texte in einer Sprache zu lesen, derer sie nicht mächtig war.