Kapitel 19
19. Januar 2018
Sie vernahm eine leise, blecherne Unterhaltung, die von Rauschen überlagert wurde.
Geisterstimmen … klangen wie … sie konzentrierte sich … Viktor und Marc.
Natürlich! Es war der Anzugslautsprecher. Sie mußte völlig hinüber gewesen sein, daß sie sie nicht gleich erkannt hatte! Aber was sagten sie überhaupt? Etwas von Airbus und einer Landung. Sie gab es auf.
Marc würde es ihr später sagen.
Sie lag da und kontrollierte automatisch die Anzeigen des Anzugs, während sie sich von der Überraschung erholte. Alles normal; keine Schäden. Den Handscheinwerfer hatte sie im freien Fall verloren.
Muß gegen einen Überhang geknallt sein. Stockfinster.
Wo war der verdammte Handscheinwerfer? Sie sah ein schwaches Glühen zur Linken. Das mußte er sein.
Sie wollte gerade aufstehen, als sie vor sich eine schwache Leuchterscheinung sah. Verwirrt setzte sie sich wieder hin. Sei vorsichtig.
Der Schlot glühte in fahlem elfenbeinfarbenem Licht.
Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder. Das Glühen war noch immer da.
Nein, nicht die Wände – die Mars-Matte. Eine in trübem Grau leuchtende Tapete.
Sie kramte in der Erinnerung nach dem spärlichen Wissen über Organismen, die Licht aussandten. Das war nicht ihr Fachgebiet. Genau, Glühwürmchen hatten ein bestimmtes Enzym: Luciferase – eine endotherme Reaktion, die sie vor einer halben Ewigkeit im Reagenzglas in einem Labor für Molekularbiologie hatte ablaufen lassen. Glühwürmchen – eigentlich Fliegenlarven, wie sie sich erinnerte –, waren in neuseeländischen Höhlen wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht gewesen. Sie erinnerte sich an eine Exkursion in den australischen Regenwald, wo tropische Pilze in der Dunkelheit geglüht hatten. Hm. Trauerweiden auf gespenstischen Friedhöfen, Elmsfeuer an den Mastspitzen alter Segelschiffe … war es möglich, daß hier Pilze gediehen?
Verdammt unwahrscheinlich. Es gelang ihr nicht einmal, Pilze im Gewächshaus zu züchten. Falsches Modell. Sie schüttelte den Kopf.
Wenn nachts bei red tides(red tides: Rotfärbung des Wassers durch starke Algenvermehrung. – Anm. d. Übers. ) Wellen an der kalifornischen Küste sich brechen, erzeugen sie eine blau glühende Gischt. Das sind phosphoreszente Diatome. Was sonst? Hydrothermalfelder … Tiefseefische benutzen lumineszente Bakterien als Leuchtköder.
Das ist es auch nicht. Die Laboranten hatten sich einen Spaß daraus gemacht, das lichterzeugende Gen auf andere Bakterien zu übertragen. Nun gut. Mikroben vermochten also Licht zu erzeugen, aber wieso ausgerechnet hier? Weshalb sollte unterirdisches Leben wohl Lumineszenz entwickeln?
Bing bing bing – der Warnton riß sie aus ihren Überlegungen. Sie richtete den Blick nach oben. Die Sauerstoffanzeige blinkte gelb.
Sie hatte noch Reserven für eine halbe Stunde. Zeit, umzukehren.
Beim Aufstieg streifte sie den Handscheinwerfer. Sie nahm ihn an sich, schaltete ihn aber nicht ein. Sie orientierte sich an den phosphoreszierenden Wänden und wähnte sich dabei auf einem Spaziergang im Mondschein.
Vorsichtig kletterte sie zu der Stelle hinauf, wo sie das Geschirr deponiert hatte. Es war natürlich ein Fehler gewesen, das Geschirr abzulegen. Doch manchmal zahlte sogar eine Dummheit sich aus. Die Leuchterscheinung wäre ihr bestimmt entgangen, wenn sie nicht gefallen wäre und den Handscheinwerfer verloren hätte.
Während sie sich von der Winde hochziehen ließ, hatte sie Zeit zum Nachdenken. Sie spürte, wie die Erregung in Muskeln brannte, die geschmeidiger als sonst zu sein schienen. Auf jeden Fall war es hier wärmer. Sie drehte die Anzugsheizung herunter – sie befand sich sozusagen in den Mars-Tropen.
Noch bevor sie die Sauerstoffflaschen erreicht hatte, vernahm sie Marcs quengelnde Stimme: »Julia, wo steckst du denn?«
»Bin noch unterwegs. Bin gleich da.« Sie umrundete einen Vorsprung in der Wand des Schachts und wurde vom grellen Schein seiner Lampen erfaßt. Die Wände verschmolzen mit der Dunkelheit.
»Wo warst du denn? Du kommst reichlich spät, verdammt. Die Sauerstoffflaschen waren rechtzeitig hier – he, wo ist deine Stirnlampe?«
»Bin gegen einen Vorsprung geprallt und habe die Lampe zertrümmert. Marc …«
»Den Handscheinwerfer auch? Wie hast du das denn gemacht – den Rückweg etwa ertastet? Wieso hast du mich denn nicht gerufen?«, fragte er mit belegter und beherrschter Stimme. Er war sichtlich verärgert.
»Ich habe … habe etwas gefunden …«
»Julia, beruhige dich erstmal. Du bist …«
»Schalte alle Lampen aus.«
»Was?«
»Schalte sie aus. Ich will dir etwas zeigen.«
»Zuerst wechselst du aber die Sauerstoffflasche.«
Sie seufzte. Er war ein Korinthenkacker. Suchte auf dem Gehweg nach Kleingeld und hatte kein Auge für den Regenbogen.
Nachdem sie Marc endlich dazu bewogen hatte, die Lampen auszuschalten, sah er es auch.
Zunächst war er geschockt. Er wußte wohl, daß er besser den Mund hielt.
Dann vernahm sie ein verdächtiges Geräusch. Das schwache Zischen überraschte sie. Doch nun kam wieder die Missions-Ausbildung zum Tragen.
»Was ist denn das? Hört sich nach einem Leck in einer Sauerstoffflasche an.« Reflexhaft überprüfte sie ihre Anschlüsse. Alles dicht.
»Marc? … kontrolliere mal deine Sauerstoffflasche.«
»Bei mir ist alles in Ordnung. Was ist überhaupt los?«
»Mir war, als hätte ich ein Zischen wie bei einem Leck gehört.«
»Ich höre gar nichts …«
»Sei still! Hör mal!«
Sie schloß die Augen, um die Richtung zu bestimmen, aus der das Geräusch gekommen war. Es kam von der Wand. Sie strahlte die Sauerstoffflasche mit dem Handscheinwerfer an, beugte sich dicht darüber und hörte nun ein leises Pfeifen. Sauerstoff strömte auf die Mars-Matte.
»Verdammt. Das Ventil ist nicht gesperrt.« Sie streckte die Hand aus, um es zu schließen. Plötzlich hielt sie inne … »Was?«
Die Mars-Matte in der Nähe der Sauerstoffflasche hatte sich verfärbt. Ein beigefarbener Fleck.
»Verdammt! Wir haben sie beschädigt.« Sie kniete sich hin, um die Stelle genauer in Augenschein zu nehmen. Dabei achtete sie darauf, sich nicht mit der Hand an der Wand abzustützen.
»Was ist passiert?« Marc kam mit einem großen Schritt herüber und erfaßte die Lage mit einem Blick. »Der Sauerstoff?«
»Au weia. Sieht so aus.«
»Was für eine Reaktion. Verdammt! Und so schnell!«
»Sauerstoff ist pures Gift für diese Lebensformen. Als ob man Schwefelsäure auf Moos schütten würde. Es bedeutet den sofortigen Tod.«
Er schaute sich nachdenklich um. »Wir vergiften sie schon die ganze Zeit mit dem Sauerstoff, der aus den Anzügen entweicht.«
Sie nickte. Was waren sie doch für Dumpfbacken, daß sie das nicht sofort erkannt hatten. Wie bei einem Tauchgerät stießen die Raumanzüge aus einem Nackenventil Abluft aus: hauptsächlich Sauerstoff, etwas Stickstoff und geringe Mengen Kohlendioxid. Ein ebenso simples wie zuverlässiges System, zumal die chemische Anlage des Retour-Schiffs für Sauerstoffnachschub sorgte.
Marc schüttelte ernüchtert den Kopf. »Typisch Mensch. Wohin auch immer wir kommen, wir müssen es verschmutzen.«
»Falls das Zeug wirklich so empfindlich ist, müssen wir von nun an gut aufpassen.« Julia richtete sich langsam auf und trat von der Läsion zurück.
Sie standen für einen Moment in tintiger Schwärze und warteten, bis das Nachglühen auf der Netzhaut erloschen war. »Woher kommt das Licht überhaupt?« fragte Marc schließlich.
»Die Mars-Matte glüht. Sie phosphoresziert, heißt das in der Fachsprache.«
»Und wie tut sie das?«
»Weiß nicht. Mich würde eher interessieren, wieso sie das tut.«
Eine lange Pause in der Dunkelheit, die sie von allen Seiten zu erdrücken schien.
»Hast du schon gehört?«, fragte Marc. »Airbus wird in ein paar Stunden landen.«
»Nein, das Rauschen war zu stark. Ich habe gerade einmal eure Stimmen identifiziert. Was hat Viktor denn gesagt?«
»Sie haben eine Nachricht über Satellit erhalten. Airbus wird heute abend reinkommen. Bis dahin sind wir zurück.«
»Verdammt. Ich hatte gehofft …« Sie seufzte. »Und was hast du ihm gesagt?«
»Nicht viel. Ich wollte ihm nicht sagen, daß du allein unten warst.
Also hab ich mich kurzgefaßt.«
»Gut gemacht.«
»Wie will Airbus Raoul das Werkzeug überhaupt liefern?«
»Das haben sie nicht gesagt. Vielleicht werden sie es abwerfen?«
»Wo ist ihre Landezone?«
»Viktor sagt, darauf hätten sie ihm auch keine Antwort gegeben.
Genauso wenig wie auf andere Fragen.«
»Klar, sie machen wieder ein großes Geheimnis daraus. Typische Airbus-Scheiße. Für uns wird das aber keine Konsequenzen haben.«
»Ich glaube nicht. Ist aber gut zu wissen, daß Raoul endlich sein Werkzeug bekommt.«
»Genau. Aber beschäftigen wir uns wieder mit dem Hier und Jetzt.«
Sie wußte nun, daß Zeit und Sauerstoff ihnen Grenzen zogen. Sie hatten diesen Tag zur Verfügung gehabt und mußten zur Basis zurückkehren. Eindeutige Befehle. Team-Loyalität.
* * *
»Reichlich O Zwei dort oben«, sagte Marc später, als sie sich ausruhten und zu Mittag aßen. Sie haßte es, das Zeug aus der Tube zu quetschen – allerdings hatte sie sich einmal in einem Video-Interview eine ganze Tube Nährpaste mit Fleischgeschmack reingezogen.
»Dann tauschen wir sozusagen Sauerstoffflaschen gegen Zeit ein.«
»Viktor wird aber stinkig werden, wenn wir uns nicht rechtzeitig zurückmelden.«
»Soll er doch.« Sie wünschte sich, sie hätten eine Antenne an der Öffnung der Fumarole aufgestellt. Aber das hätte noch mehr Zeit gekostet.
Tick tick tick.
»Ich habe aber auch keine Lust, mich todmüde aus dem Loch zu ziehen.«
»Wenn es dämmert, sind wir wieder draußen.«
»So schnell sind wir nicht wieder oben.«
Die im Einsatz gewonnenen Erfahrungen hatten sämtliche optimistischen Theorien über Leistungssteigerungen in niedriger Schwerkraft widerlegt. Der Mars war ermüdend. Ob das nun an der klirrenden Kälte lag, an der ungewohnten und starken Sonneneinstrahlung (obwohl die UV-Strahlen durchs Helmvisier gefiltert wurden), an der schlichten Tatsache, daß menschliche Reflexe nicht für 0,38 Ge ausgelegt waren oder an einem anderen subtilen Umstand – niemand wußte es genau. Dafür wußten sie, daß ein schneller Aufstieg am Ende eines anstrengenden Tags illusorisch war.
»Du willst geologische Proben, ich will biologische. Meine sind federleicht, deine sauschwer. Ich werde dir ein paar meiner persönlichen Gewichtsanteile gegen Zeit hier unten abtreten.«
Er hob die Augenbrauen und sah sie verschmitzt durchs verschmierte Helmvisier an. »Wie viele?«, fragte er nach langer Musterung.
»Ein Kilogramm pro Stunde.«
»Hmmm. Nicht schlecht. Gut, der Handel gilt.«
»Gut.« Feierlich schüttelten sie die behandschuhten Hände. Ein verbindlicher Kuhhandel, sagte sie sich mit einem leichten Schwindelgefühl.
»Viktor rechnet ohnehin damit, daß du ihm ein paar Anteile abtrittst, damit er noch mehr ›Nuggets‹ und ›Juwelen‹ mitnehmen kann.«
»Es sind meine Anteile.«
»He, so war das nicht gemeint. Ich will doch keinen Keil zwischen euch treiben.«
»Danke für den Hinweis, aber ich werde das schon mit Viktor klären. Bist du soweit? Das geht alles von meiner teuer eingekauften Zeit ab.«
* * *
Sie kehrten zur Sohle in zweihundert Metern Tiefe zurück, wo Julia den Unfall gehabt hatte. Auf der anderen Seite des Überhangs stießen sie auf ein mit Schleim überzogenes Becken. Die schwarzbraune Schicht war verkrustet und gab unter dem Druck ihres Fingers etwas nach.
»Schutz vor Austrocknung«, mutmaßte sie.
Mark leuchtete mit dem Handscheinwerfer den Schlot aus. Die Matte hing wie ein Wandteppich an der rauhen Felswand. »Flüssiges Wasser auf dem Mars. Toll.«
»Stimmt nicht ganz. Die Matte hängt herunter, siehst du, und bedeckt dieses Becken. Schützt es vor dem Austrocknen. Ob es auch Ressourcen speichert?«
Sie schöpfte etwas von dem trüben Wasser aus dem Becken und tröpfelte es auf den Objektträger des Handmikroskops.
»Es sind nur Algen, stimmt’s?«, fragte Marc.
Sie antwortete nicht. Unter dem Mikroskop sah sie kleine Lebewesen – jedweder Zweifel ausgeschlossen.
»Mein Gott. In dem Wassertropfen schwimmt etwas herum. Marc, schau dir das an und sag mir, daß ich nicht verrückt bin.«
Er spähte durchs Mikroskop und blinzelte. »Mars-Garnelen?«
Sie seufzte. »Klarer Fall, daß du an etwas Eßbares denkst. In einem vergleichbar großen Teich auf der Erde könnten Garnelen existieren, aber diese Lebewesen sind doch viel zu klein. Zumal ich nicht einmal weiß, ob das überhaupt Tiere sind.«
Eilig nahm sie ein paar Analysen der Probe vor. Sie träufelte etwas Flüssigkeit in ein Fläschchen und steckte es in den Tornister. Sie befand sich im Glückstaumel, und der Anblick der winzigen schwimmenden Lebewesen raubte ihr den Atem.
So schön und fremdartig, und sie mußte sie durch einen verschmierten Helm betrachten. Das wurmte sie.
Sie hatten knubbelige Strukturen an einem Ende: Köpfe? Vielleicht, und jeder dieser Knubbel wies einen noch kleineren hellen Fleck auf. Was das wohl war?
War es möglich, daß das Mars-Leben den Sprung zum Tier vollbracht und damit einen großen evolutionären Graben überwunden hatte? Auf der anderen Seite war es auch möglich, daß es sich nur um mobile Algen-Kolonien handelte – wie Volvox und ähnliche Lebensformen auf der Erde. Doch was auch immer diese Wesen darstellten, sie wußte, daß sie höherstehend waren als Mikroben. Sie beugte sich noch einmal über das Becken und strahlte es mit der Handlampe schräg an.
Der Schwarm der Kreaturen war an den Rändern der Mars-Matte viel dichter – Nahrungsaufnahme? Oder etwas anderes?
Diese Vorstellung geisterte ihr im Hinterkopf herum. Die Matte war so drapiert, daß sie für die ›Garnelen‹ leicht erreichbar war.
Welche Beziehung bestand zwischen beiden Lebensformen? Eine Art von Symbiose? Und wie gelangten die schwimmenden Lebewesen überhaupt ins Becken?
Sie und Marc stiegen von der Sohle ab und wickelten Seil ab. Während des Abstiegs verdichtete der Nebel sich, und die Wände wurden glitschig. Sie mußten sich auf ihre Bewegungen konzentrieren.
Die Seilführung wurde auch immer problematischer. Und die ganze Zeit jagten die Gedanken sich in Julias Kopf.
Rund um die Hydrothermalfelder, die sich in einer Tiefe von mehreren Kilometern auf dem Boden der irdischen Ozeane befanden, existierten Organismen, die das dunkelrote Glühen heißer Magma zur Photosynthese nutzten. Dieses ›Tiefseeglühen‹ war ihre Energiequelle. Wäre es möglich, daß irgendwelche Mars-Organismen das Glühen der Matte nutzten? Einen Augenblick …
»Marc, ist dir an den Krabben irgend etwas aufgefallen?«
»Ich weiß überhaupt nicht, wie sie aussehen müßten«, sagte er nach kurzem Nachdenken. »Sie haben jedenfalls so ähnlich ausgesehen wie die Shrimps, die ich zuhause an die Fische verfüttere.«
»Hast du ihre Augen bemerkt?«
»Äh …«
»Die knubbeligen Enden, die mit den hellen Flecken; erinnerst du dich?«
»Ja, was ist damit?«
»Dann hast du sie also auch gesehen.«
»Wieso, worum geht’s überhaupt … oh.«
»Richtig!«
»Ich verstehe; sie dürften eigentlich gar keine Augen haben.«
»Kluger Junge. Ich werde noch einen richtigen Biologen aus dir machen. Auf der Erde haben unterirdisch lebende Organismen die Augen verloren. Die natürliche Auslese zwingt einen Organismus unerbittlich, die Kosten für die Bewahrung einer komplizierten Struktur zu begründen. Du verlierst, was du nicht benutzt.«
»Wenn sie dennoch Augen haben …«
»Mit Blick auf die Erde würden wir sagen, weil sie erst vor kurzem von einem hellen Ort gekommen waren, hätten sie noch keine Zeit gehabt zu erblinden.«
»Aber das ist doch unmöglich. Die von Licht beschienenen Abschnitte des Mars sind seit Milliarden von Jahren kalt und trocken.
Woher hätten sie also kommen sollen?«
»Ich stimme dir zu. Deshalb lautet meine nächste These, daß es hier nicht dunkel genug ist, um das Sehvermögen zu verlieren.«
»Dieses Glühen ist aber ziemlich trübe.«
»In unsren Augen vielleicht. Wir leben schließlich auf einer lichtgesättigten Welt. An so geringe Lichtstärken sind unsre Augen nicht gewöhnt. Falls auf der Erde solche Lichtverhältnisse überhaupt anzutreffen sind, dann in den unterseeischen Hydrothermalfeldern.
Dort unten existieren lichtempfindliche Tiere und sogar Mikroben, die zur Photosynthese befähigt sind.«
»Und wenn es sich nun doch nicht um Augen handelt?«
»Auf jeden Fall sind sie lichtempfindlich. Die Viecher haben sich nämlich unter der Lichtquelle des Mikroskops konzentriert.«
»Toll.«
»Ich brauche zwar noch mehr Informationen, doch immerhin wissen wir nun, daß das Glühen permanent ist. Oder zumindest in einer solchen Häufigkeit auftritt, daß dem Sehvermögen eine gewisse Vorteilhaftigkeit innewohnt. Und daraus folgt wiederum, daß es etwas geben muß, das das Glühen als Energiequelle nutzt. Vielleicht ist die Matte symbiotisch – eine Lebensgemeinschaft aus glühenden und Photosynthese treibenden Organismen?«
»Genau … das deutet darauf hin, daß es sich um Primär-Glühen handelt. Aber zu welchem Zweck?«
»Ich habe keine Ahnung; ich stelle hier nur Mutmaßungen an.«
»Es ist alles so merkwürdig hier unten, wie Alice sagt.«
»Ich wußte gar nicht, daß Jungs auch Alice im Wunderland lesen.«
»Auf jeden Fall scheint unsere Lage Parallelen zu dieser Geschichte aufzuweisen.«
»Dann nix wie rein in den Kaninchenbau.«
Sie schaute nach unten und erkannte in den Ausläufern des schwachen Lichtkegels größere Gebilde. Viel größere. Graue Lagen, eckige Türme, korkenzieherartige Formationen mit einer fahlen Blässe, die in die aufsteigenden Gase hineinragten und sich an ihnen labten. Ein spindelförmiger fleischiger Auswuchs wies eine frappierende Ähnlichkeit mit den Fingern einer Wasserleiche auf, die träge in der Strömung trieb …
Sie schüttelte den Kopf, um ihn klarzubekommen. Mach dich nicht selbst verrückt, sagte sie sich.
Unterhalb des Beckenrands liefen verschlungene Kanäle in grotesken Winkeln auseinander. Sie verliefen horizontal, und sie folgten dem Verlauf dieser Kanäle, bis die stetig sich absenkende Decke ihrem Forscherdrang Einhalt gebot. Es wäre Zeitverschwendung, in Sackgassen hineinzukriechen, sagte sie sich. Sie kehrten zum Hauptkanal zurück und stießen dort auf eine breite abschüssige Passage.
Sie war rutschig, und sie mußten aufpassen, wohin sie traten.
Die Matten glichen hier Vorhängen, die den steten Strom aus Wasserdampf vom Hauptschacht der Fumarole aufsogen. Ein paar machten den Eindruck, drehbar am Gestein angeschlagen zu sein, um sich nach dem Ziehen der Wasserdampf-Schwaden auszurichten. Sie nahm eifrig Proben und hatte kaum Zeit, das eigentümliche Wallen dieser dünnen Membranen zu beobachten, die träge flappenden Fahnen glichen.
»Sie müssen die Oberfläche maximieren, um möglichst viel von dem nährstoffreichen Dunst aufzunehmen«, mutmaßte sie.
»Unheimlich«, sagte Marc. »Und schau nur, wie weit sie sich entfalten.«
»Es wird hier Biomasse in Hülle und Fülle geben.«
»Frage mich, ob sie eßbar ist.«
»Hungrig, was?« Beide lachten, doch wirkte es irgendwie gekünstelt.
An den Biegungen des Kanals waren die Matten mannsgroß. Sie machte jede Menge Aufnahmen mit der Microcam und hoffte, daß die Lichtleistung der Lampe stark genug war, um die Objekte ausreichend zu belichten. Als sie die grauen durchscheinenden Matten anstrahlte, sah sie dahinter ihre Hand.
Der Ursprung dieser Lebensformen lag in den frühen warmen und feuchten Mars-Zeitaltern.
Gab es überall auf dem Planeten solche Labyrinthe, in denen Matten – und was sonst noch? – existierten? Sie waren in der Lage, die vom heißen Marsmantel aufsteigende Feuchtigkeit aufzunehmen und vermochten vielleicht auch den Permafrost zu schmelzen. An den Rändern der irdischen Gletscher lebten nämlich auch Pflanzen, die das Eis mit ihrer Körperchemie zum Schmelzen brachten.
Die Fumarolen einschließlich der Nebenhöhlen erstreckten sich aller Voraussicht nach über einen großen Bereich. Weil die Marsoberfläche unter Berücksichtigung der Topographie eine Ausdehnung wie die Erdoberfläche hatte, stand der Evolution ein großes Experimentierfeld zur Verfügung.
»Solche elfenbeinfarbenen Höhlen gibt es auf der Erde mit Sicherheit nicht«, flüsterte Marc.
Wie denn auch, wo die Erde von aerobem Leben beherrscht wurde. Um dem giftigen Sauerstoff zu entrinnen, zogen die Anaeroben sich in unzugängliche Nischen wie heiße Quellen und Höhlen zurück. In dieser sterilen Umgebung überlebten die Mikroben, wobei ihre Entwicklung jedoch stagnierte und sie sich nicht zu höheren Lebensformen weiterentwickelten. Auf dem Mars hingegen war Leben auf Sauerstoffbasis gar nicht erst entstanden, weil die Atmosphäre sich schon im Frühstadium verflüchtigt hatte.
Julia strich sanft über die Matte, die in der Brise aus Wasserdampf träge sich bauschte. Pflanzen, die im Beinahe-Vakuum gediehen.
Das hätte sie sich nicht einmal in den kühnsten Träumen vorgestellt…
Sie stieg noch ein paar Meter ab und blinzelte. Wieviel sah sie überhaupt, und wieviel war nur Illusion? Das Resultat schlechter Lichtverhältnisse, eines verschmierten Helmvisiers, der überanstrengten Augen …
»He. Es wird Zeit.«
Die Müdigkeit kroch ihr als Schmerz in Arme und Beine. Anfangs schwach, dann immer stärker. Die Erfahrung hatte ihre Sinne geschärft, und sie versuchte, in der noch verbleibenden Zeit möglichst viele Eindrücke aufzunehmen. »In welcher Tiefe sind wir überhaupt?«
Marc hatte die Markierungen am Seil im Auge behalten. »Etwas über einen Kilometer.«
»Wie hoch ist die Temperatur?«
»Fast zehn Grad. Ziemlich warm. Kein Wunder, daß ich die Kälte nicht spüre.«
»Der Schlot erstreckt sich vielleicht noch ein paar Kilometer in die Tiefe, ehe die Temperatur den Siedepunkt erreicht. Und wir haben gerade einmal die Kavernen-Ebene erreicht.«
»Julia …«
»Ich weiß. Wir müssen umkehren.«
»Es wird ein langer und schwerer Aufstieg werden. Oben wird’s bald dämmern.«
Es würde auch tödlich kalt werden auf der Oberfläche, und zwar ruckzuck.
Sie stand auf einem schmalen Vorsprung, ungefähr fünf Meter unterhalb von Marc. Eine seltsame Sehnsucht erfüllte sie.
»Ich weiß. Ich werde dich nicht drängen, keine Sorge. Biologen brauchen schließlich auch Sauerstoff.«
Sie schnitt ein kleines Stück aus einer Matte, die wie ein dicker Vorhang gerade noch in Reichweite hing. Sie war erstaunlich zäh, wie dicker Tang. Sie wurde sich bewußt, daß sie angestrengt schnaufte. Der Anzug stieß die verbrauchte Luft mit einem leisen Zischen aus. Plötzlich wirbelte die Matte herum und drückte sie gegen die Felswand. Ihr wurde schwarz vor Augen, als ob jemand einen dicken Vorhang vor ihr zugezogen hätte.
Marc reagierte auf ihren Schrei: »Jules, wo bist du? Ich sehe dich nicht.«
»Hier!«
»Du steckst hinter dieser Matte?«
»Genau.« Atme tief durch und sprich deutlich. »Muß eine Art Reflexreaktion gewesen sein. Ich wollte eine Probe nehmen, und diese Hängematte hat mich eingewickelt.«
Die Ausbildung kam wieder zum Tragen. »Wie ist deine Position?«, fragte Marc in der ruhigen Astronauten-Diktion. »Alles, was ich sehe, ist das Seil.«
»Ich stehe auf einem schmalen Vorsprung und werde von der Matte mit dem Rücken an die Wand gedrückt. Sehe rein gar nichts.«
»Hast du das Skalpell noch in der Hand?«
»Negativ. Muß mir aus der Hand gefallen sein. Hat eh nicht viel getaugt. Dieses Zeug ist zäh wie Juchtenleder.«
»Du sagst, die Matte hätte sich bewegt. Ist sie auf dich gefallen?«
»Negativ. Sie ist herumgeschwungen.« Dann kam ihr ein Gedanke. »Sie muß oben aufgehängt sein. Erkennst du die Aufhängung?«
Es trat eine kurze Pause ein. »Sie hängt direkt unter mir. Sieht aus wie ein drehbar gelagerter Ast. Der Ast ragt aus einer dicken, holzartigen Struktur an der Wand.«
Sie stemmte sich gegen die Matte, jedoch ohne Erfolg. »Versuch sie dazu zu bewegen, daß sie wieder hochschwingt. Ich stecke hier fest.
Und ich will nicht riskieren, daß der Windenmotor durchbrennt.«
»Was schlägst du vor?«
»Tritt dagegen!«
Sie hörte seinen Atem im Lautsprecher. Das war irgendwie beruhigend. Er war nur einen Meter von ihr entfernt, doch sie sah nichts außer dem scheckigen Muster der Matte.
»Tut sich was?«
»Negativ. Was hast du denn gemacht?«
»Hab ihr ein paar Tritte mit dem Stiefel versetzt. Scheint aber nichts gebracht zu haben.«
»Auf jeden Fall muß ich sie irgendwie dazu veranlaßt haben, sich zu bewegen.«
»Wie sollten Pflanzen sich denn bewegen? Wo sie weder Muskeln noch ein Nervensystem haben.«
»Weiß nicht, ob das überhaupt eine Pflanze ist. Es gibt aber auch auf der Erde Pflanzen, die sich bewegen. Viele richten sich nach der Sonne aus, und manche rollen als Reaktion auf einen Reiz sofort die Blätter ein.«
»Ach ja, daran erinnere ich mich – fühlende Pflanzen in der Botanik-Vorlesung.«
»Aber die Sache hat einen Haken. Sie müssen die Blätter auch wieder öffnen, und das dauert unter Umständen ein paar Tage.«
»Endlich mal was Erfreuliches.« Dann schwiegen beide für eine Weile. »Hör mal, auf der Matte bildet sich wieder so ein brauner Fleck. Das muß an der Abluft aus deinem Anzug liegen.«
Der Gedanke kam ihnen gleichzeitig.
»He, man könnte doch …«
»Genau, ich werde der Matte eine Ladung Sauerstoff verpassen.«
»Marc? Gib ihr nur eine Prise Sauerstoff. Sie soll sich bloß bewegen. Wir wollen sie doch nicht umbringen.«
»Richtig.«
Die Sekunden tröpfelten dahin. »In Ordnung, ich bin in Position«, vernahm sie dann. »Achtung. Sie bekommt eine Ein-Sekunden-Dosis.«
Die Matte, die sich an sie gepreßt hatte, schauderte.
»Sie hat nur gezuckt.«
»Ich habe sie auch nur gestreichelt. Ich werde noch ein paar kurze Stöße hinterherschicken.«
Und plötzlich spürte sie ein Gefühl der Leichtigkeit. Die Matte schwang rasant zurück. Der Helm war total verschmiert.
»Hoch mit dir, Julia! Schnell!« rief Marc.
»Ich sehe nichts mehr. Das Visier ist verschmiert.« Sie zog am Seil, um sich zu vergewissern, daß es sich nicht verheddert hatte. Dann betätigte sie die Fernsteuerung der Winde und ließ sich hochziehen.
»Du mußt mich lotsen!«
»Weiter! Du kommst parallel zur Matte hoch. Gut! Immer weiter.
In Ordnung, du bist nun auf gleicher Höhe mit der Aufhängung.
Gleich hast du es geschafft … Ja! Du bist frei!«
Sie setzte den Aufstieg noch für ein paar Sekunden lang fort und hielt dann an. Der Schweiß lief ihr in Strömen vom Gesicht, und die Anzugslüfter summten angestrengt. »Der Mars ist wirklich ein heißes Pflaster. Ich bin bestimmt die erste, die hier ins Schwitzen gekommen ist.« Sie war überdreht und erschöpft zugleich.
»Wir haben noch einen Kilometer vor uns.«
»Ich weiß. Ich bin in Ordnung. Muß nur noch das Visier saubermachen. Ich will diese drehbare Aufhängung noch aufnehmen, und dann können wir uns an den Aufstieg machen. Wir haben eine unglaubliche Entdeckung gemacht!«
Für den Rückweg schaltete sie die Winde auf Automatik. Sie ließ sich ein Stück emporziehen, manövrierte sich um Vorsprünge und Felsnasen, ließ sich wieder ein Stück hinaufziehen. Immer mit der Ruhe.
Auf dem ›Basisvorsprung‹ wechselten sie die Sauerstoffflaschen, machten Rast und bewältigten dann den Rest des Aufstiegs. Sie redeten nicht viel. Astronauten-Ausbildung: Reden beeinträchtigt die Konzentration, die um so wichtiger wird, je müder man ist.
Doch sie spürte, wie das Bewußtsein im Hintergrund arbeitete und die neuen Informationen verarbeitete und sortierte. Wenn sie sich an den Computer setzte, um den Bericht abzufassen, müßte sie die Vorkommnisse nur noch aus dem Gedächtnis abrufen.
* * *
Die Abenddämmerung hatte schon eingesetzt, als sie die Oberfläche erreichten. Sie kletterten aus dem Loch und blickten in einen rötlichen Himmel, der sich von Osten her bereits verdunkelte.
Die Feuchtigkeit, die noch an den Anzügen haftete, gefror zu Reif und fiel wie ein Schneegestöber von ihnen ab. Die Flocken lösten sich in Sekundenschnelle auf.
Marc baute die Seilwinden ab und verstaute das Gerät auf dem Rover, während sie die wertvollen Proben in der Kabine deponierte.
Sie waren hermetisch abgedichtet, damit die Sauerstoffatmosphäre im Fahrzeug sie nicht zerstörte. Sie fragte sich, wie sie die Proben im Gewächshaus kultivieren sollte.
Dann brachen sie auf, wobei Marc in der Spur, die sie während der Anfahrt hinterlassen hatten, zum Hab zurückfuhr.
Mit einem kurzen Funkspruch meldeten sie sich zurück, um dann die letzten Vorbereitungen für das Ausbooten aus dem Rover zu treffen. Mit einer Tasse Tee in der Hand schickte sie sich an, einen ausführlichen Funkspruch an die Basis abzusetzen.
Rauschend erwachte das Funkgerät zum Leben. »Wir kriegen Gesellschaft«, sagte Viktor.
»Wo?«
»Sie sind … wie würdest du es bezeichnen? – zurückhaltend.«
Während der nächsten Stunde hielten sie Funkstille und ließen sich vom schaukelnden Rover durchkneten. Marc machte eine kräftige Gulaschsuppe warm, die sie dann gierig hinunterschlangen. In der Dunkelheit fuhr sie den Rover mit besonderer Vorsicht und nutzte die Mikrowellen-Reflektoren, die sie auf der Herfahrt ausgestreut hatten, als Leitsystem. Der Autopilot hielt zuverlässig Kurs, so daß sie nur nach großen Felsbrocken Ausschau halten mußte, als sie sich den Pingo-Hügeln näherten. Das Terrainfolge-Radar des Rovers war im Grunde auch ein zuverlässiges Gerät, doch hatten sie sich bei diversen Nachtfahrten schon so viele Schrammen geholt, daß sie lieber Vorsicht walten ließ.
Sie spähte durchs vordere Sichtfenster – die Bezeichnung › Windschutzscheibe‹ wäre bei dem Schneckentempo des Rovers geschmeichelt gewesen und sah es deshalb als erste.
Ein gleißender Feuerstrahl zog sich durch den Himmel.
Marc hatte es auch gesehen. »Airbus«, grunzte er.
Plötzlich knallte es im Rover wie ein Kanonenschlag. Sie fuhr hoch. »Druckwelle?«
»Schau’n wir uns mal das Wiedereintritts-Profil an – sie sind vielleicht noch zwanzig Kilometer hoch«, sagte Marc.
»Rührt sicher von der Luftbremsung her. Ziemlich tief, findest du nicht?«
»Ja. Das reinste Höllenfeuer.«
»Atomraketen haben einen helleren Triebwerksstrahl.«
»Wir sehen auch nur die Abgaswolke. Sie wird verdichtet und vom Staudruck zurückgedrängt.«
»Ich sehe, wie die Schiffshülle das Licht reflektiert.«
Eine glitzernde silberne Nadel, die einen orangefarbenen Feuerball hinter sich her zog.
»Es ist verdammt nah!« Marc hielt es vor Aufregung nicht mehr auf dem Sitz.
»Ob es auf unsrer Basis landen will?« Sie schaltete das Mikro ein, um Viktor zu informieren.
»Nein, sieh mal, es – da gibt’s kein Vertun! Es fliegt hierher.«
»Das ist doch verrückt.«
Aber wahr. Der Feuerball kam stetig näher, verzögerte und pflügte durch die sternenklare, eiskalte Nacht. Die Sterne verblaßten vor der gleißenden Wolke. Sie reckten den Hals, um den Kurs des Feuerballs zu verfolgen, der in einem Bogen direkt auf sie zuflog.
»Sie landen an der falschen Stelle!«, rief sie.
»Sie müssen die Landezone verfehlt haben. Hatten das Hab angepeilt, kommen aber fünfzehn Kilometer weiter nördlich runter.«
»Verstanden«, rief Viktors Stimme.
»Sie gehen in den Pingos runter«, sprach sie ins Mikro.
»Warte, sie haben gestoppt.« Marc drückte das Gesicht ans Sichtfenster. »Sie schweben.«
Sandkörner und Kieselsteine prasselten auf den Rover. Sie hörten ein stetiges Brummen, das zu einem Dröhnen anschwoll – der Schall des Raketentriebwerks, der vom dünnen Kohlendioxid getragen wurde.
Julia sah, daß der Autopilot den Rover noch immer in Bewegung hielt. Sie drehte sich um und starrte direkt in die gleißende Flamme, die den Horizont in Brand setzte. Dann brachte sie den Rover zum Stehen. Die Wolke senkte sich herab und touchierte den Boden.
»Sie sind vielleicht einen Kilometer von uns entfernt gelandet«, gab Julia an Viktor durch. »Wäre es möglich, daß sie unsre Trägerwelle mit der des Habs verwechselt und sich auf uns aufgeschaltet haben?«
»Wenn ja, wäre das ein blöder Fehler«, sagte Viktor.
»Das Schiff hängt in der Luft«, rief Marc. »Vielleicht wissen sie nicht, was sie tun sollen.«
Ein großer Felsbrocken rollte in den Erfassungsbereich der Scheinwerfer. Ein Hagel aus Gesteinssplittern ging auf sie nieder. Plötzlich machte es laut knack, und sie sah, daß die Scheibe vor ihrem Gesicht von haarfeinen weißen Linien durchzogen wurde.
»Wenden!«, sagte Marc. »Sie wirbeln Geröll in rauhen Mengen auf.«
Sie manövrierte den Rover so weit zur Seite, daß sie das Schiff noch durchs kleine Seitenfenster sahen und ihm nicht den verwundbaren Bug bieten mußten. »Viktor, es hängt noch immer dort.«
»Nein«, sagte Marc, »es driftet nach Süden ab.«
»Auf der Suche nach einem Landeplatz?«, rief Viktor.
Kieselsteine knallten aufs Dach. »Niemand braucht so lang für eine Landung«, sagte Julia.
»Schau mal, Nebel!«, sagte Marc und wies in die entsprechende Richtung.
»Wolken unter der Abgaswolke«, meldete Julia an Viktor.
»Sicher, daß es kein Staub ist?«, fragte Viktor.
»Nein, es ist weiß!«, rief Marc.
Julia erinnerte sich an den Dunst in der Fumarole. »Wasser!«
»Sie verwenden eine Wasser-Rakete?« fragte Viktor. »Axelrods Agenten hatten nämlich gesagt, es sei ein anderer Brennstoff …«
»Der Nebel war noch nicht da, als sie erschienen sind«, sagte Julia.
»Das ist neu.«
Große cremefarbene Nebelschwaden quollen unter der juwelenartigen Flamme hervor. Sie reflektierten das gleißende Licht nach oben, und sie sah, daß das kleine Schiff ein paar hundert Meter über dem Boden stand und langsam nach Süden abdriftete.
Das Schiff wurde langsamer und verharrte schließlich über einem Hügel.
»Die Pingos!«, rief Julia. »Sie blasen den Staub und das Geröll weg, brennen ein Loch in die Oberfläche und legen das eingeschlossene Eis frei.«
Der Geröllhagel auf die Hülle des Rovers hielt noch für eine Weile an und ebbte dann ab. Plötzlich verdichtete der Nebel sich unter der Flamme.
Das Triebwerk brüllte auf, und dann driftete das Schiff wieder ab.
»Sie knacken ein paar von den Pingos«, sagte Marc besorgt.
Sie schauten perplex zu. Dann nahmen sie den nächsten Pingo unter Feuer, und nach kurzer intensiver Einwirkung stiegen weiße Wolken auf.
»Es bewegt sich wieder«, meldete Julia. »Nein, warte – es geht runter. Fällt.«
Ein Strahlenkranz breitete sich an der Basis des Schiffs aus. »Landung! Es setzt auf.«
Das Dröhnen verhallte. Schlagartig wurde es still.
Ihr klangen die Ohren. Auch die dünne Atmosphäre trug den Schall.
»Sie sind da. Gelandet«, flüsterte Marc.
Für einen Moment sagte niemand etwas. Julia blinzelte, damit das Nachglühen auf der Netzhaut verschwand. Vergeblich.
»Damit wäre auch das kleine technische Detail geklärt, welchen Brennstoff sie für den Rückflug verwenden«, sagte Viktor.
»Wasser.«
Sie war baff. »Was?«
»Sie haben sich die Mühe gemacht, um sich die Arbeit zu erleichtern. Sie haben nicht gebohrt wie wir. Haben die Spitzen der Pingos einfach weggeblasen.« Viktor lachte glucksend über diesen Geniestreich.
»Mein Gott«, sagte Marc. »Sie werden mit marsianischem Schmelzwasser zurückfliegen.«
»Das ist eine sehr intelligente Lösung«, sagte Viktor. »Ich werde den Kapitän beglückwünschen müssen. Falls sie uns überhaupt erlauben, an Bord zu kommen.«