Kapitel 21

20. Januar 2018

Am Nachmittag erreichten sie die Zubrin-Basis. Gemäß einer stillschweigend getroffenen Vereinbarung parkte Marc den Dünenbuggy neben dem ERV. Grunzend hievten Raoul und Viktor den Reparatursatz vom Buggy. Ein Körper hatte auf dem Mars eine geringere Gewichtskraft als auf der Erde, was sich aber nicht auf die Masse als solche auswirkte. Sie verschwanden in Raouls Reparaturwerkstatt.

»Sieh sie dir nur an«, sagte Julia lächelnd und schaute den beiden Männern nach. »Wie Kinder mit einem neuen Spielzeug.«

»Du kannst es doch selbst kaum erwarten, dich mit den neuen Bio-Proben zu beschäftigen!«, sagte Marc schnaubend.

»Genau, und deshalb werde ich gleich zum Gewächshaus wetzen.«

Eine schnelle Gangart war im Raumanzug natürlich ein Witz.

Nach monatelanger Übung waren sie gerade einmal in der Lage, vernünftig in den Anzügen zu gehen und nicht mehr wie große Teddybären zu tapsen. Beschwerlich war es allemal.

Als sie sich dem Habitat näherten, sprang der Kontrast zwischen der überdimensionierten Thunfischdose und der filigranen Airbus-Rakete sie förmlich an. Die Sandsäcke, die sie als Strahlungsschutz auf dem Dach gestapelt hatten, muteten auch nicht gerade ästhetisch an. Dennoch war das Habitat eine zweite Heimat für sie geworden, in der sie seit nunmehr fast zwei Jahren recht komfortabel gelebt hatten.

Plötzlich schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf. »He, Marc, womit schirmen sie die Atomrakete überhaupt gegen die Strahlung ab?

Unsre Methode wenden sie jedenfalls nicht an; das ist mal sicher.«

»Vielleicht haben sie eine neuartige Abschirmung in die Schiffshülle integriert.«

»Hat niemand sich dazu geäußert, während du mit ihnen zusammengearbeitet hast?«

»Ähm … Wir wußten zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, ob das Ding überhaupt flugfähig wäre. Aber es ist trotzdem eine berechtigte Frage.«

* * *

Als sie das Habitat in Hautanzügen, speziellen Thermo-Parkas und Hosen verließen, war es gegen vier Uhr am Nachmittag, und die Schatten auf dem rosig-pinkfarbenen Landeplatz wurden schon länger. Sie zogen sich als blaue Bahnen über eine rote Landschaft.

Sie schritten den dreißig Meter messenden Umfang des Habitats ab und gingen dann am aufgeblasenen Gewächshaus entlang, wobei sie sich mit zeitlupenartigen Hopsern fortbewegten, die von den irdischen Medien als ›Mars-Gang‹ bezeichnet wurden. Für Julias Geschmack waren sie ziemlich spät dran. Allerdings war es Frühling, und die Sonne würde noch für ein paar Stunden am Himmel stehen.

Mit Elan betrat sie das Gewächshaus, legte den Helm ab und schälte sich aus der Thermo-Bekleidung. Sie war froh, daß sie wider Erwarten doch noch die Gelegenheit hatte, sich auf dem Feld der Biologie zu betätigen. Zu Beginn der Mission hatte sie die biologischen Experimente der Viking-Sonde nachvollzogen, in der Hoffnung, etwas zu finden, das der Robotik vielleicht entgangen war. Sie versetzte Proben des Marsbodens – die Marc als ›Regolith‹ bezeichnete – mit Wasser und Nährstoffen, deponierte sie in luftdichten Druckbehältern und ließ das Ganze erst einmal gären. Dann untersuchte sie die Proben darauf, ob der Metabolismus der im Boden enthaltenen Lebensformen Gase produziert hatte.

* * *

Diesmal sucht Leben direkt nach Leben, ohne Roboter als Handlanger.

Um die Möglichkeit auszuschließen, das Experiment mit ihrer eigenen Mikroflora zu verfälschen, hatte sie mit den Proben zunächst nur draußen gearbeitet, in der Kälte unter dem rotscheckigen Himmel. Doch der Druckanzug und die Thermobekleidung hatten sie in der Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Die Besatzungsmitglieder waren mit Zwei-Lagen-Handschuhen ausgerüstet, die aus einer abtrennbaren dicken Isolierschicht und einem dünnen Innenhandschuh bestanden. Doch bekam sie schnell kalte Hände, zumal auch der Innenhandschuh für feinmotorische Arbeiten nur bedingt geeignet war.

Sie hatte Viktor ihr Anliegen vorgetragen, worauf dieser das Gewächshaus mit dem Handschuhkasten ausgerüstet hatte. Die im Treibhaus herrschenden Temperaturen verhinderten das Gefrieren des Wassers und beschleunigten den Ablauf der Experimente ungemein.

Wie schon bei den Viking-Experimenten reagierten die trockenen Oberflächen-Peroxide sofort mit dem Wasser, wobei eine geringe Menge Sauerstoff erzeugt wurde. Nachdem sie die Versuchsreihen beendet hatte, blies sie die Gase ab und dichtete die Druckbehälter wieder ab. Sonst tat sich nichts. Viking und die anderen Sonden hatten nur chemische Prozesse registriert, aber keinerlei Hinweise auf Leben gefunden.

Sie hatte das Experiment mit den Proben rekonstruiert, die sie von Marcs Bohrkernen und anderen verheißungsvollen Stellen genommen hatte. Doch Hinweise auf Leben hatte auch sie nicht gefunden.

Eines Tages war sie nach dem Abendessen mit einem schmutzigen Löffel über einen Teller gefahren und hatte ein paar robuste Erd-Bakterien kultiviert. Diese Bakterien setzte sie dann in frischer Mars-Erde aus und wiederholte das Experiment. Doch außer dem Sauerstoff, der durch die chemische Reaktion erzeugt worden war, hatte sich wieder nichts getan.

Die Peroxide hatten die Mikroben in kürzester Zeit vernichtet und ihre Zellwände zerfressen. Es war völlig klar, weshalb die robotischen Lander keine Anzeichen von organischer Chemie gefunden hatten. Für irdisches Leben glich der Mars einem chemischen Flammenwerfer.

Doch diesmal war es anders. Sie hatte lebendige Proben gefunden.

Sie ging schnurstracks zum Handschuhkasten. Wird Zeit, das Zeug mal unter die Lupe zu nehmen.

Auf der Erde hatte sie mit anderen Biologen ausgiebig die besten Verfahrensweisen für die Handhabung unbekannter Proben diskutiert. Der gemeinsame Nenner lautete: vor dem Kleinschneiden, Zusammenwürfeln oder Extrahieren kam immer die Beobachtung. Der lebende Organismus mußte auf Herz und Nieren untersucht werden.

Sie legte die Probe aus dem unterirdischen Tümpel unters Seziermikroskop, um sich ›live‹ und in 3-D einen genauen Überblick zu verschaffen. Sie hatte etwas vom Wasser mit den schwimmenden Lebensformen – Marcs ›Shrimps‹ – und ein Stück von der Matte mitgenommen.

Unter dem Mikroskop indes hatten sie kaum Ähnlichkeit mit Garnelen. Es handelte sich um kleine, hellrote und agile Wesen, die sich mit peitschenähnlichen Schlägen durchs Wasser bewegten. Bei entsprechender Vergrößerung wiesen sie überhaupt keine Ähnlichkeit mit Garnelen mehr auf. Vielmehr glichen sie beweglichen Kolonien.

Sie schienen aus unterschiedlichen Zelltypen zu bestehen, die durch eine flexible Matrix zusammengehalten wurden. An einem Ende befand sich ein knubbeliger Auswuchs – als Kopf wollte sie ihn allerdings nicht bezeichnen – mit einem helleren Fleck.

Nachdem sie die Lampe angeschaltet hatte, traten nur ein paar dieser Lebensformen in Erscheinung, die sich noch dazu nur träge bewegten. Wieder konzentrierten sie sich unter der Lichtquelle über dem Objektträger. Nach ein paar Minuten wurden sie lebhafter, und mehr dieser Wesen erschienen.

Aber woher? Sie überflog die rapide sich verdichtende Gruppe. Die Bewegung des Lichtpunkts versetzte sie in Wallung, bis sie sich schließlich an der neuen Position versammelt hatten.

Dann fiel ihr Blick auf die Matte am Rand des Sehfelds. Das war die Quelle. Sie kamen also von der Matte – unter ihr hervor oder aus dem Innern?

Sie erhöhte die Vergrößerung und fokussierte einen schmaleren Abschnitt. Dort. Fasziniert sah sie, wie sich ein hellroter runder Fleck in der schleimigen Matrix der Matte im Licht regte, sich von der Matte ablöste und davonschwamm. Sie richtete den Fokus auf einen anderen Fleck und schaltete die eingebaute Videokamera ein.

»He, Marc«, rief sie. »Das mußt du dir mal ansehen! Die Shrimps quellen aus der Matte.«

Marc hatte an einem der langen Tröge gearbeitet, die sie für den Anbau der Pflanzen verwendeten. Während der langen Monate der Mission hatte er ein Faible für die Gärtnerei entwickelt und war Julia im Gewächshaus immer wieder zur Hand gegangen.

Er folgte ihrem Ruf, und sie stand auf, um ihm Platz zu machen.

Sie straffte sich. Sie war durchgefroren und steif. Das Gewächshaus war so temperiert, daß sie es im Hautanzug gerade noch aushielt – wenn sie herumlief und sich um die Pflanzen kümmerte. Sie drehte die Bodenheizung hoch. In voller Montur wollte sie hier nun auch wieder nicht arbeiten. Nicht einmal die Heizelemente der Stiefel vermochten die Kälte abzuhalten, die sich durch den Boden fraß. Verdammter kalter Planet!

Marc schaute für eine Weile durchs Mikroskop, ohne etwas zu sagen.

»Super. Was tun sie da?«

»Ich bin nicht sicher. Auf jeden Fall reagieren sie auf etwas, das ich ausgelöst habe. Vielleicht aufs Licht.«

»Ich meine, welchen Sinn hat es, sich zu einer an der Wand klebenden Lebensform zu vereinigen?«

»Berechtigte Frage. Dasselbe gilt für die Photorezeptoren – sie sind so gut wie nutzlos im Untergrund.«

»Also …« – er runzelte die Stirn – »… haben die Shrimps sich auf der Oberfläche des Planeten entwickelt?«

»Alle Indizien deuten darauf hin. In der warmen und feuchten Frühzeit des Mars. Es handelt sich um fossile Kreaturen.«

»Mann, ist das aber lange her.« Stirnrunzelnd schaute er auf. »Auf der Erde sind Höhlenwesen blind. Wie kommt’s dann, daß diese primitiven Augen über Hunderte von Millionen Jahren im Untergrund überdauert haben?«

»Es muß eine positive natürliche Auslese für eine schwimmende,

›sehende‹ Lebensform stattgefunden haben; andernfalls wäre der genetische Code für diese Merkmale durch Mutation längst verstümmelt worden.« Sie verstummte und überlegte angestrengt.

»Also hat es ein paar Feucht- und Warmzeiten gegeben, vielleicht sogar viele … oder die Mutationsrate ist hier viel niedriger.«

»Hm. Das wäre durchaus möglich. Im Untergrund wirkt die kosmische Strahlung nicht, zumal auf dem Mars eh weniger radioaktive Elemente vorkommen als auf der Erde.«

»Genau. Je näher ein Planet an der Sonne steht, desto mehr überwiegen die schweren Elemente. Außerdem sind die schweren Elemente auf dem Mars im Kern konzentriert. Im Gegensatz zur Erde werden sie nicht durch tektonische Aktivitäten an die Oberfläche transportiert.«

»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Die Hintergrund-Mutationsrate auf der Erde wird zum größten Teil durch kosmische Strahlung und radioaktiven Zerfall bestimmt. Auf dem Mars …

… liegt sie vielleicht viel niedriger«, beendete er den Satz.

»Verdammt. Wünschte, ich könnte mich mit Chen darüber unterhalten. Ich hasse diese Geheimniskrämerei.«

Er stand auf. »Genau. Ich hätte auch jede Menge Fragen an Airbus.«

»Zum Beispiel?«

»Ob sie zum Beispiel diese Anlage nutzen wollen. Ich ernte heute die Bohnen, aber ich könnte auch welche für sie anpflanzen. Ich meine, wir haben eh nichts mehr davon, weil sie frühestens in zwei Monaten reifen. Und bis dahin sind wir längst verschwunden.«

»Es sei denn …« Sie verstummte.

»Es sei denn, wir kommen nicht hier weg?«

»Der Gedanke ist mir gekommen.«

»Nun, dann verscheuch ihn gleich wieder. Wir müssen von dieser rostigen Schlackekugel runterkommen«, knurrte er.

Diese heftige Reaktion überraschte sie. Ein Paradigmen-Wechsel war angesagt.

»Ich wundere mich noch immer über ihr kleines Schiff. Es ist nicht größer als das ERV.«

»Kleiner. Die NASA hat das ERV für eine sechsköpfige Besatzung ausgelegt. Und diese Atomrakete bietet maximal vier Leuten Platz.«

»Exakt. Ich frage mich, wie es möglich ist, in einer solchen Sardinenbüchse zu leben und noch etwas zu tun! Ich meine, man könnte den Transit auch in einer Kabine von der Größe eines Kaninchenstalls überstehen, weil es eh nichts zu tun gibt.«

Er zuckte die Achseln. »Vielleicht wollen sie sich auch das Hab aneignen, nachdem wir abgeflogen sind.«

»Hm. Das ist ein ganz neuer Aspekt. Aber müßten sie nicht erst das Konsortium fragen? Und uns Bescheid sagen? Damit wir die Betriebsbereitschaft für sie aufrechterhalten? Allerdings sind sie ziemlich weit entfernt für einen Umzug.«

»Sie müssen nur die Position verändern. Ich wette, mit der Atomrakete ist ein solches Manöver ohne weiteres zu bewerkstelligen.«

»Meine Überlegungen gehen in eine andere Richtung. Nehmen wir mal an, sie werden nicht lang hier bleiben.«

»Eine ›Flaggen-und-Fußabdrücke‹-Expedition? Damit würden sie keinen Blumentopf gewinnen. Aber das sind wieder nur Mutmaßungen. Wir wissen es nicht. Es ist das gleiche wie beim tar baby.«

»Ich gebe dir recht: wir wissen fast gar nichts. Das wurmt mich.

Aber was mich am meisten ärgert, ist, daß wir auf der größten Neuigkeit sitzen, die der Erde seit ein paar Jahrhunderten zu Ohren gekommen ist. Und ich darf’s niemandem sagen! Zum Teufel mit privaten Expeditionen und Preisen, wenn es im Endeffekt darauf hinausläuft.«

Sie wunderte sich über seine Erregung. Vielleicht war es auch ansteckend. Zeit für die nächste Sitzung mit Erika.

»Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Fürs erste müssen wir uns wohl damit abfinden.« Er streckte sich. »Ich geh zurück zu meinen Bohnen. Viel Spaß mit den Shrimps.«

Freudig stürzte sie sich wieder in die Arbeit. Draußen strich der Wind leise pfeifend um die Kunststoffwände. Die Windgeräusche waren auch ein Grund, weshalb Julia sich so gern im Gewächshaus aufhielt. Der Schall trug ohnehin nicht weit in der dünnen Mars-Atmosphäre, und das Habitat war so gut isoliert, daß praktisch kein Geräusch von der Außenwelt durchkam.

Sie wußte nur zu gut, daß das wahrscheinlich die einzige Probe war, die sie zu nehmen vermochte. Und sie mußte noch viele Tests durchführen. Natürlich würde jeder Biologe auf der Erde eine Probe haben wollen. Sie beschloß, Ableger zu ziehen. Schließlich züchten wir hier auch irdisches Gemüse …

Nach einiger Überlegung entschied sie sich für eine Variante der Standard-Treibhausnebelkammer. Auf der Erde dienten sie dazu, Ableger zur Ausbildung von Wurzeln anzuregen. Sie hoffte, hier würde es das Wachstum der Matte stimulieren. Wenn sie Licht, Wärme und Wasser mag, soll sie’s kriegen.

Sie stellte die Kammer direkt neben der Außenwand des Gewächshauses auf, weil dort günstigere Lichtverhältnisse herrschten. Ein flaches Blech mit neutralisiertem Marsboden diente als Substrat. Sie befürchtete nämlich, die Peroxide würden selbst einheimischem Leben den Garaus machen. Im Anschluß daran installierte sie ein Sprinklersystem und mixte ein wäßriges Gebräu aus anorganischen Elementen, das auf die Ableger hinabregnen würde. Keine Ahnung,woraus sie Energie gewinnt – auf der Erde gibt es Organismen, die sich an Schwefel laben, und eine Art ernährt sich sogar von Mangan.

Also serviere ich ihr einen Metall-Cocktail, aus dem sie sich dann die besten Stücke rauspicken soll. Sie dichtete die Kammer mit Isolierband hermetisch ab und pumpte über einen Wechsel von der Handschuhkasten-Zuleitung Mars-Luft hinein.

»Gut, ich bin fertig.« Marcs Worte rissen sie aus den Gedanken.

Julia wurde sich bewußt, daß sie völlig in der Arbeit aufgegangen war.

»Ist es schon soweit? Was gibt’s zum Abendessen?«

»Gewächshaus-Überraschung.« Er hielt einen Beutel mit Gemüse hoch. »Mir ist so gulaschig zumute heute abend.«

»Mmmm. Ich räume hier nur noch auf, und dann komme ich nach.

Ich versuche, die Matte unter optimalen Bedingungen zu kultivieren. Wäre doch ein bißchen dürftig, wenn wir nur konservierte Proben mitbringen.«

»Sollte nicht allzu schwierig sein. Bewahre sie unter Sauerstoffabschluß in einem kalten und dunklen Behälter auf.«

»Ja«, sagte sie abwesend. »Ich würde zu gern wissen, was die schwimmenden Entitäten dazu bewegt, sich aus der Matte herauszulösen. Ich habe aber keine Ahnung, wieso es sich bei ihnen überhaupt um bewegliche Lebensformen handelt.«

»Genau. Wo sollten sie auch hin?«

»Sie schwimmen – das deutet auf Wasser hin. Seen, Flüsse, Meere.

Glaubst du, es gibt weiter unten in der Fumarole flüssiges Wasser?«

Er zuckte die Achseln. »Warm genug wäre es jedenfalls dafür.«

»Hilft mir auch nicht weiter. Ich habe während des Abstiegs etliche Proben genommen und festgestellt, daß die Konzentration der schwimmenden Entitäten in der Matte im oberen Abschnitt der Fumarole am höchsten ist.«

»Wie ist das möglich?«

»Ich habe eine verrückte Idee. Ich habe die Bedingungen in den Petrischalen variiert. Man gebe Wasser hinzu, und ein paar von ihnen kommen zum Vorschein. Man erwärme die Schale, und mehr kommen hervor. Doch wenn man noch Licht hinzufügt, strömen sie heraus. Wasser, Wärme, Licht … was folgern wir aus dieser Kombination?«

»Aha … gute Zeiten auf der Oberfläche?«

»Ja. Deine warmen und feuchten Perioden. Vielleicht sind die beweglichen Lebensformen Samen oder Kundschafter. Bei Ausgasungen werden Stücke von der Matte abgerissen und aus der Fumarole geblasen. Wenn die Bedingungen auf der Oberfläche sich verbessern, landen die Fetzen in einer Pfütze oder einem See. Die beweglichen Entitäten platzen heraus und bilden Kolonien.«

»Genial. Das gefällt mir«, sagte Marc. Er ließ sich von ihrer Begeisterung anstecken.

»Mein Problem sind aber die Zyklen. Was glaubst du, wie oft das schon passiert ist?«

»Warme und feuchte Perioden? Die Bohrkerne im Ma’adim Vallis haben ein paar Millionen Jahre der Mars-Geschichte abgedeckt. Aus den Marken der Kraterwände geht hervor, daß es mindestens zwei große Seen im Gusev-Krater gegeben hat, die für lange Zeit existierten. Außerdem habe ich ein paar Schichten mit fossilen Mikroben gefunden, wie du dich erinnerst. Wenn ich also den Durchschnitt eines ungesicherten Grundwerts nehme, tritt vielleicht alle 400 Millionen Jahre eine langanhaltende Warmphase auf. Sie wird durch starken Vulkanismus eingeleitet. Dadurch entsteht nämlich das CO2, das den Planeten für eine Weile erwärmt.«

»Vierhundert Millionen Jahre sind aber eine lange Zeit, um auf eine Gelegenheit zum Baden zu warten.«

»In der Zwischenzeit gibt es noch diese Aufwallungen von Krustenwasser, die von weiß der Geier was ausgelöst werden. Von Vulkanen vielleicht. Das erhöht ihre Chancen.«

»Das hört sich schon besser an.«

»Ja, zumal die Ausgasungen mit den Mattenfragmenten wahrscheinlich in Intervallen von Monaten, höchstens Jahren stattfinden.

Falls eine Überflutung auftritt, würde die Matte das sofort ausnutzen.«

»Marc, du bist ein Genie. Ein Geologie-, Verzeihung, Aerologie-Lexikon auf zwei Beinen.«

Summend ging er davon. Ein glücklicher Geologe.

Die Sonne ging unter, und sie wußte, daß die Temperatur steil in den Minusbereich abstürzte. Die dünne Atmosphäre hatte zuwenig Masse, um die Temperaturschwankungen zu puffern. Ein Temperatursturz von zwanzig Grad binnen einer Minute war keine Seltenheit.

Dann erblickte sie den Dünenbuggy, der sich langsam durch den Sand wühlte. Freudig winkte sie Viktor durch die milchige Wand des Gewächshauses zu. Bei Sonnenuntergang kehrten alle Ausflügler zum Habitat zurück. Das war eine weitere Sicherheitsmaßnahme.

* * *

Nachdem sie geduscht hatte, wurde sie von Viktor im Schlafzimmer erwartet. Sie schälte sich aus dem Stepp-Bademantel und fläzte sich in lasziver Nacktheit aufs Bett. Der gefütterte Bademantel verbarg ihre intimen Stellen vor Raouls und Marcs Blicken. Die Jungs waren eh auf Entzug, und da mußte sie sie nicht noch anheizen.

Gleich am Anfang hatten sie und Viktor die Kabinen so aufgeteilt, daß die eine als Schlafzimmer und die andere als Büro diente. Wenn keiner von beiden Küchendienst hatte, trafen sie sich schon vor dem Abendessen, um sich gemeinsam zu entspannen.

Unzählige Medienbeiträge hatten sich über die Spannungen in einer aus einem Ehepaar und zwei Singles bestehenden Besatzung ausgelassen. Garniert wurden diese Artikel mit Spekulationen darüber, wie zwei gesunde, potente Jungs nach zwei Jahren in einem engen Habitat sich wohl fühlten, wenn hinter der dünnen Trennwand ein Pärchen eine Nummer schob. Da waren Spannungen doch vorprogrammiert?

Bisher hatte diese Annahme sich nicht bewahrheitet. Raoul und Marc ergingen sich gewiß in sexuellen Phantasien und masturbierten (sie hatte ein Pornovideo auf Raouls Computer gesehen), doch im Gemeinschaftsbereich des Habitats gaben sie sich locker und sachlich.

Im Habitat war kein Platz für Mimosen. Die Situation war damit zu vergleichen, als ob vier Leute für zwei Jahre in einem kleinen Apartment gelebt hätten. Sie hatten unbewußt die japanische Art angewandt, Privatsphäre ohne Wände zu schaffen. Sie starrten sich nicht an und drangen nur dann in den privaten Bereich der anderen ein, wenn sie dazu aufgefordert wurden.

Niemand hatte sich freilich Gedanken darüber gemacht, wie es im Hab zugehen würde, falls der Haussegen bei den Frischvermählten – so frisch war die Ehe nach über zwei Jahren, von denen sie die meiste Zeit im Weltall verbracht hatten, allerdings auch nicht mehr – einmal schiefhing. Vielleicht würden sie es auf dem halbjährigen Rückflug erfahren. Sie hätte dann noch Gelegenheit, sich darüber Gedanken zu machen; doch fürs erste …

Viktor war schon in der Kabine, als sie hereinkam. Er summte vergnügt. Sie küßte ihn heiß und innig. »Ich hatte eine wundervolle Zeit im Labor. Und wie war dein Tag?«

»Mein Nachmittag, meinst du wohl. Hast du schon das gemeinsame Mittagessen vergessen? Im neusten Bistro auf dem Mars? Das Airbus-Cafe?«

»Ich nix vergessen, du altes russisches Bär.« Manchmal nahm sie ihn wegen seines starken russischen Akzents auf die Schippe. Allerdings hatte er sich bisher nicht darüber beklagt.

Wohlgefällig schweifte ihr Blick durch den Raum. Es fehlten nur noch ein Fernsehgerät, eine Couch und ein paar Flaschen Bier, und man hätte das Gefühl gehabt, sich in einem dieser wabenförmig angeordneten japanischen Mikro-Apartments zu befinden. Es war ein richtig gutes Gefühl, wieder zu arbeiten.

Viktor mußte ihre Befindlichkeit gespürt haben. »In Ordnung. Erzähl mir von der Mars-Matte. Was hat es damit auf sich?«

»Ich habe ein paar Stücke abgetrennt und sie unter jedes Mikroskop gelegt, das ich habe. Es ist ein komplexer Biofilm aus Schichten verschiedenartiger Organismen – anaerobe einzellige Organismen, wie ich vermute.«

»Hatten immerhin ein paar Milliarden Jahre Zeit, sich zu entwickeln.«

»Das unterirdische Leben auf der Erde ist aber nicht so hoch entwickelt.«

»Unterschiedliche Bedingungen.«

»Äh … genau. Hier mußten die Anaeroben sich nicht gegen eine giftige Sauerstoffatmosphäre behaupten.«

»Wie entwickelt ist diese Mars-Matte eigentlich? Oder würde die Bezeichnung Mars-Pilz es eher treffen?«, fragte er mit einem Augenzwinkern.

»Überlaß die Terminologie bitte den Profis. Jedenfalls scheint die Matte auf einer höheren Entwicklungsstufe zu stehen als der durchschnittliche irdische Biofilm, aber vielleicht täuscht der Eindruck auch, weil die Matte einfach nur größer ist. Sie verfügt über ein Kanalsystem für den Flüssigkeitstransport, über das die inneren Zellen mit Nährstoffen versorgt und Abfallstoffe ausgeschieden werden.

Wie ein Wasserwerk.«

»Und wo ist die Pumpe?«

»Es ist keine erforderlich.«

»Wie soll das Wasser dann zirkulieren?«

»Ich glaube, daß es sich vertikal bewegt, anstatt zu zirkulieren.«

»Wie soll das Wasser denn ohne Pumpe ans obere Ende der Matte gelangen? Du sagtest doch, sie sei ein paar hundert Meter hoch.«

»Wie bei einer Wassersäule wird das Wasser durch die an der Oberseite stattfindende Verdunstung angesaugt. Man könnte es auch mit einem Baum vergleichen, dessen Blätter das Wasser von den Wurzeln ansaugen.«

»Dann ist die Matte quasi ein flacher Baum?«

Sie schaute ihn mit gehobenen Augenbrauen an. »Das ist eine interessante Betrachtungsweise. Die Kanäle sind irgendwie verstärkt.

Sie erinnern mich an Xylem-Röhren …« Sie verstummte, als sie seinen leicht gequälten Blick sah.

»Bin Ingenieur.«

»Na gut. Grundkurs Botanik. Ein Baum wird von vielen dünnen Röhren durchzogen – dem Xylem –, die Wasser zum Wipfel transportieren. Bei den Mammutbäumen sind das weit über hundert Meter. Die Xylem-Röhren sind tot, so daß das Wasser nicht hinaufgepumpt, sondern hinaufgesaugt wird – ein passiver Vorgang. Die Biologie bedient sich der Physik. Hier würde es auf die gleiche Art funktionieren, nur daß bei 0,38 Ge ein Mars-Baum geradezu in den Himmel wachsen würde.«

»Und wie groß ist die Matte?«

»Weiß nicht. Wir waren fast einen Kilometer tief, und die Strukturen wurden immer größer. Das Matten-Material zog sich bis auf ein paar Dutzend Meter zum Eingang der Fumarole hinauf. Sie muß sich also ein paar hundert Meter hinabziehen. Mindestens.«

»Das ist ziemlich viel, selbst für den Mars.«

»Nun, ich arbeite hier nur mit Schätzungen. Zumal ich nicht genau weiß, wie der Wassertransport funktioniert. Es gab zum Beispiel röhrenartige Strukturen mit vertikaler und horizontaler Ausrichtung, die an ein Kreislauf-System erinnerten. Vielleicht verliefen im Innern Wasserkanäle. Und …«

Die Glocke rief zum Abendessen.

Sie verstummte. Plötzlich war der Eifer verflogen. »Hab ich vielleicht einen Hunger.«

Viktor lachte. »Pavlov hatte doch recht. Kaum bimmelt die Futterglocke, und schon bekommt man Hunger.«

Sie sog den Duft ein. »Mmmm, es gibt Gulasch. Marc hat stundenlang Gemüse geerntet. Gehen wir.«

Die Frage, wie sein Tag im ERV gewesen war, hatte sich für sie erledigt.