Kapitel 34

1. Februar 2018

»Das ist höchst interessant«, sagte Marc.

Er lud gerade routinemäßig Daten von Sensoren herunter, die sie an verschiedenen Orten aufgestellt hatten – vor allem für die Wetterbeobachtung. Trotz des abgekühlten Verhältnisses zwischen den beiden Männern, die im ERV hausten, auf der einen und Viktor und Julia, die das Habitat bewohnten, auf der anderen Seite wußte jeder um die Notwendigkeit der programmierten Wartung. Seit fast zwei Jahren hing ihr Leben von einer gut funktionierenden Ausrüstung ab. Raoul und Marc waren früher am Tag mit dem Dünenbuggy herübergekommen, und Raoul hatte sich gleich darangemacht, die Lebenserhaltungssysteme zu überprüfen.

»Hm?« Julia schaute vom Rechner auf.

»Der Airbus-Rover parkt an der Fumarole. Dorthin sind sie also gefahren.«

»Was? Ich verstehe nicht.«

»Raoul und ich haben gestern Airbus angerufen, nur daß niemand zuhause war. Das heißt, niemand außer Claudine. Und sie reagierte äußerst zugeknöpft auf die Frage, wo die anderen beiden steckten.

Nun wissen wir Bescheid.«

»Was tun sie dort überhaupt? Seht ihr die Besatzung?«

»Nein, nur den Rover und eine montierte Seilwinde. Ich vermute, daß sie schon abgestiegen sind.«

Sie sprang auf. »Dieser Hurensohn! Ich glaub’s nicht! Als ich zuletzt mit Chen sprach, war von einem gemeinsamen Abstieg die Rede.«

»Wie das?«

»Ich wollte mit ihnen beziehungsweise mit ihm gehen. Ich war der Ansicht, eine Exkursion mit zwei Biologen sei das Optimum.«

»Der Boss weiß darüber Bescheid?«

»Noch nicht. Er weiß bisher nur, daß ich mit Chen ein biologisches Fachgespräch geführt und ihm meine Ergebnisse gezeigt habe. Und daß ich mich geweigert habe, ihm den Rückflug mit den Proben zu vergelten. Ich bereue es nun, daß ich Chen überhaupt etwas gesagt habe. Wenn ich gewußt hätte, was er im Schilde führt …«

»Im Zweifelsfall hätte er die Fumarole auch ohne dich gefunden.«

»Ich habe ihm weder die Lage noch die Beschaffenheit der Fumarole beschrieben. Es war kein Reisebericht, sondern, wie gesagt, ein biologisches Fachgespräch.«

»Und wie hat er sie dann gefunden?«

»Ist wahrscheinlich in unseren Spuren zurückgefahren. Er hat während der Landung gesehen, aus welcher Richtung wir kamen.

Aber wir können ihn auch noch einmal fragen.«

»Dann weiß er also nicht, was ihn erwartet?«

»Nicht in allen Einzelheiten. Ich sagte nur, es sei rutschig und gefährlich und daß Viktor sich dort verletzt hätte. Ich hatte noch immer einen Grummel gegen diesen Bastard. Wollte die Proben mit ihm erörtern und ihm nicht helfen, den Preis zu gewinnen.«

»Nun, den wird er nun wohl gewinnen«, sagte Marc matt. »Wir haben unsren letzten Trumpf verloren.«

* * *

Die Zeitung aus Sydney brachte einen reißerischen Artikel über ›Die Mars-Grippe‹.

»Was?« rief sie. »Hört euch das mal an: ›Julia Barth ist dem Tode näher als dem Leben. Das Mars-Leben, das sie entdeckt hatte, hat sie mit einer Krankheit infiziert …‹ Woher haben sie das?«

»Axelrod sagte, es gäbe keine Lecks«, sagte Viktor.

Weil Raoul gerade die Systemwartung im Hab durchführte, zogen sie ihn auch zur Besprechung hinzu. »Ich habe nur mit meinem persönlichen Berater gesprochen«, rechtfertigte er sich.

»Dann muß der Berater also die undichte Stelle sein«, sagte Viktor.

»Wie wir bereits vermutet hatten«, sagte Marc.

»Verdammt!« fauchte Julia. »Wir können niemandem mehr vertrauen.«

»Wir sollten jedes Wort auf die Goldwaage legen.«

»Die Medien werden auf der Erde einen Flächenbrand entfachen«, sagte Marc.

So sah es aus, und bald wurde Julia es überdrüssig, auch nur die

›gefilterte‹ Nachrichtenübersicht durchzugehen. Alsbald meldete Axelrod sich und tat sein Bedauern wegen des Lecks kund. »Ein gottverdammtes Revolverblatt hat Raouls Mentor eine Million für die Story geboten«, sagte er zornig. »Sagte, er wolle nicht erst abwarten, bis er die Nachricht von Raouls Tod bekäme. Dieser Bastard!«

»Ich frage mich nur, ob Axelrod wirklich nichts davon wußte«, sagte Marc.

»Du meinst, Axelrod beschafft sich Kopien von unsren Beratungsgesprächen?«

»Wäre möglich. Würde auch die Lecks erklären«, sagte Marc.

»Wir wissen nicht, ob er es war«, sagte Raoul. »Wir wissen nur, daß wir keinem mehr vertrauen dürfen.«

Für Julia machte Axelrods Nachricht sowieso keinen Unterschied mehr. Für jeden von ihnen wurde der Alptraum aus Quarantäne und Panik plötzlich überaus real.

Sie saßen in düsterer Stimmung beim Nachmittagstee, als auf der Kommunikationskonsole plötzlich ein rotes Licht blinkte. Das unerwartete Klingeln riß Julia vom Stuhl.

Notruf! Aber von wem?

Claudines dünne und angespannte Stimme übertönte die plötzliche Hektik, »‘allo, seid ihr da? Etwas stimmt nicht. Gerda und Chen haben die Basis mit dem Rover verlassen und haben den zweiten Kontrollanruf versäumt. Könnt ihr etwas tun?«

Marc war zuerst an der Konsole. »Wo sind sie?«, fragte er, obwohl er genau wußte, daß der Rover noch immer an der Fumarole parkte.

»Sie befinden sich in einer tiefen Spalte etwa zwanzig Kilometer nördlich von hier. Es ist die Fumarole, in der Julia die Lebensform gefunden hatte. Sie sind heute morgen wieder runtergegangen, und ich ‘abe seitdem nichts mehr von ihnen gehört.«

»Heute morgen wieder? Wie lang sind sie denn schon dort draußen?«

»Seit gestern. Sie hatten gestern nachmittag einen Probeabstieg unternommen und wollten heute tiefer runter.«

»Und die Meldung sollte wann erfolgen …?«

»Gegen midi … äh … Mittag. Sie haben ein paar Reserve-Sauerstoffflaschen mitgenommen, doch nun müssen sie schon die letzte angebrochen haben. Vielleicht sitzen sie dort unten fest«, sagte sie schrill und verstummte.

Für kurze Zeit herrschte Schweigen. Julia durchlief in schneller Folge ein Wechselbad der Gefühle: Besorgnis, Angst, Mitgefühl, Zorn, Neid, Genugtuung, dann Scham. Durch den Dunst hörte sie Marcs leise Stimme.

»Äh … Claudine, wir werden die Sache kurz besprechen und melden uns dann wieder bei dir.«

»Oh, merde. Laßt euch aber bitte nicht zuviel Zeit. Sie kommen vielleicht dort unten um. Es ist nicht unsre Schuld; wir haben die Regeln für dieses Spiel nicht aufgestellt …«

»Wir auch nicht. Es wird aber eine Weile dauern, bis wir an der Fumarole sind.«

Marc schaltete ab. Dann drehte er sich auf der Liege um und schaute die anderen fragend an. »Nun?«

»Geschieht ihnen ganz recht!«, explodierte Julia. »Ich habe diesen kleinen aufgeblasenen Bastard vor den Risiken gewarnt!«

»Was sagt man dazu? Sie erwarten von uns, daß wir ihnen helfen!«, sagte Raoul grimmig.

»Weil ich ihnen keine Probe gegeben habe, wollten sie sich selbst eine besorgen«, sagte Julia. »Nun zahlen sie den Preis des Wettbewerbs.«

»Sie haben bekommen, was sie verdienen«, pflichtete Marc ihr bei.

Viktor nahm die Hände hoch. »Zuerst müssen wir einmal herausfinden, ob sie wirklich Hilfe brauchen«, sagte er in ruhigem Ton.

Julia holte tief Luft und beruhigte sich wieder. Sie schenkte Viktor ein dankbares Lächeln. »Richtig«, sagte sie. »Hat jemand einen Vorschlag?«

»Wir sollten noch einmal versuchen, sie über Funk zu erreichen und die Sensoren überprüfen.«

»Oui, mon capitaine«, sagte Marc und drehte sich wieder zur Konsole um. »Wir kennen nicht einmal ihre Funkfrequenz – bei der paranoiden Geheimhaltung, die sie betrieben haben«, sagte er. »Ich starte einen Breitband-Suchlauf.«

Während sie dasaßen und warteten, überschlugen sich die Gedanken in Julias Kopf.

»Situation unverändert«, meldete er nach drei Minuten, die ihnen wie eine halbe Ewigkeit erschienen waren.

»Vielleicht haben sie Probleme mit dem Seil«, sagte Julia. »In den unförmigen Anzügen hat man sich ruckzuck verheddert.«

»Vielleicht haben sie den Notruf auch nur vorgetäuscht, um uns von der Basis wegzulocken und in unserer Abwesenheit den Treibstoff zu stehlen«, sagte Raoul.

»Wozu sollten sie den überhaupt noch brauchen?«, fragte Marc.

»Richtig. Das Rennen ist gelaufen«, sagte Viktor.

»Noch nicht«, grummelte Raoul. »Was ist mit Julias Proben im Gewächshaus?«

»Aber sie sind doch schon in der Fumarole«, wandte Marc ein.

»Sie können sich dort selbst welche besorgen.«

»Und woher wollen wir das wissen?«, konterte Raoul. »Ich traue diesem arroganten Schlitzauge nicht über den Weg.«

Julias Gedanken rasten. Nachdem sie sich nun schon ein paarmal in Lebensgefahr befunden hatte, würde Viktor ihr niemals erlauben, noch einmal in die Fumarole abzusteigen. Doch hatte sie hier vielleicht einen Ansatzpunkt. »Schau, wenn ihr beide hierbleibt, wird es Airbus nicht gelingen, uns einen Überraschungsbesuch abstatten, falls sie nicht in der Fumarole sind. Dann können Marc und ich hinfahren und nachsehen, was los ist.« Sie warf Raoul einen Blick zu und ergänzte schnell: »Falls überhaupt etwas los ist.«

Viktor runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

»Wir schulden ihnen nichts«, sagte Raoul bitter. »Trotzdem gebietet das Gesetz der Wüste es, jemanden, der sich in Gefahr befindet, Hilfe zu leisten.«

»Sie würden keinen Finger für uns rühren«, sagte Marc.

»Das ist eben der Unterschied zwischen ihnen und uns«, sagte Raoul. »Da, wo ich herkomme, läßt man jedenfalls niemanden im Stich, der in Not ist.«

Marc dachte für einen Moment nach und schüttelte dann den Kopf. »Ja, du hast recht. Ich glaube kaum, daß wir eine andere Wahl haben. In Ordnung, ich werde gehen.«

Julia registrierte, daß Viktor sich zurückhielt und dem Rest der Besatzung die Initiative überließ. Vorsicht … du bewegst dich noch auf ziemlich dünnem Eis. »Wir dürfen sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen.«

Viktor blickte skeptisch. »Der Ansicht bin ich auch. Ich finde, wir sollten nachschauen. Aber ihr beiden steigt nicht sofort ab, verstanden? Ihr werdet erst gegen Abend dort ankommen. Es wäre zu riskant, die Ausrüstung in der Dämmerung aufzubauen.«

»Wir gehen kein Risiko ein«, sagte Julia.

»Wir werden euch per Funk überwachen.« Viktor schaute sie der Reihe nach grimmig an. »Bleibt in Verbindung. Das ist eine Kapitäns-Order.«