Kapitel 15

17. Januar 2018

Am nächsten Tag mußte sie sich wieder als Hilfsarbeiterin bereithalten, doch es gab nicht viel zu tun.

Raoul verbrachte fast den ganzen Tag in der ERV-Werkstatt und befestigte die Röhren, die er geschweißt hatte, akkurat mit Rohrschellen. Einen großen Teil des Schrotts mußte er wieder einschmelzen, gießen und auf der Drehbank beziehungsweise der Warmpreßmaschine bearbeiten. Bei diesen Werkzeugen, die er von der Erde angefordert hatte, handelte es sich um Wunderwerke der Technik: sie waren miniaturisiert und in Leichtbauweise ausgeführt.

Sein Sachverstand war ein Segen für die Besatzung. Ohne diese leichten Präzisionswerkzeuge wären sie vom ersten Tag an aufgeschmissen und nicht einmal imstande gewesen, die Reparatur der Schäden in Angriff zu nehmen, die das ERV bei der Landung erlitten hatte. Doch beklagte Raoul, wenn er müde von des Tages Mühen war, sich darüber, wie wenig er wieder geleistet hätte. Jeden Abend fand er eine neue Variation des Themas ›Hätte ich doch nur

…‹ Also unterstützte Julia ihn -und Viktor, der sich wegen des geschwollenen Knöchels als Feinmechaniker in der ERV-Werkstatt betätigte – nach besten Kräften. Doch sie war eben keine Maschinistin.

Nach ein paar Fehlern legte Raoul ihnen nahe, sich vom ERV-Laderaum fernzuhalten, in dem er arbeitete.

Der Standortwechsel zwischen ERV, Habitat und Rover war jedesmal mit einem solchen Aufwand verbunden, daß sie die ›Schleusendurchgänge‹ (ein NASA-Terminus) auf ein Minimum beschränkten.

Und doch schleppten sie immer wieder roten Feinstaub ins ERV ein – trotz des ›Doppeldusch‹-Systems, das den Staub abspülen sollte.

Also war sie schon am Vormittag arbeitslos. Sie verstieß gegen die Bestimmungen des Missions-Protokolls, indem sie nur mit einem Hautanzug bekleidet als Melder für Raoul und Viktor einsprang.

Den plumpen Druckpanzer, den sie hätte anlegen sollen, verschmähte sie. Die Hautanzüge waren hochelastische Kleidungsstücke, die den Träger unter einem Druck isolierten, der für normale Bewegungsabläufe genügte und die ohne die Druckgelenke und komplizierte Hydraulik der Raumanzüge auskamen. Obwohl der Hautanzug mit einem Akku und einer Elektroheizung ausgestattet war, mußte sie noch eine Thermojacke und -hose überziehen. Sie kam sich vor wie ein Eskimo, doch war sie immer noch beweglicher als in der schwerfälligen Montur.

Zumal bisher niemand den Zyklus in einer ›Ritterrüstung‹ bewältigt hatte. Sie erledigte die Kurierfahrten mit einem Dreirad. Im Hautanzug fielen die Bewegungsabläufe ihr leicht, und sie genoß das beinahe nostalgische Gefühl.

Radfahren auf dem Mars! Trotz der drei Ballonreifen, mit denen sie über den Sand rollte, war es zumindest ein Gefühl wie Radfahren.

In der Kindheit war sie auf der Straße und im Gelände gefahren und hatte viel Spaß dabei gehabt. Unwillkürlich schweiften die Gedanken ein halbes Jahr in die Zukunft: dann würde sie mit ihren Eltern an den Strand fahren, eine warme Brise würde ihr das Haar zerzausen, sie würde mit Viktor schäkern …

Vielleicht, rief sie sich zur Ordnung.

Nach zwei Jahren war die Besatzung ein eingespieltes Team, dessen Mitglieder sich ohne Worte verständigten. Die konsequente Teamarbeit trug Früchte: für die Vorbereitung des nächsten Triebwerkstests blieb ihnen mehr Zeit als ursprünglich geplant.

Dennoch wollte sie sich ihre Idee nicht aus dem Kopf schlagen. In der vergangenen Nacht hatte sie neben Viktor gelegen und den Gedanken freien Lauf gelassen. Genauer gesagt, sie hatte die Gedanken ziellos schweifen lassen, weil sie kein konkretes Ziel vor Augen hatte.

Sie brauchte ein gutes, gehaltvolles Gespräch, spürte aber, daß Viktor mit seinen Gedanken ganz woanders war. Nun war es Zeit für eine Sitzung mit Erika, ihrer psychologischen Mentorin. Sie wollte sich gerade eine Gesprächsstrategie zurechtlegen, als Marc erschien und ihr eine neue Aufgabe übertrug.

In ihrer Eigenschaft als Biologin war sie für die Lebenserhaltungssysteme des Habitats verantwortlich. Die Luftreiniger mußten regelmäßig eingestellt und die Filtereinsätze erneuert werden. Außerdem oblag ihr die ›Haushaltsführung‹. Sie führten einen ständigen Kampf gegen den allgegenwärtigen Staub. Die Kombination aus Anzugsdusche und Körperdusche wandelte die virulenten Peroxide der staubigen Oberfläche in Sauerstoff – ein nützliches Nebenprodukt – und wäßrigen Boden für das Gewächshaus um. Die Toilette, die sie benutzten, hatte einen Abscheider für feste und flüssige Fäkalien, wobei der Urin wiederaufbereitet wurde.

Was den Bio-Ingenieuren bisher noch nicht gelungen war, war die Umwandlung der Feststoffe in nützliche, wenn schon nicht ekelerregende Produkte. Die nächste Expedition sollte ›es möglich machen, von in situ-Ressourcen zu leben‹, wie im NASA-Handbuch zu lesen war – also durch Kompostierung.

Die biologischen Bestimmungen sahen vor, daß die Fäkalien hier entsorgt wurden. Sie hatten inzwischen die vierte Kapsel mit Exkrementen gefüllt und versiegelt. »Bringen wir’s hinter uns«, sagte Marc. »Dann fällt dieser Punkt bei der Endkontrolle schon einmal weg.«

Es dauerte zwei Stunden, bis sie und Marc den sperrigen Kunststoffbehälter aus dem Unterbau des Habitats gezogen und auf die Ladefläche des Dünenbuggys gewuchtet hatten. Schon erstaunlich, wieviel Scheiße vier Leute in einem halben Jahr produzierten! Die braune Masse, die gnädigerweise von einem lichtundurchlässigen Plastiksack bedeckt wurde, war komprimiert und tiefgefroren. Es war schon das dritte Mal, daß sie diese Arbeit verrichten mußten – natürlich in voller Montur. Marc hatte ein paar Kilometer entfernt eine Grube ausgehoben. Dazu hatte er den Spaten benutzt, der zur Ausrüstung des Rovers gehörte. Der Peroxidstaub würde sich wahrscheinlich in ein paar Jahren durchs Plastik gefressen haben, doch zugleich würde er die organischen Bestandteile der Fäkalien neutralisieren. Das minimale Kontaminationsrisiko war auch der einzige Vorteil der bizarren Oberflächen-Chemie – kein Isolationslabor auf der Erde war auch nur annähernd in der Lage, die widrigen Bedingungen zu simulieren, unter denen die organische Chemie hier ablief.

Der Mars war ein strenger Lehrmeister. Hier wurde einem erst bewußt, welche Fürsorge Mutter Erde den Menschen angedeihen ließ, ohne daß die es überhaupt bemerkten. Der Wiederaufbereitung von Luft, Wasser und Nahrung lagen komplizierte chemische und physikalische Abläufe zugrunde, von denen man bisher wenig wußte.

Sie mußte die Systeme ständig im Auge behalten. Ein CO2-Anstieg würde den Tod bedeuten, ehe sie überhaupt begriffen hatten, was los war. Sank die Luftfeuchtigkeit im Habitat, würden sie eine trockene Kehle bekommen und nur noch krächzen.

Die Menschen waren zweibeinige Schmutzfinken. Ein Teil der Ausscheidungen der vier wurden vakuumverpackt und diente im Gewächshaus als wertvoller Dünger, der Proteine und Mikroorganismen enthielt. Kurz nach der Landung hatte sie eine Probe im Freien ausgesetzt – eine ›Recycling-Probe‹, wie sie es in einem Brief an die Zeitschrift Nature bezeichnet hatte –, und der Mars hatte binnen einer Stunde jede Zelle abgetötet. Diese Oberfläche war der effektivste Reinraum im ganzen Sonnensystem.

Schließlich drohte der emotionale Konflikt sie zu überwältigen. Sie sagte den anderen, daß sie eine Pause einlegen müßte, und ging ins Habitat. »Gut, dann ruh dich aus«, sagte Viktor über Funk.

Zuerst duschte sie zweimal und genehmigte sich dann einen winzigen Cognac – ein geringfügiger Regelverstoß –, um den Latrinendienst zu vergessen.

Nachdem sie das Teewasser aufgesetzt hatte, hörte sie Klavierstücke von Chopin. Jeder von ihnen hatte einen anderen Musikgeschmack. Viktor mochte den melancholischen Tschaikovsky und Mahler, Raoul hatte ein Faible für temperamentvolle südamerikanische Steeldrum-Bands und Marc für zähe Streichermusik. Wurde das Habitat einmal über die Lautsprecher mit Musik beschallt, führte das schnell zu Diskussionen über die Auswahl der Stücke. Also hörten sie über Kopfhörer Musik. Die Sicherheitsbestimmungen verboten jedoch das Musikhören im Raumanzug, weil die Klänge die akustischen Warnsignale übertönt hätten.

Chopins brillante, schnelle Stücke hatten eine geradezu kontemplative Wirkung auf sie, während sie sich vor die Kamera setzte, um die Gesprächstherapie zu eröffnen. Die Echtzeit-Verbindung stand, wie man auch erwarten durfte, und sie lud den angestauten Frust auf die Psychologin ab – Erika die Kummertante, wie Julia sie insgeheim nannte. Julia hatte seit ein paar Tagen nicht mehr mit Erika kommuniziert, und wo sie nun allein im Habitat war, sprudelte ein Wirrwarr aus Emotionen aus ihr heraus.

»Erika, als Sie mich das letztemal fragten, wieso ich unzufrieden sei mit der Mission, habe ich abgeblockt. Nun will ich es Ihnen sagen. Nach Hause! Ich will hier weg. Manchmal habe ich Herzbeklemmung vor lauter Heimweh. Ich sehne mich nach Mums und Dad und den – wie heißt der alte Ausspruch? – grünen Hügeln der Erde …«

Der gravierende Nachteil der Fern-Therapie bestand indes darin, daß sie im Grunde Monologe führte. Die achtminütige Zeitverzögerung vereitelte Gespräche nach dem Aktions-Reaktions-Prinzip.

Doch war es besser als gar nichts. Sie fuhr fort.

»Den Mars verlassen … wissen Sie, ich spüre förmlich die Sehnsucht von Millionen, den Drang einer ganzen Zivilisation, zu neuen Ufern aufzubrechen. Ich möchte ihnen etwas wirklich Großes mitbringen.«

Während sie sich die Probleme von der Seele redete, gelangte sie gleichzeitig zu einem besseren Verständnis dieser Probleme. Weshalb trieb die Frage nach Leben auf dem Mars das zeitgenössische Kollektivbewußtsein um? Sie beherrschte den ganzen Diskurs und war der Motor des Preisgeld-Systems.

Viktor und Raoul betrachteten die Erforschung des Mars ausschließlich unter dem Aspekt der ökonomischen Vorteilhaftigkeit.

Sie waren eben Ingenieure, nüchterne und praktisch denkende Männer. Solche Leute brauchte man, um das Funktionieren einer Rakete zu gewährleisten. Visionäre waren sie jedoch keine, und schon gar nicht hatten sie die prophetische Begabung, den Nutzen der Mission zu prognostizieren.

Gewiß hatte Axelrod bei der Durchführung dieses großen Projekts sich auch vom Gewinnstreben leiten lassen. Doch nicht nur.

Sie war der Ansicht, daß die Biologen die Verantwortung dafür trugen. Zwei Jahrhunderte zuvor hatten sie nämlich die Ideen von Adam Smith und dem Sozialökonomen Thomas Malthus verquickt und eine Analogie zwischen dem Markt und der Natur gezogen. Sie hatten den Geist des Mechanismus aus der Flasche gelassen, und der wollte nun nicht mehr dorthin zurück – nicht, nachdem die Evolutionstheoretiker Darwin und Wallace ihren Triumphzug durch das theologische Terrain des Milleniums angetreten hatten. Gott starb im Bewußtsein der Intellektuellen und wurde selbst für das einfache Volk leichenblaß.

Alles wissenschaftlich fundiert, keine Frage. Doch in Julias Augen hatten die Biologen die Menschheit der spirituellen Basis beraubt. Es gab keine Engel, Geister und andere erhabenen Wesenheiten mehr, die man anzurufen vermochte. Irgendwie füllte die innige Verbundenheit mit den Tieren, insbesondere den Walen, Schimpansen und Delphinen, die Lücke nicht aus. Die Menschheit brauchte etwas Größeres.

»So, wie ich es sehe, steht hinter unsrem Flug zum Mars eine rastlose, unausgesprochene Sehnsucht. Es ist die Gilde der Wissenschaftler, Leute wie ich, die nach einem Beweis suchen, daß wir nicht die einzigen vernunftbegabten Wesen im Kosmos sind. Dazu dienen das Weltraumprogramm und die Radioteleskope, mit denen man nach extraterrestrischen Intelligenzen sucht. Aus diesem Grund hat die Entdeckung fossiler Mikroben niemanden vom Hocker gerissen, nicht einmal mich selbst.«

Unterlegt wurden ihre Worte vom Eindruck der öden und tristen Marslandschaft. Der Mars hatte über Milliarden Jahre einen epischen Kampf gegen die Kräfte der Kälte und Trockenheit geführt, wobei er den unerbittlichen Gesetzen der Gravitation, Chemie und Thermodynamik unterlag. War gegen alle Wahrscheinlichkeit Leben entstanden, und war es ihm nicht nur gelungen, sich zu halten, sondern sich zu entwickeln?

»Für mich ist schon die Entstehung von Bakterien in dieser trockenen und kalten Hölle ein Wunder. Aber damit will ich mich nicht zufriedengeben!«

Dann erzählte sie der Psychologin von ihren Bemühungen, die anderen zu überzeugen und schilderte ihr die Haltung der jeweiligen Besatzungsmitglieder – bis ihr schließlich bewußt wurde, daß das keine Strategiesitzung war. Zumal Erika ihr auch keine Schützenhilfe leistete. Die Mentoren behandelten Informationen streng vertraulich und hielten sich aus Streitigkeiten der Besatzung heraus.

»Na gut, dann wünschen Sie mir eben viel Glück. Und versuchen Sie nicht, mir das auszureden!«

Natürlich hätte sie am liebsten sofort eine Antwort bekommen, doch war das aus den hinlänglich bekannten Gründen nicht möglich. Sie verstummte mit einem Gefühl des Unbehagens. »Ich werde wohl nicht darum herumkommen, mich mit den anderen auseinanderzusetzen.«

Sie würde am Abend eine Antwort bekommen, nachdem Erika Julias Ausführungen zur Kenntnis genommen und ein Konzept ausgearbeitet hatte; die Psychologen mußten jederzeit für das Konsortium erreichbar sein.

Doch während sie die üblichen Abschiedsfloskeln herunterleierte, wurde Julia sich bewußt, daß eine Antwort eigentlich unnötig war.

Allein die Gelegenheit, Dampf abzulassen, hatte bewirkt, daß sie sich wieder viel besser fühlte.

Sie vernahm den Lockruf der Fumarole. Und die Zeit lief ihr davon.