Kapitel 2

März 2015

»Verdammt, wieder festgefahren!«

Sie hatte den Rover Boy gefahren, wie sie das Gerät nannten.

Rover war der Telepräsenz-Explorer, der die Landezone auf dem Mars erkundet hatte. Als eine Hinterlassenschaft des Mars-Vorposten-Programms funktionierte er auch nach nunmehr fünf Jahren noch. Eine chemische Anlage versorgte den Rover und den Notstromgenerator der Basis mit Strom. Eine Mikrowellen-Antennenschüssel hielt über drei stationäre Nachrichtensatelliten am Marshimmel den Kontakt mit der Erde aufrecht. Sie hatte mit dem Rover, der im Johnson-Raumfahrtzentrum entwickelt worden war, jahrelang trainiert. Nun manövrierte Julia ihn durch das schwierige Gelände, wie eine Mutter, die ihrem ängstlichen Kind das Laufen beibringt.

Sie bugsierte ihn am Umfang des Thera-Kraters entlang, wobei der Autopilot des Fahrzeugs die Böschung und das Gestein untersuchte.

Das war die einzige Möglichkeit, wenn die Zeitverzögerung mehr als eine halbe Stunde betrug. Das Rover Boy-Modell stellte den aktuellen Stand der Technik dar, doch gab es Probleme. Große, schier unüberwindliche Probleme.

»Wo ist er?«, fragte Viktor neben ihr.

»Sieht so aus, als ob er in einer Sanddüne feststecken würde.«

Sie gab Befehle für Vergrößerung ein, wobei die Finger auf der Konsole einen wahren Trommelwirbel schlugen. In der Nähe summten die Labors des Jet Propulsion Lab (Jet Propulsion Laboratory (JPL): Weltraum-Forschungszentrum in Pasadena, Kalifornien).

Mit zweiunddreißig hatte sie noch ein genauso ungestümes Naturell wie früher. Mehr noch, sie wollte auch gar nicht zur Ruhe kommen. Wenn sie hätte durchblicken lassen, wie sehr die enormen Verzögerungen bei der Steuerung von Rover Boy ihr zusetzten, hätte sie den Ausschluß von der Mars-Mission riskiert. Also huschten ihre Finger nutzlos über die Konsole, anstatt mit dem Rover Boy Gas zu geben und zu versuchen, ihn aus dem fünfundachtzig Millionen Kilometer entfernten Treibsand herauszuwühlen.

»Ja, die Düne zur Linken. Dort hat er sich schon einmal festgefahren.«

»Das Navigationssystem muß ihn in diese Richtung gelotst haben.«

»Vielleicht bringt’s was, nach links einzuschlagen und zurückzusetzen«, sagte Viktor. Er hielt das wohl für einen guten Rat.

»Einen Arbeitstag nur dafür zu vergeuden, um aus einem Schlagloch rauszukommen«, quengelte sie. Dann schickte sie den Rückwärts-Befehl ab und schlug die Räder des Rovers nach rechts ein.

Ihre Schicht wäre zuende, noch bevor das Fahrzeug wieder freigekommen war.

Sie warf einen Blick auf das gerahmte Bild des kleinen Sojourner-Rovers, der bei ihr im Alter von vierzehn Jahren die Weltraumbegeisterung überhaupt erst ausgelöst hatte. Das war im Jahr 1997 gewesen. Sojourner hatte am gleichen Zeitverzögerungs-Problem gekrankt – schneller als mit Lichtgeschwindigkeit ging es eben nicht! –, doch seine unbeholfenen Fahrversuche waren die Ursache für Julias Mars-Fixierung gewesen. Sie nahm das Bild von Sojourner immer zur Arbeit mit. Es sollte ihr Glück bringen. Doch heute war Fortuna zickig.

Rover Boy war wesentlich größer und moderner, aber … »Im Zeitlupentempo werden wir uns wohl nicht allzu weit von Thera entfernen.«

Viktor deutete auf eine Schliere am Horizont. »Ist das etwa eine Wolke?«

»Hmmm.« Sie vergrößerte die letzte Darstellung in dieser Richtung – Nordwest. »War vorhin noch nicht da.«

»Wolken am Mittag sind ungewöhnlich. Normalerweise lösen sie sich schon am Morgen auf.«

»Handelt sich vielleicht um einen Übertragungsfehler.« Es würde über eine Stunde dauern, bis dieser Abschnitt wieder ins Blickfeld rückte. Sie sendete den Befehl, die Fernsehkameras zu schwenken.

Julia seufzte. Sie hatte sich noch immer nicht mit der schlichten Tatsache abgefunden, daß sie, Viktor und der Rest – durchweg gute Leute – nicht zur sechsköpfigen Besatzung gehören würden, die in einem Jahr zum Mars flog. Natürlich hatten sie von vornherein gewußt, daß die Hälfte der in der Ausbildung befindlichen Astronauten eine Ersatzmannschaft bilden würde. Natürlich würden sie an der zweiten Expedition teilnehmen. Falls es eine zweite gab. Und das war unwahrscheinlich; es sei denn, die erste Besatzung machte einen spektakulären Fund. Die NASA hatte das Budget für den ersten Flug jetzt schon gesprengt.

Also mußte sie die Hände in den Schoß legen und auf das Rücksignal warten: der Rover würde wahrscheinlich melden, daß er noch immer feststeckte. Mit einem Fingerschnippen legte Viktor die Schalter für die Bildschirmkontrolle um. »Schau’n wir mal, was in den Nachrichten kommt.«

Mit einem Anflug von Niedergeschlagenheit betrachtete sie die TV-Bilder von Cape Canaveral. Da stand sie, nur noch ein paar Minuten bis zum Start: der Big Boy Booster, wie die medienwirksame Bezeichnung lautete. Sie sagte sich streiflichtartig, daß alles bei dieser Mission – Rover Boy, Big Boy und andere Boys – irgendwie jungenhaft klang. Woran das wohl lag?

Das Mars-Landemodul wirkte winzig im Vergleich zur zigarrenförmigen Trägerrakete, auf deren Spitze es saß. Gleich würde sie in den Orbit geschossen werden, um die ersten Testflüge im All zu absolvieren. Sie dachte an ihre Freunde, die darauf warteten, auf dieser Rakete in den schwarzen Himmel zu reiten und den silbrigen Zylinder auszusetzen. Sie würden ihn mit der letzten Booster-Stufe als Gegengewicht in Rotation versetzen und für einen Monat physiologische Tests in einer Schwerkraft von 0,38 Ge durchführen – und wieder schlug eine Woge des Neids über ihr zusammen.

Nun liefen die letzten zwanzig Sekunden. Sie streckte den Arm aus und faßte Viktor bei der Hand. Sie würde es mit dem Moment der Anspannung und so weiter begründen – falls überhaupt jemand es bemerkte. (Oder hatte man es schon vor langer Zeit bemerkt, bevor sie und Viktor sich noch gefunden hatten – und beide für die zweite Besatzung eingeteilt?) »Zündung«, sagte die monotone, nüchterne Stimme, die nun schon seit über einem halben Jahrhundert am Cape ertönte.

Der riesige weiße Booster, noch größer als die Saturn V, stieg majestätisch auf – und ein gelber Feuerball blähte sich am Triebwerkskranz auf. Die Explosion zerriß die Zuleitungen über den Düsen.

Das gleißende Gelb stieg an den Seiten empor und hüllte in einem Lidschlag die Nutzlast ein. Der Booster hatte bereits deutlich Schräglage.

* * *

Es war ein GAU, der größte anzunehmende Unfall.

Die Raumfahrt lebte in ständiger Angst davor, zumal es unmöglich war, das Risiko ganz auszuschließen. Es genügte ein defekter Wandpuffer am Hochdruckpunkt. Ein Brennstoff-Rückstau. Eine druckinduzierte chemische Reaktion.

Die gewaltige, konzentrisch sich ausbreitende Explosion zerstörte den Startturm, Stützgerüste – letztlich den gesamten Startkomplex.

Die aus sechs Personen bestehende Besatzung versuchte, mit dem Schleudersitz auszusteigen, doch lief der ganze Vorgang selbst für Astronautenreflexe viel zu schnell ab. Sie alle starben einen schnellen, gnädigen Tod.

Wie auch ein Elektriker, der noch in einer Entfernung von achthundert Metern von einem Metallsplitter tödlich getroffen wurde.

Julia durchlebte die darauffolgenden Tage der öffentlichen Empörung wie in Trance. Trauerte um Freunde. Ging Fernsehreportern aus dem Weg. Sah, wie das Debakel den Rückhalt der NASA im Kongreß unterminierte. Sie lebte in den Tag hinein, während das graue Leichentuch über ihrem Leben langsam gelüftet wurde.

Bald forderten die Vollstrecker des Repräsentantenhauses ein noch größeres Opfer als den Booster. Die gesamte Mars-Mission wurde

›für die gesamte Dauer suspendiert‹, wie ein altgedienter Politiker sich ausdrückte. Die gesamte Dauer wovon? Anscheinend bis zum Minimalenergie-Fenster, das 2016 sich öffnen würde. Und das nächste Startfenster würde sich dann 2018 auftun. Doch würde das Mars-Programm jemals wieder in Angriff genommen werden, wenn es erst einmal auf Eis gelegt worden war?

Langsam versank Julia in Depression. Die Aussicht auf eine Teilnahme hatte sie für lange Zeit mit Energie erfüllt. Als diese Hoffnung nun wie eine Seifenblase zerplatzte, stürzte sie in ein tiefes Loch.

Für sie hatte das ›Prinzip Hoffnung‹ gegolten, seit die USA vor sechs Jahren das Mars-Abkommen geschlossen hatten. Seinerzeit schien es ein brillanter Schachzug zu sein. Die entscheidende Frage mit Blick auf den Mars lautete, wie man dort hinkam, ohne daß das gesamte Bruttosozialprodukt dafür verschleudert wurde. Als Präsident George Bush im Jahr 1989 für den fünfzigsten Jahrestag der Mondlandung eine bemannte Mission zum Mars forderte, erstellte die NASA sogleich einen Kostenvoranschlag: vierhundertfünfzig Milliarden Dollar. Angesichts dieser Preisvorstellung war Bushs Initiative im Kongreß gestorben. Der Preis war aus dem Grund so hoch, weil die NASA und die Unternehmen der Luft- und Raumfahrtindustrie die Mission mit allen nur erdenklichen Extras ausstatten wollten. Eine erweiterte Raumstation. Eine Mondbasis. Redundanz.

Multiple Reservesysteme sind ein Garant für Sicherheit – doch je tiefer die Systeme gestaffelt sind, desto höher sind auch die Kosten.

Die Vierhundertfünfzig-Milliarden-Dollar-Rechnung der NASA hätte die Regierung an den Rand des Ruins gebracht.

Also wurden innovative Lösungswege beschritten: den wohlhabenden Industrienationen bot sich die Gelegenheit, billig in dieses Abenteuer einzusteigen, indem man ein Preisgeld von dreißig Milliarden Dollar für die erste erfolgreiche bemannte Mars-Expedition auslobte.

Diese Strategie, welche die europäischen Regierungen für riskante Forschungsreisen schon seit langem nutzten, war im fünfzehnten Jahrhundert erstmals von den Portugiesen angewandt worden. Im Jahre 1911 setzte William Randolph Hearst(Randolph Hearst: Berühmter amerikanischer Zeitungsverleger. – Anm. d. Übers) ein Preisgeld von fünfzigtausend Dollar für denjenigen aus, der Amerika als Erster in weniger als dreißig Tagen überflog. Fliegen mit Muskelkraft erfuhr einen Popularitätsschub durch den Zweihunderttausend-Dollar-Preis, der im Jahre 1978 vom Gossamer Albatross ausgeschrieben wurde. Die Methode funktionierte.

Aus den mannigfaltigen Vorteilen stach der politische Nutzen hervor: die jeweilige Regierung mußte erst nach getaner Arbeit ihren Beitrag leisten, und auch nur in Form eines Erfolgshonorars – und für ein Scheitern des Projekts kam dann der Steuerzahler auf. Die Politiker vermochten sich als weitsichtige Förderer der Forschung zu profilieren und gleichzeitig als Feinde arbeitsintensiver bürokratischer Programme. Und kam ein Astronaut zu Tode, dann ging es auf die Kappe des Investors und brachte nicht gleich die ganze Regierung in Mißkredit.

Um den Mars-Preis zu gewinnen, wäre es mit Flaggenhissen und ein paar Fußabdrücken aber nicht getan. Das Abkommen sah vielmehr eine Art ›Schnitzeljagd‹ mit einer Reihe wissenschaftlicher Arbeiten vor – geologische Kartierung, seismische Untersuchungen, das Studium atmosphärischer Phänomene, das Niederbringen von Kernbohrungen, die Suche nach Wasser und natürlich nach Spuren von (fossilem) Leben. Die Proben vom Mars wären enorm wertvoll: für eine komplette Probenpalette mit einem Gewicht von dreihundert Kilogramm würde das aus Vertretern der Signatarstaaten bestehende Gremium dreißig Milliarden Dollar hinblättern. Alles, was darüber hinausging, würde den Investoren als Rendite zufließen.

Vordergründig enthielt das Mars-Abkommen Klauseln für eine internationale Erschließung des Mars. In Wirklichkeit handelte es sich um eine konzertierte Aktion zugunsten der NASA, die von Anfang an als Sieger gehandelt wurde. Julia und die anderen Astronauten hatten ihre Ausbildung unter dieser Prämisse absolviert.

Diesmal hatte die NASA jedoch mit Zitronen gehandelt. Niemand wollte sich der Herausforderung stellen, und nun arbeitete die NASA mit bescheidenen Mitteln darauf hin, 2016 das minimalenergetische planetar-orbitale Fenster zu durchstoßen.

Eine Woche nach der Explosion und einen Tag nach dem feierlichen Staatsbegräbnis gab Präsidentin Feinstein bekannt, daß die Vereinigten Staaten ›ihre Energie in erdnahe Projekte investieren würden‹. So sollte die Raumstation zum Beispiel mit einem weiteren Sonnensegel bestückt werden – für solche Dinge ließ der Kongreß aus politischem Kalkül immer ein paar Dollar springen.

Der Mars schien tot. Die Astronauten waren am Boden zerstört, denn sie hatten Jahre für eine sinnlose Ausbildung vergeudet. Ein paar nahmen erst einmal Urlaub. Einer vergnügte sich mit Fallschirmspringen. Wieder andere hingen in Bars herum, was der im Arbeitsvertrag verlangten gesunden Lebensweise nicht eben entsprach.

Julia versuchte während der ganzen Zeit ihre fröhliche Maske aufzubehalten, doch sie verrutschte immer wieder. Sie tröstete Marc und Raoul, Männer, die verheißungsvolle Karrieren für das Marstraining aufgegeben hatten. Selbst in dieser Zeit bewahrte sie Stillschweigen über ihre romantische Verstrickung mit Viktor. In der festgefügten kleinen Welt der Astronautenpolitik mußte man immer mit Überraschungen rechnen. Möglicherweise bedeutete gerade diese Geheimhaltung ihren Abschied von den Raumstation-Missionen – das einzige ›Weltraumspiel‹, das überhaupt noch stattfand.

Dann besuchte ein schlanker, gut gekleideter Mann das Marsastronauten-Team im Johnson-Raumfahrtzentrum.

Ihm folgte ein Geschwader von Männern in Anzügen und Frauen in Kostümen. Sie machten einen aufmerksamen und interessierten Eindruck. Während er die Parade abnahm, verneigten sie sich so tief, daß eine Welle durch die in Linie angetretenen Leute lief. Das war ein spektakulärer Auftritt. Er schüttelte ein paar Hände, wechselte ein paar Worte und gebärdete sich ganz wie ein Politiker. Julia wußte, daß sie ihn schon einmal gesehen hatte. Sein Blick bestrich das NASA-Personal wie ein Suchscheinwerfer. Die Leute brachen die Unterhaltung ab und sahen ihn an. Der ganze Raum schien sich auf ihn zu konzentrieren.

Schließlich blieb sein Blick an dem Dutzend Astronauten hängen.

Er legte eine Kunstpause ein und stellte dann die Frage: »Möchte noch jemand zum Mars fliegen? Aber nur mit einem Billigflug.«

John Axelrod. Strahlendes Lächeln, gesunde Bräune, blaue Augen, die blitzschnell die Lage einschätzten. Er hatte sie vom ersten Moment auf eine eigentümliche Art und Weise fasziniert.

Sein Geld war ursprünglich von Genesmart gekommen, einer Gentechnik-Firma, an deren Gründung er beteiligt gewesen war. Das Unternehmen hatte Tourex auf den Markt gebracht, ein antibakterielles Präparat gegen Durchfallerkrankungen. Das Mittel war zum unverzichtbaren Reisebegleiter für Touristen und Geschäftsreisende in aller Welt geworden. Nach dem Börsengang von Genesmart avancierte er über Nacht zum Multimilliardär. Doch war er auch die Art von Mensch, der wettete, wessen Koffer zuerst auf dem Gepäckausgabe-Karussell auftauchte. Sein Interesse für den Mars reichte bis in die Kindheit zurück. Obwohl er nicht einmal die erste Stufe der Astronautenausbildung geschafft hatte, interessierte er sich nach wie vor für die Raumfahrt und verfügte noch aus den ›guten, alten Zeiten‹ über Kontakte zur NASA.

Er wußte, daß das unbemannte Rückkehr-Schiff der NASA, das ERV, vor über einem Jahr zum Mars geflogen war. Es war im Gusev-Krater gelandet und hatte mit Kondensaten der Mars-Atmosphäre aufgetankt. Nun stand das Schiff bereit, eine Besatzung zur Erde zurückzubringen. Und er wollte nicht, daß die Mars-Mission zu Grabe getragen wurde.

»Zumal«, so hatte er den Astronauten gesagt, »das eine profitable Sache ist.«

Binnen weniger Tage hatte der zupackende Axelrod ein Konsortium aus großen Unternehmen auf die Beine gestellt, um den Mars-Preis in Höhe von dreißig Milliarden Dollar abzustauben.

»Wir hatten doch sechzig Milliarden Dollar für den Flug veranschlagt«, warf ein Astronaut ein.

»Das ist die Bürokraten- und Planwirtschaftsrechnung.« Axelrod grinste, wobei die weißen Zähne mit dem braunen Teint kontrastierten. Er schien Mitte Vierzig zu sein und war ein ausgesprochenes Energiebündel. »In der freien Marktwirtschaft gibt’s den Flug für den halben Preis.«

Er griff auf eine riskante, aber kostengünstige Methode für den Flug zum roten Planeten zurück, die schon Anfang der 90er entwickelt worden war. Anstatt sich des teuren, im Orbit stehenden NASA-Mutterschiffs zu bedienen, würde die Konsortiums-Besatzung mit einem kleineren Schiff einen Direktflug zur Erde unternehmen; und zwar mit dem NASA-Rückkehr-Schiff, das bereits auf dem Mars wartete.

»Das ERV ist aber Regierungseigentum«, gab ein Astronaut zu bedenken.

»Das Schiff ist aufgegeben worden. Meine Anwälte werden dahingehend argumentieren, daß hier im übertragenen Sinne das Seerecht gilt. Ohne Besatzung gehört es demjenigen, der es in Besitz nimmt.«

»Das ist nicht fair!«

»Was ist schon fair im Leben.«

Eine auf vier Mann verringerte Besatzung ermöglichte es dem Konsortium zudem, ein kleineres bemanntes Habitat-Fahrzeug zu starten. Die vierköpfige Besatzung würde in der Nähe des ERV landen.

»Das ist zum einen gefährlich, und zum anderen sieht die Einsatzplanung das nicht vor.«

»Der Mars ist an sich gefährlich und entzieht sich jeder Planung.

Ich muß die Kosten minimieren.«

»Mit nur vier Leuten haben wir keine Auffangposition.«

»Ich brauche keine Auffangposition. Ich will schließlich vorwärts marschieren.«

»Wenn jemand krank wird …«

»Es wird ein qualifizierter Arzt an Bord sein. Aber er – oder sie – wird auch andere Arbeiten übernehmen. Alle sind allzeit beschäftigt.«

»Vier sind trotzdem zu wenig!«

»He, je weniger Leute wir hochschicken, desto weniger haben wir zu verlieren.«

Da war etwas dran.

Aber … die Orbitalmechanik war ebenso eindeutig wie kompromißlos. Der Rundflug würde zweieinhalb Jahre dauern. Wegen der veränderlichen Planetenkonstellationen folgen die Startfenster für Trajektorien mit dem geringsten Brennstoffverbrauch in Abständen von etwa sechsundzwanzig Monaten aufeinander. Hin- und Rückflug dauern jeweils ein halbes Jahr, so daß für den Aufenthalt auf dem Mars zirka anderthalb Jahre zur Verfügung stehen.

Nachdem er den Vortrag beendet hatte, trat Axelrod zurück, hakte die Daumen in den Gürtel und wartete auf weitere Protestkundgebungen. Doch es herrschte Schweigen. Seine direkte, unprätentiöse Art hatte die Astronauten ernüchtert. Im Rahmen des großkotzigen NASA-Plans hätte der Rundflug nicht einmal ein Jahr gedauert – horrende Spritkosten, aber nur ein kurzer Spaziergang für die Besatzung. Die Vier vom Konsortium indes würden auf dem Mars ausharren, arbeiten und überleben müssen – ein brutaler Härtetest.

Dafür wäre es billig. Und sie würden alle reich werden … falls sie zurückkamen. Die Vergütung würde sich auf einen siebenstelligen Betrag belaufen. »Im Erlebensfall«, sagte Axelrod. »Oder für die Hinterbliebenen.«

»Und ihr kriegt das alles für dreißig Milliarden Piepen gebacken?«, fragte jemand.

»Nee, für zwanzig. Schließlich muß noch was dabei ‘rausspringen, Leute.«

Ein langes Schweigen.

»Freiwillige?«, fragte Axelrod. Das Dutzend Astronauten wechselte Blicke. Einer verlor die Beherrschung und schalt Axelrod einen Wahnsinnigen. Drei andere äußerten Bedenken und verließen den Raum.

Doch acht Personen waren bereit, das Wagnis einzugehen. Geradezu begierig. Einschließlich Julia und Viktor, Raoul und Marc.

* * *

Während der nächsten paar Wochen vertieften die acht Kandidaten sich in die Planung von Axelrods riskantem ›Mars Direkt‹-Konzept, so wie die Mercury-Astronauten sich seinerzeit aktiv an der Entwicklung des ersten Raumschiffs beteiligt hatten. In der Theorie war der Flug schon seit einer Weile möglich, wobei die Mars Society federführend gewesen war. Axelrod mußte die Theorie nur noch in die Praxis umsetzen. Bob Zubrin stattete ihnen einen Besuch ab –

der Tom Paine(Tom Paine: NASA-Direktor, in dessen Amtszeit die Mondlandung im Jahr 1969 fiel. – Anm. d. Übers. ) des Mars, der das Konzept des Billigflugs überhaupt erst entwickelt hatte. Zubrin war inzwischen ergraut, was seiner Dynamik aber keinen Abbruch tat und nahm mit missionarischem Eifer an der Personalversammlung teil.

Gewiß, Axelrod glaubte an den Segen privaten Kapitals, doch weil durch das unerbittliche Wirken planetarer Orbits das Startfenster immer näher rückte, verstand er es auch, Zeit zu sparen. Er mietete vom Johnson-Raumfahrtzentrum die Astronauten-Trainingseinrichtung an – die billigste, effektivste und gleichzeitig schnellste Art, sie auf den Flug vorzubereiten.

Sich als privater Parasit bei der NASA einzunisten war nicht leicht.

Die Wankelmütigkeit des Kongresses in Bezug auf den Flug hatte aber auch ein Gutes: man freute sich über das Sprudeln privater Geldquellen. Die befürchtete Krise der Sozial- und Krankenversicherung und anderer überlasteter sozialer Sicherungssysteme machte kräftige Finanzspritzen erforderlich. Axelrod kam und gab dem Kongreß eine wohltuende Spritze. Im nächsten Jahr würde der Kongreß schmerzhafte Einschnitte beschließen müssen, doch zum Teufel, das war erst im nächsten Jahr.

Dann verkaufte der umtriebige Axelrod Kamerateams das Recht, am JSC die intensive Ausbildung der Besatzung zu filmen. Gravitations-Belastungstests für die Luftbremsung. Eventuelle Pannen bei der Integration und Bedienung der Nahrungsmittel-, Wasser- und Entsorgungssysteme. Nicht zuletzt die medizinischen Alpträume, die während des sechsmonatigen freien Falls zum Mars auftreten würden. Die Ärzte prognostizierten, daß die Besatzung bei der Ankunft zu geschwächt wäre, um zu überleben. Das war einer der Gründe, weshalb die NASA für eine kürzere, aber auch teurere Route optiert hatte. Nie zuvor hatten Redakteure der Abendnachrichten sich mit Schwerelosigkeits-Effekten, Strahlungsdosen und den Feinheiten der Orbitalmechanik beschäftigt.

Noch besser, sie präsentierten dem Publikum ein großes Geheimnis. Axelrods ganzer Plan war darauf gegründet, die Raumfahrttechnik-Prototypen der gescheiterten NASA-Mission billig aufzukaufen, um sie dann zu Flugmodulen umzurüsten. Allerdings fehlten bestimmte Schlüsselkomponenten. Kein Kommentar, tut uns leid.

Die abhanden gekommene Ausrüstung betraf vor allem die Lebenserhaltungssysteme. Julia hegte den Verdacht, daß nachgeordnete Stellen der NASA die Geräte für eine andere Unternehmung horteten, die anstelle der gestrichenen Mars-Mission stattfinden würde.

Wer hätte sonst ein Interesse daran haben sollen?

Deshalb mußte Axelrod noch tiefer in die Tasche greifen, um sie zu ersetzen. Er tat es nur widerwillig. Julia war dabei, wie er großherzig einen Scheck über 2,3 Milliarden Dollar ausstellte. Natürlich hielten die Kameras die Sache in allen Einzelheiten fest.

Die Kosten uferten aus. Und die Prognosen für zukünftige Ausgaben waren noch düsterer.

Die ganze Welt sah zu, und es wurden schon Wetten darauf abgeschlossen, daß Axelrod auf den unterfinanzierten Bauch fallen würde, bevor der Start auch nur in greifbare Nähe gerückt war.

Eines Tages waren Julia und Viktor zusammen mit dem Astronauten-Ehepaar Raoul und Katherine Molina in einem Schwimmbecken. Sie trugen Druckanzüge und simulierten in sechs Meter Tiefe die Schwerelosigkeit, der sie während des sechsmonatigen Flugs unterliegen würden. Plötzlich platzte Axelrod herein, gefolgt von seinem Assistenten-Korps, das Mühe hatte, Schritt zu halten. Er brüllte ein paar Befehle -schließlich zahlte er die Miete – und ließ sie aus dem Becken ziehen.

Tropfnaß und verärgert schauten die Astronauten ihn an. Die schweren Anzüge lasteten auf ihnen, als seien sie aus Blei gegossen.

»Tolle Neuigkeiten, Leute. Mußte sie euch persönlich überbringen.«

»Sie werden es nicht für möglich halten«, sagte Viktor, »aber die Anzüge haben Funkempfänger.«

»Das hättet ihr bestimmt nicht über Funk hören wollen. Vergeßt das Training im Becken. Ihr werdet nicht in der Schwerelosigkeit operieren.«

Noch eine Sparmaßnahme. Er und sein Team hatten sich nämlich für den Prototyp eines russischen Raumhabitats entschieden, das während des Flugs künstliche Schwerkraft erzeugen würde. Das Besatzungs-Modul war durch ein Kabel mit der letzten Stufe der großen Trägerrakete verbunden, die sie ins All schoß. Anschließend würden die beiden Module in Rotation versetzt werden, wodurch im Habitat eine künstliche, zentrifugale ›Gravitation‹ entstand.

»Seht ihr«, sagte Axelrod, »das verringert die Kosten für Ausbildung und Ausrüstung. Löst auch andere Probleme – vor allem in medizinischer Hinsicht. Erleichtert ebenfalls die Installationsarbeiten.«

Also würde die Konsortiums-Mission stattfinden. Doch welche vier von den acht würden nun fliegen?

Julia hatte in der Nacht, bevor Axelrod die Teilnehmer verkündete, keinen Schlaf gefunden. Genauso wenig wie Viktor. Sie wußte es– schließlich lag sie neben ihm, während er sich im Bett herumwälzte und grübelte.

»Du bist der Favorit«, sagte Viktor plötzlich. »Du mußt dich darauf einstellen, ohne mich zu fliegen.«

»Ich, der Favorit?«

»Siehst besser aus. Bist auch redegewandter.«

Die Möglichkeit, ohne ihn zum Mars zu fliegen, hatte sie bisher überhaupt nicht in Betracht gezogen. Daß vielleicht nur einer von ihnen ausgewählt werden würde. Sie hatte nicht über ihre Zukunft nachgedacht, jedenfalls nicht unter dem Gesichtspunkt, den er gerade in dürren Worten skizziert hatte.

»Für jeden von uns stehen die Chancen etwa fünfzig zu fünfzig.

Und die Wahrscheinlichkeit, daß wir zusammen fliegen, beträgt 25 Prozent.«

»Du bist der beste Pilot.«

»Du bist die beste Biologin und auch in allen anderen Bereichen einsetzbar. Doch solange wir nicht mehr wissen, können wir nur spekulieren.«

Sie drückte ihn an sich. »Die Vorstellung, daß unser gemeinsames Leben von der Wahrscheinlichkeitsrechnung bestimmt wird, gefällt mir nicht.«

»Mir auch nicht. Die Prozente beherrschen schon unseren Arbeitsalltag.«

Menschen waren eben keine Rennpferde, sagte sie sich. Sie waren einfach Menschen.

Axelrod gab die Mannschaftsaufstellung auf einer großen Pressekonferenz bekannt. Ein Dickicht aus Kameras wuchs aus dem Boden, und tonnenschwere Spannung lastete auf den Anwesenden.

Um den neugierigen Blick der Menschheit zu befriedigen. Die Astronauten hätten liebend gern darauf verzichtet, doch Axelrod hatte einem Kabelsender die Exklusivrechte für die Berichterstattung über dieses Ereignis verkauft.

»Muß Kapital beschaffen, wißt ihr. Werde euch Leute nämlich mit allem Pipapo zum Mars schicken.«

Und die vierköpfige Besatzung bestand aus – dem Ehepaar, Raoul und Katherine. Dem überaus telegenen Piloten, Marc Bryant. Und Julia.

Aber nicht Viktor.

Die vier auserwählten Astronauten saßen an einem langen Tisch auf dem Podest hinter Axelrod. Sie schaute auf die anderen. Raoul und Marc strahlten. Katherine hatte ihr professionelles Astronauten-Lächeln aufgesetzt, das alles Mögliche bedeuten mochte. Und sie?

Es glich einem jähen Sturz in die Schwerelosigkeit. Ein tiefer Fall.

Kein Viktor.

Sie waren nicht nur Wahrscheinlichkeiten. Sie erinnerte sich, wie sie sich gesagt hatte: Wir sind Menschen und keine Rennpferde. Und nun würden sie doch Rennpferde sein.

Sie saß im grellen Licht der Bühnenscheinwerfer und sagte sich: Kein Viktor. Für zweieinhalb Jahre. Wenn ich zurückkomme, wird es aus sein zwischen uns.