Kapitel 17

18. Januar 2018

Tags darauf, nach dem Mittagessen, brachen sie auf. Das Panorama des Gusev-Kraters entfaltete sich vor ihnen, während sie in nördlicher Richtung über das Terrain fuhren, dessen Rinnen und Mulden dem geschulten Auge eine Geschichte erzählten, die Milliarden Jahre zurückreichte. Aufmerksam betrachtete sie die sich verschiebende Szenerie mit den surrealen Pinktönen und rostroten Einsprengseln, wobei sie sich bewußt war, daß sie dieses Bild zum letzten Mal sehen würde. Sie hatte den Eindruck, daß immer neue Perspektiven sich eröffneten.

Die Hinterlassenschaft des Mars-Vorposten- Programms, das im Jahr 2009 aufgelegt worden war, bestand aus ein paar robotischen wissenschaftlichen Langzeit-Experimenten, dem Rover Boy und einer chemischen Anlage, die Kohlendioxid aus der Atmosphäre ansaugte und in Methan und Sauerstoff umwandelte. Über dem Vorposten standen drei Nachrichten-Satelliten in einem stationären Orbit, die den ständigen Kontakt mit der Erde aufrechterhielten. Außerdem hatte die Erde durch den Einsatz zusätzlicher Navigations- und Aufklärungssatelliten die Region um den Gusev-Krater so intensiv erforscht, wie das ohne Bodentruppen überhaupt möglich war. Außerdem war die Region detailliert kartiert worden. Doch fehlte der geballten Technik die wohl wichtigste Facette – das Wunder des Mars.

Vor annähernd vier Milliarden Jahren hatte ein großer Asteroid die Kruste des Mars aufgerissen und einen tiefen Krater geschlagen, den nichts aufzufüllen vermochte. Als schließlich das Wasser aus dem Hochland abfloß, fräste es im Süden einen tiefen Kanal, der heute als Ma’adim Vallis bezeichnet wird, durch die kilometerhohe Kraterwand und flutete den Krater. Für nahezu hunderttausend Jahre hatte es hier einen See gegeben, der sich langsam abkühlte – sagte Marc nach gründlicher Untersuchung der Bohrkerne. Der Pegel hatte sich vielleicht auf dem Niveau der höchsten Klippen befunden.

Sturzfluten waren aus dem Hochland angerauscht und als gischtende und brüllende Wasserfälle in die Tiefe gestürzt. Dann war der mächtige Vulkan im Norden ausgebrochen und hatte Lava, Gas und Wasser in den Krater geschleudert. Einschläge in der Nähe hatten die erwärmte Kruste perforiert und zu einem weiteren Austritt von Lava geführt. Der Kratersee war ein paarmal zugefroren und immer dann geschmolzen, wenn ein Asteroideneinschlag oder das unbeständige Klima des Mars die Bedingungen dafür geschaffen hatten.

Diese lange Geschichte war in die Wälle gefräst, die sich über ihnen erhoben, während sie im Red Rover in nördlicher Richtung fuhren. Marc hatte sie ihr erzählt.

»Weißte, meine Arbeit hier ist recht interessant«, hatte er gesagt, während er mit dem Rover vorsichtig die langgestreckte Steigung einer Sanddüne bewältigte und auf der anderen Seite wieder hinunterfuhr. »Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, daß alles für die Katz war – mit Ausnahme der Pingos

»Komm schon!«, sagte Julia, ohne den Blick von der stetig sich wandelnden Szenerie zu wenden.

»Nein, diesen Eindruck habe ich wirklich. Allein die lange Fahrt, die wir vom metamorphen Gestein bis hinauf zum Ma’adim Vallis unternommen haben. Ich wollte beweisen, daß früher Unmengen von Wasser hier durchgeflossen sind. Hab gemessen, gebohrt, die Mäander aufgespürt – alles, was dazugehört. Hab sogar ein paar Marken gefunden, die belegen, daß der Wasserpegel im Lauf der Zeit gefallen ist. Also ist früher einmal ein großer Fluß durch dieses Tal geströmt. Er war tausend Kilometer lang und einen Kilometer tief. Aber wohin ist er verschwunden?«

»Nach dem, was du mir erzählt hast, plätschert er irgendwo unter uns dahin«, sagte Julia.

»Genau, wo sollte er auch sonst sein.« Marc schaute verdrießlich auf die roten Parabeldünen und Felsbrocken. »Ich hab über ein Jahr damit verbracht, nach Mars-Eis zu suchen, und erst jetzt, quasi auf den letzten Drücker, werde ich fündig. Ich bin vielleicht ein Geologe.«

Sie streckte den Arm aus und drückte ihm die Hand. Er war in der letzten Zeit noch verschlossener als sonst gewesen, und solch freimütige Äußerungen war sie von ihm schon gar nicht gewohnt. »Du hast dir förmlich die Hacken abgelaufen.«

»Weißt du noch, wie ich diese Wand im Ma’adim erklommen habe? Dachte, ich hätte die Mündung eines Nebenflusses entdeckt.

Hab mir wirklich die Hacken abgelaufen, als ich vierhundert Meter geklettert bin und mich die ganze Zeit in der brüchigen Wand festgeklammert habe. Ich hatte eine Heidenangst, sag ich dir. Wollte es zwar nicht zugeben, aber es war so.«

»Das habe ich gemerkt.«

»War es so offensichtlich?«

»Die Leute sagen alle möglichen Dinge, wenn sie erschöpft sind.«

»Ich war auch fix und fertig, als ich zurückkam. Dieser Leichtsinn hätte mich Kopf und Kragen kosten können, aber wir hatten nicht die Ausrüstung dabei, um eine Seilschaft zu bilden.« Er sah scheinbar gleichmütig in Fahrtrichtung, doch sie wußte, daß seine seelische Befindlichkeit noch chaotischer war als die geröllübersäte und zerfurchte Ebene vor ihnen. »Damit habe ich gegen die Bestimmungen verstoßen …«

»Wir haben dagegen verstoßen. Ich hielt schließlich die Sicherungsleine.«

»… und riskierte den Hals, nur um festzustellen, daß es gar kein Zufluß war. Nur ein Wadi. Es gab keine kleineren Kanäle im Hochland, die das alte Ma’adim gespeist hätten. Kein Abfluß, also auch keine Regenfälle. Hätte nämlich einen Abfluß gebraucht, um Regen nachzuweisen. Nur daß ich keinen gefunden habe.«

»Es muß aber Regen gegeben haben.«

»Wie willst du denn nach vier Milliarden Jahren den Beweis dafür erbringen, daß Regen gefallen ist? Die Akademiker werden sich mit Bohrkernen und großen Sprüchen nicht zufriedengeben.«

»Immerhin hast du die Eiskerne.«

»Was ein Beweis für die frühere Existenz von Seen ist. Die Sedimentschichten sprechen auf jeden Fall dafür. Doch wäre es auch möglich, daß das Wasser an die Oberfläche gepreßt wurde. Ich habe nur Anzeichen von Fließerosion gefunden. Die Ebenen sind weder von Kanälen noch von Entwässerungs-Netzwerken durchzogen.«

»Das Wasser verbirgt sich unter der Oberfläche. Es hält sich von der Sonne fern, damit es nicht verdunstet. Schlaues Wasser.«

Er lachte, und plötzlich hellte seine Stimmung sich auf. »Schlaues Wasser trickst blöden Geologen aus.«

»Es war eine gute Idee, den Bohrer zu verstärken.«

»Raouls Idee.«

»Aber du hast sie in die Praxis umgesetzt.«

»Es war ganz einfach, nachdem ich mich erst einmal damit beschäftigt hatte. Es hat aber zu lang gedauert.«

»Die Pingos von der Seite anzubohren? Darauf wäre ich nicht gekommen.«

»Wenn sie einen Wildcatter für die Aufschlußbohrungen geschickt hätten …«

»Die ersten fünf Versuche sind doch gescheitert. Ein Wildcatter hätte schon vorher aufgegeben.«

»Zum Glück hatte ich beim sechsten Versuch Erfolg.«

»Na gut, dann führen nicht alle Pingo-Hügel Wasser, jedenfalls nicht in geringer Tiefe.«

»Ich hatte nur Glück, noch dazu in letzter Minute.«

»Dein ›Glück‹ bestand überwiegend aus harter Arbeit und Intuition.«

Am Nachmittag erreichten sie den ersten Pingo-Hügel. Sie fuhren exakt in den Spuren von Marcs und Raouls letzter Expedition.

Missions-Bestimmung: man setze sich nicht unnötig der Gefahr aus.

Eine neue Route barg neue Risiken, vielleicht sogar Todesfallen.

Oder die Gesteinsformation war so instabil, daß die Vibrationen des Rovers genügten, um eine Gerölllawine auszulösen.

Marc sprach im Plauderton über die Fumarole, und sie ging auch darauf ein, doch war sie in Gedanken woanders. Sie hatte ihr Leben dem Weltraum gewidmet, doch letztlich war sie diesem ebenso lebensfeindlichen wie schönen Land verfallen.

Bislang hatten die Astronauten sich nur im erdnahen Orbit aufgehalten, ohne die Wolkenfelder der Erde jemals aus dem Blick zu verlieren. Die schwarze Weite zwischen den Welten war nicht mit dem erdnahen Raum zu vergleichen, wo der große Planet wie ein Kunstwerk aus changierenden milchig-weißen Schlieren, kräftigen Blau- und pastelligen Grüntönen über dem Betrachter hing, umhüllt von einer hauchdünnen Schicht aus fahler Luft.

Schon der Flug zum Mars war eine Grenzerfahrung gewesen. Auf der langen Reise hatten sie zwischen der Ewigkeit der Diamantsplitter-Sterne gehangen – gleichsam erstarrt in ihrer Umarmung, reglos außer der gravitationsspendenden Rotation des Habitats. Keine Erde, die tröstlich in Sichtweite schwebte. Längere und immer längere Pausen bei den Funkgesprächen, bis sie schließlich unmöglich wurden.

Auf sie wartete ein realer Ort – ein rot verschleiertes Geheimnis, und nicht nur ein Teil des Vakuums. Das Leben hatte hier eine völlig andere Qualität, die zu bezeichnen sie nicht imstande war. Nicht wie in einer Raumstation, obwohl die Schleusen, Ausrüstung und Prozeduren denen im Habitat entsprachen. Auch nicht wie der Mond, obwohl auch hier Staub und Trockenheit vorherrschten. Sie war nie auf dem Mond gewesen, doch wußte sie, daß der Mars Ähnlichkeit mit dem Mond aufwies – auf dem Mars herrschte das gleiche schlechte Wetter, nur daß er noch gefährlicher war. Mehr noch, er schaute auf eine lange Geschichte zurück, die er aber geschickt zu kaschieren wußte.

Sie ließ sich das durch den Kopf gehen und versuchte, mit Marc darüber zu sprechen – nur daß sie nicht die richtigen Worte fand.

Astronauten waren an sich wortkarge Typen. Ab und zu warfen sie noch mit dem Raumkadetten-Slang um sich, doch je länger die Mission sich hinzog, desto klarer wurde ihnen der Nutzen einer verständlichen und präzisen Ausdrucksweise. TWAs – ›Drei-Wort-Akronyme‹ – kamen aus der Mode, vor allem dann, wenn man vergessen hatte, wofür sie überhaupt standen. Doch mit persönlichen Äußerungen taten sie sich so schwer wie eh und je. »Wir nehmen die Fumarole unter die Lupe«, sagte sie freudig, »und wenn wir dann zurückfahren, haben wir mehr erreicht, als wir jemals erwarten durften.«

»Ich will aber noch herausfinden, ob es hier jemals geregnet hat.«

»Und ich will herausfinden, ob diese fossilen Mikroben in deinen Bohrkernen die letzten Marsianer waren oder die ersten.«

»Dazu kann ich dir nur viel Glück wünschen. Ich habe jedenfalls ein anderes Ziel.«

Das sah ihm gar nicht ähnlich, eine so wesentliche Frage unbeantwortet zu lassen. »Als da wäre?«

»Ich habe eine gute Nachricht von meinem Agenten Carlos Avila bekommen. Ein Vertrag für eine Hauptrolle in einer neuen Weltraum-Saga.«

»Toll. Kino?«

»Nein, Video.«

»Glaubst du denn, du bringst den Weltraum-Macker überzeugend rüber?«

Marc lächelte sie an, wie auch Bruce Lee seine Gegner angelächelt hatte. »Einen Monat nach unsrer Rückkehr werde ich anfangen.«

»Das entsprechende Aussehen hast du jedenfalls.«

»He, Carlos sagte, wir alle hätten für so ‘nen Kram das richtige Aussehen. Als Schauspieler sind kleine, kompakte Leute gefragt.

Das soll irgendwie fotogener wirken.«

»Ich bin aber nicht klein.«

»Natürlich nicht. Aber kompakt.«

»Wir sind kräftig und stämmig.«

»Das war Arnold Schwarzenegger auch. Und er war sogar kleiner als du.«

»Wirklich?« Sie lachte. Alle vier waren sie nämlich Hänflinge. Das galt generell für die Astronauten, weil sie auch in der Lage sein mußten, in unzugängliche Winkel zu kriechen. Außerdem aßen sie nicht so viel. Bisher hatten sie keine konstitutionellen Probleme gehabt, was wohl der Schwerkraft von 0,38 Ge zu verdanken war.

Sie ließ sich die Idee durch den Kopf gehen. »Dann sollen wir alle nach Hollywood gehen?«

»Was bleibt uns denn übrig, nachdem wir vom Mars zurück sind?«

Diese Frage brachte eine Saite in ihr zum Erklingen. Was bleibt übrig?

Es war ein seltsames Gefühl, von dieser Zinne auf den Abhang ihres Lebens hinabzuschauen. Die Vorstellung fiel ihr schwer, daß es das gewesen sein sollte, die letzte große Leistung, die sie vollbracht hatte. Die Rückkehr würde in sechsmonatiger Langeweile im Weltraum bestehen, gefolgt von endlosen Interviews und schmachtenden Fans auf der Erde. War vielleicht ganz angenehm, aber Astronauten waren nun einmal keine Effekthascher. Sie wollten etwas tun, nicht nur sein. Als Darsteller in spektakulären Videos mitwirken und Reden vor den Rotariern halten …

Sie schüttelte den Kopf. Bleib in der Gegenwart. Der Mars ist noch nicht vorbei …

Als sie schließlich zur Fumarole hinauffuhren, bestand sie darauf, nach draußen zu gehen. Das bedeutete, daß sie in den Raumanzug steigen mußte. Marc legte darauf keinen Wert, denn das Anlegen des schweren Anzugs war ihm lästig, und überhaupt fühlte er sich im Rover recht wohl. »Bauen wir das Gestänge morgen früh auf.«

»Nee, ich will mich draußen ein wenig umsehen. Und morgen brauche ich den ganzen Tag für die unterirdischen Untersuchungen.«

Das stellte einen erneuten Verstoß gegen die Missions-Bestimmungen dar. Er beobachtete sie über die Außenkamera, während sie im Licht der untergehenden Sonne eine Sichtprüfung der Fumarole vornahm. Sie folgte den Spuren, die sie und Viktor hinterlassen hatten. Die Abdrücke waren zum Teil schon mit Staub gefüllt.

»Keine Veränderungen; jedenfalls keine, die ich auf Anhieb sehen würde«, meldete sie über Funk. »Auch keine Anzeichen für weitere Ausgasungen.«

Das war enttäuschend, doch Eis wäre ohnehin innerhalb weniger Tage sublimiert. Der Anblick der Stelle genügte schon, daß das Herz ihr bis zum Hals schlug – auch wenn es sich nur um ein unscheinbares Loch in der hereinbrechenden Dunkelheit handelte.

Vorsichtig erklomm sie den Abhang und erinnerte sich, wie sie Viktor hier hinaufgeschleppt hatte. Die Abdrücke der Stiefel waren noch scharf konturiert.

Sie löste die Verriegelung der zwei Winden und nahm die Kletterausrüstung vom Haken. Die Seile waren ordentlich zusammengerollt und die Karabinerhaken intakt. Ordnung war das halbe Leben, und auf dem Mars war es das ganze Leben. Die Seile aus hochwertiger Kohlenstoffaser waren reißfest und leicht. Mit den Kohlenstofffasern verdrillte Drähte übertrugen die Funksignale an den Rover, der sie im Notfall wiederum an die Basis abstrahlte. Sorgfältig überprüfte sie die Anschlüsse und schickte ein Prüfsignal ans Schiff, dessen Bordcomputer automatisch antwortete.

»Alles klar!« Sie war soweit.

Sie würde nicht eher gehen, bis sie etwas gefunden hatte. Während des ersten Monats auf dem Mars war sie oft nach draußen gegangen, um den wundervollen rubinroten Sonnenuntergang zu genießen. Die Morgendämmerung mit den Eiswolken, die sich schnell verflüchtigten, war sogar noch schöner – aber auch viel kälter. Die Kälte drang bereits durch die Stiefelsohlen.

Der eigentliche Grund, aus dem sie nach draußen gegangen war, zeigte sich, als das prächtige purpurrote Licht des Sonnenuntergangs erlosch. Eine rubinrote Aureole färbte den Horizont, und dahinter erhob sich ein schimmernder blauweißer Punkt. Erdaufgang.

Ein glänzender Fleck, der heller strahlte als die Venus. Bei genauem Hinsehen erkannte sie den kleinen weißen Punkt an der Seite.

Die einzige Planeten-Mond-Konstellation des Sonnensystems, die für das bloße Auge erkennbar war.

Bisher hatten die Menschen gerade einmal dieses winzige Intervall im All bewältigt. Ein halbes Jahrhundert voller Mühen, Einfallsreichtum und Mut hatten die Spezies zum anderen Punkt gebracht, der alabasterfarbenen, leuchtenden Verlockung.

Wo sie nun hier stand, sah sie die heimatliche Zwillingswelt als das, was sie wirklich war: ein Doppeltes Lottchen, das in ewiger Dunkelheit gefangen war. Die eine Welt war eine luftleere Wüste, die andere ein feuchtes Paradies.

Der Boden, auf dem sie stand, war indes auch einmal ein Paradies gewesen. Wasser hatte hier getost, sagte Marc, und zwar kilometertief. Vulkane hatten Lava gespien, die diesen uralten Seeboden überzogen hatte. Unter dem Ansturm von Hitze und Strahlung hatte die organische Chemie ihr Wunderwerk vollbracht. Leben entstand und blühte für kurze Zeit auf.

Was war aus ihm geworden? War überhaupt etwas aus ihm geworden?