Kapitel 32

29. Januar 2018

Anschließend saßen sie noch für eine Weile beisammen und versuchten, sich über die Weiterungen klarzuwerden. Raoul schaute mit gerunzelter Stirn in seine Plastiktasse und rieb sie geistesabwesend. Julia fragte sich, wie er es überhaupt geschafft hatte, mehr als zwei Jahre ohne seine Familie zu überleben.

»Dann hast du also gewonnen, Viktor«, sagte Marc mit tonloser Stimme. »Du wirst vor mir die Funktionsweise einer nuklearen Rakete kennenlernen. Das nenne ich Ironie des Schicksals.« Er stieß ein kurzes bellendes Lachen aus.

»Ich werde Julia nicht hier zurücklassen. Aber ich kann nach Gutdünken mit dem Platz verfahren.«

Raoul seufzte. »Ja, so ist es.« Er warf einen Blick auf Marc. »Zeit, um uns auf die Socken zu machen. Bist du fertig?«

Julia hob die Augenbrauen. »Wohin geht ihr denn?«

»Wir ziehen ins ERV um«, sagte Raoul.

»Wieso?« Julia war perplex. Das hatte sie freilich nicht vorhergesehen.

»Axelrods Anweisung befolgen und den Brennstoff bewachen«, sagte Raoul.

Julias Hoffnung auf eine Normalisierung der Verhältnisse verflog.

»Ich halte das nicht für notwendig«, sagte Viktor. »Der Boss entwirft am laufenden Band Katastrophenszenarios. Hat wohl zu viele Science Fiction-Filme geguckt.«

»Nun, wir werden aber nicht untätig hier rumsitzen und warten, bis Chen losschlägt.«

»Du glaubst allen Ernstes, daß er versuchen wird, den Brennstoff zu stehlen?«, fragte Julia konsterniert.

»Ich sagte nur, ich will es nicht drauf ankommen lassen. Ich gehe ins ERV, denn irgend etwas wird er unternehmen. Das ist keine Frage.«

»Und Marc geht mit?«, fragte Julia mit rauher Stimme. »Aber seine Proben und die Arbeit – das ist doch alles hier.«

»Wir sind ja nicht aus der Welt, obwohl wir es weiß Gott versucht haben.«

Julia räusperte sich heftig. Sie meinen es ernst.

Raoul schaute sie kalt an. »Und es gibt noch einen Grund für den Umzug. In diesen engen Räumlichkeiten wird sie uns auf jeden Fall anstecken, womit auch immer. Und darauf bin ich nicht erpicht.

Schon gar nicht, wenn es sich um ein Mars-Virus handelt.«

»Es kommt von der Airbus-Besatzung.«

»Dann müßten wir anderen es auch haben. Du hattest aber als einzige Kontakt mit dem Mars-Pilz

»Mars-Matte«, korrigierte sie ihn reflexhaft. »Ja, mein Immunsystem war nach dem Unfall angeschlagen. Deshalb habe ich es zuerst bekommen.«

»Wie auch immer«, sagte Raoul und erhob sich. »Ich habe keinen Bock, den Rest meines Lebens in Quarantäne zu verbringen.«

»Es ist Zeit für die programmierte Wartung des Habs«, sagte Viktor mit nachdenklichem Blick. »Während der letzten Wochen haben wir die Instandhaltung schleifen lassen.«

»Mach Sachen«, sagte Raoul. »Wir haben geschuftet wie die Brunnenputzer.«

»Das ist auch keine Kritik, sondern eine Feststellung.«

»Du erstellst den Dienstplan«, rief Raoul über die Schulter. »Dann schickst du ihn uns, und wir werden nach Bedarf rüberkommen.«

Sie hörte, wie er die Tür zu seiner Kabine zuschlug.

»Verdammt«, sagte Julia. »Ich glaubte, die Sache sei längst erledigt.«

»Hat eher den Anschein, daß es erst richtig losgeht.«

»Ihnen war wirklich jeder Grund recht, sich aus dem Hab zu verabschieden.«

»Scheint mir auch so.«

Das rote Licht des Interkoms blinkte penetrant. »Verdammt. Wir haben das Video vergessen, das vorhin reingekommen ist.«

* * *

Axelrod war überaus besorgt. Er tigerte durch den Raum, während er seinen Vortrag hielt. »He, was ist los bei euch? Ihr habt seit fast zwölf Stunden nichts mehr von euch hören lassen. Was ist denn passiert? Ihr müßt wissen, daß ich mir wirklich Sorgen um euch mache.

Und … nun, ich habe mich doch schon dafür entschuldigt, daß ich kein Reserve-ERV hochgeschickt habe. Ich tue alles, um euch wieder nach Hause zu holen, doch im Moment ist die Sache irgendwie ins Stocken geraten.

Airbus ist noch immer stur. Sie zieren sich noch, offen Anspruch auf Julias Proben zu erheben. Wir würden sie auch in der internationalen Presse zur Sau machen, wenn sie uns mit dieser Forderung kämen. Würde vielleicht auch ihre Aussichten auf den Preis zunichte machen. Erpressung ist eben kein Kinderspiel.«

Er unterbrach die Wanderung und schaute direkt in die Kamera.

»Ich habe mit Bedauern zur Kenntnis genommen, daß ihr mit meinen Airbus-Verhandlungen nicht einverstanden wart. Nachdem ihr die Kamera ausgeschaltet hattet, glaubte ich schon, ihr würdet die Sache selbst in die Hand nehmen oder etwas in der Art.« Er lachte nervös.

Wie kommt er überhaupt auf diesen Gedanken? Vielleicht sind die Männer doch alle gleich. Oder jemand von uns hat mit seinem vermeintlich persönlichen Berater gesprochen.

»Ihr müßt die Stellung halten, Leute. Ich kann mir vorstellen, wie schwer das ist, und es tut mir aufrichtig leid.

Ach, übrigens haben meine PR-Leute an der Bezeichnung ›Mars-Matte‹ für Julias Alien nichts auszusetzen. Die ganze Erde ist aus dem Häuschen. Das ist eine verdammt HEISSE Sache, die wir da haben! Demnächst werden die UN erörtern, ob Mars-Leben auf die Erde kommen sollte. Ich meine, wie möchten sie uns aufhalten? Allerdings ist von permanenter Quarantäne – im Orbit – und noch Schlimmerem die Rede. Inzwischen will jeder Laborfritze die Proben in die Hände bekommen. Was haltet ihr davon, die Wissenschaft in den Kampf gegen die PEPA-Wirrköpfe zu schicken? Julia, hätten Sie eine Idee?«

»Sicher«, sagte Julia säuerlich. »Gleich eine ganze Palette.«

»Also, Leute, laßt bald wieder von euch hören. In Ordnung?«

Dann meldete er sich ab.

»Was wirst du ihm nun sagen?«, fragte Julia. »Wegen heute morgen.«

»Ich werde ihm nur die Wahrheit sagen«, sagte Viktor gleichmütig. »Doch sonst werde ich nichts preisgeben. Ich werde eine Direktübertragung schalten, damit jeder sieht, daß wir nichts zu verbergen haben.«

Sie saß während der Übertragung hinter ihm. Sie winkte auch fröhlich in die Kamera, enthielt sich aber jeden Kommentars.

»He, Boss, entspannen Sie sich«, sagte Viktor. »Die Kamera war aus Versehen die ganze Nacht ausgeschaltet. Wir haben sie vorhin wieder eingeschaltet.«

Stimmt leider.

Sie hatten sie nämlich mit dem größten Bedauern wieder eingeschaltet. Von der Privatsphäre einmal abgesehen, fühlten sie sich bei ausgeschalteter Kamera der Erde noch weiter entrückt. Das war ein ausgesprochen gutes Gefühl.

»Wie Sie sehen, ist hier alles in bester Ordnung«, fuhr Viktor ungerührt fort. »Das heißt, mit Ausnahme des ERV. Wir glauben, daß Sie in bezug auf Airbus richtig handeln. Es ist mir lieber, Sie verhandeln mit ihnen, als wenn ich das tun müßte.«

Aha. Er sagt ›ich‹ anstatt ›wir‹. Bin gespannt, ob Axelrod das auffällt.

»Anders als wir haben Sie Routine mit Verhandlungen. Ihrem Wunsch entsprechend ziehen Marc und Raoul ins ERV um, zwecks Bewachung des Methans. Auf diese Art halten wir uns alle Optionen offen. Wir geben hier nichts aus der Hand.«

Wie recht er doch hat!

»Sie verschaffen uns eine ›Mitfluggelegenheit‹ in der Atomrakete und schinden so viele Plätze wie möglich raus. Ich werde dann die endgültige Entscheidung treffen, wer mitfliegt. In dieser Hinsicht sind wir uns einig.«

Gut gebrüllt, Löwe. Sein souveränes Auftreten nötigte ihr Bewunderung ab. Er besaß wirklich Führungsqualitäten.

»Seit Airbus uns gestern besucht hat, haben wir nichts mehr von ihnen gehört. Die Sensoren, die wir in der Nähe ihres Schiffs aufgestellt haben, melden aber, daß sie Vorbereitungen für das Schmelzen des Pingo-Eises treffen. Sie rollen Schläuche aus und stellen Verbindungen zum Reaktor her.«

Ein strahlendes Lächeln.

»Was uns betrifft, müssen wir die programmierte Wartung durchführen. Wegen der Reparaturarbeiten am ERV haben wir das sträflich vernachlässigt. Wir könnten Unterstützung vom Technischen Stab gebrauchen, damit wir auch nichts vergessen.«

Sie wunderte sich darüber, daß Viktor so tat, als sei überhaupt nichts vorgefallen. Vielleicht ist das auch nur seine Art, das Problem zu bewältigen. Vertraute Abläufe haben eben etwas Beruhigendes.

* * *

Julia selbst war erschöpft. Die Grippe in Verbindung mit der nervlichen Anspannung versetzte sie in einen Zustand der Mattigkeit.

Nachdem Marc und Raoul mit dem Dünenbuggy aufgebrochen waren, beschloß sie, sich in ihre Kabine zurückzuziehen, die aufgelaufenen E-Mails zu sichten und wichtige Korrespondenz nachzuholen.

Damit hätte sie auch eine Entschuldigung, sich der Kamera zu entziehen.

Es herrschte eine seltsame Atmosphäre im Habitat, wo sie nur noch zu zweit waren. Sie waren auch früher schon allein gewesen, wenn Marc und Raoul mehrtägige Exkursionen mit dem Red Rover unternommen hatten, doch war das damit nicht zu vergleichen. Im Gemeinschaftsbereich sprachen sie jedoch nicht darüber – seit jeher hoben sie sich solche Gespräche für die Kabine auf, wo sie keine Zuhörer hatten und dem Blick der Kamera entzogen waren.

Julia ging früh zu Bett, nachdem sie sich den üblichen Schlummertrunk, eine heiße Schokolade, zubereitet hatte. Sie nahm die Tasse mit in die Kabine und kuschelte sich in die Decke.

Viktor gesellte sich wenig später zu ihr. »Es ist mir zu ruhig dort draußen«, sagte er.

»Fast schon gespenstisch. Was glaubst du, war der wirkliche Grund für ihren Auszug?«

»So können sie ungestört etwas aushecken.«

»Glaubst du etwa, sie wollen die Atomrakete immer noch kapern?«

»Raoul ist zwar ein sehr unglücklicher Mann, aber nicht verrückt.«

»Genau. Ich habe eher die Befürchtung, daß sie versuchen werden, einen Handel mit Airbus zu machen.«

»Womit?«

»Mit wem, meinst du wohl.«

»Ach, die Frauen.« Er stützte sich auf den Ellbogen. »Sag mir, woran du denkst.«

»Zum einen haben wir alle gesehen, wie Marc und Claudine miteinander geturtelt haben. Vielleicht will Raoul Marc jederzeit im Auge haben.«

»Ja. Diese Überlegung hat etwas für sich. Aber was ist mit Gerda und Raoul?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht den Eindruck, daß zwischen den beiden etwas läuft. Außerdem habe ich sie früher ein paarmal mit typischen ›Germanen‹ gesehen. Weil wir uns aber nie über persönliche Dinge unterhalten haben, kenne ich ihre Vorlieben nicht.«

»Wenn man für acht Monate in einer Rakete zusammen ist, wäre es denkbar, daß man in solchen Dingen eine gewisse Flexibilität entwickelt.«

»Bestimmt. Aber wir wissen nicht, welche diesbezüglichen Konstellationen es in der Atomrakete gibt.«

»Das ist etwas, das wir auf jeden Fall im Auge behalten müssen.«

»Richtig. Der Ansicht bin ich auch. Obwohl du heute morgen souverän gewonnen hast. Ich war so erleichtert. Ein irres Glück!«

»Ein guter Kommandant verläßt sich nie aufs Glück.«

»Was?«

»Marc hatte recht. Das Pik-As war überhaupt nicht unter den Karten.«

»Viktor! Erzähl mir nur nicht, du hättest geschummelt! Ein Gentleman betrügt nicht beim Kartenspielen.«

»Ich bin Offizier, kein Gentleman.«

Theatralisch legte sie sich die Hand auf die Brust. »Die Erkenntnis, daß du ein Falschspieler bist, schockiert mich zutiefst!« Sie runzelte die Stirn. »Aber du hast doch so erleichtert gewirkt, als du das As umgedreht hast. Ich hätte geschworen, diese Regung sei echt gewesen.«

»War sie auch. Ich war mir nicht sicher, ob der Trick überhaupt funktionieren würde. Ich hatte ihn bisher erst einmal ausprobiert.«