Kapitel 35

1. Februar 2018

Als sie die Fumarole erreichten, ging Phobos im rubinroten Westen auf.

Der weiße Brocken war ungefähr ein Drittel so groß wie der Mond, und hätte sie sich die Zeit für eine längere Betrachtung genommen, hätte sie gesehen, wie Phobos über das Feld der Sterne gekrochen wäre, die in der Dämmerung funkelten. Sie fragte sich, ob dieser Anblick sich ihr jemals wieder bieten würde.

Die Kletterausrüstung von Airbus machte einen qualitativ hochwertigen Eindruck. Chen und Gerda benutzten nur eine Hochleistungs-Winde, was bedeutete, daß sie nacheinander abgestiegen waren.

»Ich ziehe eine Winde pro Person vor«, sagte Julia.

Marc zuckte die Achseln. »Ich habe schon von diesen Geräten gehört, aber bisher noch keins gesehen. Schau mal dort. Das Differential überträgt die Kraft von einem Seil zum anderen, je nachdem, welches gerade ein Signal sendet. Dasselbe Prinzip wie bei der Hinterachse eines Fahrzeugs. Hm. Dient wohl der Gewichtsreduzierung.

Und wo ist nun der Testschalter?«

»Du suchst ihn, während ich den Funkverkehr abhöre.«

Julia stieg in den Airbus-Rover ein, was mit gewissen Schwierigkeiten verbunden war, und versuchte sie über Funk zu erreichen.

Nichts. Sie verließ das Fahrzeug schnell wieder, denn sie hatte vor dem Besteigen des Rovers den Helm abgenommen. Nach dem Vorfall im Gewächshaus würde sie ihn nicht mehr aus den Augen lassen.

»Entweder haben die Lager sich festgefressen, oder die Wicklungen sind verschmort«, meldete er über Helmfunk. »Der Motor macht jedenfalls keinen Mucks mehr.«

Sie schauten sich durchs Helmvisier besorgt an.

»Vielleicht haben sie sich nur verheddert«, sagte sie.

»Hm …«, grunzte Marc. »Glaube eher, sie stecken irgendwo fest und haben beim Versuch, sich zu befreien, den Motor überlastet.«

»Nun, dann bleibt uns gar nichts anderes übrig, als runterzugehen.«

»Ja. Aber wir sagen lieber der Basis Bescheid. Viktor wird Zeter und Mordio schreien, aber aufzuhalten vermag er uns nicht.«

Er hatte mit der Prognose ins Schwarze getroffen. Viktor brüllte sogar über Funk, was er ihres Wissens noch nie getan hatte.

»Sie wußten, worauf sie sich einließen! Wir sind nicht verpflichtet, sie rauszuholen. Ich habe mir dort schon den Knöchel verstaucht.

Falls dir etwas zustößt …«

»Ich werde sehr vorsichtig sein.«

»Das war ich auch.«

»Schau, Chen war ein Wissenschaftler …« Sie hielt inne und wurde sich bewußt, daß sie die Vergangenheitsform benutzt hatte.

»Was, wenn sie dort unten eine wirklich große Entdeckung gemacht haben? Und abgeschnitten sind?«

»Es gefällt mir nicht …«

»Wir wollen doch nur …«

»Es ist Nacht. Bald ist es so kalt, daß ihr vielleicht sogar im Anzug erfriert.«

»In der Fumarole ist es ziemlich warm.«

»Das reicht aber nicht, um …«

»Diese Entscheidung wird aufgrund der aktuellen Lage getroffen, Viktor. Wir gehen rein.«

»Ich … ich verbiete euch …!«

Sie schaltete ab und wurde sofort von Gewissensbissen geplagt, doch ließ sie das Funkgerät ausgeschaltet.

Marc hatte mitgehört. Sie sagten nichts, sondern überprüften nur das Geschirr und sicherten die HUTs. (HUT: Hard Upper Torso =›Harter Oberkörperschutz‹. – Anm. d. Übers.)

»Was ist mit den Sauerstofftanks?«, fragte Marc.

»Ihre?« Sie deutete mit einem Nicken auf das Flaschengestell am Heck des Airbus-Rovers.

»Hmmm. Ich dachte eher an unsere.«

»Wieso nicht beide? Schau mal auf das Gestell – vier Flaschen fehlen. Sie haben zwei als Reserve mitgenommen, doch die dürften inzwischen beinahe leer sein.«

»Das wird unsre Seile stark belasten. Sie sind für eine Zugkraft von etwa einer Tonne ausgelegt. Also …« Er rechnete nach. »In Ordnung, der Spielraum ist groß genug. Aber sie werden uns stark behindern.«

Sie befestigten fünf Meter über den HUTs jeweils zwei Sauerstoffflaschen an den Seilen und sicherten sie mit Klemmschellen. Julia war nicht darauf erpicht, daß diese Masse ihr auf den Kopf fiel und kontrollierte die Schellen deshalb dreimal.

Während sie rückwärts in den Trichter abstiegen und das Seil abwickelten, schaute Julia zum Sternenhimmel empor. Sie fröstelte bereits im Anzug. Das Heizaggregat arbeitete auf Hochtouren, während der letzte Rest von Wärme aus der dünnen Mars-Atmosphäre entwich.

Nachts arbeitete die Besatzung nie draußen – das war ein ehernes Gesetz. Bewegliche Teile fraßen sich fest, Ventile blockierten, und die Anzugsbatterien machten im Zeitraffer schlapp. Über das Seil waren sie zwar mit der atomaren Energiequelle des Red Rover verbunden, doch würden sie anhalten müssen, um die Batterie aufzuladen. Sie knirschte mit den Zähnen und fragte sich, ob Viktor nicht doch recht gehabt hatte.

Natürlich hatte er recht. Das ist eine Dummheit.

Doch wußte sie auch, daß sie, falls sie wieder abzog, ohne auch nur den Versuch unternommen zu haben, die Airbus-Astronauten zu retten, für den Rest ihres Lebens Rechenschaft ablegen müßte – nicht anderen Menschen gegenüber, sondern sich selbst.

Sie schaute zu Marc hinüber, während sie das Seil abwickelten. Es stand ihm ins Gesicht geschrieben, daß er die gleichen Überlegungen anstellte wie sie. Daß er zum gleichen Schluß gelangt war. Ohne daß sie Worte darüber hätten verlieren müssen.

Sie zogen die Sauerstoffflaschen über die Gabelstiele. Es war mühsam, die Flaschen hernach wieder in die richtige Position zu bekommen. Nachdem sie den Grund des Trichters erreicht hatten, machten sie die Flaschen über den Helmen fest und seilten sich durch das Loch ab.

Im Schein der Helmlampen sah sie, wie Marc sich darauf konzentrierte, einen sicheren Halt für die Füße zu finden und den Körperschwerpunkt zu verlagern – das war ihnen im Lauf der Jahre in Fleisch und Blut übergegangen. Nach der zermürbenden Anspannung der letzten paar Tage war es ein gutes Gefühl, sich irgendwie zu betätigen – eine zielgerichtete, konzertierte Aktion für Körper und Geist.

Sie stiegen vorsichtig weiter ab, wobei sie sich parallel zum Monofaser-Seil der Airbus-Astronauten hielten. »Ich frage mich nur«, sagte Marc, »ob sie das Differential erst konstruiert haben, nachdem sie von unsren Plänen erfahren hatten.«

Sie schnitt eine Grimasse und schnaufte, als die Winde sie in die pechschwarze Tiefe hinabsenkte. »Wieso nicht. Bei einem Rennen heiligt der Zweck die Mittel.«

»Sieh mal«, rief er.

Aus der Tiefe drang ein sanftes elfenbeinfarbenes Glühen zu ihnen herauf. Wegen der Dunkelheit an der Oberfläche erschien der Schlot diesmal in einem anderen Licht. Ein dünner Nebel wallte auf und erzeugte einen Effekt, als ob das Licht durch zarte Schleier gefiltert würde.

»Paß auf, daß du nicht die Matte berührst«, sagte sie.

»Den Pilz, meinst du wohl.«

Sie stiegen schnell ab, und das Glühen wurde intensiver. Die Airbus-Seile verschwanden unter ihnen in der Finsternis.

Sie kamen an der üppig wuchernden Matte vorbei. Manche Abschnitte phosphoreszierten hellblau und elfenbeinfarben. Andere schienen ohrenartige Fächer zu haben, mit denen sie Feuchtigkeit aufsogen. Sie erkannte diese Teile der Matte wieder, weil sie sich die Videoaufnahmen eingeprägt hatte.

»Es wirkt ziemlich verändert«, sagte Marc. Über den Helmempfänger hörte sie seinen gleichmäßigen, schweren Atem.

»Weil das Sonnenlicht fehlt, scheint die Matte heller zu strahlen.«

»Vielleicht hat etwas sie in Wallung versetzt.«

»Sie dampft jedenfalls wie ein Nebelwerfer.«

»Vielleicht fühlt die Matte sich durch Chen und Gerda gestört.«

Sie stiegen ab, was die Winden hergaben.

Im Schein der Handscheinwerfer erblickten sie den Vorsprung, von wo aus sie sich nach links gehalten hatten.

»In dieser Richtung geht es in die große Kaverne«, sagte Marc.

Die Airbus-Seile indes verliefen nach rechts. »Der Weg, den sie genommen haben, scheint abschüssiger zu sein«, sagte sie. Die um die Ecke verlaufenden Airbus-Seile hingen durch, waren nicht mehr straff gespannt, trugen kein Gewicht mehr. »Ich frage mich, was das zu bedeuten hat.«

»Der Nebel wird dichter«, sagte Marc.

»Wind kommt auf.« Sie sah, daß hinter ihnen gesprenkelte Nebelschwaden aufstiegen.

»Ich hoffe nur, die Fumarole bricht nicht aus.«

»Oder die Matte stößt Dampf aus.«

»Weshalb?«

»Wassertransport aus dem Innern. Das obere Ende ist ständig vom Austrocknen und Erfrieren bedroht.«

»Du meinst, das System hat einen Kreislauf?«

»Zumindest findet ein gerichteter Flüssigkeitstransport statt. Ich frage mich, ob die Matte den Fluß irgendwie reguliert.«

»Wäre sie dazu imstande?«

»Erdatmosphäre und -klima werden auch von Pflanzen und Tieren reguliert.«

»Sicher …« Er schaute auf die leuchtende Matte, an der sie nach unten vorbeiglitten. Der Abstand war immerhin so groß, daß die Sauerstoffflaschen nicht ständig gegen die Wand schlugen, doch wußte sie, daß es ohne Blessuren für die Matte nicht abgehen würde.

Wir führen uns auf wie die Elefanten im Porzellanladen. Die Biologen auf der Erde werden mich zur Sau machen.

Am Rand des Blickfelds nahm sie plötzlich etwas wahr und stoppte die Winde. »Schau mal, die Matte ist stellenweise tot.«

»Ja. Ich wüßte aber nicht, daß wir sie beim erstenmal beschädigt hätten.«

»Ich auch nicht. Schalte die Lampen aus.«

Sie stürzten in Finsternis.

Allmählich gewöhnten die Augen sich an die Dunkelheit. »Richtig; die Matte neben uns weist eine Läsion auf.«

Sie schwang sich vorsichtig hinüber und nahm die Stelle in Augenschein. Nun machten die über ihr hängenden Sauerstoffflaschen sich einmal positiv bemerkbar, denn sie dienten als schwimmender Drehpunkt für die Bewegung. »Wahrscheinlich haben sie hier haltgemacht und die Matte durch die Abluft beschädigt.«

»Das ist aber ein ziemlich großer Fleck.«

»Wenn ich ihm von meinem Abstieg berichtet hätte, wäre das nicht nötig gewesen.«

»He, dich trifft nun wirklich keine Schuld. Er hat doch große Töne gespuckt und wollte sich selbst Proben aus der Fumarole holen.«

»Zumindest eröffnen sich uns hier völlig neue Perspektiven.«

Sie schalteten die Lampen wieder ein und seilten sich mit Hilfe der Winde weiter ab. Dann zückte sie die Microcam und machte während des Abstiegs Aufnahmen von der Matte. Je tiefer sie kamen, desto größer und dicker wurden die Matten. Inzwischen war der Schlot war fast völlig mit ihnen ausgekleidet; der Bewuchs überzog jede Felsnase und klebte wie eine Tapete an der Wand.

»Wie tief sind wir?«

Marc schaute auf die Anzeige der Windenfernsteuerung. »Dreihundertvierzig Meter.«

»Wir sollten einen Zahn zulegen. Falls – was ist das?«

»Noch eine Läsion.« Marc drehte sich um und nahm die Stelle in Augenschein. »Sie müssen …«

»Schau mal! Es hat die gleiche Form wie die beschädigte Stelle oben.«

Am Rand der Wunde glühte die fahl phosphoreszierende Matte hell.

»Sie haben überall das gleiche Muster hinterlassen?«, fragte Marc.

»Wollte Chen hier vielleicht ein Experiment durchführen?«

»Schon möglich.« Die Matte schien sich vor ihren Augen zu verändern. »Betrachte sie einmal aus dem Augenwinkel«, sagte sie.

»Siehst du es?«

»Sie breitet sich nach unten aus.«

Sie beugte sich vor und blickte nach unten. »Das Glühen wird weiter unten stärker.« Sie folgten dem Verlauf des Schachts.

»Unten ist es auf jeden Fall heller«, sagte Marc.

»Weiter geht’s.« Sie betätigten die Windenfernsteuerung und setzten den Abstieg in den Schlot vorsichtig fort. Das Licht, mit dem die Lampen die Matten bestrichen, wirkte auf einmal grell. »Licht aus«, sagte sie, nachdem sie auf einem zwanzig Meter tiefergelegenen Felsvorsprung gelandet waren.

Nachdem die Augen sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm sie einen Lichtklecks wahr. »Verdammt! Wie …?«

»Es ist wieder die gleiche Form.«

»Richtig.«

»Was, zum Teufel, hat das zu bedeuten?«, fragte Marc.

»Eine Spiegelung.«

»Nee, das ist nicht …«

»Papageien imitieren Laute, und diese Matte imitiert Muster, die ihr aufgeprägt werden – sogar zerstörerische. Doch wieso?«

»Ich würde sagen, die Frage lautet ›wie, zum Teufel‹«, sagte er.

»Die Matte hat von der Verletzung oben Kenntnis erlangt.«

»Kenntnis erlangt?« fragte Marcs verblüffte Stimme aus der Dunkelheit.

»Zumindest handelt es sich um eine Resonanz. Vielleicht ist es auch ein Automatismus.«

»Na schön, sie sind miteinander verbunden. Aber wieso hat sie dann auch die gleiche Form?«

»Es ist ein biologisches Piktogramm«, mutmaßte sie nach kurzer Überlegung. »Ich habe keine Ahnung, wieso. Ich bin mir aber sicher, daß jede Fähigkeit eine adaptive Funktion haben muß.«

»Du meinst, es muß dem Überleben der Matten dienen.«

»Richtig.«

Sie schalteten die Lampen wieder ein und setzten den Abstieg fort.

Die Röhre verlief fast senkrecht, was die Fortbewegung erleichterte.

Dennoch war es ein Rennen gegen die Uhr. Julia verspürte ein Gefühl der Unwirklichkeit und fragte sich, ob die Ähnlichkeit der Schadensmuster nur Einbildung war. Mitnichten: das Bild wiederholte sich bei zwei aufeinanderfolgenden Matten in einem Abstand von fünf Metern.

Lampen aus. Sie schaute nach oben. Das diffuse Glühen über ihnen war erloschen. Also handelte es sich nicht nur um eine Kopie ohne Sinn und Zweck. »Das Muster folgt uns nach unten.«

»Es verfolgt uns?«, fragte Marc besorgt.

»Schau es dir selbst an. Das Bild dort oben ist fast verblaßt, und dafür hellt die Matte neben uns sich auf.«

»Willst du damit andeuten, sie wüßte, daß wir hier sind?«

»Zumindest scheint sie zu spüren, in welchem Abschnitt wir uns befinden.«

»Diese Matte hier ist kräftiger als die vorigen.«

»Den Eindruck habe ich auch. Je tiefer wir absteigen, desto heller leuchten sie. Das Glühen ist rein chemisch; ich vermute, daß es sich um eine Signalreaktion handelt. Vielleicht wird es vom dichten Dunst im unteren Abschnitt der Fumarole unterstützt.«

»Sie signalisiert?« Marc klang beunruhigt.

»Vielleicht imitiert sie es nur. Licht ist hier unten das einzige Kommunikationsmittel. Eine Signalübertragung auf chemischem Weg wäre hier nicht möglich, weil der aufsteigende Dunst die Moleküle zerstäuben würde. Schall würde sich wohl nach oben und unten ausbreiten, nur daß er in einer so dünnen Atmosphäre nicht weit trägt.«

»Es muß eine einfache Erklärung geben«, ertönte seine belegte Stimme in der Dunkelheit.

»Es gibt auch eine; das heißt aber nicht, daß es sich auch um einen einfachen Organismus handelt.«

»Vielleicht … signalisiert sie an etwas anderes …«

»Und wenn die Matten immer heller werden, je tiefer wir kommen, dann bedeutet das vielleicht, daß da unten … etwas ist?«

»Die Airbus-Seile sind immer noch schlaff.« Er trat gegen ein Seil, worauf es in beiden Richtungen Wellen schlug. Auf dem nächsten Vorsprung nahm die Abbildung der Läsion schärfere Konturen an.

Etwas Unbegreifliches ging hier vonstatten, und sie mußte sich auf abenteuerliche Spekulationen beschränken, während sie den Abstieg fortsetzte. Irgendwie vermochte die Matte innerhalb ihrer Substanz Signale auszusenden. Die durchsichtigen Bahnen und Überzüge auf dem Gestein wurden dicker, wobei die meisten Mattensegmente pastellfarbene Töne annahmen. Irgendwie paßte alles zusammen, wie bei einer Lebensgemeinschaft. Die Matten machten sich die hier unten herrschende Wärme und Feuchtigkeit zunutze und waren in der Lage, Signale über große Entfernungen – Dutzende von Metern – zu übertragen. Weiter jedenfalls als eine einzelne Matte.

Wozu? Um den Impuls des herannahenden Dampfs zu spüren und sich auf seine Aufnahme vorzubereiten? Das verschaffte der Matte einen klaren Vorteil im Überlebenskampf, sagte sie sich. Doch vermochten Organismen überhaupt eine derart differenzierte Reaktion an solch einem unwirtlichen Ort zu entwickeln? War ein Biofilm dazu in der Lage? Der irdische Biofilm galt als eine frühe, primitive Lebensform, die kaum in der Lage war, auf veränderte Lebensbedingungen zu reagieren. Oder war der Biofilm in den nährstoffreichen, warmen Meeren von anderen Lebensformen verdrängt worden?

Trotz der ausgeschalteten Lampen machte sie mit der Microcam Videoaufnahmen von den geisterhaften Läsions-Abbildungen; sie war sich auch ziemlich sicher, daß die Aufnahmen wegen Unterbelichtung für die Katz waren. Sie würde sich das alles einprägen und es im Rover niederschreiben. Detaillierte Aufzeichnungen …

»Die Seile hängen einfach nur runter«, sagte Marc beim Blick in die Tiefe.

»Mein Sauerstoffvorrat ist fast zur Hälfte verbraucht.«

»Das wäre bei ihnen auch der Fall gewesen, falls sie es so weit geschafft haben.«

»Es geht hier fast senkrecht hinunter. Im Gegensatz zum Weg, den wir genommen hatten.«

»Du mußt bedenken, daß es auf dem Mars seit langer Zeit keine Plattentektonik mehr gibt. Also haben auch keine Scherkräfte auf diese vulkanische Passage gewirkt und sie verzerrt. Die Lava ist auf direktem Weg an die Oberfläche gequollen. Diese Röhre ist wahrscheinlich ein paar Milliarden Jahre alt.« Der geologische Diskurs schien Marc wieder aufzurichten, nachdem die Matte ihm Unbehagen verursacht hatte.

»Sie wird trotzdem enger.«

»Weil die Matte dicker wird.«

Der Lichtstrahl der Helmlampe, die sie inzwischen wieder eingeschaltet hatte, durchdrang die Finsternis. Sie sah es zuerst. »Was ist denn das?«

Tief unten erstreckte sich ein sandfarbener Boden. Sie verharrten direkt über der Spalte im Boden, durch die die beiden Airbus-Seile verliefen.

»Wo sind sie hin?«

»Sie haben dieses Ding durchstoßen«, sagte sie.

Das Gebilde sah aus wie zwei riesige, gefaltete Hände. Die ganze Struktur hatte einen Durchmesser von vielleicht drei Metern. Vielleicht ist es kein Zufall, daß der Schlot sich hier verengt.

»Eine Art Ventil?« spekulierte sie.

»Wirkt aber ziemlich massiv.«

»Erinnert mich an Stomaten«, sagte sie. »Das sind Pflanzenzellen, die Öffnungen in Blättern kontrollieren. Die Pflanze öffnet und schließt die Löcher, indem sie eine Flüssigkeit in die Stomaten-Zellen pumpt und dadurch ihre Form verändert.«

»Dann ist die Matte also eine Pflanze?«

»Nein, sie paßt in keine unsrer Kategorien. Es handelt sich um einen Film, einen Biofilm – jedoch um einen, der um ein paar Größenordnungen höher entwickelt ist als die primitiven Organismen, die in den Urmeeren lebten. Diese Lebensform hatte Milliarden Jahre Zeit, andere Wege einzuschlagen.«

»Auf jeden Fall versteht sie es, uns den Weg zu verlegen.«

»Aber Chen und Gerda hat sie nicht aufgehalten.«

»Vielleicht war sie gerade geöffnet, als sie hier unten ankamen?«

»Das ist es! Dieses Ding dichtet die Röhre ab, vielleicht um die untere Fumarole zu schützen …«

»Wovor?«

»Vor Peroxid-Staub? Vielleicht hat der sie gereizt, so daß sie dichtgemacht hat.«

»Wenn wir nun darauf herumstochern …«

»Gute Idee.«

Sie senkte sich geradewegs auf das Ding hinab, wobei die Stiefel in der Substanz versanken. »Es trägt mein Gewicht. Was für eine Kraft.«

»Ja, zumindest für eine Pflanze.«

Sie ging um die Struktur herum. »Mal schau’n, wie man ihr zu Leibe rücken … warte mal, ich habe eine Idee.« Sie ließ sich so weit hinab, bis es ihr gelang, sich zu setzen. »Man kann sich kaum bewegen in diesen Anzügen«, ächzte sie.

»Was hast du vor?«

»Ich will sie ein bißchen mit der Abluft kitzeln.«

Abrupt zog das Gebilde sich zusammen. Reflexhaft griff Julia nach der Windenfernsteuerung, doch öffnete die Membran sich noch schneller und zog ihr quasi den Boden unter den Füßen weg. Ein Loch klaffte in der Mitte, in das sie prompt hineinfiel. Der Rand des Lochs war glatt, und sie blieb auf Hüfthöhe in der Öffnung stecken.

»He!« rief Marc.

Sie hieb auf die Windenfernsteuerung, wickelte Seil ab und rutschte ganz durch. Beim Blick nach oben sah sie, daß die Öffnung sich verbreiterte. Sie baumelte direkt unter dem Dach einer …

»Mein Gott, ist das riesig«, sagte sie.

Unter und neben sich sah sie eine Kammer, die über ihr Blickfeld hinaus sich ausdehnte. Sie schwenkte die Lampe, worauf das Licht vom Dunst reflektiert wurde. Doch an der Peripherie machte sie einen Schimmer aus, der sich in der Ferne verlor – die Decke einer riesigen Höhle.

»Alles in Ordnung?« Marc spähte durch die Öffnung zu ihr herunter.

»Ja. Komm runter.«

»Was, wenn es sich über uns wieder schließt?«

»Dann werden wir eben durchbrechen.«

»Und was, wenn wir das nicht schaffen?«

»Schau, die Airbus-Seile verlaufen noch immer senkrecht nach unten. Also sind sie auch nicht eingefangen worden von diesem … diesem Ventil. Machen wir uns auf die Suche nach ihnen.«

»Ventil?« fragte Marc, während er sich abseilte.

»Vielleicht ist das die Funktion dieser Struktur. Ich weiß es nicht.

Zum Theoretisieren haben wir später noch Gelegenheit. Sieh mal

Sie dämpften das Licht, und nun wurde die düstere Grotte von einer schimmernden Lumineszenz erhellt: intensives Gold, orangefarbene Tupfer und zinnoberrote Kleckse, die von türkisfarbenen Strängen durchzogen wurden.

»Meine Güte, wie groß das wohl ist?« flüsterte Marc.

»Ich sehe die Wände jedenfalls nicht.«

»Den Boden sieht man durch diesen Dunst auch nicht.«

»Schalt die Lampe aus.«

Ohne die vom Nebel gestreuten Lichtreflexe vermochte sie ein schwaches Glühen zu erkennen, das sich auf allen Seiten in der Ferne verlor. Wie die Signatur einer entfernten Stadt …

»Es bewegt sich. Schau mal zur Decke.« Er zeigte nach oben.

Sie wickelte Seil ab, um die wandernden fahlen Muster über ihnen zu betrachten. Wo sie nun in der Schwärze hing, sah sie wie in Zeitlupe ein waberndes, diffuses Leuchten.

Sie vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen. Also weiter. »Ich würde sagen, die einzige Richtung führt nach unten.«

»Ja … wodurch wird das verursacht?«

Ich habe nicht die geringste Ahnung. Auf der Erde lumineszieren Bakterien-Matten, wenn sie eine bestimmte Dicke erreicht haben. Quorum-Wahrnehmungsvermögen heißt das. Wer weiß aber, was hier vielleicht sich entwickelt hat … Farben? Formen? Muster?

»Komm schon.« Sie ließ sich weiter hinab und lehnte sich im HUT zurück, um zu verfolgen, wie das Seil durchs Loch in der Membran nachgeführt wurde. Das Seil schabte jedoch nicht an den Kanten der Struktur. Das Loch hatte sich nämlich auf einen Durchmesser von vielleicht zwei Metern vergrößert.

Marc folgte ihr. »Wäre es möglich, daß dieser Ablauf intelligenzgesteuert ist?«

»Nicht unbedingt. Empfindungsvermögen ist nicht dasselbe wie Intelligenz. Es müßte aber eine variable Druckregelung geben, um den Gasverlust auszugleichen. Vielleicht ist genau das die Aufgabe des Ventils.«

»Dann handelt es sich um eine Art von Instinkt?«

»Nach dem, was wir bisher gesehen haben, spricht nichts für diese Annahme.« Sie drehte sich um und schaute nach unten. Die seltsamen Wirbel und bunten Schlieren, die sie weiter oben schon gesehen hatte, traten auch hier auf. Sie versuchte, den Abstand zum Boden zu schätzen, stieg noch ein paar Meter ab und rief: »Ich werde eine Lampe einschalten. Halt die Augen geschlossen, damit einer von uns noch in der Dunkelheit sieht.«

»Roger.«

Als der Lichtstrahl in die Tiefe stach, nahm sie abrupt die Hand von der Windenfernsteuerung. Ungefähr fünf Meter unter ihnen lagen zwei Raumanzüge, ein orangefarbener und ein blauer. Mit dem Gesicht nach unten. Sie regten sich nicht.