DAS HURENHAUS
1295
MAN HATTE IHR versprochen, daß sie morgen noch Jungfrau sein
würde. Doch nun, um die Mittagszeit, begann sie daran zu
zweifeln.
Den ganzen trüben Novembermorgen schon saß das Mädchen, einen
Schal fest um sich gewickelt, auf einer Bank vor dem Bordell. Auf
der anderen Flußseite waren die Piers unterhalb von St. Paul's zu
sehen. Zur Linken, zwischen dem Fluß und Ludgate, wo früher das
kleine Baynard's Castle gestanden hatte, lag das große Anwesen, das
die Dominikaner in ihren schwarzen Kutten, die Blackfriars,
übernommen hatten. Es war ein hübscher Anblick, aber der
fünfzehnjährigen Joan erschien er heute nur bedrohlich.
Sie war eine ansehnliche kleine Person; ihr braunes Haar war
ordentlich zurückgekämmt, so daß ihr ovales Gesicht klar zu
erkennen war. Sie hatte blasse, sehr glatte Haut; ihre Hände und
Füße waren klein und ein wenig fleischig, was auf leichte Rundungen
ihres Körpers schließen ließ; doch gerade dies fanden die Männer
oft sehr attraktiv, wie sie bemerkt hatte. Ihre stillen, ernsten
Augen wiesen darauf hin, daß sie zu der fleißigen Handwerkerfamilie
gehörte, deren Vorfahre Osric seine Frondienste bei der Errichtung
des Towers geleistet hatte.
Doch dies spielte nun keine Rolle mehr, nachdem sie an diesem
Morgen die schwere Entscheidung gefällt und den Fluß überquert
hatte. Ihr Vater und ihre Mutter würden wohl nie mehr mit ihr
sprechen. Sie hatte ihr Heim, ihre Familie und ihren guten Ruf
aufgegeben, um das Leben des jungen Mannes zu retten, den sie
liebte.
Am Südufer der Themse gegenüber von St. Paul's standen
achtzehn Bordelle nebeneinander auf einem Gebiet, das dem Sumpf
abgerungen worden war und nun Bankside hieß. Einige dieser Häuser,
deren Gärten bis zur Maiden Lane reichten, waren recht groß und um
hübsche Innenhöfe gruppiert. Andere waren eher hoch und schmal mit
überhängenden Geschossen, die unter den langen Jahren der
Ausschweifung immer tiefer zu sinken schienen. In diesen
unterschiedlichen Unterkünften gingen etwa drei- bis vierhundert
Prostituierte ihrem Gewerbe nach.
Etwa in der Mitte dieser Häuserreihe stand das Dog's Head, in
dem Joan nun wohnen sollte; ein mittelgroßes, rotangestrichenes
Haus mit einem hohen, strohgedeckten Dach und einem großen Schild
über der Tür, auf dem ein Hundekopf mit einer riesigen Zunge
abgebildet war. Flußaufwärts, am Ende der Häuserreihe, stand ein
großes, zum Teil aus Stein errichtetes Haus, das
Castle-upon-the-Hoop. Flußabwärts, gleich hinter den Bordellen,
stand ein großes, steinernes Anwesen mit einer eigenen Anlegestelle
und Stufen hinab zum Fluß, der Londoner Sitz des Bischofs von
Winchester. Innerhalb dieses Anwesens gab es auch ein kleines,
stets gefülltes Gefängnis, den Clink. Das ganze Gebiet, der
Bischofspalast, der Clink, sämtliche achtzehn Bordelle und die
stattlichen Profite, die diese erwirtschafteten, gehörten dem
Bischof.
Das Gebiet südlich der London Bridge war schon immer
selbständig gewesen. Seit der längst vergessenen Römerzeit trafen
sich an der Brücke die Straßen von Dover und Canterbury mit den
anderen Straßen aus dem Süden, um den Fluß an dieser Stelle zu
überqueren. Seit der Zeit der Sachsen trug dieses Gebiet den Namen
Southwark und bildete einen eigenständigen, von der Stadt
unabhängigen Bezirk. Als solcher war es auch ein Zufluchtsort, in
dem Vagabunden und Leute, die Arger mit dem Gesetz hatten, meist
unbehelligt blieben. Der Borough Southwark zog sich ein gutes Stück
den Fluß entlang. An der London Bridge gab es einen Markt, westlich
davon eine alte Kirche, St.-Mary-Overy, von der aus eine Fähre den
Fluß überquerte. Dann kam der Palast des Bischofs und die Bankside.
Die Bordelle gab es schon so lange wie den Borough, hieß es.
Tatsächlich waren sie oft noch unter ihrem sächsischen Namen
bekannt – hor-has, also Hurenhäuser.
Das Anwesen des Bischofs in Southwark war sehr groß. Wie die
alten privaten Bezirke, die es früher einmal gegenüber in der City
gegeben hatte, war es ein feudaler Herrensitz, innerhalb dessen
Umgrenzung der Bischof Recht sprach und als absoluter Herrscher
regierte. Da eine solche Rechtsprechung auch als »Freiheit« bekannt
war und es hier ein Gefängnis gab, das den Namen Clink trug, hieß
das gesamte Anwesen selbst in offiziellen Dokumenten »Liberty of
the Clink«.
»Liberty of the Clink« stand unter einer straffen Herrschaft.
Vor fast eineinhalb Jahrhunderten, unter der Herrschaft Heinrichs
II. hatte der Bischof von Winchester, der zufällig auch noch
Erzbischof von Canterbury war, mit Hilfe seines fähigen Assistenten
eine Reihe von Regeln zur Leitung des Anwesens aufgestellt; diese
Aufstellung, in Lateinisch und Englisch verfaßt, wurde in der
Diakonatsbibliothek aufbewahrt. Die Regeln des Bischofs von
Winchester waren so hervorragend, daß sie auch später noch zum
Einsatz kamen, als die Stadt London die Erlaubnis erhielt, in der
Cock's Lane nahe St. Bartholomew's eigene Bordelle zu errichten.
Die Prostituierten wurden im Volksmund als »Winchester-Gänse«
bezeichnet. Der Assistent des Erzbischofs war niemand geringerer
als der berühmte Londoner Thomas Becket.
Nun traten der Bordellbetreiber und seine Frau vor Joan. Er
war ein großer, kahlköpfiger Mann mit einem schwarzen Bart, sie
eine stämmige Frau, deren breites, gelbliches Gesicht Joan an
schwitzenden Käse erinnerte. Sobald sie die beiden sah, erriet sie,
was nun kommen würde. »Ihr habt mir versprochen…«, brach es aus ihr
heraus. Doch die beiden grinsten nur. Joan war ihnen
ausgeliefert.
Verzweifelt blickte sich das Mädchen um. Wo waren die
Dogget-Schwestern? Diese hatten sich das Ganze ausgedacht, und sie
hatten ihr auch versprochen, sie zu beschützen. Wo steckten sie
nur?
»Da ist ein Kunde für dich, mein Liebes«, sagte die stämmige
Frau.
Die Dogget-Schwestern waren in ganz Southwark bekannt. Die
eine hieß Isobel, die andere Margery, aber niemand wußte, wer
welche war, denn Margery und Isobel waren eineiige Zwillinge. Sie
waren groß und schlank und hatten dichtes, schwarzes Haar, große,
schwarze Augen und Stimmen, die, wenn sie lachten, überraschend
tief klangen, wie das Wiehern eines Esels. Mit ihren schlanken
Körpern und ihren großen, runden Brüsten besaßen sie eine
bemerkenswerte sexuelle Anziehungskraft. Und als ob dies alles
nicht gereicht hätte, sie zu kennzeichnen, hatten beide auf der
Stirn inmitten ihrer schwarzen Zotteln eine weiße
Haarsträhne.
Sie zogen immer die gleichen Kleider an; sie hausten in
nebeneinanderliegenden Zimmern im Dog's Head, und wenn ein Kunde es
wünschte, dann waren sie auch gerne bereit, sich ihm gemeinsam zur
Verfügung zu stellen.
Die Dogget-Schwestern gehörten zu einem kleinen Stamm, der
sich in Southwark breitgemacht hatte und der seine Existenz einem
einfachen menschlichen Fehler verdankte. Vor achtzig Jahren, als
Adam Ducket die Freiheit, ein Londoner Bürger zu sein, verlor,
hatte er eine dumme Entscheidung getroffen. In seiner Verletztheit
und Verbitterung schlug er das Angebot der Barnikels, ihm zu
helfen, aus. »Wenn sie mich nicht für ihre Tochter wollen, dann
will ich überhaupt nichts mehr von ihnen«, erklärte er wütend. Er
zog nach Southwark, wo er einen kleinen Marktstand errichtete, mit
dem er jedoch keinen Erfolg hatte. Danach fand er in einer Kneipe
Arbeit, heiratete eine Bedienung und zeugte im Lauf der Zeit eine
Horde von Kindern, die alle barfuß in den Straßen herumliefen.
Innerhalb einer einzigen Generation war die stolze Londoner
Familie, die zwar bescheiden, doch immerhin als Londoner Bürger
gelebt hatte, in die unterste Schicht abgerutscht. Die zwei
Schwestern gehörten zu einer Familie mit fünf Kindern, und sie
hatten ein Dutzend Cousinen. Sie alle lebten in Southwark, waren
ausnahmslos munter, nicht unterzukriegen und mit einem schlechten
Ruf behaftet.
Sie trugen den Namen Ducket, bis auf die Zwillingsschwestern,
denen ihr Ruhm einen Künstlernamen eingebracht hatte. Sie waren so
bekannt und hatten so starke Bindungen an die Stätte ihres Wirkens,
daß man angefangen hatte, sie als »Dog's-Head-Mädchen« zu
bezeichnen. Daraus wurde dann Dogget, ein Name, der ihrem
eigentlichen Familiennamen nicht unähnlich war.
Die Dogget-Schwestern hatten ein gutes Herz, und sie liebten
das Abenteuer. Als sie vor zwei Tagen die bitter weinende Joan vor
St. Paul's hatten stehen sehen, hatten sie ihr ihre Geschichte
entlockt und waren sofort fasziniert davon. »Wir müssen ihr
helfen«, beschlossen sie einstimmig. Und dann heckten sie den
ungewöhnlichen Plan aus, der bislang bestens funktioniert
hatte.
Das Problem war nur, daß sie Joan in der letzten Stunde völlig
vergessen hatten, und zwar wegen Margery. Die Schwestern hatten
sich an einen ruhigen Fleck, eine Meile von Bankside entfernt,
zurückgezogen und starrten bedrückt auf die kleine, rote
Stelle.
»Tut es weh?« fragte Isobel. »Nein, es brennt nur ein wenig«,
sagte Margery. »Dann ist es das«, sagte Isobel. »Sie werden es bald
sehen.« Der Büttel des Bischofs und seine Helfer inspizierten alle
Mädchen einmal im Monat. Wer eine Krankheit hatte, wurde aus
Liberty hinausgeworfen. Selbst Bestechungen nutzten nichts. Einer
der Vorteile, daß die Kirche die Bordelle leitete, war, daß die
Inspektionen des Bischofs gründlich waren. Und Margery hatte
eindeutig die Brennkrankheit.
Es war eine Form der Syphilis, wenn auch nicht so schwer wie
die Form, die in späteren Jahrhunderten auftauchte. Es ist nicht
sicher, wann diese Krankheit zum erstenmal nach England kam;
vielleicht ist sie von zurückkehrenden Kreuzfahrern eingeschleppt
worden, aber es weist einiges darauf, daß es sie schon in der Zeit
der Sachsen gab.
Wenn Margery das Bordell verlassen mußte, hatte sie keine
Verdienstmöglichkeiten mehr. »Ich wünschte, der König hätte nicht
die ganzen Juden rausgeworfen«, klagte sie. An der Bankside war man
sich einig, daß der alte jüdische Doktor der Beste gewesen war. Ob
es nun darauf zurückzuführen war, daß sie einen besseren Zugang zum
alten Wissen der klassischen Welt und des Mittleren Ostens hatten
oder ob sie einfach nur eine bessere Ausbildung erhielten und
weniger abergläubisch waren – aus der jüdischen Gemeinde waren oft
genug die besten Arzte gekommen. Der alte jüdische Arzt an der
Bankside hatte gewußt, wie man die Brennkrankheit mit Quecksilber
behandelte. Jetzt kannte keiner mehr diese Methode.
Die jüdische Gemeinde war komplett verschwunden. Seit dem
gegen die Juden gerichteten Aufstand am Krönungstag von König
Richard, also seit rund hundert Jahren, waren die Haßgefühle gegen
die Juden in England stetig gewachsen. Der allmähliche Prozeß der
Verfolgung war ursprünglich gar nicht durch die finanziellen
Aktivitäten der Gemeinde verursacht worden. Natürlich bezeichneten
einige Kirchenphilosophen die Zinserhebung als Wucher und deshalb
als Sünde, doch selbst die bischöflichen Verwalter und die Äbte der
großen Klöster scheuten sich nicht, bei den Juden hohe Anleihen zu
machen. Sogar ein großer Umbau an der Westminsterabtei wurde auf
diese Weise finanziert.
Aber drei Dinge hatten gegen sie gesprochen. Erstens führte
die Kirche in ganz Europa schon seit längerer Zeit eine Kampagne
gegen die Juden auf der Grundlage religiöser Argumente; zweitens
hatten sie sich wie alle Kreditgeber bei vielen Baronen und anderen
Schuldnern unbeliebt gemacht; und schließlich wandte sich auch der
König gegen sie. Die Herrschaft Heinrichs III. des Sohnes König
Johanns, hatte über fünfzig Jahre gedauert, die seines Sohnes
Eduard nun auch schon wieder fast fünfundzwanzig Jahre. Beide
hatten häufig Geld gebraucht. Und was war einfacher, als von den
Juden Schutzgelder einzufordern? Diese Gebühren wurden den Juden so
häufig und in einer derartigen Höhe auferlegt, daß im vergangenen
Jahrzehnt nahezu jeder jüdische Finanzier ruiniert wurde. Dann
wurden die Juden von christlichen Geldverleihern abgelöst, vor
allem von den großen italienischen Finanziers, die vom Vatikan
gefördert wurden. Kurzum – der König hatte keine Verwendung mehr
für die Juden. 1290 annullierte König Eduard I. in einem Akt von
Frömmigkeit die verbliebenen Schulden und erfreute den Papst damit,
daß er die gesamte jüdische Bevölkerung aus dem Inselkönigreich
verbannte.
Leider waren auch die Arzte gegangen. Und so grübelten die
Dogget-Schwestern an diesem Novembermorgen über ihr Schicksal nach,
das ohne das Quecksilber des jüdischen Arztes ziemlich düster
aussah. Und die kleine Joan, deren Leben sie umgekrempelt hatten,
hatten sie in diesem Moment völlig vergessen.
Martin Fleming saß sehr ruhig in seiner
Zelle. »Bete!« hatte der Gefängniswärter ihm heute morgen
nahegelegt. Aber so sehr er sich auch darum bemühte, es fiel ihm
einfach kein Gebet ein. Er wußte nur, daß man ihn morgen hängen
würde und daß es ihm überhaupt nichts nützte, daß er unschuldig
war.
Martin Fleming war nur wenig größer als das Mädchen, das er
liebte, und er hatte einen sehr sonderbaren Körper; überall dort,
wo sich bei den meisten Leuten Wölbungen nach außen zeigten, wölbte
es sich bei Martin Fleming nach innen. Seine schmale Brust war
eingefallen; sein Gesicht erinnerte an das Innere eines Löffels.
Seine ganze Erscheinung war so schwächlich, daß man immer annahm,
daß sein Geist ebenso schwach sei. Nur wenige wußten, daß sich in
der Seele Martin Flemings eine Hartnäckigkeit versteckt hielt, die
unverrückbar wie ein Berg war.
Wie sein Name nahelegte, stammte seine Familie aus Flandern.
Das große Gebiet zwischen den Ländern der Franzosen und der
Deutschen, in dem vor allem Tuch hergestellt wurde, war nicht nur
Englands Handelspartner, von dort kamen auch unzählige Immigranten
auf die Insel. Angeworbene Söldner, Kaufleute, Weber und
Kunsthandwerker aus Flandern gliederten sich mühelos in das
englische Volk ein und brachten es meist zu Wohlstand. Doch dies
war Martins Familie nicht gelungen. Sein Vater war ein armer
Hornbearbeiter, dessen Handwerk, Horn soweit abzuschleifen, bis es
durchsichtig war, so daß man es als Hülle für Laternen benutzen
konnte, ihm nur einen Hungerlohn einbrachte. Als sich für den
Jungen die phantastische Gelegenheit bot, hatte sein Vater ihn
gedrängt, zuzugreifen. »Man kann nie wissen, was dieser Mann noch
alles für dich tut, wenn er dich mag«, hatte der Vater
gemeint.
Anfangs war der junge Martin so froh darüber, für den
Italiener zu arbeiten, daß ihm kaum auffiel, daß einiges
schieflief. Der Italiener war reich, er war einer der
Geldverleiher, die die Juden ersetzt hatten, und hatte seinen
Wohnsitz an der Gasse im Stadtzentrum am Cornhill, die als Lombard
Street bekannt war, da viele Leute dort wohnten, die aus der
Lombardei kamen. Der Italiener, ein Witwer, dessen Sohn das
Unternehmen in Italien leitete, lebte allein und brauchte Martin
für allerlei Botengänge. Er zahlte ihm einen guten Lohn, wenn auch
unter Murren.
»Er denkt die ganze Zeit, daß ich ihn betrüge«, beschwerte
sich Martin. Ob dies nun darauf zurückzuführen war, daß der
Italiener das Englische nicht sehr gut beherrschte, oder ob er
einfach ein mißtrauischer Mensch war, fand Martin nie heraus, aber
es gab ständig Ärger. Wenn er eine Botschaft überbrachte, wurde ihm
vorgeworfen, daß er trödelte; wenn er zum Einkaufen auf den Markt
ging, beschuldigte ihn sein Herr, daß er Geld für sich selbst
abgezweigt habe. »Hätte ich diese Stellung doch nur aufgegeben«,
sagte er später reuevoll. Aber er hatte es nicht getan, denn er
dachte ständig an Joan.
Joan, die so ganz anders war als die anderen Mädchen. Mit
achtzehn hatte Martin herausgefunden, daß die meisten Mädchen ihn
auslachten, weil er so schwächlich war. Im Mai, wenn viele junge
Lehrlinge einen Kuß erhielten, bekam er nie einen. Ein anderer
Junge wäre vielleicht daran verzweifelt, doch Martin mit seinem
geheimen Stolz verachtete diese Mädchen einfach nur. Wer waren sie
denn schon? Nur Frauen. Unbeständige, schwächere Werkzeuge – so
wurden sie doch immer von den Pfarrern in der Kirche bezeichnet.
Und ihr Lächeln, ihre Küsse, ihre Körper? Alles nur Teufelswerk.
Als er zum jungen Mann herangereift war, ohne jemals geküßt worden
zu sein, war er schließlich zu der Überzeugung gelangt, daß alle
Frauen unrein seien und er gar keine wollte.
Joans Vater war ein anständiger, ernster Handwerker. Er
bemalte die großen, reich verzierten Holzsättel der Reichen und
Adligen. Seine beiden Söhne halfen ihm bei der Arbeit; er war immer
davon ausgegangen, daß seine Tochter einen Handwerker aus diesem
Bereich heiraten würde. Was zum Teufel fand sie nur an dem jungen
Fleming, dessen Aussichten so kümmerlich waren? Er hatte immer
wieder versucht, ihr den jungen Mann auszureden, aber Joan war
beharrlich geblieben, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Sie
wurde geliebt, ja nicht nur das, sie wurde glühend verehrt.
Martin arbeitete seit einem halben Jahr bei dem Italiener, als
er sie eines Tages bemerkte. Er war auf einem Botengang zu den
Piers an der Vintry und ging hinauf zum West Cheap, als er sie vor
der Werkstatt ihres Vaters am Anfang der Bread Street sitzen sah.
Warum blieb er stehen, um mit dem Mädchen zu reden? Es mußte eine
innere Stimme gewesen sein, die ihn dazu veranlaßt hatte. Am
nächsten Tag kam er wieder vorbei, und am übernächsten
ebenso.
Joan war anders. Sie war so ruhig, so bescheiden. Sie schien
ihn nicht lächerlich zu finden. Wenn sie ihn mit ihren ernsten
Augen anblickte, kam er sich wie ein richtiger Mann vor. Bald fand
er heraus, daß es keinen anderen in ihrem Leben gab. »Sie ist so
rein«, sagte er sich. Und das stimmte tatsächlich. Sie war noch nie
geküßt worden.
Er machte ihr den Hof. Die Tatsache, daß er keine Rivalen
hatte, schenkte ihm das nötige Selbstvertrauen, und mit der Zeit
begann er, sich als ihr Beschützer zu fühlen. Je deutlicher er
erkannte, wie gut sie war, desto entschlossener wurde er, sie nie
mehr loszulassen. Keine Woche verstrich, ohne daß er ihr ein
kleines Geschenk vorbeibrachte. Nie zuvor hatte ihr jemand derart
viel Aufmerksamkeit gezollt. Und so war es kaum überraschend, daß
nach einem halben Jahr beide so weit waren, daß sie heiraten
wollten.
Aber wie sollten sie das bewerkstelligen? Der Sattelmaler
konnte seiner Tochter kaum etwas mitgeben, und Martins Vater hatte
noch weniger. Schließlich kam man zu einer Einigung. Die beiden
jungen Leute sollten noch zwei Jahre warten in der Hoffnung, daß
sich Martins Stellung verbesserte.
Und dann passierte das Unheil, an dem Martin nicht schuldlos
war. Es gab ein Gesetz, daß gewöhnliche Leute nach Einbruch der
Dunkelheit ihre Häuser nicht mehr verlassen durften. Wenn ein
Diener ausging, mußte er die Erlaubnis seines Herrn vorweisen.
Selbst die Wirtshäuser sollten geschlossen sein. Im Mittelalter
galt diese Sperrstunde in allen Städten, wenn auch kaum jemand sich
strikt daran hielt. Abgesehen von zwei Wächtern an den Stadttoren
und dem Büttel in jedem Bezirk gab es ohnehin niemanden, der dieses
Gesetz überwachte.
An einem Abend im Oktober – sein Herr weilte außer Haus –
schlich Martin sich noch in eine Kneipe. Bei seiner Rückkehr
ertappte er zwei Diebe in dem dunklen Haus in der Lombard Street.
Um das Hab und Gut seines Herrn zu beschützen, hastete er zu ihnen
hin und machte dabei soviel Lärm, daß die Diebe flohen. Er
verfolgte sie, und einer der beiden ließ eine kleine Tasche fallen,
bevor sie verschwanden. Martin hob die Tasche auf und wollte wieder
heim, doch schon nach wenigen Minuten trat plötzlich der Büttel aus
einer dunklen Ecke und fragte ihn, ob er denn eine Erlaubnis habe,
sich so spät noch herumzutreiben. Und er untersuchte die
Tasche.
Als der Italiener am nächsten Tag zurückkehrte, ließ er sich
durch nichts davon abbringen, daß Martin versucht habe, ihn zu
berauben. In der Tasche befanden sich mehrere goldene
Schmuckstücke, die er sorgfältig in einem Versteck aufbewahrt
hatte. »Ich habe diesen jungen Mann schon früher bei dem Versuch
ertappt, mich zu bestehlen«, erklärte er vor Gericht. Martin wurde
für schuldig befunden, und auf Diebstahl stand die
Todesstrafe.
In der City gab es drei große Gefängnisse: Fleet, Ludgate, in
dem vor allem Schuldner einsaßen, und Newgate. Alle drei bestanden
aus ein paar steinernen Zellen, die immer dicht belegt waren. Die
Gefangenen konnten bei dem Gefängniswärter für ihr Essen bezahlen,
oder aber Verwandte oder Freunde brachten ihnen Essen und Kleidung
vorbei. Wenn dies nicht der Fall war und wenn auch Passanten kein
Mitleid mit ihnen hatten oder der Aufseher ihnen nicht aus
Freundlichkeit Wasser und Brot reichte, mußten sie hungern.
Martin Fleming war nun seit einer Woche in Newgate. Seine
Familie brachte ihm Essen, und Joan besuchte ihn jeden Tag.
Manchmal konnten sich reiche Leute beim König eine Begnadigung
erkaufen, aber für Leute wie ihn gab es keine Hoffnung. Morgen
würde er sterben.
Deshalb konnte er wenig mit der sonderbaren Botschaft
anfangen, die er eben erhalten hatte. Joans Bruder hatte ihm durch
das Eisengitter hindurch gesagt: »Ich soll dir von Joan ausrichten,
daß morgen alles in Ordnung kommen wird. Nichts ist so, wie es auf
den ersten Blick erscheint, soll ich dir noch sagen. So einfach,
was sie sagt. Vertraue ihr.«
»Wo ist sie denn jetzt?«
»Sie ist verschwunden. Sie hat mir noch gesagt, ich soll den
Eltern sagen, daß sie erst morgen zurückkommt. Sie hat sich einfach
in Luft aufgelöst.« Dann ging er wieder.
Am späten Vormittag dieses Tages stand ein großer, blonder
Mann, er mochte etwa Ende Zwanzig sein, vor einer Tür im ersten
Stock des Hauses von William Bull. Ein Diener hatte ihn
hochgeschickt, und nun klopfte er nervös an der Tür.
William Bull saß auf seiner Toilette und ignorierte das
Klopfen. Er dachte nach.
Die Toilette, die im Obergeschoß des Hauses unter dem
Hauszeichen des Bullen eingebaut worden war, war ein kleiner,
viereckiger Raum mit einem mit einem Laden versehenen Fenster. Die
Wände und die Tür waren mit grünem Filz bespannt, auf dem Boden
lagen frische, wohlriechende Binsen. Der Sitz, der in einen langen
Schacht mündete, war aus poliertem Marmor, und auf ihm lag ein
ringförmiges, dickes, rotes Kissen, bestickt mit einem Blumen- und
Früchtemuster in Rot, Grün und Gold. Der letzte König, Heinrich
III. hatte eine Vorliebe für sanitäre Einrichtungen gehegt und
neben vielen Kirchen auch eine außergewöhnlich hohe Zahl von
Garderobes, also Toiletten, gebaut. Adlige, die gerne der
Mode folgten, hatten es ihm gleichgetan, und Bulls Vaters, ein
Londoner Baron und Alderman, ließ in seinem Haus auch so einen Raum
einrichten.
Es war ein guter Ort, um nachzudenken. Und an diesem Morgen
mußte William Bull zwei Entscheidungen fällen, eine große und eine
kleine. Obwohl die große sein Leben völlig umkrempeln würde, war
sie die leichtere.
Wieder klopfte es an der Tür. »Herein!« brummte er.
Er hielt in seinem Sanktum gern Audienzen ab. Doch nun, als er
sah, um wen es sich handelte, verdunkelte sich seine Miene. »Du
bist es«, knurrte er. »Der Verräter!«
Elias Bull war zehn Jahre jünger als sein Vetter William. Er
war im Gegensatz zu seinem stämmigen Vetter eher schlank und hatte
eine frische Gesichtsfarbe, während William fleischige Wangen und
massige Kiefer hatte. Er war Weber und hatte nur ein sehr
bescheidenes Auskommen. »Ich hätte dich ja nicht belästigt«, hatte
er bei ihrer letzten Begegnung gestanden, »aber ich tue es für
meine Frau und die Kinder. Wie du wohl weißt, hat unser Großvater
meinen Vater mit einer äußerst kargen Abfindung abgespeist.« Er
benötigte eine kleine Hilfe.
Die lange Herrschaft König Heinrichs III. hatte der Familie
Bull nichts Gutes gebracht. Solange der Regentschaftsrat herrschte,
als der König noch minderjährig war, war es nicht schlecht gewesen.
Es gab keine größeren Kriege. Englands mächtiger Wollhandel blühte,
und auch der Stadt ging es unter ihrem Mayor und dem oligarchischen
Rat von Aldermen gut. »Wenn nur dieser Junge nie volljährig
geworden wäre«, jammerte Williams Vater oft. »Oder wenn er
wenigstens nicht ein Plantagenet gewesen wäre!« Denn es hatte wohl
nie einen Plantagenet gegeben, der nicht von einem Großreich
geträumt hätte. Der junge Heinrich herrschte über England und auch
noch über den südlichen Teil von Aquitanien, doch er träumte von
mehr.
Und schließlich ging es ihm wie seinem Vater Johann; eine
Reihe von extrem kostspieligen Kriegszügen im Ausland scheiterte;
eine große Gruppe von Baronen unter der Führung von Simon de
Montfort lehnte sich gegen ihn auf und stellte einen neuen Rat auf,
der über den König hinweg herrschte, als sei dieser wieder zum Kind
geworden. Montfort hatte einen Ausschuß von Baronen, Rittern und
sogar Bürgern gebildet, der als Parlament bezeichnet wurde. Ein
paar kurze Jahre lang hatte es sogar so ausgesehen, als würde sich
eine neue Art von königlicher Herrschaft in England entwickeln, in
der der König sich dem großen Rat unterwerfen müßte.
Und dann passierte etwas Schreckliches. Gestandene Bürger –
Fischhändler, Gerber, Händler und Handwerker – wiegelten den alten
Folkmoot in einer organisierten Rebellion gegen reiche Dynasten wie
Bull auf. Eine Gruppe unter der Führung eines wütenden jungen
Fischhändlers namens Barnikel zertrümmerte die Tür von Bulls Haus
und versuchte, es in Brand zu stecken. Und dann verleitete auch
noch Montfort diese Radikalen dazu, die Aldermen abzusetzen und
neue, vulgäre Kerle aus ihren eigenen Reihen zu wählen. Dieser
unglückselige Zustand währte solange, bis Montfort schließlich
getötet wurde und der König wieder die Macht an sich nahm; danach
gelang es auch den alten Patriziern wieder, allmählich die
Kontrolle über London zu übernehmen.
Am schlimmsten an dieser ganzen Geschichte war – schon allein
bei der Erinnerung daran ballte Bull wütend die Fäuste –, daß sich
sogar der Bruder seines Vaters den Rebellen angeschlossen hatte,
genauso wie eine Reihe junger Idealisten oder vielleicht auch
Opportunisten aus anderen Patrizierfamilien. »Aber das macht es
nicht besser«, hatte Williams Vater gemeint. »Ein Verräter ist und
bleibt ein Verräter.« Der junge Radikale wurde aus der Familie
verstoßen. Und jetzt belästigte ihn der elende Sohn dieses
Verräters schon zum drittenmal in diesem Jahr. Doch dann hellte
sich Williams Miene auf, denn nach der großen Entscheidung, die er
eben gefällt hatte, kam ihm dieser Besuch jetzt eigentlich ganz
gelegen. Das ist zwar grausam von mir, dachte er, aber warum sollte
ich mir diese bescheidene Rache nicht gönnen?
Der Kaufmann starrte auf seinen Vetter und meinte dann barsch:
»Ich gebe dir drei Mark.« Das war genug, um die Mahlzeiten der
Familie für eine Weile zu sichern, aber nicht genug, um an ihren
Lebensumständen grundlegend etwas zu verändern. Elias wirkte noch
nicht zufrieden. »Wenn du mich in einem Jahr hier vorfindest«,
meinte William achselzuckend, »dann gebe ich dir vielleicht die
Erbschaft, die dir zugestanden hätte. Aber jetzt verschwinde!« Dem
armen Elias blieb nichts weiter übrig, als diesem Befehl zu
gehorchen.
Das Grausame an Williams kleinem Scherz beruhte auf der großen
Entscheidung, die er soeben gefällt hatte. In einem Jahr würde er
nämlich nicht mehr hier sein. Die Bulls verließen London.
Sogar sein Vater hatte oft genug bemerkt, daß die Stadt immer
unerträglicher wurde, vor allem wegen der Einwanderer. Der
wirtschaftliche Aufschwung in diesem Jahrhundert führte dazu, daß
London sich zunehmend vergrößerte. Der Strom von Einwanderern war
zu einer Flut geworden. Italiener, Spanier, Franzosen und Flamen,
Deutsche aus dem wachsenden Netzwerk nordischer Häfen, die
inzwischen als Hansestädte bezeichnet wurden, und natürlich auch
Kaufleute und Handwerker aus ganz England strömten in die Stadt.
Und mit Ausnahme der Hanseleute, die sich strikt in ihren eigenen
Kreisen bewegten, vermischten und verheirateten sich diese ganzen
Leute mit eben den Handwerkern, die unter Montfort so rebellisch
geworden waren.
Für William zeigte sich dieser Prozeß deutlich in einem
Ereignis, das sich ein Jahr vor König Heinrichs Tod zugetragen
hatte. Der kleine Kirchturm von St. Mary-le-Bow war in einem Sturm
eingestürzt und hatte ein daneben stehendes Haus, das Bull gehörte,
beschädigt. Sein Vater hatte das Haus nicht reparieren lassen,
sondern beschlossen, es zu verkaufen. Ein Jahr darauf teilten sich
ein Färber aus der Picardie und ein Lederverkäufer aus Cordoba
dieses und drei weitere kleinere Häuser der Bulls. Dann waren auf
dem nahe gelegenen Garlick Hill einige ganz gewöhnliche Gerber
eingezogen. Und dann war auch noch sein eigenes Haus, das vorher
zur aristokratischen Pfarrei von St. Mary-le-Bow gehört hatte, der
winzigen Pfarrei von St.-Lawrence-Silversleeves zugeordnet worden.
So eine mickrige, kleine Kirche war des Patriziers Bull nicht
würdig. Die Familie wurde zurückgedrängt, das war völlig
klar.
Die Herrschaft Heinrichs III. war schlecht genug gewesen für
die Familie Bull, doch die letzten zwanzig Jahre unter seinem Sohn
Eduard waren tatsächlich der reine Alptraum. Eduard I. war ein
eindrucksvoller König. Groß und stark, mit edlen Gesichtszügen und
einem wallenden Bart, nur unwesentlich beeinträchtigt durch eine
Lidschwäche am linken Auge und ein kleines Lispeln. Der mächtige
Gesetzgeber und Feldherr war sowohl intelligent als auch
tatkräftig. Man nannte ihn den Leoparden. Er war entschlossen,
seinen eigenen, eisernen Willen durchzusetzen, und schaffte es auch
meist. Er hatte bereits die Waliser unterworfen und ihr Land mit
riesigen Burgen befestigt, bevor er ihnen ihren ersten englischen
Prinzen zuteilte. Bald wollte er nach Norden marschieren und auch
die Schotten unter seine Herrschaft bringen. Wenn es denn eine
Gruppe von Leuten in seinem Königreich gab, die ihm überhaupt nicht
paßte, dann waren es die stolzen Aldermen Londons, die ihren
eigenen Mayor wählten und dachten, sie könnten Könige
bestimmen.
Er hatte sich einen schlauen Plan zurechtgelegt. Welcher
Kaufmann konnte schon leugnen, daß Eduard es gut mit ihm meinte?
Seine Gesetze waren gerecht und förderten den Handel. Schulden
wurden geregelt, Steuern vereinfacht; auf Wollexporte gab es einen
neuen, doch durchaus nicht überhöhten Zoll, der größtenteils auf
die ausländischen Kunden abgewälzt werden konnte. »Doch was hat er
insgeheim uns Patriziern nicht alles angetan!« meinte William immer
wieder. »Er hat die besten Geschäfte im Weinhandel Burschen aus
Bordeaux überlassen; die größten Wollhändler sind entweder
Italiener oder Leute aus dem Westen.« Während sein Vater profitable
Geschäfte mit dem Verkauf von Luxuswaren an den königlichen
Haushalt, die Wardrobe, getätigt hatte, konnte William überhaupt
kein Geschäft mehr mit diesem Amt abwickeln. »Man hat uns
hintergangen«, schloß er verbittert.
Vor zehn Jahren hatte der König dann zu seinem vernichtenden
Schlag ausgeholt. Unter dem Vorwand, Recht und Gesetz zu
verbessern, setzte Eduard den Mayor ab und einen Kronverwalter ein.
Die Aldermen erhielten von den Londonern keine Unterstützung. Es
folgte eine Flut von neuen Bestimmungen: Abrechnungsformen,
Gerichte, Gewichte und Maße wurden mit der bekannten Gründlichkeit
Eduards reformiert. »Seine Gesetze gestatten jedem Fremden
dieselben Handelsrechte wie uns«, wütete Bull. Das königliche
Exchequer-Gericht zog in die Gildenhalle um, wo bislang das
Hustings-Gericht der Aldermen getagt hatte. Als die Aldermen vor
zwei Jahren dagegen Einspruch erhoben, enthob der Kronverwalter sie
ihrer Ämter und ersetzte sie durch neue, vom Exchequer bestimmte
Leute. »Lauter Fischhändler, Gerber, stinkende kleine Handwerker!«
Bull tobte. Die Montfort-Rebellen waren wieder da.
Doch die alte Garde gab sich noch nicht geschlagen;
schließlich herrschte sie nun schon seit einigen Jahrhunderten über
London. Viele hatten in Bull – einem achtbaren Bürger mit bestem
Ruf – eine mögliche Hoffnung gesehen. Und vor kurzem hatte auch er
seine Chance gewittert.
Vor einem Jahr hatte König Eduard zur Finanzierung seines
bevorstehenden Feldzuges gegen die Schotten die Zollgebühren auf
Wolle erhöht. Diese neue Steuer, die maltote, war so hoch,
daß ganz London protestierte. Inmitten dieser Unruhen wurde der
Posten des Alderman für Bulls Bezirk frei. »Damals, als mein Vater
noch lebte, gehörte uns so viel in diesem Bezirk, daß der Posten
des Alderman automatisch uns zufiel«, meinte Bull zu seiner
Familie. Aber er schluckte seinen Stolz hinunter und umwarb die
unbedeutenden Kaufleute und Handwerker; selbst mit dem
Kronverwalter versuchte er sich gutzustellen. Als der Tag der Wahl
näherrückte, stellte ihn niemand aus dem Bezirk in Frage.
Und gestern war der entscheidende Tag. In einem feinen neuen
Mantel stellte William Bull sich in der Gildenhalle zur Wahl. Doch
der Exchequer-Beamte winkte ab. »Wir wollen Euch nicht«, meinte er
schroff. »Wir haben einen anderen gewählt.« Als Bull protestierte –
»Es war doch niemand gegen mich aufgestellt!« – erwiderte der
Bursche: »Nicht aus Eurem Bezirk, aber aus Billingsgate, Barnikel
nämlich.«
Barnikel, dieser verfluchte, gewöhnliche Fischhändler, sollte
Alderman in Bulls Bezirk werden? Einige Minuten lang stand Bull vor
der Gildenhalle und konnte es kaum fassen, doch dann entschied er,
daß es an der Zeit war zu gehen.
Damit blieb ihm nur noch die kleinere Entscheidung, eine
einfache und obendrein lustversprechende Entscheidung. Eine
Jungfrau im Dog's Head – eine ziemliche Seltenheit, über die nur
die bevorzugten Kunden informiert wurden. Er stattete dem Bordell
nur gelegentlich einen Besuch ab, und der Bordellbetreiber war
stets ehrerbietig und diskret. Warum also zögerte er? War dieses
kleine Schuldgefühl tatsächlich angebracht? Wie zur Antwort auf
seine Überlegungen ertönte ein dumpfes Klopfen an der Tür, gefolgt
von einer nörglerischen Stimme.
»Was treibst du eigentlich? Du hockst jetzt schon eine ganze
Stunde da drinnen!« wollte seine Frau von ihm wissen, und ohne auf
eine Antwort zu warten, fuhr sie fort: »Ich weiß schon, was du
machst, du denkst wieder mal nach.« Er seufzte. Die
Auseinandersetzungen zwischen seiner Urgroßmutter Ida und ihrem
Mann waren in die Familiengeschichte eingegangen, doch sicher hatte
noch kein Bull jemals mit einer Frau wie seiner zurechtkommen
müssen.
Er hatte zwanzig miserable Jahre lang versucht, sie zu lieben.
Schließlich hatte sie ihm starke Kinder geschenkt, sagte er sich
immer wieder. Aber es war nie leicht, und in den letzten paar
Jahren hatte er es aufgegeben. Nun war sie ergraut, hager und
unnachgiebig; sie beschwerte sich, wenn er ausging, und piesackte
ihn, wenn er zu Hause war. Kein Wunder, daß er sich manchmal an der
Bankside ein wenig Trost holte. Nun teilte er ihr seine große
Entscheidung mit, und sei es auch nur, um der täglichen Öde zu
entgehen. »Wir werden aus London wegziehen, nach Bocton, dort
werden wir von nun an das ganze Jahr leben.«
So ungewöhnlich war Bulls Plan nicht. Während sich die
Londoner Kaufleute früher oft erst im Alter auf ihre Landgüter
zurückgezogen hatten, hatten nun bereits mehrere seiner
Patrizierkollegen ihre Geschäfte vorzeitig eingestellt und sich in
den Landadel eingereiht, weil sie den Wettbewerb in der Stadt zu
mühsam fanden. Gottlob verfügte er noch immer über ein erhebliches
Vermögen, mit dem er sich etwas Land dazuerwerben wollte. Doch nun
hörte er einen ungläubigen Schrei.
»Ich hasse das Landleben! Ich werde hier in London bleiben«,
protestierte seine Frau.
»Nicht in diesem Haus«, sagte er munter. »Das werde ich
verkaufen.«
»An wen?«
Das war nun wirklich das geringste Problem. In der wachsenden
Stadt gab es einen erstaunlichen Zuwachs an Wirtshäusern. Um die
siebzigtausend Menschen lebten nun hier, und es gab bereits um die
dreihundert Wirtshäuser, in denen Essen und Trinken serviert wurde,
dazu weitere tausend kleine Brauereien, in denen das Bier vom Faß
ausgeschenkt wurde. In einigen Wirtshäusern gab es auch Unterkünfte
für die vielen Besucher der Stadt, und manch ein Wirt hatte es zu
großem Wohlstand gebracht. Erst vor einem Monat hatte ihn einer,
der bereits zwei Gasthäuser besaß, gefragt, ob er denn nicht sein
Haus verkaufen wolle, und ihm einen guten Preis dafür geboten. So
teilte Bull nun seiner Frau mit, daß er das Haus an einen Wirt zu
verkaufen gedenke.
Sie fing zu weinen an. Er wandte seinen Blick gen Himmel. »Ich
gehe aus«, sagte er. Es kehrte eine kurze, feindselige Stille ein,
dann hob wieder dieses fürchterliche, eintönige Nörgeln an. »Ich
weiß schon, wohin du willst. Steigst wieder mal einer Frau
nach.«
Das war zu viel. »Soll ich dir sagen, wohin ich gehe? Zur
Stadtpolizei! Die werden dir einen Maulkorb anlegen! Und dann laß
ich dich damit durch die Stadt führen!«
So etwas war eine ziemlich üble Vorrichtung. Zänkische Frauen
wurden manchmal dazu verdammt, sich einen kleinen Eisenkäfig über
den Kopf stülpen zu lassen, der auch noch ein grausames Eisenteil
besaß, das in den Mund eingeführt wurde, um die Zunge unbeweglich
zu machen. In einem solchen Käfig wurden unbeliebte Frauen dann
durch die Straßen geführt. Bull hörte seine Frau weinen und begann,
sich wegen seiner Drohung zu schämen, aber er hatte wirklich genug
von ihr. Er ging an ihr vorbei aus dem Haus. Kurz nach dem
Mittagsgeläut kam er zu dem Bordell an der Bankside und wurde von
dem grinsenden Bordellbetreiber zu Joan geführt.
Joan musterte William Bull. Vor ihr stand ein großer,
beleibter Mann in den Vierzigern mit einem frischen Gesicht und
dicken Waden, der so wirkte, als sei er daran gewöhnt, daß man ihm
gehorchte.
Plötzlich wurde Joan wütend. Sie schrie den Bordellbetreiber
an: »Ihr habt mir versprochen, daß ich bis morgen keinen Kunden
haben werde, Ihr dreckiger Lügner!«
Bull blickte fragend auf die Frau des Mannes. »Denkt Euch
nichts weiter, mein Herr«, rief diese. »Sie ist nur ein wenig
nervös.« Und zu Joan gewandt zischte sie ärgerlich: »Du tust, was
man dir sagt! Das ist ein wichtiger Mann und ein guter
Kunde!«
»Das ist mir egal!«
»Willst du etwa die Peitsche spüren?«
»Ihr habt kein Recht, mich zu peitschen.«
Im Bordell herrschte die Regel, daß die Mädchen ihre Zimmer
mieteten, und abgesehen von dieser Verpflichtung waren sie frei, zu
kommen und zu gehen, wann sie wollten. In der Praxis hatte
natürlich der Bordellbetreiber bei fast allen Mädchen irgend etwas
gegen sie in der Hand.
»Vielleicht«, meinte der Bordellbetreiber jetzt nur kühl.
»Aber ich kann den Büttel des Bischofs kommen und dich noch in
dieser Stunde aus Liberty rauswerfen lassen. Danach findest du
garantiert keine Arbeit mehr.«
Genau dies durfte nicht passieren. »Dann tu ich's eben«, sagte
Joan und zwang sich dazu, Bull anzulächeln.
An der Außenwand des Bordells führte eine Holztreppe zu den
zwei oberen Stockwerken. In jedem Stockwerk gab es drei Räume, die
durch hölzerne Trennwände in je zwei quadratische Kämmerchen
unterteilt waren. Joan und der Kaufmann traten in den schmalen,
düsteren Gang im zweiten Stock und gelangten nach ein paar
Schritten zu einer kleinen Treppe, die kaum mehr als eine Leiter
war. Joan tastete sich nach oben.
Joans Zimmer befand sich im Dachboden unter dem Giebel des
Hauses. Es gab ein kleines Fenster, dessen obere Hälfte mit
Pergament bedeckt war, so daß das Licht hereinfallen konnte; der
untere Teil war mit einem stabilen Holzladen versehen. Auf dem mit
muffigen Binsen bedeckten Fußboden lag eine Strohmatratze. Joan
ließ ihren Schal fallen. Sie hatte sich noch nicht das gestreifte
Gewand ihres Berufsstandes zugelegt, sondern trug noch ihr
einfaches, langärmliges Leinenuntergewand und darüber eine
ärmellose Schürze mit einem Blumenmuster. Sie löste ihr Haar. Dann
trat sie zum Fenster und stieß den Laden auf. Etwa hundert Meter
entfernt floß der Strom träge dahin. Sie hatte nur einen Gedanken:
Wie konnte sie ihn hinhalten? Langsam drehte sie sich zu ihm um. Er
hatte seinen Umhang abgelegt und begann gerade, seine Jacke
aufzuknöpfen. Sie blickte auf sein breites Gesicht. Lag
Freundlichkeit darin?
»Es wird schon nicht so schlimm werden«, sagte er.
Und da fiel ihr etwas ein – ein Weg, wie sie ihre schreckliche
Lage vielleicht doch noch zu ihrem Vorteil wenden konnte. Es war
nur eine winzige Chance, aber vielleicht spielte er ja mit.
»Ich möchte Euch um etwas bitten«, sagte sie so ruhig wie
möglich. Und dann erzählte sie ihm alles.
Um ein Uhr mittags hüpfte ein kräftiger
Bursche breit grinsend aus dem alten Königspalast zu seinem Pferd,
schwang sich in den Sattel und ritt in die Stadt zurück; hinter ihm
ragte die alte Westminsterabtei empor.
1295 zeigte die Abtei ein höchst sonderbares Äußeres, denn als
der fromme König Heinrich III. beschlossen hatte, sie zu
renovieren, war ihm eine unglückliche Fehlkalkulation unterlaufen.
Trotz der immensen Summe, die die Juden zur Verfügung stellten, und
der Verpfändung der Kronjuwelen, die Heinrich für den luxuriösen
neuen Schrein des heiligen Eduards vorgenommen hatte, war ihm das
Geld ausgegangen. Die herrliche Osthälfte der Kirche, der Chor und
die Querschiffe sowie ein kleiner Teil des Schiffes waren
fertiggestellt und prunkten nun mit hohen, spitz zulaufenden Bögen
im gotischen Stil. Aber dann fiel das Schiff plötzlich auf die sehr
viel bescheidenere Höhe der alten, vom Bekenner erbauten
normannischen Kirche ab. Und so stand sie nun schon seit einem
Vierteljahrhundert: zwei Kirchen unterschiedlichen Stils, die in
völlig unsinniger Weise miteinander verbunden waren. Ein weiteres
Jahrhundert sollte vergehen, bis die Bauarbeiten wiederaufgenommen
wurden, und noch ein weiteres, bis sie endlich beendet waren.
Während der Herrschaftszeit von zwölf englischen Monarchen war die
geheiligte Krönungsstätte ein reines Chaos.
Aber Waldus Barnikel fand an diesem Tag alles perfekt. »Ich
bin der glücklichste Mann von ganz London«, hatte er dem König vor
wenigen Augenblicken gestanden. Waldus Barnikel von Billingsgate
war rund wie ein Ball. Er war glattrasiert, obgleich sein rotes
Haar ihm fast bis zu den Schultern reichte, und trug einen Fellhut.
Er strahlte vor Zuversicht.
Und dies mit Recht. Schließlich hatten die gewöhnlichen
Fischhändler es mit ihrer Vereinigung bis in die höchsten Ebenen
der Stadt gebracht. Er trug nun das rote Gewand eines Alderman. Ab
sofort konnte er sich mit »Sire« anreden lassen. Und die Demütigung
des stolzen Patriziers Bull, den er sein Leben lang gehaßt hatte,
versüßte ihm das Ganze um so mehr.
Barnikel war reich. Sein Weg zum Reichtum war typisch für die
Fischhändler. Bald nach König Johanns Krönung hatte die Familie ein
kleines Fischerboot erworben, dann ein weiteres. Als Waldus zur
Welt kam, besaßen sie nicht nur ein Lager am Pier von Billingsgate
und einen großen Stand auf dem Markt; sie hatten wie andere
erfolgreiche Londoner Fischhändler auch noch ein Standbein in dem
kleinen, doch sehr geschäftigen Hafen Yarmouth, etwa hundert Meilen
entfernt an der Ostküste. Dort besaßen sie zwei weitere
Fischerboote und einen Anteil an einem höchst gewinnträchtigen
Handelsschiff. In Yarmouth hatte Barnikel auch seine Frau
kennengelernt, dort war er reich geworden und hatte an einer höchst
sonderbaren historischen Bewegung teilgenommen.
Das weite Gebiet von Ostanglien hatte in all den Jahrhunderten
seit der normannischen Eroberung seinen alten Charakter gewahrt.
Natürlich waren auch neue Leute eingewandert, vor allem flämische
Weber, deren Fertigkeiten sehr willkommen waren. Doch im
wesentlichen waren die großen Weideflächen, die Wälder und Sümpfe
noch immer so wie in den Zeiten des Danelaw: Länder der Angeln und
Dänen, der bodenständigen Kaufleute, isoliert und unabhängig. Wie
das übrige England war auch Ostanglien in diesem Jahrhundert reich
geworden, und zwar vor allem mit dem Export von zwei Sorten Tuch,
das jeweils unter dem Namen des Ortes, in dem es hauptsächlich
hergestellt wurde, bekannt war: Kersey im südlichen Teil, Worsted
im nördlichen Teil. Als Barnikel die Tochter eines reichen
Tuchherstellers aus Worsted kennenlernte, die wie er selbst von den
Wikingern abstammte, zögerte er nicht lange, sie zu heiraten. Dies
verdoppelte sein Vermögen. Als er sie mit nach London nahm, kam
ihre ganze Familie gleich mit.
Kaufleute aus Ostanglien machten einen guten Teil der
Zuwanderer aus, die in jener Zeit nach London strömten. Barnikel
hatte kürzlich bemerkt, daß die Leute in London sogar anders zu
sprechen begannen. Im ausgehenden dreizehnten Jahrhundert kamen
wieder die Nordmänner nach London, allerdings nicht mehr die
seefahrenden Wikinger, sondern deren inzwischen fest in der
englischen Mittelschicht verwurzelten Nachfahren. Dies spiegelte
sich auch im Londoner Dialekt wieder.
Barnikel war ein reicher Kaufmann. Er verkaufte Fisch, aber
seine Schiffe transportierten auch Pelze und Holz aus dem Baltikum
sowie Getreide und sogar Wein. Vor kurzem war er zum Alderman
ernannt worden. Was würde als nächstes kommen? Doch nie hatte er
damit gerechnet, daß König Eduard persönlich ihn zu sprechen
wünschte.
»Ich brauche Euch«, hatte der große, grauhaarige Monarch
gesagt. »Ich brauche Euch für das Parlament.« Der Fischhändler war
rot angelaufen vor Stolz; er konnte es kaum fassen, welche Ehre ihm
da zuteil werden sollte. Ein Barnikel im Parlament!
König Eduards Beschluß, zweimal im Jahr Parlamente in
Westminster einzuberufen, zeigte wieder einmal, wie gewitzt und
scharfsinnig er war. In Erinnerung an die Demütigung, die sein
Vater und sein Großvater unter dem Druck der Barone erlitten
hatten, war er sehr viel klüger vorgegangen. Wann immer eine
wichtige Entscheidung anstand, rief er nicht nur den Rat der Barone
zusammen, sondern auch die anderen Parteien, die davon betroffen
waren. Wenn es um die Kirche ging, rief er Vertreter des Klerus
herbei; ging es um den Handel, die Bürger der Stadt; ging es um den
allgemeinen Militärdienst, die lokalen Ritter. Und manchmal wurden
auch alle zusammen einberufen. Solche Parlamente beobachteten auch
die königliche Rechtsprechung, deren letzte Instanz der König war.
Natürlich erließ der König oft selbst Gesetze, aber er hatte sein
Parlament immer als ausführendes Organ.
Genauso wie er die kleineren Kaufleute benutzte, um die Macht
des Londoner Mayors und seiner Oligarchen zu brechen, konnte der
Monarch mit seinen Parlamenten seine Kronvasallen einschränken.
Selbst die Macht der Kirche konnte er brechen, wenn auch in
geringerem Ausmaß. Und so nahm unter der Herrschaft König Eduards
I. die große Institution des Parlaments ihren Anfang, wenn auch
nicht, um die Macht in die Hände des Volkes zu legen, sondern um
den langen politischen Arm des Königs zu stärken.
Am Vortag war einer der Londoner Volksvertreter, der am
Parlament hätte teilnehmen sollen, krank geworden. »Also habe ich
nach Euch geschickt«, hatte König Eduard Waldus lächelnd
erklärte.
Natürlich gab es dafür einen Grund, das war Barnikel klar; er
war ja schließlich kein Dummkopf. Wenn der König Kaufleute in
seinem Parlament haben wollte, bedeutete dies, daß er neue Steuern
von den Städten haben wollte. Wenn er bereit war, einem
neuernannten Alderman zu schmeicheln, wollte er wohl eine ziemlich
hohe Summe. Nun denn, er würde sie wohl auch bekommen.
Jedenfalls hatte Waldus Barnikel einen Grund, an diesem
Nachmittag zu feiern. Und genau dies hatte er nun vor. Heute morgen
hatte er eine Botschaft von der Bankside erhalten. Es ging um eine
Jungfrau. Frohgemut machte er sich auf den Weg.
Normalerweise besuchte er das Dog's Head einmal in der Woche.
So hatte er es seit fast fünf Jahren gehalten, und er schlief stets
mit einer der Dogget-Schwestern. Aber dieser Besuch an der Bankside
war ohnehin schon fest eingeplant gewesen. König Eduard hatte
nämlich eine große Wahrheit verstanden, die bei fast allen
zukünftigen Legislativversammlungen immer wieder bewiesen werden
sollte – Prostituierte und Politiker fühlen sich zueinander
hingezogen. »Wenn ich hier einen Haufen Ritter und Volksvertreter
in der Stadt habe«, beobachtete der König, »begeben die sich früher
oder später zu den Huren und in Schwierigkeiten.« Deshalb waren die
Bordelle an der Bankside offiziell geschlossen, wenn das Parlament
in Westminster tagte. Und deshalb würde es vielleicht eine Weile
dauern, bis Waldus wieder dorthin gehen konnte.
Nur einmal machte er einen kleinen Halt. Von Westminster aus
führte ein breiter, morastiger Weg am Flußufer entlang; nach etwa
einer halben Meile bog er nach rechts ab, dort, wo die Themse ihre
letzte Kurve bei Aldwych machte, um danach in ihrer langen Geraden
bis hinter London hinauszufließen. An dieser Abbiegung stand ein
großes, hübsch verziertes, steinernes Monument mit einem Kreuz.
Hier sprach Barnikel ein kurzes Gebet.
Das Kreuz war seit etwa fünf Jahren an dieser Stelle, seit
König Eduards Frau, der er – höchst ungewöhnlich für einen König –
sehr zugetan und obendrein auch noch treu gewesen war, oben im
Norden gestorben war. Eine Gesandtschaft war losgeschickt worden,
um ihren Leichnam nach Westminster zu überführen. Zwölfmal mußte
für die Nacht unterwegs Rast gemacht werden; hier hatte sich der
letzte Rastpunkt befunden, bevor der Leichnam offiziell in die
Abtei Einzug hielt. König Eduard ließ an jedem Rastplatz ein
steinernes Kreuz errichten. An der Wood Street im West Cheap gab es
ein weiteres Kreuz. Und da dieser Punkt unter seinem alten
englischen Namen Charing, also Abbiegung, bekannt war, hieß diese
Gedenkstätte Charing Cross.
Barnikel hielt am Kreuz an, weil seine eigene Frau, die ihm
sieben Kinder geschenkt hatte, am Tag der Errichtung des Kreuzes
bei der Geburt ihres achten Kindes gestorben war. Barnikel hatte
sie sehr geliebt; er hatte nie einen Ersatz für sie gefunden und
deshalb auch nicht mehr geheiratet, sondern es vorgezogen, einmal
die Woche zur Bankside zu gehen. Wie er es stets auf seinem Weg zu
tun pflegte, sprach er ein Gebet für seine Frau vor dem Charing
Cross und ritt dann weiter zu seinem Stelldichein.
Isobel und Margery wußten immer noch nicht,
was sie nun tun sollten. Sie hatten einen Doktor in der Maiden Lane
aufgesucht, der ihnen gegen ein kleines Bestechungsgeld versprochen
hatte, den Mund zu halten. Er hatte ihre Befürchtungen bestätigt.
»Lepra«, meinte er. Damit wurden alle ansteckenden Hautkrankheiten
bezeichnet. Nachdem er die kranke Stelle in Weißwein gebadet hatte,
gab er Margery eine Salbe und versicherte ihr, daß diese sie
kurieren würde. »Sie besteht hauptsächlich aus Ziegenurin und wirkt
hundertprozentig.«
»Ich könnte mich ja eine Weile vom Dog's Head fernhalten«,
sagte Margery, die noch nie von ihrer Schwester getrennt gewesen
war. »Ich kann die Miete bezahlen, und morgen ist ohnehin
geschlossen, wegen des Parlaments.« Doch meist bot der
Bordellbetreiber diskrete Dienste an, für die er die Schwestern
brauchte. »Ich werde beten«, verkündete Isobel.
Isobel war sehr gläubig. Die Kirche gestand den Prostituierten
nur ganz bestimmte Dienste zu. Sie konnten zum Beispiel die heilige
Kommunion empfangen, durften aber nicht in geweihtem Boden
bestattet werden. Isobel glaubte daran, daß Gott ihr ihre Sünden in
dieser harten Welt vergeben und ihre Seele retten würde. Margerys
Zustand durfte auf keinen Fall entdeckt werden. »Heute abend
solltest du besser nicht arbeiten«, sagte sie.
In ihren Nöten hatten sie die kleine Joan völlig vergessen.
Als sie sich nun dem Bordell näherten, sahen sie das Mädchen
draußen zwischen zwei Männern und dem Bordellbetreiber stehen.
Offensichtlich war etwas schiefgelaufen.
Waldus Barnikel war stinksauer, Bull lächelte milde, und der
Bordellbetreiber wirkte beschämt.
»Ihr habt mir eine Jungfrau angeboten«, donnerte der
neuernannte Alderman.
»Das war sie auch, heute morgen noch«, entschuldigte sich der
Bordellbetreiber. »Ich dachte, Ihr würdet früher kommen, Sire«,
fügte er hinzu.
»Das hätte ich auch getan, aber ich mußte noch bei König
Eduard vorsprechen«, erklärte Barnikel und starrte Bull verächtlich
an.
»Es hat sie doch bis jetzt nur ein Mann gehabt«, sagte der
Bordellbetreiber.
»Und zwar ich«, bemerkte Bull zufrieden.
»Glaubt Ihr etwa, ich will sie nach diesem alten Scheißer
haben?« brüllte Barnikel und funkelte den Patrizier haßerfüllt an.
Als er das Mädchen an der Seite seines alten Feindes sah, der ihm
zuvorgekommen war, war er viel zu stolz, um sich an sie
heranzumachen. Doch was sollte er nun tun? Schließlich war er ja
zum Feiern hergekommen, und dazu wollte er unbedingt eine
Frau.
Genau in diesem Moment sah er die Dogget-Schwestern. »Ich
nehme das Dogget-Mädchen«, brummte er. »Die, die ich immer habe,
Margery.«
Die Schwestern sahen sich an und dachten nur an eins: Wenn der
Alderman sich bei Margery etwas holte, würde sie dies teuer zu
stehen kommen. Wahrscheinlich würden sie beide rausgeworfen werden.
So trat also eine der beiden vor und sagte lächelnd: »Er will immer
nur mich, nie meine Schwester. Na denn los, mein Guter!« Isobel sah
keine großen Probleme; Margery hatte ihr schon längst erzählt, wie
Barnikel es immer gerne hatte.
Die richtige Margery schickte sich nun an, sich bei der armen
Joan zu entschuldigen. Schließlich hatten sie ihr ja versprochen,
sie zu beschützen. Doch merkwürdigerweise entdeckte sie keinen
Vorwurf in Joans Augen. Das Mädchen lachte sogar und küßte Bull auf
den Mund. »Soll ich Euch noch bis zur Brücke begleiten?« fragte
sie.
Kurz vor der Brücke verabschiedete sie sich von Bull. Sie
wußte, daß sie großes Glück gehabt hatte. Viele Männer hätten
sicher nur gelacht, wenn sie ihnen ihre Geschichte erzählt hätte,
und hätten ihr nicht geglaubt. Doch Bull hatte nur kopfschüttelnd
gemeint: »Das ist ja wohl die mutigste Geschichte, die ich je
gehört habe. Na gut, dann helfe ich dir eben.«
Die Gesetze waren eindeutig. Abgesehen von einer Begnadigung
konnte ein Verurteilter nur auf einem einzigen Weg dem Strick
entkommen – wenn er von einer Dirne eingefordert wurde.
Der Ablauf war genauestens festgelegt. Die Frau mußte
öffentlich in dem für ihren Berufsstand vorgeschriebenen
gestreiften Kleid und der weißen Haube vor den Richter treten. In
jeder Hand mußte sie eine Büßerkerze halten und sich dem Gefangenen
als Braut anbieten. Wenn der Verurteilte gewillt war, sie zu
heiraten, wurde er freigelassen, und danach fand sogleich die
Hochzeit statt. Die Kirche betrieb zwar die Bordelle, billigte es
aber dennoch, wenn eine Seele vor der Sünde gerettet wurde, und die
Behörden waren derselben Meinung.
Der Plan der Dogget-Schwestern fußte auf dieser Regelung. Joan
mußte einen Tag lang zur Prostituierten werden und offiziell im
Dog's Head aufgenommen werden; ihr Name mußte bei dem Büttel
registriert werden. Dann konnte sie ihren Verlobten zum Mann
einfordern.
»Aber ich kann mich doch nicht auf diese Männer einlassen«,
hatte das Mädchen protestiert. »Das könnte ich einfach nicht. Und
Martin…« Sie hatte es nicht gewagt, ihm die Feinheiten ihres Plans
zu erläutern. Er hätte ihn sicher abgelehnt.
»Wir werden dich beschützen«, hatten die DoggetSchwestern
versprochen. »Wir schaffen es schon, daß du eine Nacht lang
unberührt davonkommst.«
Joan glaubte zwar auch, daß die Behörden kaum nachfragen
würden, wie lange sie eigentlich in dem Bordell gewesen sei. Schon
allein die Schande, in dem verachteten Gewand als registrierte Hure
aufzutreten, reichte aus, sie für den Rest ihres Lebens zu
brandmarken. Aber sie fürchtete, daß der Richter seine Meinung
ändern könnte, wenn er herausfand, daß sie niemals als Hure tätig
gewesen war. Als sie dann vor Bull in dem kleinen Dachkämmerchen
stand, war ihr der Gedanke gekommen, ihm ihre Geschichte einfach zu
erzählen. Vielleicht würde sie ihm leid tun, und er würde sie nicht
mehr haben wollen, und vielleicht würde er auch noch den
Bordellbetreiber und sogar den Richter in dem Glauben bestätigen,
daß sie ihre Rolle tatsächlich gespielt habe.
Als William Bull diese sonderbare, entschlossene kleine Person
anstarrte, konnte er sich nur wundern. »Mein Gott, dein junger Mann
kann aber wirklich von Glück reden!« bemerkte er, nachdem er ihr
seine Hilfe zugesichert hatte. »Dem Richter würde ich zwar lieber
nur unter vier Augen erzählen, daß ich dich gehabt habe«, fügte er
noch hinzu, als ihm plötzlich seine Frau einfiel, »aber ich glaube,
es reicht schon, wenn der Bordellbetreiber denkt, daß es so
war.«
»Und noch eines«, sagte sie. »Wenn Martin wieder auf freiem
Fuß ist, müßt Ihr ihm unbedingt sagen, was tatsächlich passiert
ist!«
Bull grinste. »Selbstverständlich«, sagte er. Und als er und
das Mädchen wieder vor das Haus traten, stand doch da tatsächlich
Barnikel, der verdammte Fischhändler, und tobte, weil er
herausgefunden hatte, daß Bull ihm zuvorgekommen war. Welch
wundervoller Zufall! Die Rache war so süß, daß Bull nun, als er die
Brücke überquerte, so zufrieden war, als habe er ein Dutzend
Jungfrauen gehabt.
Auch Joan war zufrieden. Sie hatte keine Eile, ins Dog's Head
zurückzukommen. Sie lief ein Stück am Flußufer entlang bis zur
Kirche St. Mary-Overy, in die sie eintrat, um ein kleines Gebet für
Martin Fleming zu sprechen. Schließlich – es begann bereits zu
dämmern an diesem grauen Novembertag – kehrte sie wieder
zurück.
Dionysius Silversleeves starrte den Löwen
an und knurrte. Der Löwe schüttelte seine struppige Mähne und
knurrte zurück. Silversleeves rückte mit seinem langnasigen Gesicht
noch ein wenig näher heran, entblößte seine gelben Zähne und stieß
ein lautes Brüllen aus.
Der Löwe wurde wütend. Er attackierte die Stangen seines
Käfigs mit seinen Pranken und brüllte schließlich so laut, daß es
im ganzen Tower widerhallte.
»Du würdest mich wirklich gerne fressen, oder?« meinte
Silversleeves schadenfroh. Er pflegte dieses Ritual jeden Abend
nach der Arbeit, und nur weniges in seinem Leben machte ihm mehr
Spaß.
Dionysius Silversleeves war neunundzwanzig. Er hatte dunkles
Haar, eine lange Nase und einen dürren Körper. Seine Wangen waren
rot, seine Augen wäßrig, sein Gesicht pickelig. Die schrecklichen
Pickel waren überall: auf seinem Nacken, auf seiner Stirn, auf den
Schultern, am Kinn, auf seiner Nase in ihrer ganzen Länge; dort
glänzten sie besonders stark, wenn er getrunken hatte. »Das sind
die Säfte in meinem Körper«, pflegte er munter zu erklären. »Heiß
und trocken, wie Feuer.« Vielleicht war es diese unausgewogene
Kombination der Elemente, die ihn dazu bewog, die Löwen zu
foppen.
Der erste Londoner Zoo lag am äußeren Tor, gleich am Flußufer
an der Westseite des riesigen Towerkomplexes. Der vorherige König
hatte den Grundstein des Zoos gelegt, denn die Monarchen Europas
pflegten sich gegenseitig wilde Tiere zum Geschenk zu machen. Vor
Jahren hatte es einen Eisbären an einer Kette gegeben, ein Geschenk
des norwegischen Königs, einmal auch einen Elefanten, der recht
schnell gestorben war. Immer jedoch gab es Löwen und Leoparden in
den Käfigen neben dem Turm am Eingang, der deshalb auch als
Löwenturm bekannt war.
Die Menagerie war nicht die einzige Neuerung. Während der
letzten zwei Regentschaften hatten gewaltige Veränderungen an der
alten Festung am Fluß stattgefunden. Der rechteckige Burgfried des
Eroberers stand nun in der Mitte eines großen, offenen Platzes. Um
ihn herum war eine Festungsmauer mit Zinnen und einer Reihe von
Spähtürmen errichtet worden. Dies war der innere Bezirk. Außerhalb
dieses Bezirkes lag auf den drei landeinwärts gelegenen Seiten ein
breiter Korridor, der Außenbezirk, der von einer weiteren,
bemerkenswerten Festungsmauer umgeben war. Darum herum verließ ein
tiefer, breiter Graben, der aus der Toweranlage eine Insel machte,
die nur auf einer einzigen Zugbrücke und durch eine Reihe
abgeschlossener Höfe und Türme, einschließlich des Löwenturms an
der Westecke, erreicht werden konnte. Der Tower ähnelte stark den
großen Burgen mit ihren Ringmauern, die Eduard vor kurzem hatte
errichten lassen, um Wales zu sichern.
Der fromme König Heinrich III. hatte beschlossen, dem großen
normannischen Burgfried ein anderes Aussehen zu geben, und
befohlen, sämtliche Außenwände zu kalken. Nun sahen die Londoner
statt des grauen Steins eine große, weiße Burg am Flußufer funkeln.
Noch lange, nachdem die Kalkfarbe sich wieder gelöst hatte, hieß
die Burg White Tower.
Erst vor zehn Jahren war die königliche Münze von ihrem alten
Standort unterhalb von St. Paul's in den Tower umgezogen. Nun
befand sie sich in ein paar Werkstätten im äußeren Bezirk zwischen
den Wällen. Die Münze im Tower war eine der sechs Münzstätten, die
es im ganzen Königreich gab, und bei weitem die wichtigste.
Abgesehen von der alltäglichen Abnutzung und dem Bedarf, den der
ständig wachsende Handel mit sich brachte, waren die alten Münzen
aus der vorherigen Herrschaft abgewertet worden; König Eduard ließ
neue Münzen prägen, die den Handel und den Ruhm seines Königreichs
in ganz Europa fördern sollten.
Silversleeves kannte als Münzbeamter inzwischen alle Abläufe
der Münzherstellung. Es gab die Prüfstelle, in der die Münzen für
das Schatzamt geprüft wurden. Dies geschah, indem sorgfältigst
gewogen, geschmolzen und dann mit geschmolzenem Blei vermischt
wurde, wodurch jegliche Unreinheiten auf den Boden sanken, so daß
der wahre Silbergehalt der Münzen und Barren festgestellt werden
konnte. Es gab riesige Kessel mit geschmolzenem Metall, das
Silversleeves' rotes Gesicht noch röter glühen ließ; es gab die
Formen, in denen die Rohfassungen der Münzen hergestellt wurden,
und die Prägestöcke, die dazu dienten, mit einem einzigen,
wohlplazierten Hammerschlag das Rohprodukt mit der Prägung zu
versehen.
Dann gab es Räume, in denen die Münzen gezählt wurden – die
Farthings, von denen vier einen Penny ergaben; die Silberpennies
und ein Neuzugang bei Englands Münzen, ein kostbares, schweres
Vierpennystück, der Groat. Ob es nun darauf zurückzuführen war, daß
hier ständig etwas los war, oder darauf, daß es um Geld ging, was
er innig liebte – Dionysius Silversleeves schätzte sich glücklich,
hier zu arbeiten.
Außerdem mußte er sich um nichts sonst auf der Welt kümmern.
Er hatte zwei ältere Brüder, die für den Bestand der Familie
sorgten. Sie waren keineswegs mehr so reich wie in früheren
Generationen und hatten den Weinhandel inzwischen aufgegeben. Doch
sie hatten noch immer mehr als genug Geld, um für ihre alte,
verwitwete Mutter zu sorgen. Wenn Dionysius am Abend seine
Wirkungsstätte verließ, konnte er dem Vergnügen frönen, das er am
meisten schätzte: Er stieg den Frauen nach.
Zum Glück gab es genügend Dirnen, denn die meisten anderen
Frauen würdigten ihn kaum eines Blickes. Auf der Bankside oder in
der Cock's Lane gab es kaum ein Bordell, in dem er nicht bekannt
war, und auch in einer kleinen Gasse am West Cheap, der Gropeleg
Lane, in der ein paar nicht registrierte Huren hausten, ließ er
sich regelmäßig blicken.
Heute wollte Dionysius wieder einmal zur Bankside. Er freute
sich auf etwas ganz Besonderes: eine Jungfrau. Der Bordellbetreiber
hatte im letzten Moment auch noch an Silversleeves gedacht, und nun
überquerte dieser frohgemut die Zugbrücke über den
Towergraben.
Es war bereits dunkel, die Ausgangssperre war schon
eingeläutet worden; alle Fähren waren vorschriftsmäßig am Londoner
Ufer vertäut, damit die Diebe aus Southwark nicht über den Fluß
hinweg heimlich in die Stadt eindringen konnten; an der Brücke
stand ein Wächter.
Im Dog's Head wurden die Lampen entzündet. Der
Bordellbetreiber hatte Silversleeves völlig vergessen; er wärmte
sich an dem Kohlenbecken, das in der Mitte des niedrigen Zimmers
stand, in dem die Mädchen ihre Kunden empfingen. Fast alle Mädchen
waren schon in ihren Kammern, denn am Spätnachmittag waren einige
Kunden einschließlich zwei Volksvertretern des Londoner Parlaments
ins Dog's Head gekommen, um sich noch ein letztes Mal dem Vergnügen
hinzugeben, bevor das Bordell offiziell geschlossen wurde. Nur zwei
Mädchen und Isobel Dogget saßen in dem Zimmer, das Silversleeves
nun betrat. Grinsend fragte er: »Und wo steckt die Jungfrau?«
Der Bordellbetreiber blickte auf Isobel, die den Kopf
schüttelte. »Es tut mir leid, mein Herr, aber sie ist nicht
verfügbar«, sagte er. »Und die Sperrstunde ist auch schon
eingeläutet worden. Ihr seid zu spät.« Dies war natürlich ein
Argument. Sobald die Glocke geläutet worden war und die Fähren am
Ufer lagen, sollten die Kunden die ganze Nacht bei den Mädchen
verbringen. Damit wollte man verhindern, daß sie nachts die Straßen
unsicher machten. Wenn Joan jetzt einen Kunden hatte, dann war sie
in dieser Nacht nicht mehr zu haben. »Wie wär's denn mit einem der
anderen Mädchen, Sir?« schlug er vor.
»Diese alten Nutten kann ich jederzeit haben. Heute steht mir
der Sinn nach Frischfleisch«, meinte Silversleeves grinsend. »Ich
mache Euch einen Vorschlag: Sobald sie fertig ist, sagt Ihr ihrem
Kunden, daß er sich noch eine andere holen kann, und zwar auf meine
Kosten, und ich bekomme dann die Kleine.«
Doch auch hierzu schüttelte der Bordellbetreiber den Kopf.
Wenn er nicht einen winzigen Moment lang gezögert hätte, wenn er
nicht wieder kurz auf Isobel geblickt hätte, dann hätte
Silversleeves sich vielleicht geschlagen gegeben. Doch er bemerkte
es, und augenblicklich trat ein Ausdruck von Verschlagenheit in
sein Gesicht.
»Was wird hier gespielt?« fragte er laut. »Was verbergt Ihr
vor mir? Versucht Ihr etwa, mich zu betrügen?« Er trat auf den
Bordellbesitzer zu. Im Licht der glühenden Kohle warfen die Pickel
kleine Schatten auf sein Gesicht. »Ich könnte Euch einigen Ärger
einbringen. Ich könnte Euer kleines Fest erwähnen, das Ihr in der
nächsten Woche geplant habt.«
Dieses Fest sollte für einige Parlamentarier abgehalten
werden, und natürlich sollten auch Mädchen bereitgestellt werden.
Es war gegen das Gesetz, und der Bordellbetreiber hatte vergessen,
daß Silversleeves davon wußte. »Ich will keinen Ärger«, murmelte
er.
»Also krieg' ich nun das Mädchen oder nicht?«
Der Bordellbetreiber zuckte mit den Schultern. »Sie ist keine
Jungfrau mehr; heute nachmittag hat sie einen Kunden gehabt.«
»Das ist mir egal. Wer war es denn?«
»Der Kaufmann Bull«, antwortete der Bordellbetreiber
widerstrebend.
Silversleeves kicherte. »Ach ja? Dieser alte. Mistkerl. Aber
jetzt holt mir endlich das Mädchen!«
»Es geht ihr nicht gut«, sagte Isobel Dogget. »Laßt sie in
Frieden!«
»Hat Bull sie ein wenig zu grob angefaßt?« fragte
Silversleeves hämisch.
»Das geht Euch gar nichts an. Laßt sie in Ruhe!« rief Isobel
nun laut, und zwar an den Bordellbetreiber gewandt. Aber diesem
reichte es nun auch. »Jetzt mach schon, und hol sie runter!« befahl
er dem Mädchen.
Als Isobel in das kleine Dachkämmerchen kam, probierte Joan
eben ein gestreiftes Untergewand an, das Margery ihr für ihren
Auftritt am nächsten Tag leihen wollte. Als Isobel das anstehende
Problem erklärte, fing Margery zu fluchen an, und Joan wurde
kreidebleich. »Wir müssen uns etwas einfallen lassen«, sagte
Margery.
Die zwei Schwestern setzten sich auf die Matratze und begannen
zu murmeln. Bald lachten beide rauh. »Wir haben einen Plan«, sagte
Isobel, oder vielleicht war es auch Margery.
»Wir versprechen, daß sie kommen wird«,
sagten die Schwestern und setzten sich, Dionysius in die Mitte
nehmend, auf eine Bank. »Aber jetzt brauchen wir erst mal was zu
essen«, sagte Margery. »Und zu trinken«, sagte Isobel.
Der Bordellbetreiber runzelte die Stirn. In den Freudenhäusern
sollten eigentlich keine Speisen und Getränke verkauft werden, um
das Geschäft der Gasthausbesitzer nicht zu schmälern. Aber als
Silversleeves ein paar frischgeprägte Münzen in seiner Hosentasche
klimpern ließ, verschwand der Bordellbetreiber zögernd und tauchte
schließlich mit einem Krug voll Wein sowie Brot und einer Schüssel
mit Rindfleisch auf. Er stellte alles auf den Tisch. Silversleeves
ließ seine große Nase über allem kreisen und atmete genießerisch
ein. Dann machte er sich darüber her.
Das Mädchen war noch immer nicht aufgetaucht, aber es war ihm
egal. Er verließ sich auf das Versprechen der Schwestern, daß sie
kommen würde. Sie würden es nicht wagen, ihn zu betrügen. Es sei
denn, sie versuchten, ihn unter den Tisch zu trinken, da sie ja so
entschlossen zu sein schienen, dieses junge Ding vor ihm zu
beschützen. Dieser Gedanke kam ihm, als die Mädchen ihm fleißig
nachschenkten, aber er lächelte nur darüber, denn er war stolz auf
seine Trinkfestigkeit. Er verschlang das Rindfleisch und auch noch
einen großen Apfelkuchen. Aber dann befahl er Margery, das Mädchen
aufzutreiben.
Bald kehrte Margery lächelnd zurück. »Sie kommt gleich«,
versprach sie wieder und schenkte allen Wein nach. Bald war der
zweite Krug geleert. Wieder regten sich Argwohn und Wut bei
Silversleeves. »Jetzt hol' ich sie selbst«, knurrte er.
Doch da kam sie tatsächlich, und Silversleeves blieb schier
die Luft weg. Sie trug feine Sandalen und ein Nachthemd aus
knallroter Seide, das ihre kleinen Brüste kaum bedeckte, mit einem
langen Schlitz an der Seite, durch den man ihr blasses,
wohlgeformtes Bein sehen konnte. Es war Isobels bestes Nachthemd.
Selbst der Bordellbetreiber mußte bei diesem Anblick schlucken.
Joan lächelte Silversleeves an, ging tapfer zu ihm hin und setzte
sich auf seinen Schoß. »Ich habe Hunger«, verkündete sie.
Silversleeves wurde ruhiger. Das Mädchen war ja wirklich ein
Leckerbissen. »Bringt uns noch etwas zu essen«, rief er, »und noch
ein wenig Wein!«
Je später es wurde, desto glücklicher fühlte sich Dionysius.
Dieses Mädchen war die erste frische, saubere Frau, die er je
gehabt hatte. Sie saß noch immer auf seinem Schoß und hatte einen
Arm um seine Schultern gelegt. Seine üblicherweise eher aggressive
Stimmung begann einer Art Gutmütigkeit zu weichen. Der Raum schien
in ein warmes, angenehmes Licht getaucht zu sein. Als Joan ihm
flüsternd gestand, daß sie noch immer ein wenig nervös sei,
tätschelte er beruhigend ihr Knie. »Wir lassen uns Zeit«, sagte er,
und stimmte sogar ein Lied an. Und dann sangen sie alle ein paar
Lieder und tranken noch ein bißchen mehr. Schließlich sank Joans
Kopf auf seine Schultern, und sie machte es sich dort bequem, und
auch sein eigener Kopf begann ein wenig schwer zu werden. Da stand
er schwankend auf. »Zeit, nach oben zu gehen«, sagte er. Das
Mädchen stolperte neben ihm her, und auch die beiden Doggets kamen
mit, warum, war ihm nicht klar.
Als er nach draußen trat, traf ihn die Novemberkälte wie ein
harter Schlag. Sie traf ihn so hart, daß er zu taumeln anfing, denn
er hatte, ohne es zu wollen, wohl doch ein wenig zu viel getrunken.
Er blinzelte. Die Laterne am Eingang war verloschen. Er schüttelte
den Kopf in dem Versuch, ihn wieder klar zu bekommen. Dann nahm er
Joan am Handgelenk und zerrte sie hinter sich die Treppe hinauf.
Warum nur kam ihm alles so merkwürdig vor? Die stockfinstere Nacht,
der heulende Wind, die knarzenden Stufen – alles schien vor seinen
Augen in Bewegung zu geraten.
Und dann diese Doggets. Zwei flatternde Gestalten, wie
Geister, die nach ihm riefen und an ihm herumgrabschten. Die eine
zerrte an seinem Arm und schrie: »Komm doch mit mir mit, schlaf mit
mir!« Zweimal, dreimal versuchte sie, ihn in ihre Kammer zu zerren,
bis es ihm schließlich gelang, sie zur Seite zu stoßen. Dann machte
sich die andere an ihn heran, sobald er einen Fuß in den Gang im
zweiten Stock gesetzt hatte. Sie zerrte ihn vorbei an den Stufen,
die zum Dachboden führten, hinein in ein Zimmer, während sie
unzusammenhängende Worte der Liebe und der Lust murmelte. Er mußte
richtig mit ihr kämpfen, um von ihr loszukommen.
Nach all diesem Aufruhr trat plötzlich Stille ein.
Silversleeves stolperte, Joan vor sich herschubsend, durch den
dunklen Gang und schließlich die Treppe zum Dachboden hinauf.
In der kleinen Kammer war es stockdunkel. Er hörte das
Mädchen, das sich wohl auf sein Lager gesetzt hatte, und tapste
diesem Geräusch nach, bis er fast über die Matratze stolperte. Er
tastete nach Joan, fand ihr Bein unter der weichen Seide ihres
Nachthemds; schläfrig grunzend brachte er seine Männlichkeit in die
richtige Stellung und machte sich mit steigender Erregung über das
Mädchen her, bis er schließlich mit einem weiteren, befriedigten
Grunzen, das zu einem langen Seufzer wurde, von ihm herunterrollte
und einschlief. Es war vollbracht.
Kurz darauf ging die Tür leise auf und dann wieder zu. Am
nächsten Morgen wachte er gerade rechtzeitig auf, um sie aus der
Kammer schlüpfen zu sehen. Sie drehte sich noch einmal um und
schenkte ihm ein kurzes Lächeln.
Die kleine Menge, die sich vor dem
Newgate-Gefängnis versammelt hatte, war bester Laune. Die
Hinrichtung von fünf Dieben war ein Ereignis, das man sich nicht
entgehen lassen wollte.
Das Gefängnistor war noch geschlossen, doch der Schinderkarren
stand schon bereit. Das niedrige, zweirädrige Gefährt hatte
Bretterwände, an denen die Verurteilten, die darauf standen, sich
festhalten konnten. So konnte die Menge einen guten Blick auf sie
werfen, während der Karren langsam den kurzen Weg nach Smithfield
zurücklegte.
William Bull ließ seine Blicke über die Menge schweifen.
Gegenüber der Tür sah er eine Gruppe von Leuten stehen, die
traurige, merkwürdig eingefallene Gesichter hatten. Bull nahm an,
daß es sich dabei um Martin Flemings Verwandte handelte. In ihrer
Nähe standen ein paar gedrungene, ernst dreinblickende Handwerker
mit runden Köpfen, die zu groß wirkten für ihre untersetzten Körper
– wahrscheinlich Joans Verwandte. Es war ein klarer, kalter Tag,
auch wenn sich der Wind inzwischen wieder gelegt hatte.
Rechts, etwas abseits stand ein großer, schwarzgekleideter
Mann. Dies war wohl der Lombarde, der mit eigenen Augen sehen
wollte, wie die Gerechtigkeit ihren Lauf nahm, dachte Bull.
Da ging das Gefängnistor auf, und einige Gestalten traten
heraus. Als erstes kam ein Rechtsbeamter des Königs, ein Ritter,
der für die Oberaufsicht zuständig war, als nächstes ein Sheriff
der Stadt. Beide schwangen sich auf ihre Pferde. Dann kam ein
Büttel, dann noch einer und schließlich die Gefangenen.
Vier waren offenbar arme Handwerker, einer ein Streuner. Die
Handwerker trugen Hemden, Wämser und wollene Beinkleider. Der
Streuner hatte nackte Beine und trug nur ein paar Lumpen am Leib.
Die Hände der Gefangenen waren nicht gefesselt, aber sie waren an
den Knöcheln mit einer Kette miteinander verbunden. Schweigend
erklommen sie, gefolgt von den Bütteln, den Schinderkarren.
Martin Fleming war der dritte in der Reihe. Er blickte traurig
auf seine Verwandten, dann schweiften seine Augen suchend über den
Rest der Versammelten.
Ein Stallknecht trat vor, bereit, das Pferd, das vor den
Schinderkarren gespannt war, zu führen. Doch plötzlich erklang vom
hinteren Rand der Menge her ein aufgeregtes Murmeln, und die Leute
traten auseinander. Der Sheriff starrte gereizt auf diesen
Unruheherd, dann trat ein Ausdruck des Erstaunens in sein Gesicht.
Er sagte etwas zu dem königlichen Gerichtsbeamten, der sich
ebenfalls umwandte, um zu sehen, was denn dort los sei. Aber ihre
Überraschung war nichts im Gegensatz zu dem Ausdruck von Entsetzen,
der auf das bleiche Gesicht Martin Flemings trat, als er auf die
Erscheinung starrte, die sich ihm näherte.
Joan ging langsam, doch festen Schrittes. Auf dem Kopf trug
sie eine gestreifte Haube, passend zu ihrem weißgestreiften Kleid,
dem demütigenden Gewand der gewöhnlichen Prostituierten. In jeder
Hand trug sie eine lange, brennende Kerze zum Zeichen ihrer Buße.
Ihre Füße waren trotz der Kälte nackt. Vor dem Schinderkarren hielt
sie an.
»Ich bin Joan, eine Hure«, sagte sie laut und deutlich. »Will
Martin Fleming mich heiraten?« Dabei blickte sie den jungen Mann
eindringlich an, um ihm zu verstehen zu geben, daß er an ihre
Botschaft denken solle.
In der Menge hob aufgeregtes Murmeln an. Alle starrten auf das
junge Mädchen. Der Sheriff und der Gerichtsbeamte sahen sich an.
»Was tun wir jetzt?« fragte der Sheriff. »Handelt sie
rechtmäßig?«
»Ich denke schon«, meinte der Ritter stirnrunzelnd.
Nun wurden Stimmen laut. Ein untersetzter, kleiner Mann mit
einem großen Kopf trat aus der Menge heraus. Sein Gesicht war
bleich vor Aufregung, und er fuchtelte wild mit den Armen. »Das ist
meine Tochter!« schrie er. »Wir sind ehrbare Leute! Sie ist erst
gestern verschwunden. Ich schwöre, daß sie noch Jungfrau ist.« In
der Menge hob großes Gelächter an. Joan starrte weiter auf Martin
Fleming.
Ihr Vater hatte recht. Bull und auch Silversleeves hatten sie
nicht angerührt.
Während Dionysius im Dunkeln mit einer der beiden
DoggetSchwestern gekämpft hatte, war die andere in das
Dachkämmerchen gehuscht, hatte sich schnell ein Seidennachthemd
übergestreift und sich dann auf die Matratze gelegt, während Joan,
die ja vor Silversleeves in die Kammer gekommen war, sich in einer
Ecke unter einer Decke versteckt hatte. Dort war sie geblieben, bis
alles vorüber war und Silversleeves schlief. Der betrunkene Kerl
hatte in der Dunkelheit das Dogget-Mädchen bestiegen. Am nächsten
Morgen hatten sich die Schwestern vor Lachen über diesen Witz fast
nicht mehr beruhigen können.
Nun fragte der Gerichtsbeamte Joan: »Kannst du beweisen, daß
du eine Hure bist?«
Sie nickte. »Ihr könnt Euch beim Büttel des Bischofs
erkundigen. Ich war im Dog's Head an der Bankside.«
Der Gerichtsbeamte blickte auf den Sheriff. »Wir können den
Jungen ja noch einmal in den Kerker zurückschicken, bis wir es
geprüft haben«, meinte er. »Wenn sie lügt, können wir ihn morgen
auch noch hängen.«
Der Sheriff nickte. Doch da erklang ein heftiger
Protestschrei. Der Lombarde hatte allmählich verstanden, was hier
vor sich ging. »Nein!« kreischte er und trat vor. »Dieses Mädchen…«
– er suchte nach den richtigen Worten – »ist keine Hure. Sie ihn
ohnehin heiraten wollen. Dies hier ist Theater. Commedia!«
Er starrte Fleming wütend an. »Er ist Dieb. Er muß hängen.«
In diesem Augenblick kam unerwartete Hilfe. Ein rotes,
pickeliges Gesicht tauchte aus der Menge auf – Silversleeves. Er
hatte eigentlich nach Westminster spazieren wollen, um zuzusehen,
wie das Parlament sich versammelte, als er kurz hinter St. Paul's
eine kleine Menschenmenge bemerkte, die Richtung Newgate unterwegs
war. Er kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Joan an den
Schinderkarren herantrat, hörte die Diskussion und sah nun seine
Chance für ein dramatisches Eingreifen. »Das Mädchen hat recht,
meine Herren«, rief er. »Ich bin Dionysius Silversleeves und
arbeite in der Münze. Sie ist eine Hure. Ich hatte sie in der
letzten Nacht.« Da entdeckte er auch William Bull in der Menge. Er
deutete auf ihn und rief: »Und auch er hat sie gehabt.«
Joans Gesicht spiegelte ihr Entsetzen wider. Dies hatte sie
keinesfalls beabsichtigt. Man sollte ihr zwar glauben, daß sie eine
Hure war, aber netterweise hatte ja Bull ihr versichert, daß er
diskret dafür sorgen würde. Was würde der arme Martin nun denken?
Sie starrte ihn beschwörend an, als könnten ihre Blicke ihn dazu
bewegen, ihr zu vertrauen und die Sache zu verstehen.
Nun ergriff der Gerichtsbeamte wieder das Wort. »Wir haben
etwas vergessen!« Er wandte sich an Martin Fleming. »Offenbar ist
dieses junge Mädchen eine Hure. Wenn dies denn zutrifft, seid Ihr
gewillt, sie zu heiraten? Damit würdet Ihr freikommen, Ihr würdet
nicht gehängt werden!«
Martin Fleming brachte kein Wort heraus. Er konnte keinen
klaren Gedanken fassen. Auf seinem Weg in den Tod, mit dem er sich
bereits abgefunden hatte, war seine Joan, seine allerliebste, reine
Joan, in dem abscheulichen Gewand einer Hure aufgetaucht. Er konnte
es einfach nicht fassen, auch wenn er sich noch an ihre Botschaft
erinnerte: Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint.
Aber wie war dies denn möglich? »Vertraue ihr«, hatte ihr Bruder
ihm gesagt. Aber sie wirkte so schuldig, so verwirrt. Und obwohl
sie ihn so verzweifelt anstarrte und offenbar etwas sagen wollte,
war er sich sicher, daß er die schreckliche Wahrheit auch ohne
Worte verstand. Sie war eine Hure. Vielleicht hatte sie es für ihn
getan, aber das änderte nichts an der Tatsache. Angesichts seines
bevorstehenden Todes für ein Verbrechen, das er nicht einmal
begangen hatte, war ihm von Gott, dessen Grausamkeit er nicht
verstehen konnte, dieser schlimmste aller Schrecken gesandt worden.
Das eine Mädchen, dem er zu vertrauen gewagt hatte, war genauso wie
alle anderen, ja, noch schlimmer.
»Nein, ich will sie nicht!« sagte er.
»Nein!« schrie Joan. »Du verstehst es nicht!« Aber der
Schinderkarren hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Sie wollte
ihm hinterherlaufen, doch starke Arme hielten sie zurück. »Laßt
mich los!« schrie sie. Sie drehte den Kopf und blickte in die
strengen Gesichter ihres Vaters und ihrer zwei Brüder. »Es ist
vorbei«, sagten sie. Da fiel sie in Ohnmacht.
William Bull spornte sein Pferd zur Eile
an. Er war nicht gerade erfreut darüber, daß Silversleeves ihn in
aller Öffentlichkeit bloßgestellt hatte, auch wenn er dem Mädchen
keine Schuld daran gab. Was genau geschehen war, verstand er nicht.
Hatte der Münzbeamte sie tatsächlich ihrer Jungfräulichkeit
beraubt? Wenn ja, dann nur mit Gewalt. Irgend etwas war faul an
dieser Sache, das spürte er. Aber eines wußte er: Er hatte ihr sein
Wort gegeben, ihr zu helfen. Und dies würde er nun versuchen, auch
wenn jetzt nur noch eine äußerst geringe Chance bestand. »Wir
können ihn als letzten hängen«, hatte der Gerichtsbeamte ihm
gesagt. »Ich gebe Euch eine Stunde.«
Bull wollte versuchen, eine königliche Begnadigung zu
erhalten, und zwar vom Kronverwalter. Und dieser war im
Parlament.
Bei Bulls Ankunft drängten sich die Leute bereits im
Westminsterpalast, Magnate und geringere Barone in kostbaren
Gewändern, Ritter und aufrechte Volksvertreter wie er selbst in
schweren, pelzgesäumten Umhängen. »Ich muß den Kronverwalter
finden«, rief er und drängelte sich hinein. »Weiß jemand, wo er
ist?«
Mehrere Minuten arbeitete er sich in dem Gewühl vor, bis
jemand ihm weiterhalf und auf einen Ort am anderen Ende des
Palastes deutete, wo ein kleines, mit rotem Tuch bedecktes Podium
aufgebaut war. Dort sah Bull den Kronverwalter mit dem König
sprechen.
König Eduard I. hörte sich unbewegt an, was der große,
aufgeregte Kaufmann dem Kronverwalter zu sagen hatte und was ihm so
wichtig war, daß er es wagte, die Unterhaltung mit dem Monarchen zu
stören. Ein mögliches Fehlurteil. Eine Begnadigung, um die nun
gebeten wurde. Solche Dinge passierten immer wieder. Der Bursche,
schon unter dem Galgen stehend, ein armer Kerl, kein Verwandter
dieses gediegenen Londoner Kaufmanns, der bereit war, für ihn
einzutreten. Höchst ungewöhnlich.
»Nun«, fiel König Eduard ein, »gewähren wir Gnade oder
nicht?«
»Wir könnten sie gewähren, Sire«, sagte der Kronverwalter
zögernd. »Aber der Mann, der beraubt worden ist, ist ein
Lombarde.«
»Ein Lombarde?« König Eduards Augen begannen sich zu
verdüstern. »Keine Begnadigung. Ich will nicht, daß meine fremden
Kaufleute belästigt werden.« Und damit war Bull entlassen.
Mit dem Gefühl, versagt zu haben, und einem tiefen Mitleid mit
dem Mädchen und seinem unglücklichen Verlobten ritt Bull langsam in
die Stadt zurück. Er haßte es aufzugeben, aber er wußte nicht, was
er noch tun sollte. In Aldwych stieß er auf eine Gruppe von
Reitern. An dem Ort, wo früher einmal die Halle seiner Vorfahren
stand, befanden sich nun einige sehr schöne, neue Gebäude. Unter
dem vorigen König waren sie dem Onkel des Königs, dem italienischen
Grafen von Savoyen, übergeben worden, und so hieß diese
aristokratische Residenz jetzt Savoy-Palast. Vor dem Savoy-Palast
waren die Reiter stehengeblieben, um ein paar Bekannte zu begrüßen.
Es handelte sich um eine Gruppe von Londoner Aldermen, die wohl auf
ihrem Weg zum Parlament waren, wie Bull gleich sah – eben die
Kerle, die ihn und seine Freunde verdrängt hatten. »Wenn einer
dieser verdammten Burschen den Kronverwalter um eine Begnadigung
ersucht hätte, hätte er wahrscheinlich mehr Glück gehabt«, murmelte
Bull grimmig.
Eben wollte er sein Pferd wenden, um ihnen aus dem Weg zu
gehen, als er in ihrer Mitte den verhaßten Barnikel entdeckte, den
Mann, der den Monarchen vielleicht noch umstimmen konnte. Leise
fluchte er vor sich hin. Das würde weh tun. Aber schließlich ging
es um ein Menschenleben, tröstete er sich und ritt zu dem
Fischhändler hin.
»Noch jemand, der sich für diesen Jungen
einsetzt?« Der König starrte Barnikel erstaunt an. »Wie kommt es
denn, daß dieser Junge solche Freunde hat?«
Aber Barnikel blieb standhaft. Zwar lag ihm nicht viel an
Fleming, aber er wußte, was es den Patrizier Bull gekostet hatte,
ihn um etwas zu bitten. Und wenn er nun erfolgreich war und damit
einen weiteren Triumph über die Bulls feiern konnte, war es die
Mühe schon wert.
Der Monarch musterte Barnikel mit halb geschlossenen Augen.
»Ihr wißt, daß auch Könige Gefallen nicht umsonst gewähren?«
Barnikel nickte. »Ja, das weiß ich, Sire.«
König Eduard lächelte. »Wir haben heute im Parlament noch viel
zu tun«, sagte er. »Alderman Barnikel, ich verlasse mich auf
Euch!«
Der Fischhändler lächelte. »Jawohl, Sire.«
Der König gab Barnikel einen seiner Beamten mit und empfahl
ihnen, sich zu beeilen.
Und so sprengten eine Viertelstunde später William Bull,
Alderman Barnikel und ein königlicher Beamter zu der
Hinrichtungsstätte. Ein höchst erstaunter Martin Fleming, der mit
der Schlinge schon um den Hals unter der Ulme stand, vernahm den
lauten Ruf: »Er ist vom König begnadigt worden!«
Wenige Tage darauf fand in St. Mary-Overy in Southwark die
Hochzeit von Martin und Joan Fleming statt. Inzwischen war Martin
zwar wieder überzeugt von der Reinheit seiner Braut, doch erst nach
einem langen Gespräch mit Bull hatte er sein Entsetzen über Joans
Tun überwinden können. Doch weder seine noch ihre Familie hatten
diesen Schlag verwunden; sie erschienen nicht zur Hochzeit. Also
stand Alderman Barnikel neben Martin, und William Bull legte die
Hand der Braut in seine; die beiden Dogget-Schwestern waren die
Brautjungfern.
Margery und Isobel Dogget verließen London am nächsten Tag,
sie wollten nach Canterbury pilgern. Auf ihrer Reise benutzte
Margery fleißig die Salbe, die der Doktor ihr gegeben hatte, und
stellte schließlich überrascht fest, daß sie tatsächlich zu wirken
schien.
Das Parlament, das 1295 zusammenkam und aufgrund seiner
breiten Zusammensetzung als »Model Parliament« bezeichnet wurde,
brauchte bis Weihnachten, um seine Geschäfte erfolgreich zu
beenden. Die Barone und Ritter gestanden dem König eine Steuer über
den elften Teil ihrer beweglichen Güter zu, die Kirche den zehnten,
und die Volksvertreter, die zweifellos von Alderman Barnikels
leidenschaftlicher und loyaler Rede dazu veranlaßt wurden, einen
großzügigen siebten Teil.
Barnikel wäre sicher überrascht gewesen, wenn er erfahren
hätte, daß Isobel Dogget an Weihnachten zu der Erkenntnis gelangte,
daß er Vater werden würde. »Ich bin schwanger, und ich bin mir
sicher, daß er es war«, erklärte sie ihrer Schwester.
Kurz nach Weihnachten begann sich in Dionysius Silversleeves'
Geschlechtsteilen ein Brennen bemerkbar zu machen. Er hatte mit
Margery, nicht mit Isobel geschlafen.