DAS HURENHAUS

1295

MAN HATTE IHR versprochen, daß sie morgen noch Jungfrau sein würde. Doch nun, um die Mittagszeit, begann sie daran zu zweifeln.
Den ganzen trüben Novembermorgen schon saß das Mädchen, einen Schal fest um sich gewickelt, auf einer Bank vor dem Bordell. Auf der anderen Flußseite waren die Piers unterhalb von St. Paul's zu sehen. Zur Linken, zwischen dem Fluß und Ludgate, wo früher das kleine Baynard's Castle gestanden hatte, lag das große Anwesen, das die Dominikaner in ihren schwarzen Kutten, die Blackfriars, übernommen hatten. Es war ein hübscher Anblick, aber der fünfzehnjährigen Joan erschien er heute nur bedrohlich.
Sie war eine ansehnliche kleine Person; ihr braunes Haar war ordentlich zurückgekämmt, so daß ihr ovales Gesicht klar zu erkennen war. Sie hatte blasse, sehr glatte Haut; ihre Hände und Füße waren klein und ein wenig fleischig, was auf leichte Rundungen ihres Körpers schließen ließ; doch gerade dies fanden die Männer oft sehr attraktiv, wie sie bemerkt hatte. Ihre stillen, ernsten Augen wiesen darauf hin, daß sie zu der fleißigen Handwerkerfamilie gehörte, deren Vorfahre Osric seine Frondienste bei der Errichtung des Towers geleistet hatte.
Doch dies spielte nun keine Rolle mehr, nachdem sie an diesem Morgen die schwere Entscheidung gefällt und den Fluß überquert hatte. Ihr Vater und ihre Mutter würden wohl nie mehr mit ihr sprechen. Sie hatte ihr Heim, ihre Familie und ihren guten Ruf aufgegeben, um das Leben des jungen Mannes zu retten, den sie liebte.
Am Südufer der Themse gegenüber von St. Paul's standen achtzehn Bordelle nebeneinander auf einem Gebiet, das dem Sumpf abgerungen worden war und nun Bankside hieß. Einige dieser Häuser, deren Gärten bis zur Maiden Lane reichten, waren recht groß und um hübsche Innenhöfe gruppiert. Andere waren eher hoch und schmal mit überhängenden Geschossen, die unter den langen Jahren der Ausschweifung immer tiefer zu sinken schienen. In diesen unterschiedlichen Unterkünften gingen etwa drei- bis vierhundert Prostituierte ihrem Gewerbe nach.
Etwa in der Mitte dieser Häuserreihe stand das Dog's Head, in dem Joan nun wohnen sollte; ein mittelgroßes, rotangestrichenes Haus mit einem hohen, strohgedeckten Dach und einem großen Schild über der Tür, auf dem ein Hundekopf mit einer riesigen Zunge abgebildet war. Flußaufwärts, am Ende der Häuserreihe, stand ein großes, zum Teil aus Stein errichtetes Haus, das Castle-upon-the-Hoop. Flußabwärts, gleich hinter den Bordellen, stand ein großes, steinernes Anwesen mit einer eigenen Anlegestelle und Stufen hinab zum Fluß, der Londoner Sitz des Bischofs von Winchester. Innerhalb dieses Anwesens gab es auch ein kleines, stets gefülltes Gefängnis, den Clink. Das ganze Gebiet, der Bischofspalast, der Clink, sämtliche achtzehn Bordelle und die stattlichen Profite, die diese erwirtschafteten, gehörten dem Bischof.
Das Gebiet südlich der London Bridge war schon immer selbständig gewesen. Seit der längst vergessenen Römerzeit trafen sich an der Brücke die Straßen von Dover und Canterbury mit den anderen Straßen aus dem Süden, um den Fluß an dieser Stelle zu überqueren. Seit der Zeit der Sachsen trug dieses Gebiet den Namen Southwark und bildete einen eigenständigen, von der Stadt unabhängigen Bezirk. Als solcher war es auch ein Zufluchtsort, in dem Vagabunden und Leute, die Arger mit dem Gesetz hatten, meist unbehelligt blieben. Der Borough Southwark zog sich ein gutes Stück den Fluß entlang. An der London Bridge gab es einen Markt, westlich davon eine alte Kirche, St.-Mary-Overy, von der aus eine Fähre den Fluß überquerte. Dann kam der Palast des Bischofs und die Bankside. Die Bordelle gab es schon so lange wie den Borough, hieß es. Tatsächlich waren sie oft noch unter ihrem sächsischen Namen bekannt – hor-has, also Hurenhäuser.
Das Anwesen des Bischofs in Southwark war sehr groß. Wie die alten privaten Bezirke, die es früher einmal gegenüber in der City gegeben hatte, war es ein feudaler Herrensitz, innerhalb dessen Umgrenzung der Bischof Recht sprach und als absoluter Herrscher regierte. Da eine solche Rechtsprechung auch als »Freiheit« bekannt war und es hier ein Gefängnis gab, das den Namen Clink trug, hieß das gesamte Anwesen selbst in offiziellen Dokumenten »Liberty of the Clink«.
»Liberty of the Clink« stand unter einer straffen Herrschaft. Vor fast eineinhalb Jahrhunderten, unter der Herrschaft Heinrichs II. hatte der Bischof von Winchester, der zufällig auch noch Erzbischof von Canterbury war, mit Hilfe seines fähigen Assistenten eine Reihe von Regeln zur Leitung des Anwesens aufgestellt; diese Aufstellung, in Lateinisch und Englisch verfaßt, wurde in der Diakonatsbibliothek aufbewahrt. Die Regeln des Bischofs von Winchester waren so hervorragend, daß sie auch später noch zum Einsatz kamen, als die Stadt London die Erlaubnis erhielt, in der Cock's Lane nahe St. Bartholomew's eigene Bordelle zu errichten. Die Prostituierten wurden im Volksmund als »Winchester-Gänse« bezeichnet. Der Assistent des Erzbischofs war niemand geringerer als der berühmte Londoner Thomas Becket.
Nun traten der Bordellbetreiber und seine Frau vor Joan. Er war ein großer, kahlköpfiger Mann mit einem schwarzen Bart, sie eine stämmige Frau, deren breites, gelbliches Gesicht Joan an schwitzenden Käse erinnerte. Sobald sie die beiden sah, erriet sie, was nun kommen würde. »Ihr habt mir versprochen…«, brach es aus ihr heraus. Doch die beiden grinsten nur. Joan war ihnen ausgeliefert.
Verzweifelt blickte sich das Mädchen um. Wo waren die Dogget-Schwestern? Diese hatten sich das Ganze ausgedacht, und sie hatten ihr auch versprochen, sie zu beschützen. Wo steckten sie nur?
»Da ist ein Kunde für dich, mein Liebes«, sagte die stämmige Frau.
Die Dogget-Schwestern waren in ganz Southwark bekannt. Die eine hieß Isobel, die andere Margery, aber niemand wußte, wer welche war, denn Margery und Isobel waren eineiige Zwillinge. Sie waren groß und schlank und hatten dichtes, schwarzes Haar, große, schwarze Augen und Stimmen, die, wenn sie lachten, überraschend tief klangen, wie das Wiehern eines Esels. Mit ihren schlanken Körpern und ihren großen, runden Brüsten besaßen sie eine bemerkenswerte sexuelle Anziehungskraft. Und als ob dies alles nicht gereicht hätte, sie zu kennzeichnen, hatten beide auf der Stirn inmitten ihrer schwarzen Zotteln eine weiße Haarsträhne.
Sie zogen immer die gleichen Kleider an; sie hausten in nebeneinanderliegenden Zimmern im Dog's Head, und wenn ein Kunde es wünschte, dann waren sie auch gerne bereit, sich ihm gemeinsam zur Verfügung zu stellen.
Die Dogget-Schwestern gehörten zu einem kleinen Stamm, der sich in Southwark breitgemacht hatte und der seine Existenz einem einfachen menschlichen Fehler verdankte. Vor achtzig Jahren, als Adam Ducket die Freiheit, ein Londoner Bürger zu sein, verlor, hatte er eine dumme Entscheidung getroffen. In seiner Verletztheit und Verbitterung schlug er das Angebot der Barnikels, ihm zu helfen, aus. »Wenn sie mich nicht für ihre Tochter wollen, dann will ich überhaupt nichts mehr von ihnen«, erklärte er wütend. Er zog nach Southwark, wo er einen kleinen Marktstand errichtete, mit dem er jedoch keinen Erfolg hatte. Danach fand er in einer Kneipe Arbeit, heiratete eine Bedienung und zeugte im Lauf der Zeit eine Horde von Kindern, die alle barfuß in den Straßen herumliefen. Innerhalb einer einzigen Generation war die stolze Londoner Familie, die zwar bescheiden, doch immerhin als Londoner Bürger gelebt hatte, in die unterste Schicht abgerutscht. Die zwei Schwestern gehörten zu einer Familie mit fünf Kindern, und sie hatten ein Dutzend Cousinen. Sie alle lebten in Southwark, waren ausnahmslos munter, nicht unterzukriegen und mit einem schlechten Ruf behaftet.
Sie trugen den Namen Ducket, bis auf die Zwillingsschwestern, denen ihr Ruhm einen Künstlernamen eingebracht hatte. Sie waren so bekannt und hatten so starke Bindungen an die Stätte ihres Wirkens, daß man angefangen hatte, sie als »Dog's-Head-Mädchen« zu bezeichnen. Daraus wurde dann Dogget, ein Name, der ihrem eigentlichen Familiennamen nicht unähnlich war.
Die Dogget-Schwestern hatten ein gutes Herz, und sie liebten das Abenteuer. Als sie vor zwei Tagen die bitter weinende Joan vor St. Paul's hatten stehen sehen, hatten sie ihr ihre Geschichte entlockt und waren sofort fasziniert davon. »Wir müssen ihr helfen«, beschlossen sie einstimmig. Und dann heckten sie den ungewöhnlichen Plan aus, der bislang bestens funktioniert hatte.
Das Problem war nur, daß sie Joan in der letzten Stunde völlig vergessen hatten, und zwar wegen Margery. Die Schwestern hatten sich an einen ruhigen Fleck, eine Meile von Bankside entfernt, zurückgezogen und starrten bedrückt auf die kleine, rote Stelle.
»Tut es weh?« fragte Isobel. »Nein, es brennt nur ein wenig«, sagte Margery. »Dann ist es das«, sagte Isobel. »Sie werden es bald sehen.« Der Büttel des Bischofs und seine Helfer inspizierten alle Mädchen einmal im Monat. Wer eine Krankheit hatte, wurde aus Liberty hinausgeworfen. Selbst Bestechungen nutzten nichts. Einer der Vorteile, daß die Kirche die Bordelle leitete, war, daß die Inspektionen des Bischofs gründlich waren. Und Margery hatte eindeutig die Brennkrankheit.
Es war eine Form der Syphilis, wenn auch nicht so schwer wie die Form, die in späteren Jahrhunderten auftauchte. Es ist nicht sicher, wann diese Krankheit zum erstenmal nach England kam; vielleicht ist sie von zurückkehrenden Kreuzfahrern eingeschleppt worden, aber es weist einiges darauf, daß es sie schon in der Zeit der Sachsen gab.
Wenn Margery das Bordell verlassen mußte, hatte sie keine Verdienstmöglichkeiten mehr. »Ich wünschte, der König hätte nicht die ganzen Juden rausgeworfen«, klagte sie. An der Bankside war man sich einig, daß der alte jüdische Doktor der Beste gewesen war. Ob es nun darauf zurückzuführen war, daß sie einen besseren Zugang zum alten Wissen der klassischen Welt und des Mittleren Ostens hatten oder ob sie einfach nur eine bessere Ausbildung erhielten und weniger abergläubisch waren – aus der jüdischen Gemeinde waren oft genug die besten Arzte gekommen. Der alte jüdische Arzt an der Bankside hatte gewußt, wie man die Brennkrankheit mit Quecksilber behandelte. Jetzt kannte keiner mehr diese Methode.
Die jüdische Gemeinde war komplett verschwunden. Seit dem gegen die Juden gerichteten Aufstand am Krönungstag von König Richard, also seit rund hundert Jahren, waren die Haßgefühle gegen die Juden in England stetig gewachsen. Der allmähliche Prozeß der Verfolgung war ursprünglich gar nicht durch die finanziellen Aktivitäten der Gemeinde verursacht worden. Natürlich bezeichneten einige Kirchenphilosophen die Zinserhebung als Wucher und deshalb als Sünde, doch selbst die bischöflichen Verwalter und die Äbte der großen Klöster scheuten sich nicht, bei den Juden hohe Anleihen zu machen. Sogar ein großer Umbau an der Westminsterabtei wurde auf diese Weise finanziert.
Aber drei Dinge hatten gegen sie gesprochen. Erstens führte die Kirche in ganz Europa schon seit längerer Zeit eine Kampagne gegen die Juden auf der Grundlage religiöser Argumente; zweitens hatten sie sich wie alle Kreditgeber bei vielen Baronen und anderen Schuldnern unbeliebt gemacht; und schließlich wandte sich auch der König gegen sie. Die Herrschaft Heinrichs III. des Sohnes König Johanns, hatte über fünfzig Jahre gedauert, die seines Sohnes Eduard nun auch schon wieder fast fünfundzwanzig Jahre. Beide hatten häufig Geld gebraucht. Und was war einfacher, als von den Juden Schutzgelder einzufordern? Diese Gebühren wurden den Juden so häufig und in einer derartigen Höhe auferlegt, daß im vergangenen Jahrzehnt nahezu jeder jüdische Finanzier ruiniert wurde. Dann wurden die Juden von christlichen Geldverleihern abgelöst, vor allem von den großen italienischen Finanziers, die vom Vatikan gefördert wurden. Kurzum – der König hatte keine Verwendung mehr für die Juden. 1290 annullierte König Eduard I. in einem Akt von Frömmigkeit die verbliebenen Schulden und erfreute den Papst damit, daß er die gesamte jüdische Bevölkerung aus dem Inselkönigreich verbannte.
Leider waren auch die Arzte gegangen. Und so grübelten die Dogget-Schwestern an diesem Novembermorgen über ihr Schicksal nach, das ohne das Quecksilber des jüdischen Arztes ziemlich düster aussah. Und die kleine Joan, deren Leben sie umgekrempelt hatten, hatten sie in diesem Moment völlig vergessen.
Martin Fleming saß sehr ruhig in seiner Zelle. »Bete!« hatte der Gefängniswärter ihm heute morgen nahegelegt. Aber so sehr er sich auch darum bemühte, es fiel ihm einfach kein Gebet ein. Er wußte nur, daß man ihn morgen hängen würde und daß es ihm überhaupt nichts nützte, daß er unschuldig war.
Martin Fleming war nur wenig größer als das Mädchen, das er liebte, und er hatte einen sehr sonderbaren Körper; überall dort, wo sich bei den meisten Leuten Wölbungen nach außen zeigten, wölbte es sich bei Martin Fleming nach innen. Seine schmale Brust war eingefallen; sein Gesicht erinnerte an das Innere eines Löffels. Seine ganze Erscheinung war so schwächlich, daß man immer annahm, daß sein Geist ebenso schwach sei. Nur wenige wußten, daß sich in der Seele Martin Flemings eine Hartnäckigkeit versteckt hielt, die unverrückbar wie ein Berg war.
Wie sein Name nahelegte, stammte seine Familie aus Flandern. Das große Gebiet zwischen den Ländern der Franzosen und der Deutschen, in dem vor allem Tuch hergestellt wurde, war nicht nur Englands Handelspartner, von dort kamen auch unzählige Immigranten auf die Insel. Angeworbene Söldner, Kaufleute, Weber und Kunsthandwerker aus Flandern gliederten sich mühelos in das englische Volk ein und brachten es meist zu Wohlstand. Doch dies war Martins Familie nicht gelungen. Sein Vater war ein armer Hornbearbeiter, dessen Handwerk, Horn soweit abzuschleifen, bis es durchsichtig war, so daß man es als Hülle für Laternen benutzen konnte, ihm nur einen Hungerlohn einbrachte. Als sich für den Jungen die phantastische Gelegenheit bot, hatte sein Vater ihn gedrängt, zuzugreifen. »Man kann nie wissen, was dieser Mann noch alles für dich tut, wenn er dich mag«, hatte der Vater gemeint.
Anfangs war der junge Martin so froh darüber, für den Italiener zu arbeiten, daß ihm kaum auffiel, daß einiges schieflief. Der Italiener war reich, er war einer der Geldverleiher, die die Juden ersetzt hatten, und hatte seinen Wohnsitz an der Gasse im Stadtzentrum am Cornhill, die als Lombard Street bekannt war, da viele Leute dort wohnten, die aus der Lombardei kamen. Der Italiener, ein Witwer, dessen Sohn das Unternehmen in Italien leitete, lebte allein und brauchte Martin für allerlei Botengänge. Er zahlte ihm einen guten Lohn, wenn auch unter Murren.
»Er denkt die ganze Zeit, daß ich ihn betrüge«, beschwerte sich Martin. Ob dies nun darauf zurückzuführen war, daß der Italiener das Englische nicht sehr gut beherrschte, oder ob er einfach ein mißtrauischer Mensch war, fand Martin nie heraus, aber es gab ständig Ärger. Wenn er eine Botschaft überbrachte, wurde ihm vorgeworfen, daß er trödelte; wenn er zum Einkaufen auf den Markt ging, beschuldigte ihn sein Herr, daß er Geld für sich selbst abgezweigt habe. »Hätte ich diese Stellung doch nur aufgegeben«, sagte er später reuevoll. Aber er hatte es nicht getan, denn er dachte ständig an Joan.
Joan, die so ganz anders war als die anderen Mädchen. Mit achtzehn hatte Martin herausgefunden, daß die meisten Mädchen ihn auslachten, weil er so schwächlich war. Im Mai, wenn viele junge Lehrlinge einen Kuß erhielten, bekam er nie einen. Ein anderer Junge wäre vielleicht daran verzweifelt, doch Martin mit seinem geheimen Stolz verachtete diese Mädchen einfach nur. Wer waren sie denn schon? Nur Frauen. Unbeständige, schwächere Werkzeuge – so wurden sie doch immer von den Pfarrern in der Kirche bezeichnet. Und ihr Lächeln, ihre Küsse, ihre Körper? Alles nur Teufelswerk. Als er zum jungen Mann herangereift war, ohne jemals geküßt worden zu sein, war er schließlich zu der Überzeugung gelangt, daß alle Frauen unrein seien und er gar keine wollte.
Joans Vater war ein anständiger, ernster Handwerker. Er bemalte die großen, reich verzierten Holzsättel der Reichen und Adligen. Seine beiden Söhne halfen ihm bei der Arbeit; er war immer davon ausgegangen, daß seine Tochter einen Handwerker aus diesem Bereich heiraten würde. Was zum Teufel fand sie nur an dem jungen Fleming, dessen Aussichten so kümmerlich waren? Er hatte immer wieder versucht, ihr den jungen Mann auszureden, aber Joan war beharrlich geblieben, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Sie wurde geliebt, ja nicht nur das, sie wurde glühend verehrt.
Martin arbeitete seit einem halben Jahr bei dem Italiener, als er sie eines Tages bemerkte. Er war auf einem Botengang zu den Piers an der Vintry und ging hinauf zum West Cheap, als er sie vor der Werkstatt ihres Vaters am Anfang der Bread Street sitzen sah. Warum blieb er stehen, um mit dem Mädchen zu reden? Es mußte eine innere Stimme gewesen sein, die ihn dazu veranlaßt hatte. Am nächsten Tag kam er wieder vorbei, und am übernächsten ebenso.
Joan war anders. Sie war so ruhig, so bescheiden. Sie schien ihn nicht lächerlich zu finden. Wenn sie ihn mit ihren ernsten Augen anblickte, kam er sich wie ein richtiger Mann vor. Bald fand er heraus, daß es keinen anderen in ihrem Leben gab. »Sie ist so rein«, sagte er sich. Und das stimmte tatsächlich. Sie war noch nie geküßt worden.
Er machte ihr den Hof. Die Tatsache, daß er keine Rivalen hatte, schenkte ihm das nötige Selbstvertrauen, und mit der Zeit begann er, sich als ihr Beschützer zu fühlen. Je deutlicher er erkannte, wie gut sie war, desto entschlossener wurde er, sie nie mehr loszulassen. Keine Woche verstrich, ohne daß er ihr ein kleines Geschenk vorbeibrachte. Nie zuvor hatte ihr jemand derart viel Aufmerksamkeit gezollt. Und so war es kaum überraschend, daß nach einem halben Jahr beide so weit waren, daß sie heiraten wollten.
Aber wie sollten sie das bewerkstelligen? Der Sattelmaler konnte seiner Tochter kaum etwas mitgeben, und Martins Vater hatte noch weniger. Schließlich kam man zu einer Einigung. Die beiden jungen Leute sollten noch zwei Jahre warten in der Hoffnung, daß sich Martins Stellung verbesserte.
Und dann passierte das Unheil, an dem Martin nicht schuldlos war. Es gab ein Gesetz, daß gewöhnliche Leute nach Einbruch der Dunkelheit ihre Häuser nicht mehr verlassen durften. Wenn ein Diener ausging, mußte er die Erlaubnis seines Herrn vorweisen. Selbst die Wirtshäuser sollten geschlossen sein. Im Mittelalter galt diese Sperrstunde in allen Städten, wenn auch kaum jemand sich strikt daran hielt. Abgesehen von zwei Wächtern an den Stadttoren und dem Büttel in jedem Bezirk gab es ohnehin niemanden, der dieses Gesetz überwachte.
An einem Abend im Oktober – sein Herr weilte außer Haus – schlich Martin sich noch in eine Kneipe. Bei seiner Rückkehr ertappte er zwei Diebe in dem dunklen Haus in der Lombard Street. Um das Hab und Gut seines Herrn zu beschützen, hastete er zu ihnen hin und machte dabei soviel Lärm, daß die Diebe flohen. Er verfolgte sie, und einer der beiden ließ eine kleine Tasche fallen, bevor sie verschwanden. Martin hob die Tasche auf und wollte wieder heim, doch schon nach wenigen Minuten trat plötzlich der Büttel aus einer dunklen Ecke und fragte ihn, ob er denn eine Erlaubnis habe, sich so spät noch herumzutreiben. Und er untersuchte die Tasche.
Als der Italiener am nächsten Tag zurückkehrte, ließ er sich durch nichts davon abbringen, daß Martin versucht habe, ihn zu berauben. In der Tasche befanden sich mehrere goldene Schmuckstücke, die er sorgfältig in einem Versteck aufbewahrt hatte. »Ich habe diesen jungen Mann schon früher bei dem Versuch ertappt, mich zu bestehlen«, erklärte er vor Gericht. Martin wurde für schuldig befunden, und auf Diebstahl stand die Todesstrafe.
In der City gab es drei große Gefängnisse: Fleet, Ludgate, in dem vor allem Schuldner einsaßen, und Newgate. Alle drei bestanden aus ein paar steinernen Zellen, die immer dicht belegt waren. Die Gefangenen konnten bei dem Gefängniswärter für ihr Essen bezahlen, oder aber Verwandte oder Freunde brachten ihnen Essen und Kleidung vorbei. Wenn dies nicht der Fall war und wenn auch Passanten kein Mitleid mit ihnen hatten oder der Aufseher ihnen nicht aus Freundlichkeit Wasser und Brot reichte, mußten sie hungern.
Martin Fleming war nun seit einer Woche in Newgate. Seine Familie brachte ihm Essen, und Joan besuchte ihn jeden Tag. Manchmal konnten sich reiche Leute beim König eine Begnadigung erkaufen, aber für Leute wie ihn gab es keine Hoffnung. Morgen würde er sterben.
Deshalb konnte er wenig mit der sonderbaren Botschaft anfangen, die er eben erhalten hatte. Joans Bruder hatte ihm durch das Eisengitter hindurch gesagt: »Ich soll dir von Joan ausrichten, daß morgen alles in Ordnung kommen wird. Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint, soll ich dir noch sagen. So einfach, was sie sagt. Vertraue ihr.«
»Wo ist sie denn jetzt?«
»Sie ist verschwunden. Sie hat mir noch gesagt, ich soll den Eltern sagen, daß sie erst morgen zurückkommt. Sie hat sich einfach in Luft aufgelöst.« Dann ging er wieder.
Am späten Vormittag dieses Tages stand ein großer, blonder Mann, er mochte etwa Ende Zwanzig sein, vor einer Tür im ersten Stock des Hauses von William Bull. Ein Diener hatte ihn hochgeschickt, und nun klopfte er nervös an der Tür.
William Bull saß auf seiner Toilette und ignorierte das Klopfen. Er dachte nach.
Die Toilette, die im Obergeschoß des Hauses unter dem Hauszeichen des Bullen eingebaut worden war, war ein kleiner, viereckiger Raum mit einem mit einem Laden versehenen Fenster. Die Wände und die Tür waren mit grünem Filz bespannt, auf dem Boden lagen frische, wohlriechende Binsen. Der Sitz, der in einen langen Schacht mündete, war aus poliertem Marmor, und auf ihm lag ein ringförmiges, dickes, rotes Kissen, bestickt mit einem Blumen- und Früchtemuster in Rot, Grün und Gold. Der letzte König, Heinrich III. hatte eine Vorliebe für sanitäre Einrichtungen gehegt und neben vielen Kirchen auch eine außergewöhnlich hohe Zahl von Garderobes, also Toiletten, gebaut. Adlige, die gerne der Mode folgten, hatten es ihm gleichgetan, und Bulls Vaters, ein Londoner Baron und Alderman, ließ in seinem Haus auch so einen Raum einrichten.
Es war ein guter Ort, um nachzudenken. Und an diesem Morgen mußte William Bull zwei Entscheidungen fällen, eine große und eine kleine. Obwohl die große sein Leben völlig umkrempeln würde, war sie die leichtere.
Wieder klopfte es an der Tür. »Herein!« brummte er.
Er hielt in seinem Sanktum gern Audienzen ab. Doch nun, als er sah, um wen es sich handelte, verdunkelte sich seine Miene. »Du bist es«, knurrte er. »Der Verräter!«
Elias Bull war zehn Jahre jünger als sein Vetter William. Er war im Gegensatz zu seinem stämmigen Vetter eher schlank und hatte eine frische Gesichtsfarbe, während William fleischige Wangen und massige Kiefer hatte. Er war Weber und hatte nur ein sehr bescheidenes Auskommen. »Ich hätte dich ja nicht belästigt«, hatte er bei ihrer letzten Begegnung gestanden, »aber ich tue es für meine Frau und die Kinder. Wie du wohl weißt, hat unser Großvater meinen Vater mit einer äußerst kargen Abfindung abgespeist.« Er benötigte eine kleine Hilfe.
Die lange Herrschaft König Heinrichs III. hatte der Familie Bull nichts Gutes gebracht. Solange der Regentschaftsrat herrschte, als der König noch minderjährig war, war es nicht schlecht gewesen. Es gab keine größeren Kriege. Englands mächtiger Wollhandel blühte, und auch der Stadt ging es unter ihrem Mayor und dem oligarchischen Rat von Aldermen gut. »Wenn nur dieser Junge nie volljährig geworden wäre«, jammerte Williams Vater oft. »Oder wenn er wenigstens nicht ein Plantagenet gewesen wäre!« Denn es hatte wohl nie einen Plantagenet gegeben, der nicht von einem Großreich geträumt hätte. Der junge Heinrich herrschte über England und auch noch über den südlichen Teil von Aquitanien, doch er träumte von mehr.
Und schließlich ging es ihm wie seinem Vater Johann; eine Reihe von extrem kostspieligen Kriegszügen im Ausland scheiterte; eine große Gruppe von Baronen unter der Führung von Simon de Montfort lehnte sich gegen ihn auf und stellte einen neuen Rat auf, der über den König hinweg herrschte, als sei dieser wieder zum Kind geworden. Montfort hatte einen Ausschuß von Baronen, Rittern und sogar Bürgern gebildet, der als Parlament bezeichnet wurde. Ein paar kurze Jahre lang hatte es sogar so ausgesehen, als würde sich eine neue Art von königlicher Herrschaft in England entwickeln, in der der König sich dem großen Rat unterwerfen müßte.
Und dann passierte etwas Schreckliches. Gestandene Bürger – Fischhändler, Gerber, Händler und Handwerker – wiegelten den alten Folkmoot in einer organisierten Rebellion gegen reiche Dynasten wie Bull auf. Eine Gruppe unter der Führung eines wütenden jungen Fischhändlers namens Barnikel zertrümmerte die Tür von Bulls Haus und versuchte, es in Brand zu stecken. Und dann verleitete auch noch Montfort diese Radikalen dazu, die Aldermen abzusetzen und neue, vulgäre Kerle aus ihren eigenen Reihen zu wählen. Dieser unglückselige Zustand währte solange, bis Montfort schließlich getötet wurde und der König wieder die Macht an sich nahm; danach gelang es auch den alten Patriziern wieder, allmählich die Kontrolle über London zu übernehmen.
Am schlimmsten an dieser ganzen Geschichte war – schon allein bei der Erinnerung daran ballte Bull wütend die Fäuste –, daß sich sogar der Bruder seines Vaters den Rebellen angeschlossen hatte, genauso wie eine Reihe junger Idealisten oder vielleicht auch Opportunisten aus anderen Patrizierfamilien. »Aber das macht es nicht besser«, hatte Williams Vater gemeint. »Ein Verräter ist und bleibt ein Verräter.« Der junge Radikale wurde aus der Familie verstoßen. Und jetzt belästigte ihn der elende Sohn dieses Verräters schon zum drittenmal in diesem Jahr. Doch dann hellte sich Williams Miene auf, denn nach der großen Entscheidung, die er eben gefällt hatte, kam ihm dieser Besuch jetzt eigentlich ganz gelegen. Das ist zwar grausam von mir, dachte er, aber warum sollte ich mir diese bescheidene Rache nicht gönnen?
Der Kaufmann starrte auf seinen Vetter und meinte dann barsch: »Ich gebe dir drei Mark.« Das war genug, um die Mahlzeiten der Familie für eine Weile zu sichern, aber nicht genug, um an ihren Lebensumständen grundlegend etwas zu verändern. Elias wirkte noch nicht zufrieden. »Wenn du mich in einem Jahr hier vorfindest«, meinte William achselzuckend, »dann gebe ich dir vielleicht die Erbschaft, die dir zugestanden hätte. Aber jetzt verschwinde!« Dem armen Elias blieb nichts weiter übrig, als diesem Befehl zu gehorchen.
Das Grausame an Williams kleinem Scherz beruhte auf der großen Entscheidung, die er soeben gefällt hatte. In einem Jahr würde er nämlich nicht mehr hier sein. Die Bulls verließen London.
Sogar sein Vater hatte oft genug bemerkt, daß die Stadt immer unerträglicher wurde, vor allem wegen der Einwanderer. Der wirtschaftliche Aufschwung in diesem Jahrhundert führte dazu, daß London sich zunehmend vergrößerte. Der Strom von Einwanderern war zu einer Flut geworden. Italiener, Spanier, Franzosen und Flamen, Deutsche aus dem wachsenden Netzwerk nordischer Häfen, die inzwischen als Hansestädte bezeichnet wurden, und natürlich auch Kaufleute und Handwerker aus ganz England strömten in die Stadt. Und mit Ausnahme der Hanseleute, die sich strikt in ihren eigenen Kreisen bewegten, vermischten und verheirateten sich diese ganzen Leute mit eben den Handwerkern, die unter Montfort so rebellisch geworden waren.
Für William zeigte sich dieser Prozeß deutlich in einem Ereignis, das sich ein Jahr vor König Heinrichs Tod zugetragen hatte. Der kleine Kirchturm von St. Mary-le-Bow war in einem Sturm eingestürzt und hatte ein daneben stehendes Haus, das Bull gehörte, beschädigt. Sein Vater hatte das Haus nicht reparieren lassen, sondern beschlossen, es zu verkaufen. Ein Jahr darauf teilten sich ein Färber aus der Picardie und ein Lederverkäufer aus Cordoba dieses und drei weitere kleinere Häuser der Bulls. Dann waren auf dem nahe gelegenen Garlick Hill einige ganz gewöhnliche Gerber eingezogen. Und dann war auch noch sein eigenes Haus, das vorher zur aristokratischen Pfarrei von St. Mary-le-Bow gehört hatte, der winzigen Pfarrei von St.-Lawrence-Silversleeves zugeordnet worden. So eine mickrige, kleine Kirche war des Patriziers Bull nicht würdig. Die Familie wurde zurückgedrängt, das war völlig klar.
Die Herrschaft Heinrichs III. war schlecht genug gewesen für die Familie Bull, doch die letzten zwanzig Jahre unter seinem Sohn Eduard waren tatsächlich der reine Alptraum. Eduard I. war ein eindrucksvoller König. Groß und stark, mit edlen Gesichtszügen und einem wallenden Bart, nur unwesentlich beeinträchtigt durch eine Lidschwäche am linken Auge und ein kleines Lispeln. Der mächtige Gesetzgeber und Feldherr war sowohl intelligent als auch tatkräftig. Man nannte ihn den Leoparden. Er war entschlossen, seinen eigenen, eisernen Willen durchzusetzen, und schaffte es auch meist. Er hatte bereits die Waliser unterworfen und ihr Land mit riesigen Burgen befestigt, bevor er ihnen ihren ersten englischen Prinzen zuteilte. Bald wollte er nach Norden marschieren und auch die Schotten unter seine Herrschaft bringen. Wenn es denn eine Gruppe von Leuten in seinem Königreich gab, die ihm überhaupt nicht paßte, dann waren es die stolzen Aldermen Londons, die ihren eigenen Mayor wählten und dachten, sie könnten Könige bestimmen.
Er hatte sich einen schlauen Plan zurechtgelegt. Welcher Kaufmann konnte schon leugnen, daß Eduard es gut mit ihm meinte? Seine Gesetze waren gerecht und förderten den Handel. Schulden wurden geregelt, Steuern vereinfacht; auf Wollexporte gab es einen neuen, doch durchaus nicht überhöhten Zoll, der größtenteils auf die ausländischen Kunden abgewälzt werden konnte. »Doch was hat er insgeheim uns Patriziern nicht alles angetan!« meinte William immer wieder. »Er hat die besten Geschäfte im Weinhandel Burschen aus Bordeaux überlassen; die größten Wollhändler sind entweder Italiener oder Leute aus dem Westen.« Während sein Vater profitable Geschäfte mit dem Verkauf von Luxuswaren an den königlichen Haushalt, die Wardrobe, getätigt hatte, konnte William überhaupt kein Geschäft mehr mit diesem Amt abwickeln. »Man hat uns hintergangen«, schloß er verbittert.
Vor zehn Jahren hatte der König dann zu seinem vernichtenden Schlag ausgeholt. Unter dem Vorwand, Recht und Gesetz zu verbessern, setzte Eduard den Mayor ab und einen Kronverwalter ein. Die Aldermen erhielten von den Londonern keine Unterstützung. Es folgte eine Flut von neuen Bestimmungen: Abrechnungsformen, Gerichte, Gewichte und Maße wurden mit der bekannten Gründlichkeit Eduards reformiert. »Seine Gesetze gestatten jedem Fremden dieselben Handelsrechte wie uns«, wütete Bull. Das königliche Exchequer-Gericht zog in die Gildenhalle um, wo bislang das Hustings-Gericht der Aldermen getagt hatte. Als die Aldermen vor zwei Jahren dagegen Einspruch erhoben, enthob der Kronverwalter sie ihrer Ämter und ersetzte sie durch neue, vom Exchequer bestimmte Leute. »Lauter Fischhändler, Gerber, stinkende kleine Handwerker!« Bull tobte. Die Montfort-Rebellen waren wieder da.
Doch die alte Garde gab sich noch nicht geschlagen; schließlich herrschte sie nun schon seit einigen Jahrhunderten über London. Viele hatten in Bull – einem achtbaren Bürger mit bestem Ruf – eine mögliche Hoffnung gesehen. Und vor kurzem hatte auch er seine Chance gewittert.
Vor einem Jahr hatte König Eduard zur Finanzierung seines bevorstehenden Feldzuges gegen die Schotten die Zollgebühren auf Wolle erhöht. Diese neue Steuer, die maltote, war so hoch, daß ganz London protestierte. Inmitten dieser Unruhen wurde der Posten des Alderman für Bulls Bezirk frei. »Damals, als mein Vater noch lebte, gehörte uns so viel in diesem Bezirk, daß der Posten des Alderman automatisch uns zufiel«, meinte Bull zu seiner Familie. Aber er schluckte seinen Stolz hinunter und umwarb die unbedeutenden Kaufleute und Handwerker; selbst mit dem Kronverwalter versuchte er sich gutzustellen. Als der Tag der Wahl näherrückte, stellte ihn niemand aus dem Bezirk in Frage.
Und gestern war der entscheidende Tag. In einem feinen neuen Mantel stellte William Bull sich in der Gildenhalle zur Wahl. Doch der Exchequer-Beamte winkte ab. »Wir wollen Euch nicht«, meinte er schroff. »Wir haben einen anderen gewählt.« Als Bull protestierte – »Es war doch niemand gegen mich aufgestellt!« – erwiderte der Bursche: »Nicht aus Eurem Bezirk, aber aus Billingsgate, Barnikel nämlich.«
Barnikel, dieser verfluchte, gewöhnliche Fischhändler, sollte Alderman in Bulls Bezirk werden? Einige Minuten lang stand Bull vor der Gildenhalle und konnte es kaum fassen, doch dann entschied er, daß es an der Zeit war zu gehen.
Damit blieb ihm nur noch die kleinere Entscheidung, eine einfache und obendrein lustversprechende Entscheidung. Eine Jungfrau im Dog's Head – eine ziemliche Seltenheit, über die nur die bevorzugten Kunden informiert wurden. Er stattete dem Bordell nur gelegentlich einen Besuch ab, und der Bordellbetreiber war stets ehrerbietig und diskret. Warum also zögerte er? War dieses kleine Schuldgefühl tatsächlich angebracht? Wie zur Antwort auf seine Überlegungen ertönte ein dumpfes Klopfen an der Tür, gefolgt von einer nörglerischen Stimme.
»Was treibst du eigentlich? Du hockst jetzt schon eine ganze Stunde da drinnen!« wollte seine Frau von ihm wissen, und ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr sie fort: »Ich weiß schon, was du machst, du denkst wieder mal nach.« Er seufzte. Die Auseinandersetzungen zwischen seiner Urgroßmutter Ida und ihrem Mann waren in die Familiengeschichte eingegangen, doch sicher hatte noch kein Bull jemals mit einer Frau wie seiner zurechtkommen müssen.
Er hatte zwanzig miserable Jahre lang versucht, sie zu lieben. Schließlich hatte sie ihm starke Kinder geschenkt, sagte er sich immer wieder. Aber es war nie leicht, und in den letzten paar Jahren hatte er es aufgegeben. Nun war sie ergraut, hager und unnachgiebig; sie beschwerte sich, wenn er ausging, und piesackte ihn, wenn er zu Hause war. Kein Wunder, daß er sich manchmal an der Bankside ein wenig Trost holte. Nun teilte er ihr seine große Entscheidung mit, und sei es auch nur, um der täglichen Öde zu entgehen. »Wir werden aus London wegziehen, nach Bocton, dort werden wir von nun an das ganze Jahr leben.«
So ungewöhnlich war Bulls Plan nicht. Während sich die Londoner Kaufleute früher oft erst im Alter auf ihre Landgüter zurückgezogen hatten, hatten nun bereits mehrere seiner Patrizierkollegen ihre Geschäfte vorzeitig eingestellt und sich in den Landadel eingereiht, weil sie den Wettbewerb in der Stadt zu mühsam fanden. Gottlob verfügte er noch immer über ein erhebliches Vermögen, mit dem er sich etwas Land dazuerwerben wollte. Doch nun hörte er einen ungläubigen Schrei.
»Ich hasse das Landleben! Ich werde hier in London bleiben«, protestierte seine Frau.
»Nicht in diesem Haus«, sagte er munter. »Das werde ich verkaufen.«
»An wen?«
Das war nun wirklich das geringste Problem. In der wachsenden Stadt gab es einen erstaunlichen Zuwachs an Wirtshäusern. Um die siebzigtausend Menschen lebten nun hier, und es gab bereits um die dreihundert Wirtshäuser, in denen Essen und Trinken serviert wurde, dazu weitere tausend kleine Brauereien, in denen das Bier vom Faß ausgeschenkt wurde. In einigen Wirtshäusern gab es auch Unterkünfte für die vielen Besucher der Stadt, und manch ein Wirt hatte es zu großem Wohlstand gebracht. Erst vor einem Monat hatte ihn einer, der bereits zwei Gasthäuser besaß, gefragt, ob er denn nicht sein Haus verkaufen wolle, und ihm einen guten Preis dafür geboten. So teilte Bull nun seiner Frau mit, daß er das Haus an einen Wirt zu verkaufen gedenke.
Sie fing zu weinen an. Er wandte seinen Blick gen Himmel. »Ich gehe aus«, sagte er. Es kehrte eine kurze, feindselige Stille ein, dann hob wieder dieses fürchterliche, eintönige Nörgeln an. »Ich weiß schon, wohin du willst. Steigst wieder mal einer Frau nach.«
Das war zu viel. »Soll ich dir sagen, wohin ich gehe? Zur Stadtpolizei! Die werden dir einen Maulkorb anlegen! Und dann laß ich dich damit durch die Stadt führen!«
So etwas war eine ziemlich üble Vorrichtung. Zänkische Frauen wurden manchmal dazu verdammt, sich einen kleinen Eisenkäfig über den Kopf stülpen zu lassen, der auch noch ein grausames Eisenteil besaß, das in den Mund eingeführt wurde, um die Zunge unbeweglich zu machen. In einem solchen Käfig wurden unbeliebte Frauen dann durch die Straßen geführt. Bull hörte seine Frau weinen und begann, sich wegen seiner Drohung zu schämen, aber er hatte wirklich genug von ihr. Er ging an ihr vorbei aus dem Haus. Kurz nach dem Mittagsgeläut kam er zu dem Bordell an der Bankside und wurde von dem grinsenden Bordellbetreiber zu Joan geführt.
Joan musterte William Bull. Vor ihr stand ein großer, beleibter Mann in den Vierzigern mit einem frischen Gesicht und dicken Waden, der so wirkte, als sei er daran gewöhnt, daß man ihm gehorchte.
Plötzlich wurde Joan wütend. Sie schrie den Bordellbetreiber an: »Ihr habt mir versprochen, daß ich bis morgen keinen Kunden haben werde, Ihr dreckiger Lügner!«
Bull blickte fragend auf die Frau des Mannes. »Denkt Euch nichts weiter, mein Herr«, rief diese. »Sie ist nur ein wenig nervös.« Und zu Joan gewandt zischte sie ärgerlich: »Du tust, was man dir sagt! Das ist ein wichtiger Mann und ein guter Kunde!«
»Das ist mir egal!«
»Willst du etwa die Peitsche spüren?«
»Ihr habt kein Recht, mich zu peitschen.«
Im Bordell herrschte die Regel, daß die Mädchen ihre Zimmer mieteten, und abgesehen von dieser Verpflichtung waren sie frei, zu kommen und zu gehen, wann sie wollten. In der Praxis hatte natürlich der Bordellbetreiber bei fast allen Mädchen irgend etwas gegen sie in der Hand.
»Vielleicht«, meinte der Bordellbetreiber jetzt nur kühl. »Aber ich kann den Büttel des Bischofs kommen und dich noch in dieser Stunde aus Liberty rauswerfen lassen. Danach findest du garantiert keine Arbeit mehr.«
Genau dies durfte nicht passieren. »Dann tu ich's eben«, sagte Joan und zwang sich dazu, Bull anzulächeln.
An der Außenwand des Bordells führte eine Holztreppe zu den zwei oberen Stockwerken. In jedem Stockwerk gab es drei Räume, die durch hölzerne Trennwände in je zwei quadratische Kämmerchen unterteilt waren. Joan und der Kaufmann traten in den schmalen, düsteren Gang im zweiten Stock und gelangten nach ein paar Schritten zu einer kleinen Treppe, die kaum mehr als eine Leiter war. Joan tastete sich nach oben.
Joans Zimmer befand sich im Dachboden unter dem Giebel des Hauses. Es gab ein kleines Fenster, dessen obere Hälfte mit Pergament bedeckt war, so daß das Licht hereinfallen konnte; der untere Teil war mit einem stabilen Holzladen versehen. Auf dem mit muffigen Binsen bedeckten Fußboden lag eine Strohmatratze. Joan ließ ihren Schal fallen. Sie hatte sich noch nicht das gestreifte Gewand ihres Berufsstandes zugelegt, sondern trug noch ihr einfaches, langärmliges Leinenuntergewand und darüber eine ärmellose Schürze mit einem Blumenmuster. Sie löste ihr Haar. Dann trat sie zum Fenster und stieß den Laden auf. Etwa hundert Meter entfernt floß der Strom träge dahin. Sie hatte nur einen Gedanken: Wie konnte sie ihn hinhalten? Langsam drehte sie sich zu ihm um. Er hatte seinen Umhang abgelegt und begann gerade, seine Jacke aufzuknöpfen. Sie blickte auf sein breites Gesicht. Lag Freundlichkeit darin?
»Es wird schon nicht so schlimm werden«, sagte er.
Und da fiel ihr etwas ein – ein Weg, wie sie ihre schreckliche Lage vielleicht doch noch zu ihrem Vorteil wenden konnte. Es war nur eine winzige Chance, aber vielleicht spielte er ja mit.
»Ich möchte Euch um etwas bitten«, sagte sie so ruhig wie möglich. Und dann erzählte sie ihm alles.
Um ein Uhr mittags hüpfte ein kräftiger Bursche breit grinsend aus dem alten Königspalast zu seinem Pferd, schwang sich in den Sattel und ritt in die Stadt zurück; hinter ihm ragte die alte Westminsterabtei empor.
1295 zeigte die Abtei ein höchst sonderbares Äußeres, denn als der fromme König Heinrich III. beschlossen hatte, sie zu renovieren, war ihm eine unglückliche Fehlkalkulation unterlaufen. Trotz der immensen Summe, die die Juden zur Verfügung stellten, und der Verpfändung der Kronjuwelen, die Heinrich für den luxuriösen neuen Schrein des heiligen Eduards vorgenommen hatte, war ihm das Geld ausgegangen. Die herrliche Osthälfte der Kirche, der Chor und die Querschiffe sowie ein kleiner Teil des Schiffes waren fertiggestellt und prunkten nun mit hohen, spitz zulaufenden Bögen im gotischen Stil. Aber dann fiel das Schiff plötzlich auf die sehr viel bescheidenere Höhe der alten, vom Bekenner erbauten normannischen Kirche ab. Und so stand sie nun schon seit einem Vierteljahrhundert: zwei Kirchen unterschiedlichen Stils, die in völlig unsinniger Weise miteinander verbunden waren. Ein weiteres Jahrhundert sollte vergehen, bis die Bauarbeiten wiederaufgenommen wurden, und noch ein weiteres, bis sie endlich beendet waren. Während der Herrschaftszeit von zwölf englischen Monarchen war die geheiligte Krönungsstätte ein reines Chaos.
Aber Waldus Barnikel fand an diesem Tag alles perfekt. »Ich bin der glücklichste Mann von ganz London«, hatte er dem König vor wenigen Augenblicken gestanden. Waldus Barnikel von Billingsgate war rund wie ein Ball. Er war glattrasiert, obgleich sein rotes Haar ihm fast bis zu den Schultern reichte, und trug einen Fellhut. Er strahlte vor Zuversicht.
Und dies mit Recht. Schließlich hatten die gewöhnlichen Fischhändler es mit ihrer Vereinigung bis in die höchsten Ebenen der Stadt gebracht. Er trug nun das rote Gewand eines Alderman. Ab sofort konnte er sich mit »Sire« anreden lassen. Und die Demütigung des stolzen Patriziers Bull, den er sein Leben lang gehaßt hatte, versüßte ihm das Ganze um so mehr.
Barnikel war reich. Sein Weg zum Reichtum war typisch für die Fischhändler. Bald nach König Johanns Krönung hatte die Familie ein kleines Fischerboot erworben, dann ein weiteres. Als Waldus zur Welt kam, besaßen sie nicht nur ein Lager am Pier von Billingsgate und einen großen Stand auf dem Markt; sie hatten wie andere erfolgreiche Londoner Fischhändler auch noch ein Standbein in dem kleinen, doch sehr geschäftigen Hafen Yarmouth, etwa hundert Meilen entfernt an der Ostküste. Dort besaßen sie zwei weitere Fischerboote und einen Anteil an einem höchst gewinnträchtigen Handelsschiff. In Yarmouth hatte Barnikel auch seine Frau kennengelernt, dort war er reich geworden und hatte an einer höchst sonderbaren historischen Bewegung teilgenommen.
Das weite Gebiet von Ostanglien hatte in all den Jahrhunderten seit der normannischen Eroberung seinen alten Charakter gewahrt. Natürlich waren auch neue Leute eingewandert, vor allem flämische Weber, deren Fertigkeiten sehr willkommen waren. Doch im wesentlichen waren die großen Weideflächen, die Wälder und Sümpfe noch immer so wie in den Zeiten des Danelaw: Länder der Angeln und Dänen, der bodenständigen Kaufleute, isoliert und unabhängig. Wie das übrige England war auch Ostanglien in diesem Jahrhundert reich geworden, und zwar vor allem mit dem Export von zwei Sorten Tuch, das jeweils unter dem Namen des Ortes, in dem es hauptsächlich hergestellt wurde, bekannt war: Kersey im südlichen Teil, Worsted im nördlichen Teil. Als Barnikel die Tochter eines reichen Tuchherstellers aus Worsted kennenlernte, die wie er selbst von den Wikingern abstammte, zögerte er nicht lange, sie zu heiraten. Dies verdoppelte sein Vermögen. Als er sie mit nach London nahm, kam ihre ganze Familie gleich mit.
Kaufleute aus Ostanglien machten einen guten Teil der Zuwanderer aus, die in jener Zeit nach London strömten. Barnikel hatte kürzlich bemerkt, daß die Leute in London sogar anders zu sprechen begannen. Im ausgehenden dreizehnten Jahrhundert kamen wieder die Nordmänner nach London, allerdings nicht mehr die seefahrenden Wikinger, sondern deren inzwischen fest in der englischen Mittelschicht verwurzelten Nachfahren. Dies spiegelte sich auch im Londoner Dialekt wieder.
Barnikel war ein reicher Kaufmann. Er verkaufte Fisch, aber seine Schiffe transportierten auch Pelze und Holz aus dem Baltikum sowie Getreide und sogar Wein. Vor kurzem war er zum Alderman ernannt worden. Was würde als nächstes kommen? Doch nie hatte er damit gerechnet, daß König Eduard persönlich ihn zu sprechen wünschte.
»Ich brauche Euch«, hatte der große, grauhaarige Monarch gesagt. »Ich brauche Euch für das Parlament.« Der Fischhändler war rot angelaufen vor Stolz; er konnte es kaum fassen, welche Ehre ihm da zuteil werden sollte. Ein Barnikel im Parlament!
König Eduards Beschluß, zweimal im Jahr Parlamente in Westminster einzuberufen, zeigte wieder einmal, wie gewitzt und scharfsinnig er war. In Erinnerung an die Demütigung, die sein Vater und sein Großvater unter dem Druck der Barone erlitten hatten, war er sehr viel klüger vorgegangen. Wann immer eine wichtige Entscheidung anstand, rief er nicht nur den Rat der Barone zusammen, sondern auch die anderen Parteien, die davon betroffen waren. Wenn es um die Kirche ging, rief er Vertreter des Klerus herbei; ging es um den Handel, die Bürger der Stadt; ging es um den allgemeinen Militärdienst, die lokalen Ritter. Und manchmal wurden auch alle zusammen einberufen. Solche Parlamente beobachteten auch die königliche Rechtsprechung, deren letzte Instanz der König war. Natürlich erließ der König oft selbst Gesetze, aber er hatte sein Parlament immer als ausführendes Organ.
Genauso wie er die kleineren Kaufleute benutzte, um die Macht des Londoner Mayors und seiner Oligarchen zu brechen, konnte der Monarch mit seinen Parlamenten seine Kronvasallen einschränken. Selbst die Macht der Kirche konnte er brechen, wenn auch in geringerem Ausmaß. Und so nahm unter der Herrschaft König Eduards I. die große Institution des Parlaments ihren Anfang, wenn auch nicht, um die Macht in die Hände des Volkes zu legen, sondern um den langen politischen Arm des Königs zu stärken.
Am Vortag war einer der Londoner Volksvertreter, der am Parlament hätte teilnehmen sollen, krank geworden. »Also habe ich nach Euch geschickt«, hatte König Eduard Waldus lächelnd erklärte.
Natürlich gab es dafür einen Grund, das war Barnikel klar; er war ja schließlich kein Dummkopf. Wenn der König Kaufleute in seinem Parlament haben wollte, bedeutete dies, daß er neue Steuern von den Städten haben wollte. Wenn er bereit war, einem neuernannten Alderman zu schmeicheln, wollte er wohl eine ziemlich hohe Summe. Nun denn, er würde sie wohl auch bekommen.
Jedenfalls hatte Waldus Barnikel einen Grund, an diesem Nachmittag zu feiern. Und genau dies hatte er nun vor. Heute morgen hatte er eine Botschaft von der Bankside erhalten. Es ging um eine Jungfrau. Frohgemut machte er sich auf den Weg.
Normalerweise besuchte er das Dog's Head einmal in der Woche. So hatte er es seit fast fünf Jahren gehalten, und er schlief stets mit einer der Dogget-Schwestern. Aber dieser Besuch an der Bankside war ohnehin schon fest eingeplant gewesen. König Eduard hatte nämlich eine große Wahrheit verstanden, die bei fast allen zukünftigen Legislativversammlungen immer wieder bewiesen werden sollte – Prostituierte und Politiker fühlen sich zueinander hingezogen. »Wenn ich hier einen Haufen Ritter und Volksvertreter in der Stadt habe«, beobachtete der König, »begeben die sich früher oder später zu den Huren und in Schwierigkeiten.« Deshalb waren die Bordelle an der Bankside offiziell geschlossen, wenn das Parlament in Westminster tagte. Und deshalb würde es vielleicht eine Weile dauern, bis Waldus wieder dorthin gehen konnte.
Nur einmal machte er einen kleinen Halt. Von Westminster aus führte ein breiter, morastiger Weg am Flußufer entlang; nach etwa einer halben Meile bog er nach rechts ab, dort, wo die Themse ihre letzte Kurve bei Aldwych machte, um danach in ihrer langen Geraden bis hinter London hinauszufließen. An dieser Abbiegung stand ein großes, hübsch verziertes, steinernes Monument mit einem Kreuz. Hier sprach Barnikel ein kurzes Gebet.
Das Kreuz war seit etwa fünf Jahren an dieser Stelle, seit König Eduards Frau, der er – höchst ungewöhnlich für einen König – sehr zugetan und obendrein auch noch treu gewesen war, oben im Norden gestorben war. Eine Gesandtschaft war losgeschickt worden, um ihren Leichnam nach Westminster zu überführen. Zwölfmal mußte für die Nacht unterwegs Rast gemacht werden; hier hatte sich der letzte Rastpunkt befunden, bevor der Leichnam offiziell in die Abtei Einzug hielt. König Eduard ließ an jedem Rastplatz ein steinernes Kreuz errichten. An der Wood Street im West Cheap gab es ein weiteres Kreuz. Und da dieser Punkt unter seinem alten englischen Namen Charing, also Abbiegung, bekannt war, hieß diese Gedenkstätte Charing Cross.
Barnikel hielt am Kreuz an, weil seine eigene Frau, die ihm sieben Kinder geschenkt hatte, am Tag der Errichtung des Kreuzes bei der Geburt ihres achten Kindes gestorben war. Barnikel hatte sie sehr geliebt; er hatte nie einen Ersatz für sie gefunden und deshalb auch nicht mehr geheiratet, sondern es vorgezogen, einmal die Woche zur Bankside zu gehen. Wie er es stets auf seinem Weg zu tun pflegte, sprach er ein Gebet für seine Frau vor dem Charing Cross und ritt dann weiter zu seinem Stelldichein.
Isobel und Margery wußten immer noch nicht, was sie nun tun sollten. Sie hatten einen Doktor in der Maiden Lane aufgesucht, der ihnen gegen ein kleines Bestechungsgeld versprochen hatte, den Mund zu halten. Er hatte ihre Befürchtungen bestätigt. »Lepra«, meinte er. Damit wurden alle ansteckenden Hautkrankheiten bezeichnet. Nachdem er die kranke Stelle in Weißwein gebadet hatte, gab er Margery eine Salbe und versicherte ihr, daß diese sie kurieren würde. »Sie besteht hauptsächlich aus Ziegenurin und wirkt hundertprozentig.«
»Ich könnte mich ja eine Weile vom Dog's Head fernhalten«, sagte Margery, die noch nie von ihrer Schwester getrennt gewesen war. »Ich kann die Miete bezahlen, und morgen ist ohnehin geschlossen, wegen des Parlaments.« Doch meist bot der Bordellbetreiber diskrete Dienste an, für die er die Schwestern brauchte. »Ich werde beten«, verkündete Isobel.
Isobel war sehr gläubig. Die Kirche gestand den Prostituierten nur ganz bestimmte Dienste zu. Sie konnten zum Beispiel die heilige Kommunion empfangen, durften aber nicht in geweihtem Boden bestattet werden. Isobel glaubte daran, daß Gott ihr ihre Sünden in dieser harten Welt vergeben und ihre Seele retten würde. Margerys Zustand durfte auf keinen Fall entdeckt werden. »Heute abend solltest du besser nicht arbeiten«, sagte sie.
In ihren Nöten hatten sie die kleine Joan völlig vergessen. Als sie sich nun dem Bordell näherten, sahen sie das Mädchen draußen zwischen zwei Männern und dem Bordellbetreiber stehen. Offensichtlich war etwas schiefgelaufen.
Waldus Barnikel war stinksauer, Bull lächelte milde, und der Bordellbetreiber wirkte beschämt.
»Ihr habt mir eine Jungfrau angeboten«, donnerte der neuernannte Alderman.
»Das war sie auch, heute morgen noch«, entschuldigte sich der Bordellbetreiber. »Ich dachte, Ihr würdet früher kommen, Sire«, fügte er hinzu.
»Das hätte ich auch getan, aber ich mußte noch bei König Eduard vorsprechen«, erklärte Barnikel und starrte Bull verächtlich an.
»Es hat sie doch bis jetzt nur ein Mann gehabt«, sagte der Bordellbetreiber.
»Und zwar ich«, bemerkte Bull zufrieden.
»Glaubt Ihr etwa, ich will sie nach diesem alten Scheißer haben?« brüllte Barnikel und funkelte den Patrizier haßerfüllt an. Als er das Mädchen an der Seite seines alten Feindes sah, der ihm zuvorgekommen war, war er viel zu stolz, um sich an sie heranzumachen. Doch was sollte er nun tun? Schließlich war er ja zum Feiern hergekommen, und dazu wollte er unbedingt eine Frau.
Genau in diesem Moment sah er die Dogget-Schwestern. »Ich nehme das Dogget-Mädchen«, brummte er. »Die, die ich immer habe, Margery.«
Die Schwestern sahen sich an und dachten nur an eins: Wenn der Alderman sich bei Margery etwas holte, würde sie dies teuer zu stehen kommen. Wahrscheinlich würden sie beide rausgeworfen werden. So trat also eine der beiden vor und sagte lächelnd: »Er will immer nur mich, nie meine Schwester. Na denn los, mein Guter!« Isobel sah keine großen Probleme; Margery hatte ihr schon längst erzählt, wie Barnikel es immer gerne hatte.
Die richtige Margery schickte sich nun an, sich bei der armen Joan zu entschuldigen. Schließlich hatten sie ihr ja versprochen, sie zu beschützen. Doch merkwürdigerweise entdeckte sie keinen Vorwurf in Joans Augen. Das Mädchen lachte sogar und küßte Bull auf den Mund. »Soll ich Euch noch bis zur Brücke begleiten?« fragte sie.
Kurz vor der Brücke verabschiedete sie sich von Bull. Sie wußte, daß sie großes Glück gehabt hatte. Viele Männer hätten sicher nur gelacht, wenn sie ihnen ihre Geschichte erzählt hätte, und hätten ihr nicht geglaubt. Doch Bull hatte nur kopfschüttelnd gemeint: »Das ist ja wohl die mutigste Geschichte, die ich je gehört habe. Na gut, dann helfe ich dir eben.«
Die Gesetze waren eindeutig. Abgesehen von einer Begnadigung konnte ein Verurteilter nur auf einem einzigen Weg dem Strick entkommen – wenn er von einer Dirne eingefordert wurde.
Der Ablauf war genauestens festgelegt. Die Frau mußte öffentlich in dem für ihren Berufsstand vorgeschriebenen gestreiften Kleid und der weißen Haube vor den Richter treten. In jeder Hand mußte sie eine Büßerkerze halten und sich dem Gefangenen als Braut anbieten. Wenn der Verurteilte gewillt war, sie zu heiraten, wurde er freigelassen, und danach fand sogleich die Hochzeit statt. Die Kirche betrieb zwar die Bordelle, billigte es aber dennoch, wenn eine Seele vor der Sünde gerettet wurde, und die Behörden waren derselben Meinung.
Der Plan der Dogget-Schwestern fußte auf dieser Regelung. Joan mußte einen Tag lang zur Prostituierten werden und offiziell im Dog's Head aufgenommen werden; ihr Name mußte bei dem Büttel registriert werden. Dann konnte sie ihren Verlobten zum Mann einfordern.
»Aber ich kann mich doch nicht auf diese Männer einlassen«, hatte das Mädchen protestiert. »Das könnte ich einfach nicht. Und Martin…« Sie hatte es nicht gewagt, ihm die Feinheiten ihres Plans zu erläutern. Er hätte ihn sicher abgelehnt.
»Wir werden dich beschützen«, hatten die DoggetSchwestern versprochen. »Wir schaffen es schon, daß du eine Nacht lang unberührt davonkommst.«
Joan glaubte zwar auch, daß die Behörden kaum nachfragen würden, wie lange sie eigentlich in dem Bordell gewesen sei. Schon allein die Schande, in dem verachteten Gewand als registrierte Hure aufzutreten, reichte aus, sie für den Rest ihres Lebens zu brandmarken. Aber sie fürchtete, daß der Richter seine Meinung ändern könnte, wenn er herausfand, daß sie niemals als Hure tätig gewesen war. Als sie dann vor Bull in dem kleinen Dachkämmerchen stand, war ihr der Gedanke gekommen, ihm ihre Geschichte einfach zu erzählen. Vielleicht würde sie ihm leid tun, und er würde sie nicht mehr haben wollen, und vielleicht würde er auch noch den Bordellbetreiber und sogar den Richter in dem Glauben bestätigen, daß sie ihre Rolle tatsächlich gespielt habe.
Als William Bull diese sonderbare, entschlossene kleine Person anstarrte, konnte er sich nur wundern. »Mein Gott, dein junger Mann kann aber wirklich von Glück reden!« bemerkte er, nachdem er ihr seine Hilfe zugesichert hatte. »Dem Richter würde ich zwar lieber nur unter vier Augen erzählen, daß ich dich gehabt habe«, fügte er noch hinzu, als ihm plötzlich seine Frau einfiel, »aber ich glaube, es reicht schon, wenn der Bordellbetreiber denkt, daß es so war.«
»Und noch eines«, sagte sie. »Wenn Martin wieder auf freiem Fuß ist, müßt Ihr ihm unbedingt sagen, was tatsächlich passiert ist!«
Bull grinste. »Selbstverständlich«, sagte er. Und als er und das Mädchen wieder vor das Haus traten, stand doch da tatsächlich Barnikel, der verdammte Fischhändler, und tobte, weil er herausgefunden hatte, daß Bull ihm zuvorgekommen war. Welch wundervoller Zufall! Die Rache war so süß, daß Bull nun, als er die Brücke überquerte, so zufrieden war, als habe er ein Dutzend Jungfrauen gehabt.
Auch Joan war zufrieden. Sie hatte keine Eile, ins Dog's Head zurückzukommen. Sie lief ein Stück am Flußufer entlang bis zur Kirche St. Mary-Overy, in die sie eintrat, um ein kleines Gebet für Martin Fleming zu sprechen. Schließlich – es begann bereits zu dämmern an diesem grauen Novembertag – kehrte sie wieder zurück.
Dionysius Silversleeves starrte den Löwen an und knurrte. Der Löwe schüttelte seine struppige Mähne und knurrte zurück. Silversleeves rückte mit seinem langnasigen Gesicht noch ein wenig näher heran, entblößte seine gelben Zähne und stieß ein lautes Brüllen aus.
Der Löwe wurde wütend. Er attackierte die Stangen seines Käfigs mit seinen Pranken und brüllte schließlich so laut, daß es im ganzen Tower widerhallte.
»Du würdest mich wirklich gerne fressen, oder?« meinte Silversleeves schadenfroh. Er pflegte dieses Ritual jeden Abend nach der Arbeit, und nur weniges in seinem Leben machte ihm mehr Spaß.
Dionysius Silversleeves war neunundzwanzig. Er hatte dunkles Haar, eine lange Nase und einen dürren Körper. Seine Wangen waren rot, seine Augen wäßrig, sein Gesicht pickelig. Die schrecklichen Pickel waren überall: auf seinem Nacken, auf seiner Stirn, auf den Schultern, am Kinn, auf seiner Nase in ihrer ganzen Länge; dort glänzten sie besonders stark, wenn er getrunken hatte. »Das sind die Säfte in meinem Körper«, pflegte er munter zu erklären. »Heiß und trocken, wie Feuer.« Vielleicht war es diese unausgewogene Kombination der Elemente, die ihn dazu bewog, die Löwen zu foppen.
Der erste Londoner Zoo lag am äußeren Tor, gleich am Flußufer an der Westseite des riesigen Towerkomplexes. Der vorherige König hatte den Grundstein des Zoos gelegt, denn die Monarchen Europas pflegten sich gegenseitig wilde Tiere zum Geschenk zu machen. Vor Jahren hatte es einen Eisbären an einer Kette gegeben, ein Geschenk des norwegischen Königs, einmal auch einen Elefanten, der recht schnell gestorben war. Immer jedoch gab es Löwen und Leoparden in den Käfigen neben dem Turm am Eingang, der deshalb auch als Löwenturm bekannt war.
Die Menagerie war nicht die einzige Neuerung. Während der letzten zwei Regentschaften hatten gewaltige Veränderungen an der alten Festung am Fluß stattgefunden. Der rechteckige Burgfried des Eroberers stand nun in der Mitte eines großen, offenen Platzes. Um ihn herum war eine Festungsmauer mit Zinnen und einer Reihe von Spähtürmen errichtet worden. Dies war der innere Bezirk. Außerhalb dieses Bezirkes lag auf den drei landeinwärts gelegenen Seiten ein breiter Korridor, der Außenbezirk, der von einer weiteren, bemerkenswerten Festungsmauer umgeben war. Darum herum verließ ein tiefer, breiter Graben, der aus der Toweranlage eine Insel machte, die nur auf einer einzigen Zugbrücke und durch eine Reihe abgeschlossener Höfe und Türme, einschließlich des Löwenturms an der Westecke, erreicht werden konnte. Der Tower ähnelte stark den großen Burgen mit ihren Ringmauern, die Eduard vor kurzem hatte errichten lassen, um Wales zu sichern.
Der fromme König Heinrich III. hatte beschlossen, dem großen normannischen Burgfried ein anderes Aussehen zu geben, und befohlen, sämtliche Außenwände zu kalken. Nun sahen die Londoner statt des grauen Steins eine große, weiße Burg am Flußufer funkeln. Noch lange, nachdem die Kalkfarbe sich wieder gelöst hatte, hieß die Burg White Tower.
Erst vor zehn Jahren war die königliche Münze von ihrem alten Standort unterhalb von St. Paul's in den Tower umgezogen. Nun befand sie sich in ein paar Werkstätten im äußeren Bezirk zwischen den Wällen. Die Münze im Tower war eine der sechs Münzstätten, die es im ganzen Königreich gab, und bei weitem die wichtigste. Abgesehen von der alltäglichen Abnutzung und dem Bedarf, den der ständig wachsende Handel mit sich brachte, waren die alten Münzen aus der vorherigen Herrschaft abgewertet worden; König Eduard ließ neue Münzen prägen, die den Handel und den Ruhm seines Königreichs in ganz Europa fördern sollten.
Silversleeves kannte als Münzbeamter inzwischen alle Abläufe der Münzherstellung. Es gab die Prüfstelle, in der die Münzen für das Schatzamt geprüft wurden. Dies geschah, indem sorgfältigst gewogen, geschmolzen und dann mit geschmolzenem Blei vermischt wurde, wodurch jegliche Unreinheiten auf den Boden sanken, so daß der wahre Silbergehalt der Münzen und Barren festgestellt werden konnte. Es gab riesige Kessel mit geschmolzenem Metall, das Silversleeves' rotes Gesicht noch röter glühen ließ; es gab die Formen, in denen die Rohfassungen der Münzen hergestellt wurden, und die Prägestöcke, die dazu dienten, mit einem einzigen, wohlplazierten Hammerschlag das Rohprodukt mit der Prägung zu versehen.
Dann gab es Räume, in denen die Münzen gezählt wurden – die Farthings, von denen vier einen Penny ergaben; die Silberpennies und ein Neuzugang bei Englands Münzen, ein kostbares, schweres Vierpennystück, der Groat. Ob es nun darauf zurückzuführen war, daß hier ständig etwas los war, oder darauf, daß es um Geld ging, was er innig liebte – Dionysius Silversleeves schätzte sich glücklich, hier zu arbeiten.
Außerdem mußte er sich um nichts sonst auf der Welt kümmern. Er hatte zwei ältere Brüder, die für den Bestand der Familie sorgten. Sie waren keineswegs mehr so reich wie in früheren Generationen und hatten den Weinhandel inzwischen aufgegeben. Doch sie hatten noch immer mehr als genug Geld, um für ihre alte, verwitwete Mutter zu sorgen. Wenn Dionysius am Abend seine Wirkungsstätte verließ, konnte er dem Vergnügen frönen, das er am meisten schätzte: Er stieg den Frauen nach.
Zum Glück gab es genügend Dirnen, denn die meisten anderen Frauen würdigten ihn kaum eines Blickes. Auf der Bankside oder in der Cock's Lane gab es kaum ein Bordell, in dem er nicht bekannt war, und auch in einer kleinen Gasse am West Cheap, der Gropeleg Lane, in der ein paar nicht registrierte Huren hausten, ließ er sich regelmäßig blicken.
Heute wollte Dionysius wieder einmal zur Bankside. Er freute sich auf etwas ganz Besonderes: eine Jungfrau. Der Bordellbetreiber hatte im letzten Moment auch noch an Silversleeves gedacht, und nun überquerte dieser frohgemut die Zugbrücke über den Towergraben.
Es war bereits dunkel, die Ausgangssperre war schon eingeläutet worden; alle Fähren waren vorschriftsmäßig am Londoner Ufer vertäut, damit die Diebe aus Southwark nicht über den Fluß hinweg heimlich in die Stadt eindringen konnten; an der Brücke stand ein Wächter.
Im Dog's Head wurden die Lampen entzündet. Der Bordellbetreiber hatte Silversleeves völlig vergessen; er wärmte sich an dem Kohlenbecken, das in der Mitte des niedrigen Zimmers stand, in dem die Mädchen ihre Kunden empfingen. Fast alle Mädchen waren schon in ihren Kammern, denn am Spätnachmittag waren einige Kunden einschließlich zwei Volksvertretern des Londoner Parlaments ins Dog's Head gekommen, um sich noch ein letztes Mal dem Vergnügen hinzugeben, bevor das Bordell offiziell geschlossen wurde. Nur zwei Mädchen und Isobel Dogget saßen in dem Zimmer, das Silversleeves nun betrat. Grinsend fragte er: »Und wo steckt die Jungfrau?«
Der Bordellbetreiber blickte auf Isobel, die den Kopf schüttelte. »Es tut mir leid, mein Herr, aber sie ist nicht verfügbar«, sagte er. »Und die Sperrstunde ist auch schon eingeläutet worden. Ihr seid zu spät.« Dies war natürlich ein Argument. Sobald die Glocke geläutet worden war und die Fähren am Ufer lagen, sollten die Kunden die ganze Nacht bei den Mädchen verbringen. Damit wollte man verhindern, daß sie nachts die Straßen unsicher machten. Wenn Joan jetzt einen Kunden hatte, dann war sie in dieser Nacht nicht mehr zu haben. »Wie wär's denn mit einem der anderen Mädchen, Sir?« schlug er vor.
»Diese alten Nutten kann ich jederzeit haben. Heute steht mir der Sinn nach Frischfleisch«, meinte Silversleeves grinsend. »Ich mache Euch einen Vorschlag: Sobald sie fertig ist, sagt Ihr ihrem Kunden, daß er sich noch eine andere holen kann, und zwar auf meine Kosten, und ich bekomme dann die Kleine.«
Doch auch hierzu schüttelte der Bordellbetreiber den Kopf. Wenn er nicht einen winzigen Moment lang gezögert hätte, wenn er nicht wieder kurz auf Isobel geblickt hätte, dann hätte Silversleeves sich vielleicht geschlagen gegeben. Doch er bemerkte es, und augenblicklich trat ein Ausdruck von Verschlagenheit in sein Gesicht.
»Was wird hier gespielt?« fragte er laut. »Was verbergt Ihr vor mir? Versucht Ihr etwa, mich zu betrügen?« Er trat auf den Bordellbesitzer zu. Im Licht der glühenden Kohle warfen die Pickel kleine Schatten auf sein Gesicht. »Ich könnte Euch einigen Ärger einbringen. Ich könnte Euer kleines Fest erwähnen, das Ihr in der nächsten Woche geplant habt.«
Dieses Fest sollte für einige Parlamentarier abgehalten werden, und natürlich sollten auch Mädchen bereitgestellt werden. Es war gegen das Gesetz, und der Bordellbetreiber hatte vergessen, daß Silversleeves davon wußte. »Ich will keinen Ärger«, murmelte er.
»Also krieg' ich nun das Mädchen oder nicht?«
Der Bordellbetreiber zuckte mit den Schultern. »Sie ist keine Jungfrau mehr; heute nachmittag hat sie einen Kunden gehabt.«
»Das ist mir egal. Wer war es denn?«
»Der Kaufmann Bull«, antwortete der Bordellbetreiber widerstrebend.
Silversleeves kicherte. »Ach ja? Dieser alte. Mistkerl. Aber jetzt holt mir endlich das Mädchen!«
»Es geht ihr nicht gut«, sagte Isobel Dogget. »Laßt sie in Frieden!«
»Hat Bull sie ein wenig zu grob angefaßt?« fragte Silversleeves hämisch.
»Das geht Euch gar nichts an. Laßt sie in Ruhe!« rief Isobel nun laut, und zwar an den Bordellbetreiber gewandt. Aber diesem reichte es nun auch. »Jetzt mach schon, und hol sie runter!« befahl er dem Mädchen.
Als Isobel in das kleine Dachkämmerchen kam, probierte Joan eben ein gestreiftes Untergewand an, das Margery ihr für ihren Auftritt am nächsten Tag leihen wollte. Als Isobel das anstehende Problem erklärte, fing Margery zu fluchen an, und Joan wurde kreidebleich. »Wir müssen uns etwas einfallen lassen«, sagte Margery.
Die zwei Schwestern setzten sich auf die Matratze und begannen zu murmeln. Bald lachten beide rauh. »Wir haben einen Plan«, sagte Isobel, oder vielleicht war es auch Margery.
»Wir versprechen, daß sie kommen wird«, sagten die Schwestern und setzten sich, Dionysius in die Mitte nehmend, auf eine Bank. »Aber jetzt brauchen wir erst mal was zu essen«, sagte Margery. »Und zu trinken«, sagte Isobel.
Der Bordellbetreiber runzelte die Stirn. In den Freudenhäusern sollten eigentlich keine Speisen und Getränke verkauft werden, um das Geschäft der Gasthausbesitzer nicht zu schmälern. Aber als Silversleeves ein paar frischgeprägte Münzen in seiner Hosentasche klimpern ließ, verschwand der Bordellbetreiber zögernd und tauchte schließlich mit einem Krug voll Wein sowie Brot und einer Schüssel mit Rindfleisch auf. Er stellte alles auf den Tisch. Silversleeves ließ seine große Nase über allem kreisen und atmete genießerisch ein. Dann machte er sich darüber her.
Das Mädchen war noch immer nicht aufgetaucht, aber es war ihm egal. Er verließ sich auf das Versprechen der Schwestern, daß sie kommen würde. Sie würden es nicht wagen, ihn zu betrügen. Es sei denn, sie versuchten, ihn unter den Tisch zu trinken, da sie ja so entschlossen zu sein schienen, dieses junge Ding vor ihm zu beschützen. Dieser Gedanke kam ihm, als die Mädchen ihm fleißig nachschenkten, aber er lächelte nur darüber, denn er war stolz auf seine Trinkfestigkeit. Er verschlang das Rindfleisch und auch noch einen großen Apfelkuchen. Aber dann befahl er Margery, das Mädchen aufzutreiben.
Bald kehrte Margery lächelnd zurück. »Sie kommt gleich«, versprach sie wieder und schenkte allen Wein nach. Bald war der zweite Krug geleert. Wieder regten sich Argwohn und Wut bei Silversleeves. »Jetzt hol' ich sie selbst«, knurrte er.
Doch da kam sie tatsächlich, und Silversleeves blieb schier die Luft weg. Sie trug feine Sandalen und ein Nachthemd aus knallroter Seide, das ihre kleinen Brüste kaum bedeckte, mit einem langen Schlitz an der Seite, durch den man ihr blasses, wohlgeformtes Bein sehen konnte. Es war Isobels bestes Nachthemd. Selbst der Bordellbetreiber mußte bei diesem Anblick schlucken. Joan lächelte Silversleeves an, ging tapfer zu ihm hin und setzte sich auf seinen Schoß. »Ich habe Hunger«, verkündete sie.
Silversleeves wurde ruhiger. Das Mädchen war ja wirklich ein Leckerbissen. »Bringt uns noch etwas zu essen«, rief er, »und noch ein wenig Wein!«
Je später es wurde, desto glücklicher fühlte sich Dionysius. Dieses Mädchen war die erste frische, saubere Frau, die er je gehabt hatte. Sie saß noch immer auf seinem Schoß und hatte einen Arm um seine Schultern gelegt. Seine üblicherweise eher aggressive Stimmung begann einer Art Gutmütigkeit zu weichen. Der Raum schien in ein warmes, angenehmes Licht getaucht zu sein. Als Joan ihm flüsternd gestand, daß sie noch immer ein wenig nervös sei, tätschelte er beruhigend ihr Knie. »Wir lassen uns Zeit«, sagte er, und stimmte sogar ein Lied an. Und dann sangen sie alle ein paar Lieder und tranken noch ein bißchen mehr. Schließlich sank Joans Kopf auf seine Schultern, und sie machte es sich dort bequem, und auch sein eigener Kopf begann ein wenig schwer zu werden. Da stand er schwankend auf. »Zeit, nach oben zu gehen«, sagte er. Das Mädchen stolperte neben ihm her, und auch die beiden Doggets kamen mit, warum, war ihm nicht klar.
Als er nach draußen trat, traf ihn die Novemberkälte wie ein harter Schlag. Sie traf ihn so hart, daß er zu taumeln anfing, denn er hatte, ohne es zu wollen, wohl doch ein wenig zu viel getrunken. Er blinzelte. Die Laterne am Eingang war verloschen. Er schüttelte den Kopf in dem Versuch, ihn wieder klar zu bekommen. Dann nahm er Joan am Handgelenk und zerrte sie hinter sich die Treppe hinauf. Warum nur kam ihm alles so merkwürdig vor? Die stockfinstere Nacht, der heulende Wind, die knarzenden Stufen – alles schien vor seinen Augen in Bewegung zu geraten.
Und dann diese Doggets. Zwei flatternde Gestalten, wie Geister, die nach ihm riefen und an ihm herumgrabschten. Die eine zerrte an seinem Arm und schrie: »Komm doch mit mir mit, schlaf mit mir!« Zweimal, dreimal versuchte sie, ihn in ihre Kammer zu zerren, bis es ihm schließlich gelang, sie zur Seite zu stoßen. Dann machte sich die andere an ihn heran, sobald er einen Fuß in den Gang im zweiten Stock gesetzt hatte. Sie zerrte ihn vorbei an den Stufen, die zum Dachboden führten, hinein in ein Zimmer, während sie unzusammenhängende Worte der Liebe und der Lust murmelte. Er mußte richtig mit ihr kämpfen, um von ihr loszukommen.
Nach all diesem Aufruhr trat plötzlich Stille ein. Silversleeves stolperte, Joan vor sich herschubsend, durch den dunklen Gang und schließlich die Treppe zum Dachboden hinauf.
In der kleinen Kammer war es stockdunkel. Er hörte das Mädchen, das sich wohl auf sein Lager gesetzt hatte, und tapste diesem Geräusch nach, bis er fast über die Matratze stolperte. Er tastete nach Joan, fand ihr Bein unter der weichen Seide ihres Nachthemds; schläfrig grunzend brachte er seine Männlichkeit in die richtige Stellung und machte sich mit steigender Erregung über das Mädchen her, bis er schließlich mit einem weiteren, befriedigten Grunzen, das zu einem langen Seufzer wurde, von ihm herunterrollte und einschlief. Es war vollbracht.
Kurz darauf ging die Tür leise auf und dann wieder zu. Am nächsten Morgen wachte er gerade rechtzeitig auf, um sie aus der Kammer schlüpfen zu sehen. Sie drehte sich noch einmal um und schenkte ihm ein kurzes Lächeln.
Die kleine Menge, die sich vor dem Newgate-Gefängnis versammelt hatte, war bester Laune. Die Hinrichtung von fünf Dieben war ein Ereignis, das man sich nicht entgehen lassen wollte.
Das Gefängnistor war noch geschlossen, doch der Schinderkarren stand schon bereit. Das niedrige, zweirädrige Gefährt hatte Bretterwände, an denen die Verurteilten, die darauf standen, sich festhalten konnten. So konnte die Menge einen guten Blick auf sie werfen, während der Karren langsam den kurzen Weg nach Smithfield zurücklegte.
William Bull ließ seine Blicke über die Menge schweifen. Gegenüber der Tür sah er eine Gruppe von Leuten stehen, die traurige, merkwürdig eingefallene Gesichter hatten. Bull nahm an, daß es sich dabei um Martin Flemings Verwandte handelte. In ihrer Nähe standen ein paar gedrungene, ernst dreinblickende Handwerker mit runden Köpfen, die zu groß wirkten für ihre untersetzten Körper – wahrscheinlich Joans Verwandte. Es war ein klarer, kalter Tag, auch wenn sich der Wind inzwischen wieder gelegt hatte.
Rechts, etwas abseits stand ein großer, schwarzgekleideter Mann. Dies war wohl der Lombarde, der mit eigenen Augen sehen wollte, wie die Gerechtigkeit ihren Lauf nahm, dachte Bull.
Da ging das Gefängnistor auf, und einige Gestalten traten heraus. Als erstes kam ein Rechtsbeamter des Königs, ein Ritter, der für die Oberaufsicht zuständig war, als nächstes ein Sheriff der Stadt. Beide schwangen sich auf ihre Pferde. Dann kam ein Büttel, dann noch einer und schließlich die Gefangenen.
Vier waren offenbar arme Handwerker, einer ein Streuner. Die Handwerker trugen Hemden, Wämser und wollene Beinkleider. Der Streuner hatte nackte Beine und trug nur ein paar Lumpen am Leib. Die Hände der Gefangenen waren nicht gefesselt, aber sie waren an den Knöcheln mit einer Kette miteinander verbunden. Schweigend erklommen sie, gefolgt von den Bütteln, den Schinderkarren.
Martin Fleming war der dritte in der Reihe. Er blickte traurig auf seine Verwandten, dann schweiften seine Augen suchend über den Rest der Versammelten.
Ein Stallknecht trat vor, bereit, das Pferd, das vor den Schinderkarren gespannt war, zu führen. Doch plötzlich erklang vom hinteren Rand der Menge her ein aufgeregtes Murmeln, und die Leute traten auseinander. Der Sheriff starrte gereizt auf diesen Unruheherd, dann trat ein Ausdruck des Erstaunens in sein Gesicht. Er sagte etwas zu dem königlichen Gerichtsbeamten, der sich ebenfalls umwandte, um zu sehen, was denn dort los sei. Aber ihre Überraschung war nichts im Gegensatz zu dem Ausdruck von Entsetzen, der auf das bleiche Gesicht Martin Flemings trat, als er auf die Erscheinung starrte, die sich ihm näherte.
Joan ging langsam, doch festen Schrittes. Auf dem Kopf trug sie eine gestreifte Haube, passend zu ihrem weißgestreiften Kleid, dem demütigenden Gewand der gewöhnlichen Prostituierten. In jeder Hand trug sie eine lange, brennende Kerze zum Zeichen ihrer Buße. Ihre Füße waren trotz der Kälte nackt. Vor dem Schinderkarren hielt sie an.
»Ich bin Joan, eine Hure«, sagte sie laut und deutlich. »Will Martin Fleming mich heiraten?« Dabei blickte sie den jungen Mann eindringlich an, um ihm zu verstehen zu geben, daß er an ihre Botschaft denken solle.
In der Menge hob aufgeregtes Murmeln an. Alle starrten auf das junge Mädchen. Der Sheriff und der Gerichtsbeamte sahen sich an. »Was tun wir jetzt?« fragte der Sheriff. »Handelt sie rechtmäßig?«
»Ich denke schon«, meinte der Ritter stirnrunzelnd.
Nun wurden Stimmen laut. Ein untersetzter, kleiner Mann mit einem großen Kopf trat aus der Menge heraus. Sein Gesicht war bleich vor Aufregung, und er fuchtelte wild mit den Armen. »Das ist meine Tochter!« schrie er. »Wir sind ehrbare Leute! Sie ist erst gestern verschwunden. Ich schwöre, daß sie noch Jungfrau ist.« In der Menge hob großes Gelächter an. Joan starrte weiter auf Martin Fleming.
Ihr Vater hatte recht. Bull und auch Silversleeves hatten sie nicht angerührt.
Während Dionysius im Dunkeln mit einer der beiden DoggetSchwestern gekämpft hatte, war die andere in das Dachkämmerchen gehuscht, hatte sich schnell ein Seidennachthemd übergestreift und sich dann auf die Matratze gelegt, während Joan, die ja vor Silversleeves in die Kammer gekommen war, sich in einer Ecke unter einer Decke versteckt hatte. Dort war sie geblieben, bis alles vorüber war und Silversleeves schlief. Der betrunkene Kerl hatte in der Dunkelheit das Dogget-Mädchen bestiegen. Am nächsten Morgen hatten sich die Schwestern vor Lachen über diesen Witz fast nicht mehr beruhigen können.
Nun fragte der Gerichtsbeamte Joan: »Kannst du beweisen, daß du eine Hure bist?«
Sie nickte. »Ihr könnt Euch beim Büttel des Bischofs erkundigen. Ich war im Dog's Head an der Bankside.«
Der Gerichtsbeamte blickte auf den Sheriff. »Wir können den Jungen ja noch einmal in den Kerker zurückschicken, bis wir es geprüft haben«, meinte er. »Wenn sie lügt, können wir ihn morgen auch noch hängen.«
Der Sheriff nickte. Doch da erklang ein heftiger Protestschrei. Der Lombarde hatte allmählich verstanden, was hier vor sich ging. »Nein!« kreischte er und trat vor. »Dieses Mädchen…« – er suchte nach den richtigen Worten – »ist keine Hure. Sie ihn ohnehin heiraten wollen. Dies hier ist Theater. Commedia!« Er starrte Fleming wütend an. »Er ist Dieb. Er muß hängen.«
In diesem Augenblick kam unerwartete Hilfe. Ein rotes, pickeliges Gesicht tauchte aus der Menge auf – Silversleeves. Er hatte eigentlich nach Westminster spazieren wollen, um zuzusehen, wie das Parlament sich versammelte, als er kurz hinter St. Paul's eine kleine Menschenmenge bemerkte, die Richtung Newgate unterwegs war. Er kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Joan an den Schinderkarren herantrat, hörte die Diskussion und sah nun seine Chance für ein dramatisches Eingreifen. »Das Mädchen hat recht, meine Herren«, rief er. »Ich bin Dionysius Silversleeves und arbeite in der Münze. Sie ist eine Hure. Ich hatte sie in der letzten Nacht.« Da entdeckte er auch William Bull in der Menge. Er deutete auf ihn und rief: »Und auch er hat sie gehabt.«
Joans Gesicht spiegelte ihr Entsetzen wider. Dies hatte sie keinesfalls beabsichtigt. Man sollte ihr zwar glauben, daß sie eine Hure war, aber netterweise hatte ja Bull ihr versichert, daß er diskret dafür sorgen würde. Was würde der arme Martin nun denken? Sie starrte ihn beschwörend an, als könnten ihre Blicke ihn dazu bewegen, ihr zu vertrauen und die Sache zu verstehen.
Nun ergriff der Gerichtsbeamte wieder das Wort. »Wir haben etwas vergessen!« Er wandte sich an Martin Fleming. »Offenbar ist dieses junge Mädchen eine Hure. Wenn dies denn zutrifft, seid Ihr gewillt, sie zu heiraten? Damit würdet Ihr freikommen, Ihr würdet nicht gehängt werden!«
Martin Fleming brachte kein Wort heraus. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Auf seinem Weg in den Tod, mit dem er sich bereits abgefunden hatte, war seine Joan, seine allerliebste, reine Joan, in dem abscheulichen Gewand einer Hure aufgetaucht. Er konnte es einfach nicht fassen, auch wenn er sich noch an ihre Botschaft erinnerte: Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint. Aber wie war dies denn möglich? »Vertraue ihr«, hatte ihr Bruder ihm gesagt. Aber sie wirkte so schuldig, so verwirrt. Und obwohl sie ihn so verzweifelt anstarrte und offenbar etwas sagen wollte, war er sich sicher, daß er die schreckliche Wahrheit auch ohne Worte verstand. Sie war eine Hure. Vielleicht hatte sie es für ihn getan, aber das änderte nichts an der Tatsache. Angesichts seines bevorstehenden Todes für ein Verbrechen, das er nicht einmal begangen hatte, war ihm von Gott, dessen Grausamkeit er nicht verstehen konnte, dieser schlimmste aller Schrecken gesandt worden. Das eine Mädchen, dem er zu vertrauen gewagt hatte, war genauso wie alle anderen, ja, noch schlimmer.
»Nein, ich will sie nicht!« sagte er.
»Nein!« schrie Joan. »Du verstehst es nicht!« Aber der Schinderkarren hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Sie wollte ihm hinterherlaufen, doch starke Arme hielten sie zurück. »Laßt mich los!« schrie sie. Sie drehte den Kopf und blickte in die strengen Gesichter ihres Vaters und ihrer zwei Brüder. »Es ist vorbei«, sagten sie. Da fiel sie in Ohnmacht.
William Bull spornte sein Pferd zur Eile an. Er war nicht gerade erfreut darüber, daß Silversleeves ihn in aller Öffentlichkeit bloßgestellt hatte, auch wenn er dem Mädchen keine Schuld daran gab. Was genau geschehen war, verstand er nicht. Hatte der Münzbeamte sie tatsächlich ihrer Jungfräulichkeit beraubt? Wenn ja, dann nur mit Gewalt. Irgend etwas war faul an dieser Sache, das spürte er. Aber eines wußte er: Er hatte ihr sein Wort gegeben, ihr zu helfen. Und dies würde er nun versuchen, auch wenn jetzt nur noch eine äußerst geringe Chance bestand. »Wir können ihn als letzten hängen«, hatte der Gerichtsbeamte ihm gesagt. »Ich gebe Euch eine Stunde.«
Bull wollte versuchen, eine königliche Begnadigung zu erhalten, und zwar vom Kronverwalter. Und dieser war im Parlament.
Bei Bulls Ankunft drängten sich die Leute bereits im Westminsterpalast, Magnate und geringere Barone in kostbaren Gewändern, Ritter und aufrechte Volksvertreter wie er selbst in schweren, pelzgesäumten Umhängen. »Ich muß den Kronverwalter finden«, rief er und drängelte sich hinein. »Weiß jemand, wo er ist?«
Mehrere Minuten arbeitete er sich in dem Gewühl vor, bis jemand ihm weiterhalf und auf einen Ort am anderen Ende des Palastes deutete, wo ein kleines, mit rotem Tuch bedecktes Podium aufgebaut war. Dort sah Bull den Kronverwalter mit dem König sprechen.
König Eduard I. hörte sich unbewegt an, was der große, aufgeregte Kaufmann dem Kronverwalter zu sagen hatte und was ihm so wichtig war, daß er es wagte, die Unterhaltung mit dem Monarchen zu stören. Ein mögliches Fehlurteil. Eine Begnadigung, um die nun gebeten wurde. Solche Dinge passierten immer wieder. Der Bursche, schon unter dem Galgen stehend, ein armer Kerl, kein Verwandter dieses gediegenen Londoner Kaufmanns, der bereit war, für ihn einzutreten. Höchst ungewöhnlich.
»Nun«, fiel König Eduard ein, »gewähren wir Gnade oder nicht?«
»Wir könnten sie gewähren, Sire«, sagte der Kronverwalter zögernd. »Aber der Mann, der beraubt worden ist, ist ein Lombarde.«
»Ein Lombarde?« König Eduards Augen begannen sich zu verdüstern. »Keine Begnadigung. Ich will nicht, daß meine fremden Kaufleute belästigt werden.« Und damit war Bull entlassen.
Mit dem Gefühl, versagt zu haben, und einem tiefen Mitleid mit dem Mädchen und seinem unglücklichen Verlobten ritt Bull langsam in die Stadt zurück. Er haßte es aufzugeben, aber er wußte nicht, was er noch tun sollte. In Aldwych stieß er auf eine Gruppe von Reitern. An dem Ort, wo früher einmal die Halle seiner Vorfahren stand, befanden sich nun einige sehr schöne, neue Gebäude. Unter dem vorigen König waren sie dem Onkel des Königs, dem italienischen Grafen von Savoyen, übergeben worden, und so hieß diese aristokratische Residenz jetzt Savoy-Palast. Vor dem Savoy-Palast waren die Reiter stehengeblieben, um ein paar Bekannte zu begrüßen. Es handelte sich um eine Gruppe von Londoner Aldermen, die wohl auf ihrem Weg zum Parlament waren, wie Bull gleich sah – eben die Kerle, die ihn und seine Freunde verdrängt hatten. »Wenn einer dieser verdammten Burschen den Kronverwalter um eine Begnadigung ersucht hätte, hätte er wahrscheinlich mehr Glück gehabt«, murmelte Bull grimmig.
Eben wollte er sein Pferd wenden, um ihnen aus dem Weg zu gehen, als er in ihrer Mitte den verhaßten Barnikel entdeckte, den Mann, der den Monarchen vielleicht noch umstimmen konnte. Leise fluchte er vor sich hin. Das würde weh tun. Aber schließlich ging es um ein Menschenleben, tröstete er sich und ritt zu dem Fischhändler hin.
»Noch jemand, der sich für diesen Jungen einsetzt?« Der König starrte Barnikel erstaunt an. »Wie kommt es denn, daß dieser Junge solche Freunde hat?«
Aber Barnikel blieb standhaft. Zwar lag ihm nicht viel an Fleming, aber er wußte, was es den Patrizier Bull gekostet hatte, ihn um etwas zu bitten. Und wenn er nun erfolgreich war und damit einen weiteren Triumph über die Bulls feiern konnte, war es die Mühe schon wert.
Der Monarch musterte Barnikel mit halb geschlossenen Augen. »Ihr wißt, daß auch Könige Gefallen nicht umsonst gewähren?«
Barnikel nickte. »Ja, das weiß ich, Sire.«
König Eduard lächelte. »Wir haben heute im Parlament noch viel zu tun«, sagte er. »Alderman Barnikel, ich verlasse mich auf Euch!«
Der Fischhändler lächelte. »Jawohl, Sire.«
Der König gab Barnikel einen seiner Beamten mit und empfahl ihnen, sich zu beeilen.
Und so sprengten eine Viertelstunde später William Bull, Alderman Barnikel und ein königlicher Beamter zu der Hinrichtungsstätte. Ein höchst erstaunter Martin Fleming, der mit der Schlinge schon um den Hals unter der Ulme stand, vernahm den lauten Ruf: »Er ist vom König begnadigt worden!«
Wenige Tage darauf fand in St. Mary-Overy in Southwark die Hochzeit von Martin und Joan Fleming statt. Inzwischen war Martin zwar wieder überzeugt von der Reinheit seiner Braut, doch erst nach einem langen Gespräch mit Bull hatte er sein Entsetzen über Joans Tun überwinden können. Doch weder seine noch ihre Familie hatten diesen Schlag verwunden; sie erschienen nicht zur Hochzeit. Also stand Alderman Barnikel neben Martin, und William Bull legte die Hand der Braut in seine; die beiden Dogget-Schwestern waren die Brautjungfern.
Margery und Isobel Dogget verließen London am nächsten Tag, sie wollten nach Canterbury pilgern. Auf ihrer Reise benutzte Margery fleißig die Salbe, die der Doktor ihr gegeben hatte, und stellte schließlich überrascht fest, daß sie tatsächlich zu wirken schien.
Das Parlament, das 1295 zusammenkam und aufgrund seiner breiten Zusammensetzung als »Model Parliament« bezeichnet wurde, brauchte bis Weihnachten, um seine Geschäfte erfolgreich zu beenden. Die Barone und Ritter gestanden dem König eine Steuer über den elften Teil ihrer beweglichen Güter zu, die Kirche den zehnten, und die Volksvertreter, die zweifellos von Alderman Barnikels leidenschaftlicher und loyaler Rede dazu veranlaßt wurden, einen großzügigen siebten Teil.
Barnikel wäre sicher überrascht gewesen, wenn er erfahren hätte, daß Isobel Dogget an Weihnachten zu der Erkenntnis gelangte, daß er Vater werden würde. »Ich bin schwanger, und ich bin mir sicher, daß er es war«, erklärte sie ihrer Schwester.
Kurz nach Weihnachten begann sich in Dionysius Silversleeves' Geschlechtsteilen ein Brennen bemerkbar zu machen. Er hatte mit Margery, nicht mit Isobel geschlafen.