DER BÜRGERMEISTER

1189

IM SOMMER 1189 war König Heinrich II. von England gestorben, und da der von ihm gekrönte Erbe schon in den Tod vorausgegangen war, folgte sein zweiter Sohn Richard auf den Thron.
Es begann eine Zeit, die in den Bereich der Legenden eingegangen ist. Denn welche historische Legende ist wohl bekannter als die von Robin Hood und dem geldgierigen Sheriff von Nottingham, vom guten König Richard, der auf einem Kreuzzug außer Landes weilte, und seinem bösen Bruder Johann? Aus tatsächlichen Ereignissen ist ein nettes Märchen entstanden. Doch was sich wirklich in diesen Jahren ereignete, ist noch interessanter als das Märchen. Es ereignete sich hauptsächlich in London.
Neuigkeiten verbreiteten sich rasch, wo immer er sich aufhielt. Eines Morgens im August hatte sich eine kleine Menge vor dem schönen neuen Tor versammelt, um der Ankunft des Königs beizuwohnen. Niemand war so aufgeregt wie der Junge, der ganz vorne stand.
David Bull sah fast genauso aus, wie sein Vater Sampson mit Dreizehn ausgesehen hatte: hellhaarig, mit einem breiten, rosigen Gesicht und klaren blauen Augen, die nun vor Aufregung funkelten.
Sie standen vor der Eingangspforte zum Tempel. Von allen kirchlichen Gebäuden, die in der ganzen Stadt entstanden, war keines so stattlich wie die der beiden geistlichen Ritterorden. Diese militärisch-religiösen Organisationen hatten sich zum Schutz derjenigen verpflichtet, die in den Heiligen Krieg zogen. Nördlich von Smithfield hatten sich die Ritter des Heiligen Johannes angesiedelt, die sich um die Krankenhäuser kümmerten; hier, etwa auf der Hälfte des Weges, der von St. Bride's Richtung Westen nach Aldwych führte, lag das Gelände des mächtigen Templerordens, der für große Mengen Geld und Nachschub sorgte. Die erst vor kurzem errichtete massive Steinkirche erkannte man sofort aufgrund ihrer Form – wie alle Kirchen dieses Ordens war sie nicht rechteckig, sondern rund. Aus dieser Kirche würde nun gleich der größte Held der Christenheit heraustreten: König Richard Löwenherz.
Ein Krieger war zu allen Zeiten ein Held. In den letzten Jahrzehnten hatte sich in der Welt der Ritter jedoch einiges verändert. Die Kreuzzüge gaben dem Ritter eine religiöse Berufung. Der neue Zeitvertreib, der auf dem Festland entstanden war, die Ritterturniere, brachte zusätzlichen Prunk, und aus den Höfen in der Provence und aus Aquitanien kommend entstand eine Vorliebe für Balladen und Geschichten über die höfische Liebe. Man pflegte die höfischen Manieren, die bislang in der nördlichen Welt unbekannt waren. Der vollkommene Ritter war ein Kämpfer, ein Pilger und ein Minnesänger. Er betete zur Heiligen Jungfrau, doch sein heiliger Gral war die edle Dame in ihrem Gemach. Er kämpfte auf den Turnieren, doch er sang auch Balladen. Er war religiös, galant, erotisch. Das Zeitalter der Ritterlichkeit dämmerte heran und kam in den Geschichten des legendären König Artus und der Ritter seiner Tafelrunde, die nun zum erstenmal aus dem Lateinischen und Französischen ins Englische übersetzt wurden, zum vollsten Ausdruck. Richard Löwenherz war der Held dieses neuen Zeitalters.
Er war auf dem kultivierten Hof seiner Mutter in Aquitanien aufgewachsen und konnte Gedichte und Balladen schreiben. Er liebte die Turniere und war ein furchterregender Krieger, Belagerungsexperte und Burgenbauer. Selbst diejenigen, die ihm sehr nahestanden, die wußten, daß er auch eitel und grausam war, mußten zugeben, daß er neben seiner Gabe des Herrschens auch über unvergleichlichen Stil und Charme verfügte. Nun hatte er die Bitten der Templer und anderer erhört, die sich tapfer gegen die Sarazenen im Heiligen Land behaupteten, und wollte sich auf das geheiligteste aller ritterlichen Abenteuer, den Kreuzzug, begeben.
Der Kreuzzug sollte sogar die alte Eifersucht zwischen dem König von Frankreich und den Plantagenets beschwichtigen. Der König von Frankreich und Richard sollten gemeinsam – wie Brüder – in den Kampf ziehen. Und die Expedition des Königs hatte auch etwas Mystisches; angeblich nahm er das uralte Schwert König Artus', das magische Excalibur, mit auf seine Reise.
Der alte König hatte in seinen letzten Jahren nur wenig Freude gehabt. Die Empörung über Beckets Tod war immer heftiger geworden, bis schließlich Heinrich öffentlich am Grab Thomas Beckets in Canterbury Buße tat. Becket war zum Heiligen ausgerufen worden. Dann war Heinrichs geliebte Mätresse, die holde Rosamunde, gestorben. Seine Frau und die Kinder hatten sich gegen ihn gewandt; zwei seiner Söhne einschließlich seines geplanten Nachfolgers waren gestorben. Doch nun war der heldenhafte Richard zu seiner Krönung nach England gekommen.
Ganz London nahm teil an diesem aufregenden Ereignis. David sah auf der Themse eine Flotte von seetüchtigen Schiffen, die eine Gruppe abenteuerlustiger Londoner – keine Adlige, sondern Söhne von Kaufmannsfamilien wie seiner eigenen – auf den Kreuzzug des Königs mitnehmen sollte.
Nun öffneten sich die Tore der Kirche. Jubel hob an, als eine große, ansehnliche Gestalt in einem blaugoldenen Umhang, begleitet von sechs Rittern, in das Sonnenlicht hinaustrat. Mit festem Schritt ging er zu seinem Pferd, schwang sich behende in den Sattel und ritt auf das Stadttor zu. Auf seinem Weg ließ Richard Löwenherz noch einmal den Blick über die kleine Menge schweifen. Er sah den Jungen, blickte ihm direkt in die Augen und lächelte. Er wußte genau, daß er durch diese simple Geste den Jungen unwiderruflich gewonnen hatte. Dann gab er seinem Pferd die Sporen und ritt nach Westminster davon.
David Bull blickte ihm nach und murmelte: »Ich werde mit ihm gehen. Ich muß auf den Kreuzzug.« Dann dachte er an den schrecklichen Wutausbruch, den dieses Vorhaben bei seinem Vater auslösen würde; doch sein Onkel Michael würde ihm schon helfen. Er würde mit dem Vater reden.
An eben diesem Tag führte ein langnasiger Mann auf einem Schecken eine elegant gekleidete Dame auf ihrem Zelter und zwei Packpferde über die Brücke in die Stadt hinein. Der Mann war Pentecost Silversleeves. Die Dame war Ida, die Witwe eines Ritters, und auch wenn sie sich tapfer bemüht hatte, es nicht zu tun, hatte sie doch eben zu weinen begonnen; sie sollte nämlich verkauft werden.
Während sie auf die vor ihr liegende Stadt blickte, kam es Ida vor, als habe sich die ganze Welt in Stein verwandelt. Zu ihrer Linken sah sie die dicken Mauern der Festung am Ludgate, zu ihrer Rechten die graue Masse des Towers. Über den beiden niedrigen Hügeln von London, die mit Häusern übersät waren, thronten die hohen, schmalen Turme von St. Paul's. Selbst am Wasser neben ihr hatte man begonnen, massive Fundamente für eine neue Brücke zu bauen, die sicherlich ebenfalls aus Stein sein würde. Und dann erklangen die Kirchenglocken, feierlich, gedämpft, als ob sie ebenfalls aus Stein wären.
Ida war dreiunddreißig. Unter ihrer steifen Kopfbedeckung war ihr dunkles Haar straff zurückgekämmt und mit einem Tuch bedeckt. Hinter dem Schleier verbarg sich ein ovales, hübsches Gesicht. Das Gewand mit den breiten Ärmeln verhüllte einen schlanken, blassen Körper mit kleinen Brüsten und langen Beinen. Sie war die Tochter eines Ritters und die Witwe eines Ritters. Sie war eine Dame, doch darum schien sich niemand weiter zu kümmern, nicht einmal König Richard. Denn auf Befehl des Königs führte sie dieser langnasige Kleriker davon, um sie mit einem ganz gewöhnlichen Kaufmann zu verheiraten, von dem sie nichts weiter wußte, als daß er Sampson Bull hieß.
»Könnt Ihr mir denn gar nichts über ihn sagen?« hatte sie Silversleeves noch am Vortag gefragt.
»Es heißt, daß er sehr launisch ist.« Mehr erfuhr sie nicht.
Dank der hervorragenden Verwaltung seines Vaters war König Richard Löwenherz einer der reichsten Herrscher der christlichen Welt; auf alle Fälle um einiges reicher als sein Rivale, der König von Frankreich. Doch so ein Kreuzzug war teuer. Als der Papst vor zwei Jahren zum dritten Kreuzzug aufgerufen hatte, um Jerusalem von dem islamischen Herrscher Saladin zu befreien, hatte König Heinrich eine Sondersteuer erhoben, den Saladinzehnt. Doch selbst dieser reichte nicht aus, und so hatte König Richard schon vor seiner Ankunft sein Schatzamt informiert, daß es sämtliche verfügbaren finanziellen Mittel bereitstellen solle. Richard hatte bislang kaum einen Fuß nach England gesetzt. »England kommt mir feucht und langweilig vor«, hatte er seinen Vertrauten gestanden. »Doch wir lieben es, weil es uns viel Geld bringt.«
Im Sommer 1189 war deshalb einiges zu verkaufen: Sheriffämter, Handelsprivilegien, Steuerausnahmen. Unter den zu verkaufenden Gütern des Königs befanden sich auch zahllose Erbinnen und Witwen, die aufgrund des Feudalrechts seinem Schutz unterstanden; mit denen er tun konnte, was ihm beliebte. Dies bedeutete, daß er die aristokratischen Damen an die meistbietenden Käufer veräußern konnte, wenn er dringend Bargeld brauchte.
Ida war die siebte Witwe, die Silversleeves in weniger als sechs Wochen aufgestöbert und verkauft hatte. Er war stolz auf seine Transaktion. Ida war arm. Wenn Pentecost nicht gewußt hätte, daß der reiche Witwer Bull nach einer adligen Ehefrau Ausschau hielt, hätte man Ida wohl nur schwer verkaufen können. Als Pentecost nun die Tränen auf ihrem Gesicht sah, bemerkte er kühl: »Macht Euch nichts draus, Madame. Wenigstens werdet Ihr für einen guten Zweck verkauft.«
Als sie in den Cheap einbogen und an den buntbemalten Holzbuden vorbeiritten, bekam Ida den Schreck ihres Lebens. Kurz bevor sie zu der kleinen normannischen Kirche St. Maryle-Bow gelangten, deutete Silversleeves auf eine Gruppe von Kaufleuten vor der Kirchentür: »Das dort ist er, der Mann in Rot.« Als Ida das grobe, rote Gesicht und den stämmigen Körper ihres zukünftigen Mannes erblickte, fiel sie in Ohnmacht.
Pentecost sah untätig zu, während die Herumstehenden sich bemühten, Ida wieder ins Leben zurückzurufen. Seine Gedanken schweiften von der glücklosen jungen Witwe zu wichtigeren Belangen.
Oberflächlich betrachtet hatte er zum erstenmal in zwanzig Jahren gute Aussichten. Nicht nur, daß sein alter Feind, König Heinrich, tot war, nein, er hatte sogar noch einen Patron gefunden.
William Longchamp war jemand, der es aus eigener Kraft weit gebracht hatte. Er war zäh, tüchtig und ehrgeizig und hatte sich im Dienst der Plantagenets ein beträchtliches Vermögen erworben. Als er Silversleeves kennenlernte, überlegte er sich gerade seinen nächsten Schritt, und dazu brauchte er jemanden, der vollkommen von seinem guten Willen abhängig war.
Pentecost hatte nie das Vertrauen seiner Vorgesetzten im Schatzamt gewinnen können, so sehr er sich auch darum bemüht hatte, und war deshalb höchst erfreut, als Longchamp sich plötzlich seiner annahm. »Wenn ich ihm gute Dienste leiste«, erklärte er seiner Frau, »dann macht er uns reich.« Dabei war er keineswegs arm; er hatte von seinem Vater, der vor einigen Jahren gestorben war, ein großes Vermögen geerbt. Aber er hatte auch eine ehrgeizige Frau und drei Kinder, die ihn bereits eifrig befragten, mit welcher Erbschaft sie wohl zu rechnen hätten, obwohl der älteste erst sechzehn war. »Longchamp wird Kanzler von England werden«, berichtete Silversleeves seiner Familie. »Er wird dem König zwar eine stattliche Summe für dieses Amt zahlen müssen, aber das Geschäft ist nahezu besiegelt.« Seine Frau küßte ihn, und die Kinder klatschten begeistert in die Hände.
Es gab nur ein Problem. Richard Löwenherz würde in weniger als zehn Tagen gekrönt werden. Bald darauf würde er sein Königreich verlassen, um in seinen Kreuzzug zu ziehen. Aber würde er je wieder zurückkehren? Viele zweifelten daran. Auf so einem Kreuzzug ließen viele Menschen ihr Leben; einige starben im Kampf, doch die Mehrheit fiel auf der langen, gefährlichen Reise nach Osten Krankheiten oder Unfällen zum Opfer. Wenn der König überlebte, was würde er bei seiner Rückkehr in seinem Reich vorfinden?
Die Lage im Reich der Plantagenets war kompliziert. Es hatte drei Anwärter für das riesige Erbe König Heinrichs gegeben: Richard, seinen Bruder Johann und ihren Neffen Arthur. Richard hatte das gesamte Reich geerbt, Arthur den alten Familienbesitz der Bretagne. Johann hatte nur ein paar reiche Ländereien erhalten, darunter auch einige im Westen Englands, und mußte dafür versprechen, sich während der Abwesenheit seines Bruders dem Inselkönigreich fernzuhalten. Noch schlimmer war es jedoch für Johann, daß das gesamte Reich nicht an ihn, sondern an den jungen Arthur fallen würde, falls Richard starb, ohne einen Sohn zu hinterlassen.
Es war gefährlich, daran bestand kein Zweifel. Ein leeres Königreich, ein unzufriedener Bruder. Silversleeves war die Situation absolut nicht geheuer. Aber eines war sicher: Was auch immer an Unheil bevorstand, er würde nicht auf der falschen Seite stehen, dafür würde er schon sorgen.
Am frühen Nachmittag betrat Schwester Mabel die St.-Paul'sKathedrale, um hier wie üblich zu beichten. Und heute hatte sie sogar tatsächlich etwas zu beichten.
Seit ihrer Vision vor einigen Jahren wußte Mabel, daß der Teufel gegen den armen Bruder Michael und vielleicht auch gegen sie etwas im Schilde führte. Doch nun war die Schlange der Versuchung so schnell gekommen, daß sie sie völlig unvorbereitet erwischt hatte.
Es war an einem Samstagmorgen gewesen, dem Tag, an dem in Smithfield der Pferdemarkt stattfand. Sie und Bruder Michael waren herumspaziert und hatten die Pferde bewundert. Eben wollten sie sich auf ihren Rückweg zum Krankenhaus machen, als jemand einen Warnschrei ausstieß. Sie sahen einen riesigen, kastanienbraunen Hengst durch die auseinanderlaufende Menge geradewegs auf sie zu galoppieren. Bruder Michael warf sich, ohne zu zögern, in den Weg des Pferdes und griff nach seinem Zaumzeug. Zwei Männer kamen ihm zur Hilfe. Weitere Schreie ertönten, dann gab es ein Geräusch, als würde etwas zerreißen. Kurz darauf führte Bruder Michael, dessen Soutane ziemlich zerfetzt war, den Hengst mit einem stolzen Grinsen zurück zu seinem Besitzer.
Da wurde Mabel klar, daß sie noch nie seinen Körper gesehen hatte. In ihrer Vorstellung war er immer groß und dünn gewesen, doch hier zeigte sich ihr ein athletischer, gutgebauter Mann, der sich die Fetzen seiner Soutane vom Leibe riß.
Zum erstenmal in ihrem Leben verspürte Schwester Mabel eine körperliche Begierde. Sie wußte, daß der Teufel ihr dieses Gefühl geschickt hatte. Sie betete Tag und Nacht, doch da sie tagtäglich mit Bruder Michael zusammentraf, wurde sie sich seiner Anwesenheit immer bewußter, bis sie schließlich eine allumfassende Liebe für ihn empfand, die so stark war, daß ihr der Atem stockte, sobald er auch nur den Raum betrat. Nach drei Wochen fühlte sie sich diesem alles durchdringenden Gefühl so ausgeliefert, daß sie sich zur Beichte aufmachte.
Unter einem der dunklen, hochaufragenden Säulenbögen von St. Paul's fragte sie ein ziemlich überraschter junger Priester: »Ist denn schon etwas passiert?«
»Nein, Vater«, erwiderte sie traurig.
»Dann bete zu unserer gesegneten Mutter, der Jungfrau Maria«, sagte er, »und wisse in deinem Herzen, daß du nicht sündigen wirst.«
Doch Mabel hatte bei all ihrer Frömmigkeit einen Sinn für das Praktische, wie er den Menschen zu eigen ist, die Kranke behandeln. »Das wird mir nicht viel nützen«, sagte sie, »denn wahrscheinlich werde ich nicht umhinkönnen, es dennoch zu tun.«
Ida war schier untröstlich über ihr Schicksal, und nicht nur deshalb, weil Bull dick, ungehobelt und ihr völlig fremd war, sondern vor allem deshalb, weil er aus der falschen Schicht kam. Das war das allerschlimmste für sie, eine kaum erträgliche Demütigung. Doch da sie keine mächtigen Freunde hatte, war nichts mehr daran zu ändern.
Die Trauung fand im engsten Familienkreis in St. Mary-leBow statt. Ida war froh, daß sie gleich darauf wieder in Bulls Haus zurückkehren konnte.
Auf Sampsons Gesicht lag nur eine deutlich erkennbare Regung: Zufriedenheit. Dadurch, daß er Bocton wieder in seine Hände bekommen hatte, hatte sich für Bull ein lebenslanger Traum erfüllt, und seine Ehe mit Ida war die Krönung dieses Traumes. Er wollte sich nun wieder einen Weg in die normannische Oberschicht bahnen, aus der er verdrängt worden war. Er war nicht der einzige. Mehrere andere Londoner Kaufleute hatten solche Verbindungen geschlossen. »Und eines Tages«, erklärte er dem jungen David, »kann sie uns helfen, für dich ein Edelfräulein zu finden.« Vielleicht würden die Bulls schon in der nächsten Generation mehr Land besitzen als je zuvor. Kein Wunder, daß Bull höchst zufrieden war.
Bulls Mutter wirkte auf Ida wie eine freundliche, fromme alte Frau, aber offensichtlich hatte sie nicht die Gewohnheit, viel zu reden. Der Junge, David, der sie immer so schüchtern anstarrte, kam ihr erfreulicher vor. Sie erkannte gleich, daß er ein tapferer, freimütiger kleiner Kerl war, der sicher sehr einsam war. Als sie ihm sanft zu verstehen gab, daß es ihr leid tat, daß er seine Mutter verloren hatte, und daß sie hoffte, ihre Stelle einnehmen zu können, sah sie, wie seine Augen feucht wurden, was sie sehr bewegte.
Die eigentliche Überraschung in der Familie war Bruder Michael. Wie erstaunlich, daß dieser grobschlächtige Kaufmann so einen Bruder hatte! Als sie in Michaels freundliche, intelligente Augen blickte, mochte sie ihn auf der Stelle. Sie erkannte seine Reinheit. Da sie Männer der Kirche schon immer bewundert hatte, bat sie ihn, sie doch recht bald wieder zu besuchen, woraufhin der Mönch errötete.
Doch die ehelichen Pflichten blieben ihr nicht erspart, und hier ging Sampson Bull sehr schlau vor. Er wußte sehr wohl, wie widerwillig Ida diese Ehe eingegangen war, betrachtete dies jedoch als Herausforderung. Als sie in ihrem Schlafzimmer allein waren, ließ er sich viel Zeit. In der ersten Nacht ließ Ida den Kaufmann schweigend tun, was er tun mußte, denn sie war sich ihrer neuen Lage durchaus bewußt und wußte auch, daß nebenan der Junge schlief. In der zweiten Nacht biß sie sich schweißgebadet auf die Lippen. In der dritten stieß sie laute Lustschreie aus. Nachdem sie eingeschlafen war, betrachtete der Kaufmann ihren blassen Körper mit grimmigem Vergnügen und murmelte leise: »Jetzt, Lady, ist Eure Schande komplett!«
Am Morgen des dritten September 1189 wurde König Richard I. von England in der Westminsterabtei gekrönt, wenn auch unter einem ungewöhnlichen Umstand: Weil der galante Kreuzfahrerkönig plötzlich Angst hatte, die heiligen Riten könnten durch Hexerei verdorben werden, hatte er am Vortag befohlen, daß zur Krönung keine Juden und keine Frauen zugelassen werden durften.
Vor der Türschwelle seines Bruders blieb Michael zögernd stehen. Warum nur hatte er versprochen, das Thema Kreuzzug anzuschneiden? Er wußte doch, daß es seinen Bruder nur wütend machen würde.
Die Beziehung zwischen den Brüdern hatte sich in den letzten Jahren gebessert. Auch wenn Sampson nach wie vor respektlos war, schien er sich doch mit dem Leben seines Bruders abgefunden zu haben. Eines Tages hatte die Mutter Michael zu sich rufen lassen und eine beträchtliche Geldsumme in seine Hände gelegt. »Ich möchte, daß du es für die Familie verwendest, jedoch nur für religiöse Zwecke«, hatte sie gesagt. »Behalte das Geld, bis du weißt, was du damit anfangen kannst. Gott wird dir sicher einen Weg zeigen.« Michael hatte erwartet, daß sein Bruder Einspruch erheben würde, doch der Alderman hatte nur gelacht, als er davon erfuhr. Als nun vor einem Jahr Bulls Frau gestorben war und Bruder Michael fast täglich vorbeigekommen war, um ihn und David aufzuheitern, hatte Bull eines Tages mit einem entschuldigenden Blick bemerkt: »Ich muß schon sagen, Bruder, du benimmst dich wirklich anständig!« Nein, eigentlich wollte er jetzt wirklich keinen Streit anfangen.
Aber da war noch etwas anderes.
Es waren nun fast zwanzig Jahre seit der groben Herausforderung vergangen, vor die sein Bruder ihn gestellt hatte. »Ich glaube nicht, daß du deine blöden Gelübde einhalten kannst!« Aber er hatte es getan. Sein Armutsgelübde war ohnehin leicht einzuhalten gewesen; in St. Bartholomew's gab es keinen Reichtum. Auch der Gehorsam war ihm nicht schwergefallen. Mit der Keuschheit war es schon schwieriger. Vor allem in jungen Jahren war er immer wieder einmal von Frauen in Versuchung geführt worden, aber mit der Zeit war ihm das keusche Leben zu einer angenehmen Gewohnheit geworden. Seine Arbeit machte ihm viel Freude. Als er die Vierzig überschritten hatte, glaubte er, daß er endgültig gefeit sei. Warum also zögerte er nun an der Schwelle des Hauses seines Bruders? Wollte sein Instinkt ihn vor drohender Gefahr warnen?
Nach der Krönung war Sampson Bull noch zum Gottesdienst in die Westminsterabtei gegangen; danach feierte König Richard mit seinem Hof in der Westminsterhalle, und Bull ging zu einem bescheideneren Mahl, zu dem er auch seinen Bruder eingeladen hatte, nach Hause.
Es herrschte eine recht angenehme Stimmung. Zwar bemerkte Bruder Michael, daß sein Neffe ihn immer wieder einmal ungeduldig anstarrte, aber er hatte keine Eile. Er saß zwischen seiner Mutter und Ida und freute sich, die alte Frau unterhalten zu dürfen, wenn auch sein Blick immer wieder unwillkürlich zu Ida hinüberwanderte. Ob sie mit seinem grobschlächtigen Bruder glücklich werden würde? Er konnte nicht recht erkennen, was in ihr vorging. Erst gegen Ende des Mahls brachte er das Gespräch endlich auf den Kreuzzug.
Zu seiner Überraschung wirkte Bull überhaupt nicht verärgert. Das Kreuzzugsfieber hatte seinen Höhepunkt erreicht. Er wußte, daß junge Burschen in Davids Alter oft eine Leidenschaft für alles Religiöse überkam, die jedoch meist wieder verschwand, und wenn der Junge abenteuerlustig war, sollte es ihm recht sein. »Du willst also ins Heilige Land, David?« fragte er nur.
Da bekam David Hilfe von einem unerwarteten Verbündeten. Je besser Ida den Jungen kennenlernte, desto lieber wurde er ihr. Der Gedanke, ihn auf so einem gefährlichen Kreuzzug zu verlieren, erfüllte sie zwar mit großem Schrecken, doch als Tochter eines Ritters verstand sie den Jungen. Erst gestern hatte er ihr sein Geheimnis anvertraut, woraufhin sie erwidert hatte: »Du bist aber noch ziemlich jung!« Diesen Einwand hatte sie sofort bedauert, als sie sah, wie er vor Scham errötete. Nun warf sie also mit ruhiger Stimme ein: »Ich glaube, du solltest ihn gehen lassen.«
Bull runzelte die Stirn und bemerkte dann mit einer Spur von Grausamkeit: »Obwohl du wegen eines Kreuzzuges gegen deinen Willen verkauft worden bist, befürwortest du solche Unterfangen?«
»Es geht doch hier ums Prinzip«, erwiderte sie stolz und schenkte Bruder Michael ein sanftes Lächeln.
Wie wunderschön sie war, dachte dieser, wie edel! Wie kostbar sie hier unter dem Dach dieses Kaufmannshauses wirkte mit ihrem blassen Gesicht und, ihren großen, braunen Augen! Er merkte, daß auch der junge David sie bewundernd anstarrte.
Diese Bewunderung brachte Ida dazu, einen dummen Fehler zu begehen. Mit einer Spur von Verachtung in der Stimme sagte sie, zu ihrem Mann gewandt: »Aber weil es um Prinzipien geht, kannst du es natürlich nicht verstehen.«
Sofort merkte sie, daß sie mit dieser Beleidigung zu weit gegangen war. Bulls Gesicht begann sich zu röten.
»Nein«, erwiderte er dumpf, »das kann ich natürlich nicht.« Die Adern auf seiner Stirn traten hervor. Bruder Michael und David warfen sich ängstliche Blicke zu. Sie begann zu zittern, denn ihr wurde klar, daß sie nun gleich einen der berüchtigten Wutausbrüche des Kaufmanns erleben würde. Doch in eben diesem Moment stürmte ein Diener in die Halle und schrie: »Herr! In der Stadt gibt es Krawalle!«
Männer rannten durch die Straßen. Bruder Michael eilte die Ironmonger Lane hinauf, von deren Ende er laute Schreie hörte. Eines der strohgedeckten Holzhäuser stand in Flammen. Er stolperte über einen toten Mann, der mitten auf der Straße lag. Dann kam er zu der Menschenmenge – etwa hundert Leute, Männer, Frauen und Kinder, hatten sich hier versammelt. Manche von ihnen waren Gesindel, aber er sah auch zwei achtbare Kaufleute, die er kannte, Lehrlinge, die Frau eines Schneiders und einige junge Kleriker. Sie brachen die Tür eines Hauses ein. Eine rauhe Stimme brüllte: »Laßt ihn nicht entkommen! Auf zur Rückseite!« Als er einen der Kaufleute fragte, was denn hier los sei, erwiderte der Mann: »Sie haben den König in Westminster angegriffen. Aber wir werden sie schon zu fassen kriegen.« Es ging um die Juden.
Der Auslöser für den Londoner Aufstand 1189 war ein dummes Mißverständnis. Während Richard und seine Ritter tafelten, waren die Führer der jüdischen Gemeinde in den besten Absichten zum Westminsterpalast gekommen, um dem neuen König ihre Aufwartung zu machen. Da Frauen und Juden an der Krönung nicht hatten teilnehmen dürfen, dachten die Wachposten an den Toren irrtümlicherweise, dies solle ein Angriff werden, und begannen laut zu schreien. Einige heißblütige Höflinge eilten mit gezückten Schwertern herbei und schlugen zu. Mehrere Juden gingen zu Boden. Die Unruhe verbreitete sich, und noch zur selben Stunde versammelten sich die Leute in der Stadt. Im herrschenden Kreuzzugswahn fand sich schnell ein Vorwand für einen Krawall.
»Wozu ein Kreuzzug, wenn wir diese fremden Ungläubigen mitten in unserer Stadt schmarotzen lassen?« rief der Kaufmann. »Der Kreuzzug findet hier statt, Leute! Tod den Ungläubigen!«
In diesem Moment trat der Jude aus seinem Haus, ein älterer Mann mit blaßblauen Augen, einem schmalen Gesicht und einem langen, grauen Bart.
Als er die aufgebrachte Menge vor seiner Tür erblickte, schüttelte er mißbilligend den Kopf und murmelte ein Gebet. Da erkannte Bruder Michael den alten Mann. Es war Abraham, der Jude, der seinem Bruder das Anwesen in Bocton verkauft hatte.
Bruder Michael stürzte nach vorn. Als die Menschenmenge sah, daß er ein Mönch war, wich sie zur Seite, und gleich darauf stand er neben dem alten Mann und streckte einen Arm hoch.
»Nun, Bruder«, schrie eine Stimme, »wirst du ihn töten, oder sollen wir es tun?«
»Niemand wird ihn töten«, rief Bruder Michael. »Geht heim!«
»Warum nicht?« ertönte es aus der Menge. »Ist es nicht rechtens, einen Ungläubigen zu töten?«
Was sollte er dazu sagen? Natürlich verbot es ihm schon seine Menschlichkeit, einen Menschen zu töten, aber dies würde den Alten jetzt nicht retten. Schließlich war die gesamte Christenheit aufgerufen, die Ungläubigen, die Moslems, die Juden, die Abtrünnigen, zu bekämpfen. Hilflos blickte er auf den alten Mann, der leise murmelte: »Wir warten, Bruder.«
Dann kam ihm der rettende Gedanke. Der große Mönch Bernhard von Clairvaux, der unermüdliche Klostergründer, der Mann, der zu den früheren Kreuzzügen aufgerufen hatte und von der gesamten Christenheit als Heiliger verehrt wurde – Bernhard persönlich hatte sich auch zur Judenfrage geäußert: Es steht geschrieben, daß schließlich auch die Juden zum wahren Glauben bekehrt werden. Wenn wir sie jedoch töten, dann können sie nicht mehr bekehrt werden.
»Der gesegnete Bernhard persönlich hat gesagt, daß den Juden kein Leid zugefügt werden darf«, rief Bruder Michael endlich, »denn sie müssen noch bekehrt werden.« Triumphierend lächelte er dem alten Mann zu.
Die Menge zögerte. Die beiden Männer spürten, daß die Stimmung noch immer schwankte. Bruder Michael richtete einen hilfesuchenden Blick gen Himmel, dann tat er etwas, was er noch nie zuvor getan hatte. »Wie dem auch sei«, rief er, »es spielt hier keine Rolle. Ich kenne diesen Mann. Er hat sich bereits bekehren lassen.« Und bevor noch jemand etwas darauf erwidern konnte, nahm er den alten Mann beim Arm, schubste ihn durch die zögernde Menge und marschierte mit ihm die Straße hinunter.
»Du hast gelogen«, bemerkte Abraham trocken.
»Verzeihung.«
Der alte Mann zuckte die Schultern. »Ich bin ein Jude«, sagte er schroff, »ich werde dir nie verzeihen.« Dies war ein bitterer jüdischer Witz, auch wenn Bruder Michael ihn nicht verstand.
Noch waren sie nicht in Sicherheit. »Ich bringe Euch in das Haus meines Bruders«, meinte Bruder Michael.
Aber Bull, der in Begleitung von Pentecost Silversleeves neben St. Mary-le-Bow stand, meinte nur: »Tut mir leid, aber ich will nicht, daß mein Haus in Brand gesteckt wird. Er muß woanders hin.«
Zur Überraschung des Mönchs löste Pentecost Silversleeves das Problem. »Wir bringen ihn zum Tower«, verkündete er. »Die Juden werden vom Burghauptmann beschützt. Kommt mit!« Und er schlug den Weg Richtung Tower ein. Doch als Bruder Michael sich froh über das Mitgefühl des Klerikers äußerte, sagte Silversleeves nur kühl: »Ihr versteht wohl nicht recht – ich beschütze ihn doch nur, weil die Juden zum Eigentum des Königs gehören.«
Nicht alles, was zum jüdischen Eigentum des Königs gehörte, hatte so viel Glück. Es kam zu zahllosen Übergriffen, und der Pöbel plünderte die Häuser der reichen Fremden. Als die Nachrichten vom Aufstand in London sich verbreiteten, kam es in anderen Städten zu ähnlichen Grausamkeiten. Am schlimmsten ging es in York zu, wo die Mitglieder einer großen jüdischen Gemeinde bei lebendigem Leib verbrannten. König Richard war höchst erbost, die Schuldigen wurden schwer bestraft, doch der Londoner Aufstand im September 1189, der erste seiner Art in diesem Land, markierte den Beginn des allmählichen Niedergangs der jüdischen Gemeinde in England.
Wenn Schwester Mabel weiter froh und munter war, so war dies zum Teil auf ein Ereignis am Anfang des Jahres zurückzuführen, das ihrem Leben neuen Sinn verlieh. Als nämlich Simon der Waffenschmied plötzlich starb und eine Witwe und einen kleinen Sohn hinterließ, tröstete sie nicht nur die Mutter, sie kümmerte sich auch um den kleinen Jungen. Da auch ihr Bruder, der Fischhändler, noch kleine Kinder hatte, tauchte sie eines Tages mit dem kleinen Burschen in den Armen bei ihm auf und verkündete: »Hier ist ein Spielgefährte für unsere Kleinen!« Mit seinen mit Schwimmhäuten versehenen Händen und seiner weißen Haarsträhne bekam der kleine Adam bei der Familie Barnikel bald den Spitznamen Entlein, »little duck« oder »ducket«, und rasch wurde er zu Adam Ducket. Kaum ein Tag verging, ohne daß Mabel einen Anlaß fand, bei Adam und seiner Mutter vorbeizuschauen, und die Witwe war froh über ihren Beistand. »Beide Tochter aus Simons erster Ehe sind verheiratet«, erklärte sie Mabel. »Sie kümmern sich überhaupt nicht um uns.«
Auch in anderer Hinsicht hatte die Witwe Glück. Die Waffenschmiede war zwar von einem neuen Meister übernommen worden, doch Simon hatte seiner Witwe das kleine Haus mit den vier Zimmern am Cornhill hinterlassen, und indem sie zwei der Zimmer vermietete und als Näherin arbeitete, schaffte sie es gut, sich durchzubringen. Außerdem gab es noch ein weiteres Erbe, ein kleines Stück Land bei Windsor.
Simons Witwe hatte nie verstanden, warum er an diesen paar Morgen Land festhielt, die kaum einen Ertrag brachten, doch er hatte ihr erklärt, daß schon sein Vater und davor dessen Vater dieses Land besessen hatten. »Meine Familie lebte dort in der Zeit König Alfreds«, pflegte er zu sagen. Jedes Jahr war er die zwanzig Meilen dorthin geritten, um seine Pacht zu bezahlen und mit seinen inzwischen ziemlich weit entfernten Vettern, die noch immer Leibeigene waren, die Bearbeitung des Landes zu regeln. Kurz vor seinem Tod hatte er seiner Frau noch das Versprechen abgefordert, dieses Land nie aufzugeben. »Behalte es für Adam.«
»Was soll ich nun tun?« fragte sie Mabel. »Wie soll ich überhaupt dorthin gelangen, um die notwendigen Vorkehrungen zu treffen?« Da tauchte Mabel eines Morgens mit einem kleinen Pferd und einem Karren auf, die ihrem Bruder gehörten. »Damit kannst du nach Windsor fahren«, sagte sie. Und so machte sich Adams Mutter auf den Weg, um ihr Erbe zu sichern.
Der Ort hatte sich seit der Domesday-Untersuchung kaum verändert. Simons Witwe erkannte die Verwandten ihres Mannes sofort, als sie unterwegs einen Burschen mit einer weißen Haarsträhne traf, wie auch ihr Mann sie gehabt hatte. Es stellte sich heraus, daß er das Oberhaupt der Familie war, und noch am selben Abend bot er ihr eine Lösung für ihr Problem an. »Du brauchst hier nicht jedes Jahr herzukommen«, erklärte er ihr. »Wir werden das Land weiterhin bearbeiten; mit dem Ertrag werden wir die Pacht bei dem Verwalter des Grundherrn begleichen, und das, was dann noch übrigbleibt, wird dir einer von uns nach London bringen.«
Gleich am nächsten Morgen wurde die Sache mit dem Verwalter besprochen, und die Witwe konnte erleichtert ihren Heimweg antreten.
Ida verbrachte einen angenehmen September in dem Haus, in dem sie nun die Herrin war. Es war in den letzten Jahrzehnten vergrößert worden. Bull wickelte seine Geschäfte im Erdgeschoß ab; im ersten Stock gab es einen Aufenthaltsraum und ein Schlafzimmer, im Dachgeschoß schliefen David und die Diener. Zwei Aspekte, die bei den meisten Häusern im damaligen London zu finden waren, verliehen dem Haus sein charakteristisches Aussehen. Zum einen hatte das Obergeschoß eine größere Grundfläche als das Erdgeschoß, so daß es mehrere Fuß in die Straße hineinragte. Bei den – noch sehr wenigen – Häusern, die mehr als ein Obergeschoß hatten, reichte der dritte Stock sogar noch weiter hinaus, wodurch die engen Straßen fast zu Tunnels wurden. Zum anderen waren die herausragenden Flächen bei Bulls Haus von Querbalken gestützt, die aus den großen Ästen von gekappten Eichen bestanden. Diese wurden einfach so belassen, wie sie waren. Manchmal hatte man nicht einmal die Rinde entfernt, und deshalb waren diese Äste zwar immens stark, doch keineswegs gerade. Infolgedessen wirkten diese mit Balken gestützten Häuser schief, so, als würden sie gleich einstürzen. Tatsächlich aber überdauerten sie Jahrhunderte, solange sie nicht abbrannten. Dies war die größte Gefahr. In eben diesem Jahr war eine Bestimmung erlassen worden, daß alle Bürger das Erdgeschoß ihrer Häuser aus Ziegeln oder Steinen errichten und das Stroh auf den Dächern durch Dachziegel ersetzen sollten. Doch Sampson Bull hatte erklärt, daß er sich damit Zeit lassen würde; so ein Umbau kostete viel Geld.
Obwohl Ida daran gewöhnt war, ein großes Anwesen zu leiten, stellte sie fest, daß sie alle Hände voll zu tun hatte, denn ihr Mann erwartete von ihr, daß sie sich auch für seine Geschäfte interessierte. Bald blickte sie mit einem kundigen Auge auf Wollhaufen, Stoffballen und importierte Seide. Die Diener, froh, wieder eine Herrin zu haben, machten ihr keine Schwierigkeiten. Ihre größte Freude war der junge David. Untertags besuchte er die Schule bei St. Paul's, aber abends setzte er sich zu ihr. Sie hörte ihm freundlich zu, und bald weihte er sie in all seine Geheimnisse ein. Sie stellte fest, daß es ihr Spaß machte, dem Jungen eine Mutter zu sein.
Und dann war da auch noch Bruder Michael. Ida beharrte darauf, daß er einmal die Woche eine Mahlzeit bei ihnen einnahm, und insgeheim wünschte sie sich, er würde öfter kommen.
Dieser neue Lebensrhythmus wurde von Bulls plötzlicher Ankündigung unterbrochen, daß sie für ein paar Tage nach Bocton reisen würden. Als sie am Ende eines langen Tages dort ankamen, stellte Ida sofort fest, daß ihr der Ort gefiel. Der Ritter, der dort gelebt hatte, hatte eine bescheidene, steinerne Halle mit einem hübschen Hof und großen, hölzernen Nebengebäuden hinterlassen. Es erinnerte sie an ihr früheres Heim. Als sie am nächsten Morgen, kaum daß die Sonne aufgegangen war, den herrlichen Ausblick auf den Weald von Kent sah, war sie hellauf begeistert. »Bis König Wilhelm kam, war dieser Ort immer im Besitz unserer Familie«, bemerkte Bull. In diesem Moment fühlte sich Ida fast verwandt mit ihm. Dennoch hatte sie gemischte Gefühle. Sie war froh, daß Bull so ein Landgut besaß, doch es erinnerte sie auch schmerzhaft an den Verlust ihres früheren Lebens. Und vielleicht war es dieses Verlustgefühl, das sie bald nach ihrer Rückkehr nach London dazu veranlaßte, den ersten wirklich großen Fehler in ihrer Ehe zu begehen.
Es passierte am Michaelitag. Sie kehrte gerade von einem kleinen Spaziergang zurück, als sie von drinnen laute, verärgerte Stimmen vernahm. Beim Eintreten sah sie, daß dort drei Personen versammelt waren: Sampson Bull, der mit hochrotem Gesicht an dem Eichentisch saß, Bruder Michael und ein bläßlicher, leicht herablassender Pentecost Silversleeves.
»Wenn König Richard, auf diese Weise herrscht, dann kann er zur Hölle fahren!« donnerte der Kaufmann. »Dann wird London einen anderen König bekommen!« Ida erbleichte, dies war Hochverrat.
Der Grund für Sampsons Unmut waren die Steuern. Zwar herrschte immer eine gewisse Spannung zwischen dem Monarchen und der Stadt, doch es gab klar abgesteckte Grenzen. Die Stadt hatte dem König jährlich einen bestimmten Steuersatz zu zahlen. Wenn der König schwach war, konnte die Stadt einen geringeren Betrag aushandeln und ihre eigenen Sheriffs wählen, die die Steuern eintrieben. War der König stark, ging der Satz nach oben, und der König ernannte die Sheriffs. Die jeweiligen Vereinbarungen wurden am Michaelitag verkündet.
»Weißt du, was dieser verfluchte Richard getan hat?« donnerte Bull. »Keine Sheriffs. Er schickt seine Beamten zu uns, wie diesen Menschen da!« Er deutete auf Silversleeves. »Und die sollen dann alles aus uns herausholen, was sie nur kriegen können. Schändlich!«
Seine Worte trafen durchaus zu. Silversleeves hatte gerade eine unglaublich hohe Summe von dem Kaufmann gefordert. Schließlich mußte der Kreuzzug des Königs bezahlt werden.
»Sei vorsichtig, was du über den König sagst!« meinte Ida dennoch mit einem leichten Vorwurf.
»Der König ist ein Dummkopf. Er sollte die Barone Londons nicht derart herausfordern«, antwortete Bull.
Ida wußte, daß die reichen Londoner Bürger sich gerne als Barone bezeichneten, hatte dies jedoch immer für eine Anmaßung gehalten. Doch vom Mann des Königs kam keine heftige Reaktion. Silversleeves wußte es besser. Ein starker König wie Wilhelm der Eroberer oder Heinrich II. konnte in der Stadt die Oberhand behalten, aber in der anarchischen Zeit vor König Heinrich waren die Londoner durchaus in der Lage gewesen, dem König Paroli zu bieten. Außerdem war der vorsichtige Exchequer-Beamte zwar entschlossen, die Arbeit, die ihm sein Herr aufgetragen hatte, auszuführen, doch er war in diesen unsicheren Zeiten ebenso darauf bedacht, sich möglichst wenige Feinde zu machen.
Zu Idas Überraschung setzte er sich Bull gegenüber an den Eichentisch und sagte fast entschuldigend: »Richard weiß nichts von England und schert sich auch wenig darum. Doch momentan ist er sehr mächtig. Ich glaube, Ihr müßt bezahlen.«
»Dieses Jahr schon. Nächstes Jahr vielleicht nicht.« Bull zuckte die Schultern. »Wenn wir Glück haben, kommt er auf seinem Kreuzzug um, und wir sind ihn los.«
Ida stockte der Atem. Doch Silversleeves war weit entfernt davon, Einspruch zu erheben. Er beugte sich vielmehr vertraulich vor und fragte: »Wir wissen alle, daß dies ein Fehler ist, aber sagt mir ehrlich: Wie heftig wird London darauf reagieren?«
Bull dachte kurz darüber nach. »Wenn der König den Gepflogenheiten den Rücken zukehrt«, meinte er dann mit ernster Stimme, »dann werden wir uns dies nicht gefallen lassen.«
Die Gepflogenheiten waren in England von höchster Bedeutung. Das alte Gewohnheitsrecht, das jeden Großgrundbesitz, jedes Dorf im Königreich regierte, war zwar nirgends schriftlich festgehalten, doch die normannischen Eroberer waren klug genug gewesen, niemals daran zu rütteln. In ähnlicher Weise waren die Bräuche Londons nirgends offiziell festgelegt, doch jeder König seit Wilhelm hatte sich an sie gehalten. Dies war der Code, nach dem die nordländischen und sächsischen Bürger der Stadt lebten. Eine Verletzung dieser ungeschriebenen Gesetze kam dem Ende der Zusammenarbeit gleich, dies war Pentecost völlig klar.
»Offen gestanden«, fügte Bull noch hinzu, »würde es mich nicht überraschen, wenn dies zu einer Kommune führen würde.«
Silversleeves erbleichte.
Eine Kommune war an sich keine neue Institution. In der Normandie hatte sich die alte Stadt Rouen schon ein halbes Jahrhundert lang selbst verwaltet, und in anderen europäischen Städten gab es ähnliche Modelle. Die Barone von London hatten diese Idee immer wieder einmal ins Gespräch gebracht, wenn auch nie mit sehr viel Erfolg. So eine Kommune war der Traum eines jeden Bürgers. Sie bedeutete, daß die Stadt zu einer sich selbst regierenden Einheit wurde, auf die der Monarch nahezu keinen Einfluß hatte. Ein Königreich innerhalb des Königreichs, das seinen eigenen Gouverneur wählte, der meist den Titel Mayor trug, wie er bei den Franzosen hieß.
Der König bezog seine Einkünfte aus drei Hauptquellen. Zum einen gab es die jährlichen festen Abgaben aus den Grafschaften, zum anderen gelegentliche Steuern, die je nach Gutdünken des Königs und seines Rats für bestimmte Zwecke erhoben wurden, also Hilfeleistungen, theoretisch betrachtet Geschenke, die alle feudalen Barone ihrem König machten; und dann gab es noch die Gemeindesteuer, eine feste Steuer, die alle Freien, vor allem diejenigen, die in den Städten lebten, dem König pro Kopf zu zahlen hatten.
Im feudalen Europa wurde eine Kommune so behandelt, als sei sie ein einziger feudaler Baron. Die feste jährliche Abgabe wurde dem König von dem Mayor bezahlt, der sie nach eigenem Gutdünken festsetzte, und ähnlich wurde mit den Hilfeleistungen verfahren. Aber da die Kommune wie ein einzelner feudaler Baron betrachtet wurde, wären all die Tausende von Freien, die innerhalb der Stadtmauern lebten, nicht mehr die Männer des Königs, sie würden vielmehr zu einem Baron gehören, der London hieß, und die Gemeindesteuer würde entfallen. Die Kommune war tatsächlich eine Art Steuerparadies für die gewöhnlichen Bürger. Kein Wunder, daß Silversleeves diese Idee verabscheute.
»Würdet Ihr denn eine Kommune unterstützen?« fragte er.
»Durchaus!« erwiderte Bull grimmig.
Ida verfolgte dieses illoyale Gespräch mit wachsendem Entsetzen. Für wen oder was hielten sich diese arroganten Kaufleute eigentlich? Wenn sie die Witwe eines Magnaten gewesen wäre und über die Macht der großen europäischen Städte Bescheid gewußt hätte, dann hätte sie sicher den Mund gehalten. Aber sie war nur die Witwe eines provinziellen Ritters, und sie war auch nicht besonders klug. Also wandte sie sich nun mißbilligend an ihren Mann. »Wie sprichst du von unserem König? Wir schulden ihm Gehorsam. Ihr nennt euch Barone? Ihr seid doch nichts weiter als Kaufleute! Ihr redet von einer Kommune? Die reine Unverschämtheit! Der König wird euch zerschmettern, und dies zu Recht. Du vergißt einfach deinen Platz!«
Ihre Worte waren gezeichnet von all dem Schmerz ihrer Demütigung und der Erinnerung, daß sie noch immer eine Lady war. Ida war ziemlich stolz auf sich. Die Absurdität dessen, was sie da gesagt hatte, fiel ihr überhaupt nicht auf.
Bull starrte einen kurzen Moment lang schweigend auf den Tisch, dann sagte er: »Es war wohl doch ein Fehler, dich zu heiraten. Ich wußte nicht, daß du so dumm bist. Aber als meine Frau hast du mir zu gehorchen, also verlasse nun diesen Raum!«
Als sie sich blaß und zitternd zur Tür begab, sah sie dort David stehen, der sie genau beobachtete.
In den folgenden Wochen blieb die Beziehung zwischen Ida und Bull sehr kühl. Der Wortwechsel hatte beide verletzt, und beide zogen sich nun in eine Art bewaffnete Neutralität zurück.
Bruder Michael besuchte sie nach wie vor. Er tat, was er konnte, um sie aufzuheitern, und betete für sie. Eines Nachmittags setzte sich David still neben Ida und fragte nach einer Weile: »Ist mein Vater böse?« Als sie diese Frage verneinte, wollte er wissen: »Aber er sollte doch sicher nicht gegen den König sprechen?«
»Nein«, gab sie offen zu, »das sollte er nicht.«
Der Herbst ging in den Winter über. Anfang Dezember segelte König Richard zur Normandie hinüber, in England war es ruhig.
In St. Bartholomew's wurde Weihnachten gefeiert. Nach dem Gottesdienst luden die im Kloster lebenden Stiftsherren zu einem Festmahl ein. Es gab Schwan, gewürzten Wein, dreierlei Arten von Fisch und Süßigkeiten. Selbst die Insassen des Krankenhauses bekamen eine gute Mahlzeit, und überall herrschte Frohsinn.
Schwester Mabel hatte mehr getrunken, als ihr bewußt war. Sie war ziemlich angeheitert. Auf ihrem Weg durch das Kloster kam sie, begleitet von Bruder Michael, an einem Kohlenbecken vorbei, und sie schlug Bruder Michael vor, sich daneben niederzulassen und noch ein Weilchen miteinander zu plaudern. Auch er fühlte sich wohlig entspannt. Sie sprachen von ihren Familien, und plötzlich fragte sie ihn, ob er jemals eine Frau geliebt habe. »Ja«, antwortete er, »aber ich habe ja meine Gelübde geschworen.«
»Niemand wollte mich heiraten«, gestand Mabel. Kichernd streifte sie ihr Gewand hoch und entblößte ein Bein bis zum Knie. »Mit meinen Beinen war ich immer ganz zufrieden«, sagte sie. »Was meinst du?«
Das Bein war ansehnlich genug, dieser Meinung wären sicher viele gewesen. Doch als Bruder Michael nun darauf blickte, wurde ihm klar, daß dies wohl der erste und einzige sexuelle Vorstoß war, den Schwester Mabel je gewagt hatte. Er küßte sie sanft auf die Stirn und meinte: »Ein wirklich hübsches Bein, Schwester Mabel, mit dem du Gott ausgezeichnet dienen kannst.« Damit stand er auf und ging.
Zwei Tage später gestand Mabel ihrem Beichtvater: »Für mich ist alles zu spät. Ich werde zur Hölle fahren, daran ist nichts mehr zu ändern. Aber Bruder Michael hat nicht gesündigt.«
In der letzten Dezembernacht fand ein geheimes Treffen statt. Die sieben Männer, die einzeln und verstohlen in das Haus in der Nähe des London Stone traten, waren alle Aldermen. Bei ihrem einstündigen Gespräch waren sie sich einig, was sie wollten, und entwickelten eine Taktik für ihr Vorgehen. Gegen Ende des Treffens meinte einer von ihnen, daß sie wohl noch einen Helfershelfer benötigten. Da erklärte Alderman Sampson Bull: »Ich kenne jemanden, der trefflich dafür geeignet ist. Überlaßt diese Sache ruhig mir.« Auf die Frage, wer dieser Mann denn sei, antwortete er lächelnd: »Silversleeves.«
Wenige Tage darauf kamen Boten mit einer wichtigen, beunruhigenden Nachricht nach London. Johann, der Bruder des Königs, war in England gelandet.
April 1190
Pentecost Silversleeves blickte auf die Familie Barnikel. Sie mochte ihn nicht, aber das war ihm gleichgültig. Sie war nicht wichtig. Vor ihm standen der stämmige, rothaarige Fischhändler und seine Kinder, eine weitere Frau, die er nicht kannte, mit einem kleinen Jungen an der Hand, und die sonderbare Schwester Mabel.
»Aber ich habe für diese Netze bezahlt«, protestierte der Fischhändler.
»Ich fürchte«, entgegnete Silversleeves sofort, »daß es dafür keine Entschädigung geben wird.«
Reusen. Das ewige Problem auf der Themse. Diesmal hatten Barnikels Netze zwar Bulls Schiff nicht beschädigt, doch allein ihr Anblick hatte den reichen Kaufmann erzürnt. Er sprach mit Silversleeves, der sich mit dem Kanzler in Verbindung setzte, und sofort wurde die Entfernung der Netze angeordnet, obwohl der Fischhändler eine beträchtliche Summe für das Recht, sie auszulegen, bezahlt hatte. Silversleeves wollte Bull gleich über alles informieren. In den letzten drei Monaten war Alderman Sampson Bull sein bester Freund geworden.
Alles hatte ganz langsam, fast unmerklich begonnen. Zuerst hatte es nur vage Gerüchte gegeben, doch Silversleeves hatte die Zeichen verstanden, und im März war er sich dann sicher gewesen. Der Auslöser war Johann.
Warum hatte König Richard seinem jüngeren Bruder gestattet, England zu betreten? Weil er ihn verachtete. Tatsächlich gab Johann, verglichen mit dem Rest der Familie, ein kümmerliches Bild ab. Sein Vater hatte seine Wutausbrüche zelebriert, Johann hatte nur epileptische Anfälle. Richard war groß, blond und heldenhaft, Johann gedrungen – er war kaum größer als einen Meter sechzig –, dunkelhaarig und obendrein auch kein glücklicher Soldat. Richard fürchtete ihn nicht, auch wenn er gelegentlich eine gewisse Schläue zeigte. Wie jeder Plantagenet beneidete Johann seinen Bruder um den Thron.
Nach außen hin war er untätig. Richard war erst seit zwei Wochen abwesend, er versammelte seine Streitkräfte auf dem Festland. Johann verweilte indessen auf seinen großen Ländereien im Westen Englands. Es hieß, daß er sich vor allem der Falkenjagd hingebe. Aber Silversleeves ließ sich nicht täuschen. Er wartet nur auf den richtigen Zeitpunkt, um zuzuschlagen, dachte er sich. Und er wußte auch, gegen wen sich dieser Angriff richten würde, nämlich gegen seinen Dienstherrn, gegen Longchamp.
Dabei hatte anfangs alles bestens ausgesehen. Der Kanzler hatte brillante Erfolge verbuchen können und war in der Abwesenheit seines Herrn zum mächtigsten Mann Englands geworden. Für seine eifrigen Bemühungen war Pentecost schon mit beträchtlichen Lehen belohnt worden. Aber der Kanzler machte leider keinen Hehl aus der Verachtung, die er gegen einige der großen feudalen Familien hegte. »Und diese werden ihn stürzen«, erklärte Silversleeves seiner Frau.
»Das dürfen sie nicht«, jammerte sie. »Er ist doch so wertvoll für uns!«
Die Anzeichen waren gering, doch unheilverkündend. Wenn ein Ritter oder ein Baron sich mit dem Kanzler überworfen hatte, kamen bald darauf Berichte, daß der Betreffende Johann seine Aufwartung gemacht habe. Und es gab Gerüchte. Im Januar bemerkte ein Kaufmann Silversleeves gegenüber, daß sich Johanns Männer angeblich bereits in London aufhielten. Welch ein Glück, daß Silversleeves sich so gut mit Bull verstand!
Es hatte mit einer zwanglosen Einladung in das Haus des Kaufmanns begonnen. Danach war man sich immer wieder einmal über den Weg gelaufen. Wenn Pentecost darüber nachgedacht hätte, wäre er wohl zu dem Schluß gekommen, daß Bull diese Freundschaft angestrebt hatte. Aber er dachte kaum darüber nach, er war einfach froh darüber. »Niemand weiß besser als er, was in der Stadt vor sich geht«, berichtete Silversleeves seiner Frau. »Ich denke, ich werde die Verbindung zu ihm pflegen.«
Er versuchte sogar, sich mit der Familie des Alderman zu befreunden. Ida würde ihm zwar nie wirklich wohlgesonnen sein, aber sie war etwas besänftigt durch die Tatsache, daß er sich in letzter Zeit immer vor ihr verneigte und sie als Lady behandelte. Mit dem Jungen hatte er es leichter. Er zeigte ihm das Schatzamt und erklärte ihm, daß dort die Geschäfte des Königs abgewickelt würden. Bei Bull persönlich wuchs er schier über sich hinaus. Der heutige Vorfall mit den Reusen sollte den mächtigen Alderman einmal mehr davon überzeugen, daß er und sein Dienstherr, Longchamp, seine Freunde waren.
Als Pentecost sich anschickte, das Haus der Barnikels zu verlassen, kam ihm plötzlich der kleine Junge an der Hand der Frau irgendwie bekannt vor. Nachdenklich runzelte er die Stirn, dann kam er auf den Grund dafür: Das Kind hatte eine weiße Haarsträhne.
»Wer ist denn das?« fragte er, und Mabel erklärte es ihm.
Gedankenversunken ging Pentecost zum Haus des Alderman. Er hatte nicht gewußt, daß Simon der Waffenschmied einen Sohn hinterlassen hatte, aber diese Neuigkeit kam ihm sehr gelegen. Er hatte noch eine Rechnung zu begleichen, ob nun mit dem Vater oder dem Sohn, war ihm egal. Und da der Sohn noch so jung war, hatte er genügend Zeit, sich etwas Passendes einfallen zu lassen.
Bei seiner Ankunft im Haus von Bull wirkte der Kaufmann sehr ernst. Nachdem er Silversleeves für seine Hilfe bei der Angelegenheit mit den Reusen gedankt hatte, legte er eine Hand auf seinen Arm und meinte: »Ich glaube, es gibt da eine Neuigkeit, die Ihr wissen solltet.« Silversleeves erbleichte.
Im Mai tauchte ein Fremder im Haus der Bulls auf – ein Ritter, Gilbert de Godefroi. Sein Landgut, Avonsford, lag in der Nähe der Burg von Sarum im Westen Englands. Bull gewährte ihm Unterkunft; einfache Pilger logierten in Hospizen, doch ein reisender Ritter wohnte normalerweise bei einem Kaufmann. Als Godefroi mit einem Brief von einem Kaufmann aus dem Westen auftauchte, den Bull kannte, bot der Alderman ihm selbstverständlich seine Gastfreundschaft an.
Gilbert de Godefroi hielt sich in London auf, um seine geschäftlichen Angelegenheiten zu regeln, bevor er sich zum Kreuzzug aufmachte. Der großgewachsene Ritter war ein Witwer mittleren Alters mit einem traurigen, strengen Gesicht. Man sah nicht viel von ihm, denn er stand immer schon im ersten Morgengrauen auf, begab sich zur Frühmette nach St. Paul's und ritt dann mit seinen Pferden in den Wäldern von Islington aus. Nach einer kargen Abendmahlzeit zog er sich meist bald zurück. Auf seinem Umhang befand sich ein rotes Kreuz, das Zeichen, daß er ein Kreuzfahrer war.
Godefroi weilte seit vier Tagen bei der Familie, als Bruder Michael ihn bei dem wöchentlich stattfindenden Familienmahl kennenlernte. Er war beeindruckt von dem würdigen Gebaren des Ritters. David starrte ihn ehrfürchtig an, und selbst Bull war ruhiger als sonst. Ida zollte dem Ritter die ihm gebührende Aufmerksamkeit; er war ja schließlich ihr Gast. Sie bediente ihn als ersten, wie es die Höflichkeit erforderte, und verständlicherweise trug sie das kostbare Gewand einer Lady. Aber Ida war tatsächlich verändert. Seit der Ritter aufgetaucht war, bemühte sie sich um seine Aufmerksamkeit. Sie hatte ihn sofort wissen lassen, wer sie eigentlich war und wie gering sie hier geschätzt wurde. Sie hatte ihm ihre Vorfahren aufgezählt in der Hoffnung auf ein gemeinsames Bindeglied. Sie hatte sogar versucht, sich ihm bei seinen Gebeten anzuschließen. All dies beobachtete Bull schweigend. Auch Bruder Michael fiel es auf, und außerdem bemerkte er, daß David richtig verliebt in den Ritter war. Tag für Tag verfolgte der Junge den strengen Ritter. Er sah Godefroi zu, wenn dieser mit Schwert und Keule trainierte; er half dem Knappen, einem jungen Burschen, der nur wenig älter war als er selbst, wenn dieser die Rüstung des Ritters pflegte, um sie vor Rost zu schützen. Auch der Schild des Ritters, auf dem ein weißer Schwan vor einem roten Hintergrund abgebildet war, faszinierte David. In den letzten paar Jahrzehnten war es üblich geworden, daß ein Ritter sich bei den Turnieren mit einem persönlichen Wappen schmückte. Für David war es ein weiterer Beweis dafür, daß Godefroi ein Held war.
Als der Ritter eines Morgens, beobachtet von David, Bruder Michael und Ida, davongaloppierte, sagte der Junge zu seiner Stiefmutter: »Ich wünschte, mein Vater wäre so wie er.«
Ida lachte. »Sei nicht töricht! Sieh dir doch deinen Vater an! Man erkennt sofort, daß er nur ein Kaufmann ist. Ein Adliger wird als solcher geboren, nicht dazu gemacht.« Und dann fügte sie zu seinem Trost hinzu: »Ich werde eine adlige Frau für dich finden. Vielleicht wird dein Sohn ja ein Ritter.«
Da erkannte David, daß sein mächtiger Vater nicht nur die falsche Einstellung hatte, nicht nur eine niedrigere Stellung einnahm als der feudale Ritter, sondern daß Gott ihn tatsächlich so geschaffen hatte. Dies hatte er bislang nicht gewußt.
Aber es stimmte. Die normannische Herrschaft und die der Plantagenets hatten in der englischen Gesellschaft eine enorme Veränderung hervorgerufen, von der nur London verschont geblieben war. Der angelsächsische Edelmann war stolz auf seine kämpferischen Ahnen gewesen, aber sein Stand hatte sich vor allem auf seinen Reichtum gestützt. Wenn jemand genügend Land besaß, war er ein Edelmann, und die reichen Londoner Kaufleute wurden Thane. In Kriegszeiten hatten sie mit den Leuten, die ansonsten ihre Felder bearbeiteten, ein Aufgebot an Streitkräften erstellt. Doch die normannischen Neuankömmlinge, die an die Stelle des alten englischen Adels traten, waren getrennt vom Volk der Engländer. Godefroi mochte zwar sein Anwesen in Avonsford wie seine sächsischen Vorgänger leiten, aber seine erste Sprache war das Französische. Er führte seine Bauern nicht in den Krieg, denn die alten, nicht geübten englischen Truppen waren ohnehin kaum mehr einsetzbar. Die Truppen von König Löwenherz bestanden aus fremden Söldnern, tüchtigen Bogenschützen aus Wales und furchterregenden routiers, Söldnern vom Festland. Der Reichtum des Ritters spielte dabei keine Rolle. Godefroi gehörte zu einer separaten, europäischen, militärischen Aristokratie, einer Kriegerkaste, die aus einem weitverzweigten Netz von Verwandten bestand und auf alle anderen hinunterblickte. Diese Vorstellung von Adel sollte die englische Gesellschaft noch lange verunsichern.
Alderman Sampson Bull erkannte klugerweise, daß sich seine Familie mit der Zeit ihren Weg in den Adel erkaufen und durch Heirat verschaffen konnte, und auch Ida wußte dies, auch wenn sie es bedauerte. Der junge David war vom Anblick des Ritters völlig verzaubert; seinen Vater betrachtete er von nun an als einen sehr gewöhnlichen Mann und verachtete ihn insgeheim – Idas jüngstes Geschenk an ihren Mann.
All dies sah auch Bruder Michael, und es machte ihm schwer zu schaffen, aber richtig entsetzt war er erst bei seinem nächsten Besuch bei der Familie. Nach dem Essen verließ er mit seinem Bruder und dem Jungen die Halle. Ida wollte noch einen Blick in die Speisekammer werfen; die alte Mutter schlief in einer Ecke, der Ritter blieb schweigend am Tisch sitzen. Rein zufällig kehrte Bruder Michael noch einmal in die Halle zurück und sah dann etwas, was ihn schwer traf.
Godefroi stand da, ruhig und unbewegt. Ida war wieder in die Halle gekommen und stand vor ihm, während sie leise etwas zu ihm sagte. Dann berührte sie den Ritter am Arm. Bei dieser winzigen Geste kam es Bruder Michael vor, als wisse er alles. Bleich verließ er den Raum.
In dieser Nacht hatte er einen schrecklichen Traum. Er sah Idas blassen Körper in enger Umarmung mit dem des Ritters. Er wachte auf, überkommen von einer kalten Angst, und fand keinen Schlaf mehr. Er lief fünf Stunden bis zum Morgengrauen in seiner Zelle auf und ab, ständig das schreckliche Bild vor Augen, wie Ida den fremden Ritter liebte.
Bald nach dem Morgengrauen überquerte er Smithfield und ging dann hinunter nach St. Paul's, wo eine Glocke zur Prim rief. Da sah er auch Godefroi näherkommen. Unbewegt hörte sich der Ritter an, was Bruder Michael ihm zu sagen hatte. »Ihr bezichtigt mich also des Ehebruchs, Mönch?« fragte er nur kühl. »Wollt Ihr damit sagen, daß ich besser gehen sollte? Das habe ich nicht nötig!« Damit begab er sich in die Kirche.
Hatte sich Bruder Michael geirrt? Hatte er den frommen Ritter zu Unrecht verdächtigt? Verwirrt kehrte Michael in sein Kloster zurück und wußte gar nicht mehr, was er nun denken sollte.
Drei Tage später schickte sich Godefroi zum Aufbruch an. Ida bot ihm ihren Handschuh als Pfand für seine Reise an – eine höfische Geste aus der Ritterwelt, die er ernst zurückwies, indem er sie daran erinnerte, daß er ja schließlich ins Heilige Land pilgerte. Bruder Michael stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Nach der Abreise des Ritters wirkten Ida und der junge David zunehmend unruhig. David zeigte sogar Zeichen körperlichen Unwohlseins, und seine Schulleistungen fielen ab. So bat der Alderman nach einer Weile Bruder Michael, seinem Sohn ein wenig zu helfen.
Bruder Michaels Kenntnisse von der Welt waren typisch für einen Mann mit bescheidener Bildung in jener Zeit: eine nette Mischung aus Fakten und Volksglauben, die er sich aus der Bibliothek der Westminsterabtei geholt hatte. Er konnte seinem Neffen die Zusammensetzung Europas, die Häfen und Flüsse, die Städte und heiligen Orte erklären. Er wußte viel von Rom und dem Heiligen Land. Aber an den Rändern dieser riesigen mittelalterlichen Welt begann sein Wissen in den Bereich der Fabel auszuufern.
»Südlich des Heiligen Landes liegt Ägypten«, informierte er David durchaus richtig. »Von dort aus hat Moses die Juden durch die Wüste geführt. Und an der Mündung des großen Nils liegt Babylon.« So hieß Kairo in der Welt des Mittelalters.
»Und wenn man den Nil flußaufwärts reist?« fragte der Junge wißbegierig.
»Dann kommt man nach China.« So hatte es Michael in einem Buch gelesen.
Die Kirche St.-Lawrence-Silversleeves war ein hübscher kleiner Bau, eingezwängt zwischen einer Seilerei und einer Bäckerei. Am Fuß des Hügels standen die Lagerhäuser der normannischen Weinhändler. Die Kirche war aus Stein und hatte ein Holzdach. Gut hundert Gemeindemitglieder hätten in ihr Platz gehabt, wenn sich denn jemals so viele versammelt hätten. An einem schönen Septembermorgen stattete Schwester Mabel dem Kustos dieser bescheidenen Kirche einen Besuch ab.
Der Kustos von St.-Lawrence-Silversleeves war ein armer, kränkelnder Kerl mit einer Frau und zwei Kindern. Theoretisch war die Frau, mit der er zusammenlebte, natürlich nicht seine Ehefrau, sondern seine Konkubine, da er ja dem geistlichen Stand angehörte, aber selbst unter den strengsten Kirchgängern bezeichneten nur wenige sein moralisches Vergehen als schlimm. Die meisten Londoner Kirchendiener waren verheiratet; ohne Frau wären sie wahrscheinlich verhungert.
Die Situation in St.-Lawrence-Silversleeves war typisch. Die Familie Silversleeves ernannte den Vikar, der aus dieser Stellung sein Einkommen bezog. Wenn es in der Familie niemanden gab, der diesen Posten haben wollte, wurde er an einen Freund oder Bekannten vergeben. Der Berufene war auch noch Vikar an mehreren anderen Kirchen und bezog auch daraus Einkünfte. Zur Ausübung der Pflichten an all diesen Kirchen ernannte er einen Kustos, dem er einen derart kümmerlichen Lohn bezahlte, daß der arme Kerl, wenn er keine Frau hatte, die für beider Unterhalt aufkam, kaum das Holz für sein Herdfeuer kaufen konnte.
Der Kustos von St.-Lawrence-Silversleeves war fünfunddreißig Jahre alt. Er hatte schütteres, graues Haar und litt unter gelegentlichen Schwindelanfällen. Seine Frau arbeitete in der danebenliegenden Bäckerei. Sie war etwas robuster als er, litt jedoch unter Krampfadern. Die beiden lebten mit ihren zwei bleichen Töchtern in einer winzigen Hütte hinter der Kirche.
Schwester Mabel besuchte sie, so oft sie konnte. Heute war sie mit einem Trank aus wildem Lattich gegen die schwindende Sehkraft des Mannes und Zehrkraut gegen seine Schwindelanfälle gekommen. Sie hatte auch Wacholder für die geschwollenen Beine der Frau mitgebracht und Weizenbrot, weil die Kinder Würmer hatten. Als sie die Hütte wieder verließ, hatte sie nur einen einzigen Gedanken: Der elende Silversleeves mußte unbedingt etwas für diese armen Leute tun.
Sie ging geradewegs zu seinem Haus, aber er war nicht da. Also trat sie ihren Heimweg Richtung Smithfield an. Als sie an der großen, offenen Fläche ankam, sah sie Silversleeves an der Pforte zu St. Bartholomew's stehen und mit Bruder Michael reden. Sie eilte zu den beiden hinüber, doch plötzlich ließ sie etwas innehalten. Hinter den beiden Männern stand eine seltsame, grünweiße Gestalt mit einem vogelartigen Gesicht, einem geschwungenen Schwanz und einem Dreizack in den Händen. Es war der Dämon, mit dem sie vor vielen Jahren während einer Vision gesprochen hatte. Sein Gesicht mit dem Schnabel wirkte hämisch und schadenfroh. Er ist gekommen, um Silversleeves zu holen, dachte sie ohne Bedauern. Doch dann sah sie zu ihrem Entsetzen, daß der Dämon Silversleeves nicht weiter beachtete, sondern seine langen Arme um den heiligen Bruder Michael legte. Und dieser merkte überhaupt nichts davon.
Als die sieben Aldermen sich kurz nach Michaeli in diesem Jahr wieder trafen, waren sich alle einig, daß Sampson Bull ausgezeichnete Arbeit geleistet hatte.
»Hervorragend, wie Ihr mit Silversleeves umgeht«, erklärte der Anführer. Und in der Tat hatte auch Bull das Gefühl, daß er Meisterhaftes vollbracht hatte. Nicht, daß er gelogen hatte. Kein Bull tat jemals so etwas. »Aber vielleicht habe ich ein wenig übertrieben«, gestand er. Und Pentecost hatte ihm bereitwilligst geglaubt.
Als er dem Exchequer-Beamten in diesem Frühjahr erzählt hatte, daß Johanns Gesandte mit einigen der führenden Aldermen Londons ins Gespräch getreten seien, war Silversleeves' Furcht nur zu offensichtlich gewesen. Dabei stimmte es tatsächlich, daß ein paar geheime Gespräche stattgefunden hatten, aber Johann war noch nicht zuversichtlich genug, und auch die Aldermen waren noch nicht bereit, mehr als ein vages gemeinsames Interesse erkennen zu lassen. Doch indem Bull Pentecost in dem Glauben beließ, daß bereits eine Verschwörung im Gang sei, nötigte er ihn zum Handeln.
»Angesichts diesen monströsen Steuern«, hatte er Pentecost gewarnt, »wird die Stadt auf jeden Fall Johann unterstützen, wenn dieser Euren Herrn angreift.«
Von dem Tag an warnte Silversleeves den Kanzler immer wieder eindringlich vor den Gefahren, es sich mit der Stadt zu verscherzen. Kaum eine Woche verstrich, ohne daß er bei Bull besorgt um Neuigkeiten nachfragte, und der Kaufmann pflegte darauf stets Dinge zu sagen wie etwa: »Johann ist überall«, oder: »Es sieht nicht gut aus für Longchamp.«
Im Hochsommer erhielt der Alderman Hinweise, daß ihre Kampagne erfolgreich verlief. Und nun, vor wenigen Tagen, waren zu Michaeli die wunderbaren Neuigkeiten aus dem Schatzamt gekommen.
»Alles, was wir wollten!« verkündete Bull seinen Freunden begeistert. »Die Sondersteuern des Königs abgeschafft. Die jährlichen festen Abgaben wieder auf ihrem ursprünglichen niedrigen Stand. Zwei Sheriffs, die wir wählen können.« Zu Silversleeves meinte er später feierlich: »London steht in Eurer Schuld, Master Silversleeves.« Und als der Beamte Näheres erfahren wollte, sagte Bull: »Warum sollte London Johann unterstützen, wenn wir einen Freund wie Longchamp haben?«
Bei dem Treffen im Haus in der Nähe des London Stone verkündete der Anführer der Gruppe, nachdem er Bull beglückwünscht hatte, mit einem breiten Lächeln: »Und nun, meine Freunde, heißt es nur noch abwarten.« An eben diesem Tag hatte er die Nachricht erhalten, daß König Richard Löwenherz die Segel gesetzt und das Festland verlassen habe. Er war nun unwiderruflich unterwegs auf dem fernen Mittelmeer.
Adams Mutter hörte nie mehr von ihren Verwandten in Windsor. Keiner aus der Familie kam je nach London, und sie bekam auch nie einen Penny von ihnen zu Gesicht. Nachdem über ein Jahr ohne eine Nachricht von ihnen verstrichen war, hatte sie sich fest vorgenommen, im nächsten Jahr noch einmal persönlich nachzuforschen. Oder vielleicht auch erst im übernächsten Jahr. Es war schließlich ein ziemlich weiter Weg.
Als Adam fünf war, erklärte sie ihm: »Dein Vater hatte ein paar Äcker in einem kleinen Dorf. Eigentlich stünde uns daraus ein gewisser Ertrag zu.« Dem Jungen sagten diese Worte zu dem damaligen Zeitpunkt nichts, und da seine Mutter nie mehr darauf zu sprechen kam, vergaß er die Angelegenheit schließlich völlig.
In diesem Herbst kehrte David Bulls Krankheit zurück. Plötzlich wurde er so blaß und dünn, daß sein Vater sich ernsthaft Sorgen machte. Man versuchte alles mögliche einschließlich Mabels Kräutermittel, und nach einer Weile schien sich David wieder zu erholen, doch im Januar kehrte die Krankheit abermals zurück.
Zuerst hatte es geschneit, dann war es bitterkalt geworden. Londons Straßen verwandelten sich zu spiegelglatten Eisflächen, und auf die Wege wurde Asche gestreut. Jeden Tag kämpfte sich der Mönch traurig seinen Weg hinunter zum Haus seines Bruders. Wenn David mit seinen fünfzehn Jahren schon sterben mußte, dann war die Vorbereitung darauf das mindeste, was Michael tun konnte. Und der Junge unterhielt sich gern mit ihm. Er wollte alles vom Himmel, der Hölle und dem Teufel wissen. Eines Tages fragte er ihn: »Wenn meine Seele Gott sucht, warum liebt sie dann die Welt, die so weit entfernt ist vom Himmel? Heißt das, daß der Teufel mich erobert hat?«
»Nicht unbedingt«, erklärte ihm der Mönch. »Weltliche Begierden sind eigentlich nur eine Verdrehung deines Wunsches nach der Ewigkeit.«
»Wenn das so ist«, fragte David, »warum habe ich dann Angst, diese Welt zu verlassen?«
»Du hast nichts zu befürchten, wenn du bereit dazu bist und Gott gedient hast«, erwiderte der Mönch.
»Ich hätte gern an einem Kreuzzug teilgenommen«, sagte der Junge seufzend. »Aber so habe ich gar nichts geleistet.«
Eine Woche später wurde es etwas wärmer. David klammerte sich noch immer an sein Leben, und sein Onkel betete noch immer für ihn. Und eines Tages überkam Bruder Michael das unerklärliche Wissen, daß der Junge überleben würde. Er gestand es Ida, die so bewegt davon war, daß sie ihn küßte. An diesem Morgen sah Michael auf seinem Heimweg ein Schneeglöckchen auf einem kleinen Grasfleck gleich neben St. Paul's blühen.
Mitte Februar verstand Schwester Mabel endlich ihre Vision. Wieder hatte sie den Kustos von St.-Lawrence-Silversleeves besucht. Zwar stieß sie bei dem Exchequer-Beamten stets auf taube Ohren, wenn sie versuchte, ihn zu überreden, etwas für die arme Familie zu tun, aber sie versuchte weiterhin nach Kräften, die armen Leute zu unterstützen. Nach diesem Besuch beschloß sie, noch rasch bei David Bull vorbeizuschauen. Als sie in die Halle hineinstapfte, saßen die drei zusammen in der Nähe des Fensters, und in diesem Moment ging ihr die Wahrheit auf.
Diesmal war kein Dämon da, nur drei sehr menschliche Gestalten. Der Junge saß vor einem aufgeschlagenen Buch am Tisch. Bruder Michael saß neben ihm und erklärte ihm einen schwierigen lateinischen Satz. Ida saß auf der gegenüberliegenden Seite und blickte ihn bewundernd an. Entsetzt erkannte Mabel, daß vor ihren Augen eine widernatürliche Liebe wuchs.
Sie verabreichte David die Medizin, die sie ihm mitgebracht hatte, und verabschiedete sich rasch. Als sie an diesem Abend den Mönch im Kloster traf, sagte sie ihm ohne Umschweife: »Hüte dich vor einer widernatürlichen Liebe, Bruder Michael!«
Michael wurde nur selten böse, doch nun stand er kurz davor. Dann wurde ihm klar, daß Mabel wohl eifersüchtig war, aber was nützte es schon, ihr dies geradewegs zu sagen? Was seine Gefühle zu Ida betraf, fühlte er sich zuversichtlich. »Wir müssen alle auf der Hut sein«, wies er sie sanft zurecht. »Ich versichere dir, daß ich es bin. Bitte sage mir so etwas nicht noch einmal!«
Juni 1191
Prinz Johann hatte gute Arbeit geleistet. Anfang dieses Jahres gab es wohl kaum noch einen Baron in England, der nicht einen Groll gegen den Kanzler hegte und nicht Johanns Freund geworden war. Und dann, im Frühling, wurde Johann aktiv.
Zuerst hatte er eine der Burgen im Süden als persönliches Eigentum beansprucht. Dann hatte ein wichtiger Sheriff im Norden dem Kanzler seinen Gehorsam verweigert. Im März kam ein Bote mit noch schlimmeren Nachrichten nach London: »Johann hat die Burg in Nottingham eingenommen.« Diese Burg war eine der stärksten Festungen in Mittelengland. Johann zog im Königreich umher und holte sich überall in den Grafschaften Unterstützung. Einer der Barone stellte eine gefährliche Streitmacht an den Grenzen zu Wales auf. In der Stadt fragte man sich nur noch zwei Dinge: Wird der Kanzler den Bruder des Königs bezwingen? Wird Johann tatsächlich London angreifen?
Silversleeves starrte auf die Szene, die sich da vor ihm abspielte. Vor dem Tower errichtete ein kleines Aufgebot an Männern hastig einen neuen Wall. Sie gruben auch einen großen Graben aus. Mutlos beobachtete Pentecost diese Bautätigkeiten. Longchamp mochte ein begabter Verwalter sein, aber er war kein Burgenbauer. Der Aushub für den Wall war viel zu niedrig, die Mauern nicht stark genug, um einem richtigen Angriff standzuhalten. Der Graben sollte ein Wassergraben werden, aber momentan enthielt er kaum mehr als eine kleine Schlammpfütze. Erst vor einer Woche hatte es im East Cheap einen kleinen Aufstand gegeben. Er war zwar mühelos niedergeschlagen worden, doch Pentecost hegte den Verdacht, daß Johanns Männer ihn angefacht hatten.
Würde London dem Kanzler die Treue halten? Er hatte den Londonern alles gegeben, was sie von ihm gefordert hatten. Aber er war einfach schrecklich ungeschickt. Im vorigen Monat hatte er bei seinen hastigen Arbeiten am Tower den Obstgarten eines Alderman zerstört. Dennoch hatte Bull ihm versichert, daß London dem König die Treue halten würde, egal, ob man Longchamp nun mochte oder nicht.
Aber wo war König Richard nun? War er überhaupt noch am Leben? Niemand konnte diese Fragen beantworten.
Bruder Michael war glücklich, denn David ging es wieder besser. Inzwischen unternahmen er und Ida oft einen kleinen Spaziergang mit dem Jungen. Anfangs hatte David immer nur wenige Schritte geschafft, aber Ende März schritten er und der drahtige Mönch so wacker aus, daß Ida ihnen lachend erklärte, daß sie mit ihnen nicht mehr Schritt halten konnte.
An einem warmen Tag Ende April kamen sie nach Aldwych, wo ein paar mutige Knaben in die Themse sprangen. Zur Überraschung seines Onkels rannte David zu ihnen hinunter, entledigte sich seiner Kleider und sprang ebenfalls in den Fluß. Bruder Michael wollte ihn zurückhalten, konnte sich jedoch auch nicht der Freude erwehren bei dem Anblick seines nun wieder erstarkten, gesundeten Körpers. Doch aus Angst vor einer neuen Erkältung beeilte sich der Mönch, den Jungen trockenzurubbeln, und legte auf dem Heimweg einen Arm um ihn, um ihn zu wärmen.
Obwohl er nun meist wieder recht munter war, war David auch oft nachdenklich. Er betete gern mit dem Mönch und stellte ihm immer wieder Fragen zur Religion. Als Ida und Bull sich im Mai nach Bocton begaben, blieb David in London unter der Obhut seines Onkels zurück mit der Entschuldigung, daß es doch so schön sei, in der Stadt den Frühling in voller Blüte zu erleben.
Bruder Michael wußte, daß es seine Aufgabe war, die Seele des Jungen zu retten. Schließlich hatte Gott David vor dem Tod bewahrt, und dafür gab es sicher einen Grund. Und noch etwas wurde ihm klar: Die göttliche Vorsehung hatte ihm die Mittel dazu anvertraut: das Geld seiner Mutter. Die Umstände entsprachen genau ihren Vorstellungen. Das Geld würde dem religiösen Wohl der Familie dienlich sein.
Mitte Juni begab er sich zur Westminsterabtei, bat um ein Gespräch mit dem Abt und regelte alles mit ihm. Nachdem er sein Leben ganz der Arbeit im Bartholomew's gewidmet hatte, hatte er nun das Gefühl, sich eine Rast verdient zu haben. Zumindest konnte er dann auch noch ein Auge auf David werfen.
An einem angenehmen Maiabend stellte Bruder Michael seinem Neffen die kritische Frage: »Ich glaube, du bist zum religiösen Leben berufen. Wie denkst du darüber?« David errötete vor Freude und rief dankbar: »O ja, das glaube ich auch!«
»Wenn du in die große Westminsterabtei eintrittst, werde auch ich dort sein und über dich wachen.«
Michael war glücklich. Er zweifelte zwar nicht daran, daß sein Bruder ärgerlich sein würde, aber er erinnerte sich auch daran, wie gebrochen Bull gewesen war ob der Aussicht, seinen Sohn zu verlieren, und deshalb hegte er nun die Hoffnung, daß das Herz des ungläubigen Kaufmanns sich vielleicht doch erweichen lassen würde. Zumindest konnte Bull froh sein, daß sein Sohn sich in einem nahe gelegenen Kloster in Sicherheit befand. Und Michael hegte nicht den geringsten Zweifel daran, daß Ida seine Freude und Dankbarkeit teilen würde, wenn sie ihren Stiefsohn sicher im Schoß der Kirche wüßte. Im Juni würden die beiden zurückkehren, und so wartete Bruder Michael nun zwar nervös, doch auch hoffnungsvoll darauf, ihnen die wunderbaren Neuigkeiten mitzuteilen.
Aber Idas blasses, vornehmes Gesicht versteinerte sich, und sie bedachte ihn mit größter Verachtung, als sie die Neuigkeiten erfuhr. »David ein Mönch? Wie sollte er da jemals Kinder haben?«
»Wir sind doch alle Kinder Gottes«, erwiderte Michael geknickt.
»Gott braucht meinen Stiefsohn nicht«, gab sie ihm wütend zurück. »Er wird in eine adlige Familie einheiraten.«
Nun regte sich auch in Michael die Wut. »Ihr würdet also Euren Familienstolz vor Gott und das Glück Eures Sohnes stellen?«
»Darüber laß andere urteilen, du intrigante alte Jungfer!« kreischte sie. »Verlasse auf der Stelle dieses Haus, und kehr zurück zu deinen elenden Krüppeln!«
Eine Stunde später, nach einem hastigen Gespräch mit ihrem Mann, in dem sie zu bestem Einverständnis gelangt waren, machten sich Sampson und Ida wieder nach Bocton auf, und zwar mit David im Geleit.
Doch die schlimmste Erniedrigung erfuhr Bruder Michael an diesem Nachmittag im Kloster von St. Bartholomew's, als er seine Sorgen mit Mabel besprach. »Ich habe doch versucht, dich vor einer widernatürlichen Liebe zu warnen!« sagte sie.
Bruder Michael dachte an die Verachtung, mit der Ida ihn behandelt hatte. »Ich glaube nicht, daß ich sie noch liebe.«
Mabel verzog das Gesicht. »Sie? Du meinst Ida?«
»Wen denn sonst?« Überrascht blickte er auf.
»David natürlich! Den Jungen. Du hast dich doch in den Jungen verliebt, oder etwa nicht?«
Kurz verschlug es Bruder Michael die Sprache, dann wallte eine immense Wut in ihm auf. Aber bevor er diese noch in Worte fassen konnte, merkte er plötzlich entsetzt, daß Mabel recht hatte und er es in seiner Unschuld einfach nicht hatte wahrnehmen wollen. Von Gram und Scham gebeugt stand er auf und schlurfte wie ein alter Mann in seine Zelle.
In Bocton wurde David vollends gesund. Er liebte das alte Anwesen und den herrlichen Ausblick; er unternahm lange Spaziergänge in den Wäldern und Feldern mit seinem Vater; er las Rittergeschichten mit Ida, die als Herrin des Landgutes in ihrem Element war. Vielleicht ließen ihm die Geister seiner Vorfahren etwas von ihrer Kraft zukommen. David war noch nie so zufrieden gewesen, und dasselbe ließ sich wohl auch von Ida und seinem Vater behaupten. Durch die von Davids Krankheit verursachte Krise waren sie sich nähergekommen. Nun wirkten sie zum erstenmal wie ein glücklich verheiratetes Paar, ob sie nun über Renovierungsarbeiten an dem alten Gebäude sprachen, gemeinsam durch den Obstgarten spazierten oder einfach nur friedlich nebeneinander auf einer Bank in der Sonne saßen und den Blick auf den Weald genossen.
Die von dem treulosen Prinzen Johann angezettelten Unruhen schienen sich gelegt zu haben. Im Juli hatte der Erzbischof von Rouen einen Frieden zwischen Johann und Longchamp vermittelt. In England war es wieder ruhig. König Richard, so hieß es, erfreue sich bester Gesundheit auf seinem Kreuzzug und habe im August eine hübsche Prinzessin geheiratet.
Einmal kam Silversleeves aus London angereist, um mit dem Kaufmann zu reden, und David lauschte ihrer Unterhaltung mit großem Interesse.
»War es klug von Richard, diese Prinzessin zu heiraten?« fragte Bull.
»Ich denke schon«, erwiderte Silversleeves. »Sie kommt aus Navarra, was südlich von Aquitanien liegt; durch diese Verbindung schmälert Richard die Möglichkeiten des französischen Königs, ihn aus dieser Richtung anzugreifen.«
David war leicht verwirrt. Wie seine sächsischen Vorfahren sah er die Dinge am liebsten ganz eindeutig. Entweder war jemand ein Freund oder ein Feind; beides zusammen ging doch nicht. »Aber König Richard und der König von Frankreich sind doch Freunde?« fragte er. »Sie ziehen doch gemeinsam in den Kreuzzug?«
Silversleeves lächelte traurig. Angesichts der Größe des Plantagenet-Reiches, das sich im Westen Frankreichs erstreckte, konnten die Könige von Frankreich und die Plantagenets nie mehr als nur vorübergehende Freunde sein. »Er ist nur im Moment Richards Freund«, erklärte er.
»Ich würde für König Richard sterben!« verkündete David. »Ihr etwa nicht?«
Silversleeves zögerte nur eine Sekunde, dann antwortete er lächelnd: »Natürlich, ich bin doch ein Mann des Königs.«
Es war schon lange her, daß Pentecost Silversleeves einmal richtig panisch gewesen war, aber nun, am Nachmittag des fünften Oktober, stand er kurz davor. In der linken Hand hielt er eine dringende Aufforderung seines Herrn und Patrons, in der rechten ein weiteres Dokument, das ebenso erschreckend war. Beides stellte ihn vor die schreckliche Frage, auf welche Seite er sich nun begeben sollte.
Die Krise war Mitte September ausgebrochen, und deshalb war die Michaeli-Sitzung des Schatzamts in das fünfzig Meilen entfernte Oxford verlegt worden. Aber dieser ruhige Burgenort mit seiner kleinen Gelehrtengemeinde schenkte Silversleeves auch keinen Frieden. Der Grund für dieses unglückselige Geschäft war ein unehelich geborener Sohn, das Problem lag darin, daß dieser zum Erzbischof von York ernannt worden war.
Natürlich war es nicht ungewöhnlich, daß die unehelichen Söhne des Königs Bischöfe wurden. Damit hatten sie ein Einkommen und einen Aufgabenbereich. Die Ernennung eines der vielen Söhne Heinrichs II. zum Erzbischof hätte kaum eine Rolle gespielt. Doch nun hatte er sich, wie jedermann wußte, auf Johanns Seite geschlagen, und König Richard hatte ihm ausdrücklich untersagt, England zu betreten. Im vergangenen Monat war er dennoch in Kent gelandet; der Kanzler hatte ihn aufgefordert, seine Treue zu schwören; der gerissene Bursche hatte sich geweigert. Und dann hatte Longchamp den Fehler begangen, ihn in den Kerker zu werfen.
Das Ganze war eine vorsätzliche Falle gewesen, meinte Pentecost, und sein Herr war hineingestolpert. Zu Johanns großer Freude war es zu einer öffentlichen Empörung gekommen. Der Erzbischof wurde bald wieder freigelassen, doch nun wurde er als Märtyrer gefeiert, wie Becket. Johann und seine Anhänger hatten protestiert, und nun fand eine große Ratsversammlung auf der Hälfte des Weges zwischen London und Oxford statt, zu der Longchamp geladen war, um sein Vorgehen zu erklären. »Diesmal werden sie ihn packen«, stöhnte Silversleeves.
Noch waren viele Mitglieder des Rats Johann gegenüber unsicher. Der Kanzler hatte noch immer mehrere Burgen einschließlich Windsor. Wie immer würde London eine Schlüsselposition einnehmen. Wohin würde die Stadt sich wenden? Silversleeves war nicht überrascht, daß sein Herr ihn nun sofort nach London zitiert hatte.
Aber was hatte es mit dem Pergament in seiner anderen Hand auf sich? Auf den ersten Blick wirkte es wie ein ganz normales Dokument aus dem Schatzamt. Doch wenn man auf eine der Ecken blickte, sah man in einem Großbuchstaben eine sorgfältig gemalte, böse Karikatur des Kanzlers, ein wahres Meisterwerk. Longchamp sah aus wie ein fleischiger Wasserspeier, aus seinem Mund tropfte es heraus, als habe er mehr in sich hineingeschlungen, als er behalten konnte. Keiner der hier tätigen Schreiber hätte es gewagt, so etwas in den Unterlagen liegen zu lassen, wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, daß der Kanzler dem Untergang geweiht war. Am allerschlimmsten für Silversleeves war es, daß am Rand neben dem Großbuchstaben noch eine weitere Karikatur zu sehen war, ein Hund, den der Kanzler an der Leine führte. Das Gesicht des Hundes mit seinem gierigen, sabbernden Maul und seiner langen Nase war ebenfalls nicht zu verkennen. Es war er selbst.
Also dachten sie hier, daß auch er dem Untergang geweiht war. Wenn sie recht hatten, sollte er seinen Patron sofort verlassen. Schnell überdachte er noch einmal die gesamten Aktionen des Kanzlers. Gab es unbekannte Verbrechen, deren er seinen Herrn bezichtigen konnte, wenn er zu Longchamps Feinden überlief? Gab es welche, in die er nicht selbst verwickelt gewesen war? Nur zwei oder drei, doch im Notfall würde es schon reichen. Wenn Longchamp andererseits diese Krise überstand und er ihn im Stich gelassen hatte, würde ihn dies sämtliche Hoffnungen auf zukünftige Vorteile kosten. Mehrere quälende Minuten lang überdachte er seine Zukunft. Dann zog er sein Messer heraus, schnitt die beleidigende Ecke des Pergaments ab und verließ den Raum. Am Abend war er unterwegs nach London.
Am siebten Oktober verbrachte Ida eine ruhige Mittagsstunde im Haus unter dem Hauszeichen des Bullen. Nach den Aufregungen der letzten beiden Tage war sie sehr froh darüber.
Am Vortag war Longchamp mit einer Truppe von Leuten aus Windsor nach London gekommen. Nun war er im Tower und sicherte die Befestigungsanlagen. Heute morgen hatte sich die Nachricht verbreitet, daß sich der Rat, Prinz Johann, seine Ritter und viele bewaffnete Männer der Stadt näherten. »Sie wollen den Kanzler absetzen«, berichtete der Bote.
Aber das war vielleicht gar nicht so einfach. Wenn die Stadt Richard die Treue hielt und die Tore schloß, würde der Rat nicht viel ausrichten können. Vor zwei Stunden war Bull zu einer Versammlung aller Aldermen und der Großen der Stadt gegangen, auf der man die Haltung dem Rat gegenüber besprechen wollte, und nun wartete Ida ungeduldig auf ihren Beschluß. Als sie jemanden im Hof hörte, dachte sie, es sei ihr Mann, doch zu ihrer Überraschung tauchte Silversleeves auf.
Bull ging währenddessen frohgemut mit großen Schritten an St. Paul's vorbei. Alles war wunschgemäß gelaufen.
Die Versammlung der Aldermen hatte in einem Saal hinter verschlossenen Türen stattgefunden. Mehrere Vorgehensweisen wurden vorgeschlagen. Aber die Siebenergruppe hatte sich gut darauf vorbereitet. Die monatelange diskrete Beeinflussung der Meinungen ihrer Kollegen trug nun endlich Früchte. Schließlich war man übereingekommen, ihr alles anzuvertrauen, und in eben diesem Moment schlich sich ein Bote leise durch das Ludgate aus der Stadt hinaus. Außerdem war man sich einig, daß es für den Erfolg der Strategie der Sieben unerläßlich war, über das Treffen strengstes Stillschweigen zu wahren.
Zu seiner Überraschung fand er bei seiner Heimkehr Silversleeves vor, der auf ihn gewartet hatte. Der Mann tat ihm schon fast leid, so gehetzt wirkte er. Nun rannte er auf den Kaufmann zu und flehte ihn um Neuigkeiten an.
Der Kaufmann überlegte rasch. »Ihr seid zu Longchamp unterwegs?« fragte er. Silversleeves nickte. »Dann sagt ihm, daß London loyal ist.«
Sogleich machte sich ein erleichterter Silversleeves auf seinen Weg in den Tower, während Bull sich überlegte, ob er eben gelogen hatte. Aber nein, ein Bull log nie. »Ich habe ja nur gesagt, daß London loyal ist«, murmelte er laut vor sich hin. Er hatte nicht gesagt, wem diese Loyalität galt.
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit sah David Bull, der den ganzen Nachmittag lang vom Ludgate aus nach Zeichen der heranrückenden Streitkräfte Ausschau gehalten hatte, eine sonderbare kleine Prozession. Wer waren diese zwanzig vermummten Reiter, die von Männern mit Fackeln und Laternen durch die stillen Straßen der Stadt geführt wurden? David folgte ihnen neugierig auf ihrem Weg den Hang zum Walbrook hinunter. Am London Stone hielt die Gruppe an. Drei Reiter ritten einen Weg gegenüber des Steines hinauf, einige andere stiegen von ihren Pferden. David schlich sich noch ein wenig näher an sie heran. Er bemerkte eine große Gestalt mit einer Laterne, die sich von der Gruppe entfernte und in eine dunkle Gasse einbiegen wollte. David rannte ihr nach, berührte sie am Arm und fragte leise: »Sir, könnt Ihr mir sagen, wer diese Leute sind?«
Da wandte sich die Gestalt ihm zu, und überrascht erkannte er im Schein der Laterne das Gesicht seines Vaters. »Geh heim!« zischte Bull. »Ich werde dir später alles erklären.«
Doch David zögerte, er konnte seine Neugier einfach nicht zügeln. »Aber wer sind denn diese Leute, Vater?« flüsterte er.
Die gemurmelte Antwort seines Vaters versetzte ihn in noch größeres Erstaunen: »Prinz Johann, du Dummkopf. Und jetzt geh!«
Erleichtert hatte Ida vernommen, daß ihr Mann und seine Kaufmannskollegen loyal waren. Offensichtlich zeigte ihr Einfluß nun doch eine Wirkung. Bull war zwar nur ein ungehobelter Kaufmann, aber immerhin hatte er Ehrgefühl, dachte sie.
Als David nun nach Hause kam und ihr erzählte, was passiert war, konnte sie es erst gar nicht fassen. »Da mußt du etwas falsch verstanden haben«, sagte sie nur. Aber als eine Stunde verstrichen war, begann sie, nachdenklich zu werden. Was führte ihr Mann im Schilde? Als Bull schließlich heimkehrte, fragte sie ihn sogleich mit eisiger Stimme: »Was hast du getan?«
»Einen Handel abgeschlossen«, antwortete er kühl.
»Du hast mit dem Verräter Johann verhandelt?«
»Ja, mit Johann.« Lag Verachtung in seiner Beherrschtheit?
»Dem Feind des Königs. Was für einen Handel?«
Bull war so zufrieden, daß es ihm egal war, was seine Frau von ihm dachte. »Morgen wird Prinz Johann zusammen mit dem königlichen Rat offiziell die Stadt betreten. Wir werden die Tore öffnen und sie willkommen heißen. Dann wird die Stadt Prinz Johann und dem Rat ihre volle Unterstützung beweisen, indem sie Longchamp absetzen wird. Wenn nötig, werden wir den Tower stürmen.«
»Und dann?«
»Dann werden wir schwören, Johann als König Richards Nachfolger anzuerkennen, und nicht Arthur.«
»Warum habt ihr das getan?« Idas Stimme war heiser vor Mißbilligung.
Bull lächelte nur. »Als Gegenleistung für Londons Zusammenarbeit in diesen kritischen Zeiten hat Prinz Johann uns etwas gewährt, das wir dringend brauchen.«
»Und das wäre?«
»Die städtische Selbstverwaltung natürlich. London ist jetzt eine Kommune. Wir werden morgen unseren Bürgermeister wählen. London ist frei.«
Kurze Zeit war Ida zu überrascht, um Worte zu finden, dann brach es aus ihr heraus. »London eine Kommune!« schrie sie. »Nur, damit ihr Kaufleute euch Barone nennen und so tun könnt, als sei euer Bürgermeister ein König? Dafür habt ihr England an diesen Teufel Johann verkauft? Verräter!«
Bull zuckte nur die Schultern und wandte sich von ihr ab. Deshalb sah er auch nicht, daß David Tränen in die Augen gestiegen waren und er seinen Vater nicht nur entsetzt, sondern zum erstenmal in seinem Leben haßerfüllt anstarrte, bevor er aus dem Haus rannte.
Pentecost ritt mit vier Reitern durch die dunklen Straßen. Er hatte sich der Patrouille angeschlossen, um eventuelle Neuigkeiten herauszufinden. Sein Gespräch mit Longchamp hatte ihm wieder Mut gemacht. Der Kanzler mochte zwar manchmal etwas ungeschickt sein, doch seine kühle Entschlossenheit war zu bewundern. Pentecost hatte erfahren, daß seine Burgen bestens verteidigt werden konnten, und auch die Vorrichtungen am Tower waren in gutem Zustand. »Morgen bei Tagesanbruch werdet Ihr kontrollieren, daß auch wirklich alle Tore Londons geschlossen bleiben, und zwar auf meine Anordnung hin!« hatte er Silversleeves befohlen. Sodann hatten sie gemeinsam einen Brief an König Richard aufgesetzt, in dem Johanns verräterische Machenschaften ausführlich geschildert wurden. »Wenn die Stadt fest bleibt, wie Ihr mir gesagt habt, dann können wir Johann wahrscheinlich abwehren«, hatte Longchamp gemeint. »Und dann werden wir für Euch natürlich auch ein weiteres Landgut finden, mein Freund Silversleeves.«
Die Patrouille war am Fuß von Cornhill angelangt und wollte gerade zum Tower zurückkehren, als sie drei Ritter vom Fluß heraufreiten sah. Als der Anführer der Patrouille ihnen befahl, sich zu erkennen zu geben, antwortete einer der Ritter nur: »Wer seid Ihr, dies von uns zu fordern?«
»Männer des Kanzlers. Und nun sagt mir, wer Ihr seid!« Die Ritter unterhielten sich kurz leise miteinander, dann sagte einer der drei: »Ich bin Sir William de Montvent. Und Euer Herr ist ein Hund!«
Johanns Männer. Was hatte dies zu bedeuten? Silversleeves blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Er hörte, wie Schwerter gezückt wurden, sah das schwache Aufblitzen von Stahl in der Dunkelheit, und schon trabten die Ritter auf sie zu.
Instinktiv versuchte Pentecost, sein Pferd umzulenken und zu entkommen. Aber der Kies auf dem Weg und Pentecosts Panik brachten das Pferd dazu, auszurutschen und zu stürzen, und Pentecost hatte noch Glück, sich bei dem Sturz auf den harten Boden nicht zu verletzen.
Bis er es geschafft hatte, wieder auf die Füße zu kommen, waren zwei der drei Ritter schon gut hundert Meter von ihm entfernt, doch der dritte war noch da und blickte kühl auf ihn herab, das Schwert nach wie vor gezückt. »Wie wär's mit einem kleinen Schwertkampf?« fragte er höhnisch und begann gelassen, von seinem Pferd abzusteigen.
Entsetzt zog Pentecost sein Schwert. Der Ritter kehrte ihm beim Absteigen den Rücken zu. Silversleeves stach zu; von einem tiefen Hieb tödlich getroffen, brach der Ritter mit einem Aufschrei zusammen. Pentecost sah sich um. Was sollte er nun tun? Die anderen waren nicht mehr zu sehen.
In diesem Moment sah er eine niedergeschlagen wirkende Gestalt vom West Cheap her durch die Dunkelheit auf ihn zulaufen. Es war David Bull. Pentecost zögerte. Sollte er sich verstecken? Zu spät – der Junge hatte ihn bereits entdeckt und rannte zu ihm. Erschrocken hielt er inne, als er den gefallenen Ritter erblickte. »Er hat mich angegriffen«, beeilte sich Silversleeves zu sagen. »O Sir«, rief der Junge, »wißt Ihr schon, was passiert ist? Mein Vater und die Aldermen haben London an Prinz Johann verkauft! Die Stadt soll eine Kommune werden.« Wieder war er den Tränen nahe. »Damit ist wohl alles verloren?« fragte er geknickt.
Pentecost blickte sich hastig um. Die Ritter würden sicher bald zurück sein, um ihren Gefährten zu suchen. Hatte noch jemand den Mord gesehen? Er glaubte es nicht.
»Noch ist nicht alles verloren«, sagte er. »Der Kanzler ist hier. Wir haben Leute, die für uns kämpfen.«
»Ihr werdet Euch also Prinz Johann widersetzen und für König Löwenherz kämpfen?«
»Selbstverständlich«, antwortete Pentecost. »Du doch auch, oder etwa nicht?«
»O ja«, rief David Bull.
»Gut. Dann nimm mein Schwert«, sagte Silversleeves und reichte es ihm. »Ich werde seines nehmen.« Er bückte sich und hob die Waffe des toten Ritters auf. Und dann stach er das Schwert des Ritters direkt in David Bulls Herz. Er legte das Schwert dem gefallenen Ritter wieder in die Hände und schloß dessen Finger um den Knauf, dann begab er sich mit seinem Pferd in eine Gasse in der Nähe und wartete ab.
Alles geschah so, wie er es erwartet hatte. Nach wenigen Minuten kehrten die anderen beiden Ritter, die die Patrouille bis zum Tower verfolgt hatten, zurück, um nach ihrem Gefährten zu sehen. »O mein Gott«, rief einer. »Er ist von einem Jungen getötet worden.«
»Der Junge hat ihn von hinten angegriffen. Seht nur!«
»Aber vor seinem Tod hat er es noch geschafft, das kleine Biest zu töten.« Sie hoben die Leiche ihres Kameraden auf und ritten davon.
Kurz darauf tauchte Pentecost bei dem Aldermann auf. »Ich möchte Euch um einen Gefallen bitten«, sagte er. »Ich habe Longchamp verlassen. Er ist am Ende. Würdet Ihr bei Johann und dem Rat ein gutes Wort für mich einlegen?«
Da Bull sich ein wenig schuldig fühlte, weil er ihn vorher an der Nase herumgeführt hatte, willigte er grummelnd ein.
»Ihr seid wirklich ein wahrer Freund!« sagte Silversleeves.
»Habt Ihr zufällig meinen Jungen gesehen?« wollte Bull noch wissen. »Er ist vor einem Weilchen auf die Straße gerannt.«
»Nein«, erwiderte Pentecost.
Am siebten Oktober 1191 fand in der Geschichte Londons ein einmaliges Ereignis statt. Von der großen Glocke von St. Paul's herbeigerufen, traf sich der alte Folkmoot, der sich aus den Bürgern Londons zusammensetzte, und vernahm, wie der Rat in Anwesenheit von vielen Magnaten und natürlich Prinz Johann den Kanzler Longchamp absetzte. Johann wurde als Nachfolger auf den Thron ausgerufen. Außerdem wurde erklärt, daß London eine Kommune werden und einen Bürgermeister bekommen sollte, was allerdings noch von König Richard – falls er je zurückkehrte – bestätigt werden mußte.
Bei dieser Zeremonie hielt sich Alderman Sampson Bull abseits von seinen Mitkämpfern und vergoß stille Tränen. Als ihm die Tragödie seines Sohnes mitgeteilt worden war und er den Leichnam Davids heimholte, hatte er in seinem Schmerz zuerst Ida die Schuld gegeben. »Du hast ihn gegen mich aufgewiegelt und seinen Kopf mit Unsinn vollgestopft!« schrie er. »Jetzt kannst du sehen, wozu dies geführt hat! Verlasse mein Haus, und zwar für immer!« Als sie sich weigerte, schlug er sie.
Sie fühlte sich so schuldig, sie war so entsetzt, hatte soviel Mitleid mit dem Kaufmann angesichts seiner Pein, daß sie sich nicht gegen ihn zur Wehr setzte. Erst als er zum drittenmal ausholte, flehte sie: »Schlag mich bitte nicht noch einmal! Ich bin schwanger.«

1215

Schloß Windsor war ein hübscher Anblick. Es war im letzten Jahrhundert auf einem eichenbestandenen Hügel errichtet worden und thronte nun wie ein Wächter über den grünen Wiesen an der Themse. Von hier aus hatte man einen hervorragenden Blick auf die umliegenden Weiler und die ganze Umgebung. Um den breiten Gipfel über den Bäumen erhoben sich die hohen Zinnen der Burg. Im Gegensatz zu dem eckigen, grimmigen Tower strahlte diese andere, flußaufwärts gelegene große Königsburg etwas Ruhiges, fast Freundliches aus.
Silversleeves hatte sich nur etwa drei Meilen von der Burg entfernt, als er sich wünschte, dies nicht getan zu haben. Als er an diesem Junimorgen ausgeritten war, hatte die Sonne geschienen, aber jetzt setzte ein heftiger Regen ein. Mit den Regentropfen, die sich an der Spitze seiner großen Nase sammelten, gab er eine traurige Gestalt ab, und dies nicht nur wegen seines Alters. Schließlich zog der mächtige Graf Marshai, einer der größten Beamten des Königreichs, mit über Siebzig noch immer auf seinem Pferd in den Kampf. Aber Silversleeves mit seinen hängenden Schultern und seiner Nase, die im Lauf der Jahre noch länger geworden zu sein schien – und der in seinen fünfzig Jahren am Exchequer niemals befördert worden war –, gab eine ausgezeichnete Zielscheibe für Spott ab. Inzwischen kursierten mehrere lustige Fassungen von der Geschichte, wie er damals von König Heinrich II. aus der Westminsterhalle hinausgejagt worden war. Die Seitenwechsel, die er in letzter Minute vollzogen hatte, waren zu weiteren, hinter vorgehaltener Hand erzählten Legenden geworden. Und wäre da nicht die Tatsache, daß er noch immer sämtliche Exchequer-Rolls auswendig kannte und Rechenaufgaben blitzschnell im Kopf lösen konnte, dann hätte man ihn wohl schon vor vielen Jahren in den Ruhestand versetzt.
Immerhin konnte er sich damit trösten, daß er wichtig genug war, um zu einer großen Versammlung eingeladen zu werden, die vor drei Tagen auf einer Wiese in der Nähe des Schlosses, die den Namen Runnymede trug, stattgefunden hatte.
Richard Löwenherz war kein guter König gewesen, dafür hatte er sich viel zu kurz in England aufgehalten. Als er schließlich auf dem Schlachtfeld fiel und sein Bruder Johann ihm nachfolgte, hofften viele, daß alles besser werden würde. Natürlich konnte niemand vorhersehen, welches Unheil Johanns Regentschaft über das Land bringen würde. Er hatte seinen Neffen, den Jungen Arthur aus der Bretagne, ermordet. Dann hatte er auf einer Reihe von schlecht geführten Feldzügen nahezu das gesamte Reich seines Vaters auf der anderen Seite des Kanals verloren. Er schaffte es, sich derart heftig mit dem Papst zu streiten, daß dieser über ganz England ein Interdikt verhängte. Jahrelang gab es keine Messen; nicht einmal eine anständige Beerdigung war möglich. Schließlich stieß er so viele von Englands mächtigen feudalen Familien vor den Kopf, daß eine entschlossene Gruppe sich gegen ihn auflehnte, um ihn zur Vernunft zu bringen.
Das Ergebnis war die Magna Charta, die Johann vor drei Tagen auf Runnymede mit seinem Siegel hatte bestätigen müssen.
Eigentlich war es ein konservatives Dokument. Bei den meisten Bedingungen, die es dem König stellte, und den grundlegenden Freiheiten, die es dem Volk versicherte, handelte es sich um die schon lange eingebürgerten Regelungen der feudalen Gesellschaft und des alten englischen Gewohnheitsrechtes. Dennoch gab es einige Verbesserungen: Witwen wie Ida zum Beispiel konnten nicht länger zu einer erneuten Heirat gezwungen werden, und bestimmte Klauseln sollten die Menschen vor einer Gefangenschaft ohne Gerichtsverhandlung schützen. Einige der Punkte waren tatsächlich revolutionär. Die Rebellen hatten durchgesetzt, daß es anstatt des alten Rats der Großen – der Gruppe hoher Adliger, die bislang den König beraten hatten – einen gewählten Rat von fünfundzwanzig Männern geben sollte, dem auch der Erzbischof von Canterbury und der Bürgermeister von London angehören sollten. Dieser Rat sollte sicherstellen, daß der Monarch sich an die Magna Charta hielt. Wenn er es nicht tat, konnte der Rat ihn absetzen.
»So etwas hat es noch nie gegeben!« bemerkte Silversleeves zu einem der rebellischen Barone. »Noch nie hat ein Monarch sich so einem Gesetz unterworfen. Damit wäre England ja eine Kommune, und der König wäre nicht mehr als ein Bürgermeister.«
»Ganz recht, mein Lieber«, erwiderte der Edelmann. »Schließlich hat uns London auf diese Idee gebracht.«
Auch London wurde in der Magna Charta erwähnt. Sonderbarerweise hatten die Aldermen nicht auf ihrem Recht bestanden, aus London eine Kommune zu machen, obwohl sie entschlossen waren, sich ihre Privilegien zu erhalten. »Es ist wegen der Steuern«, erklärte Bull Silversleeves. »Eine Kommune wird ja steuermäßig wie ein einziger Baron behandelt. Das hieße natürlich, daß die gewöhnlichen Bürger von den Reichsten von uns erwarten würden, einen größeren Anteil zu zahlen. Wenn aber der König jeden einzelnen Bürger individuell besteuert, dann trifft es uns Aldermen nicht so hart. Also wollen wir die Kommune doch nicht so sehr, wie wir ursprünglich dachten.« Die Stellung des Bürgermeisters war in der Magna Charta auf alle Zeiten gesichert. »Den lassen wir uns nie mehr wegnehmen«, versicherte Bull Silversleeves. Eine weitere kleine Klausel besagte, daß sämtliche Reusen aus der Themse entfernt werden sollten, ebenso wie aus dem Medway und allen anderen Flüssen Englands. Nur der Küstenbereich war davon ausgenommen. So hatte also Alderman Sampson Bull nach mehr als vierzig Jahren den Sieg über den König davongetragen.
Auf der Suche nach Schutz vor dem Regenguß bog Silversleeves auf einen Weg ein, der zu einem Weiler führte, den er bislang noch nie besucht hatte. Er ritt zu einem Bauernhaus und bat um Einlaß. Erst als er langsam wieder trocken wurde, bemerkte er etwas Merkwürdiges an der Bauernfamilie, die ihm zögernd ihre Gastfreundschaft gewährt hatte: Der Vater hatte eine weiße Haarsträhne. Silversleeves hielt sich etwa eine Stunde bei ihnen auf, bis es zu regnen aufhörte. Dann ritt er noch bei dem Verwalter des Anwesens vorbei, zu dem der Weiler gehörte.
Zufrieden lächelnd kehrte Silversleeves spät an diesem Tag nach London zurück.
Das Leben hatte es gut gemeint mit Adam Ducket. Er war jetzt Mitglied der Fischhändlergesellschaft, einer bescheidenen Handwerksgilde, die ihm aber eine achtbare Position sicherte. Zwar hatte es auch in seinem Leben ein trauriges Ereignis gegeben – vor einigen Jahren war seine erste Frau im Kindbett gestorben. Doch sein alter Patron Barnikel hatte eine Tochter, Lucy, im heiratsfähigen Alter, und im Frühling sollte die Hochzeit stattfinden.
An einem trüben Novembernachmittag kam ein Bote mit sonderbaren Nachrichten zu Adam Duckets Haus am Cornhill. Er sollte in zwei Wochen vor dem Hustings erscheinen. »Ich habe doch nichts verbrochen«, sagte er zu dem Boten. »Was soll das also?« Als er es am nächsten Tag im Haus des Bürgermeisters herausfand, wollte er seinen Ohren kaum trauen.
Das alte Hustings-Gericht versammelte sich im allgemeinen immer montags in einer einfachen steinernen Halle in Aldermanbury, einem Bezirk gleich oberhalb des Judenviertels. Neben der Halle befanden sich ein offener Vorplatz und mehrere Höfe. Die Straßen in dieser Gegend beschrieben merkwürdige Kurven. Bis vor einigen Generationen waren an diesem Ort noch die Umrisse eines römischen Amphitheaters zu erkennen, doch inzwischen war es völlig in Vergessenheit geraten. Der Gerichtshof, in dem sich der Bürgermeister und die Aldermen trafen, wurde als Gildenhalle bezeichnet.
In dieser Gildenhalle stand also Adam Ducket an einem kalten Novembermorgen, neben sich Barnikel und Mabel zur Unterstützung, vor dem Bürgermeister und den Aldermen Londons sowie vor seinem Ankläger, Silversleeves.
Die letzten zehn Tage waren wie ein verstörender Traum gewesen. Die Anklage war von einem Mann gekommen, den er kaum kannte, und man warf ihm nicht einmal ein Verbrechen vor. »Sie behaupten, daß ich nicht das bin, was ich zu sein glaube«, sagte er zu Mabel. »Und ich kann es nicht beweisen.«
Er hatte es versucht. Gleich, nachdem er die Beschuldigung erfahren hatte, war er zu dem Weiler in der Nähe von Windsor geritten. Aber zu seiner Verwunderung bestätigten die entfernten Vettern, die er noch nie besucht hatte, und der Verwalter des Feudalherrn seine Schuld. »Wenn nur meine Mutter noch lebte!« jammerte er. »Sie hätte mir vielleicht mehr dazu sagen können.« Aber so konnte ihm niemand helfen.
Silversleeves hatte sich ans Werk gemacht. Er mochte zwar dürr, gebeugt und eine Zielscheibe öffentlichen Spottes sein, aber jetzt, voll und ganz in seinem Element, wuchs er schier über sich hinaus. »Die Anklage ist ganz einfach«, erklärte er. »Hier vor dem Bürgermeister und den Aldermen steht Adam Ducket, Fischhändler und angeblicher Bürger Londons. Meine Pflicht an diesem Tag ist es, Euch zu erklären, daß ich herausgefunden habe, daß er ein Betrüger ist. Er ist zwar Adam Ducket, aber ein Bürger dieser noblen Kommune ist er nicht. Adam Ducket ist kein Freier, er ist ein Leibeigener.«
Die Großen Londons seufzten gelangweilt. »Gebt uns einen Beweis!« sagten sie.
Eine solche Beschuldigung, der Vorwurf der Leibeigenschaft, war keineswegs ungewöhnlich und wurde seit vielen Generationen immer wieder vor den Londoner Gerichten erhoben. Zwar konnte ein Leibeigener theoretisch davonlaufen und in einer Stadt leben, und wenn er es unbehelligt ein Jahr und einen Tag lang schaffte, dann war er frei. Doch solche Flüchtigen wurden meist als Vagabunden behandelt, wenn sie kein Geld hatten. Die Freien in London hatten ihre Verwandten, die sie einstellten, und ihre Gilden, die geschützt werden mußten. Sie waren eine stolze Gemeinschaft. Und wenn die Freien von London etwas nicht ausstehen konnten, dann war es die Anwesenheit von Leibeigenen unter ihren Bürgern. »Wir sind Barone«, hieß es, »keine entlaufenen Leibeigenen.« So war es kaum denkbar, daß ein Leibeigener es schaffte, sich als Bürger zu verkleiden.
Nun brachte Silversleeves Adams Vettern herein, die er von Windsor herbeizitiert hatte, und dann auch noch den Verwalter des dortigen Anwesens. Alle schworen, daß Adam die Äcker, die sein Vater und vor ihm seine Vorfahren besessen hatten, zwar besaß, aber nicht mit Geldleistungen, sondern mit Diensten dafür bezahlte. Und in gewisser Weise hatten sie recht. Denn in all den Jahren hatten Adams Mutter und später auch er selbst sich nie die Mühe gemacht, sich darum zu kümmern, und seine Vettern hatten den Pachtzins für Adams Land mit Arbeit beglichen und dafür die bescheidenen Erträge für sich behalten. Seit zwölf Jahren wußte der Verwalter, daß Adams Land mit Diensten entgolten wurde, die seine Vettern für ihn übernahmen. Also war Adam, obwohl er in London lebte, was diese Angelegenheit betraf, ein Leibeigener.
»Ich wußte, daß ich Vettern habe, die Leibeigene sind, aber wir waren immer frei«, protestierte der junge Mann. Doch nun zog Silversleeves seinen Trumpf aus dem Ärmel. »Ich habe das große Domesday Book von König Wilhelm befragt«, informierte er das Gericht. »Und dort taucht nichts auf von freien Besitzungen. Die Mitglieder dieser Familie waren immer Leibeigene.« Die Tatsache, daß vor eineinhalb Jahrhunderten ein normannischer Beamter einen der wenigen Fehler in dieser großen Erhebung verursacht hatte, indem er vergessen hatte, Duckets Vorfahren als Freie zu registrieren, war etwas, das Silversleeves nicht wußte.
Der Bürgermeister schwieg, die Aldermen wirkten ernst. Da ergriff Sampson Bull das Wort. »Irgend etwas stimmt hier nicht«, sagte er grimmig. »Der Mann dieses Vaters war Simon der Waffenschmied, ein geachteter Bürger, mit dem Silversleeves eine Auseinandersetzung hatte, wenn ich mich recht erinnere. Wenn Ducket Simons Sohn ist, dann ist er ein rechtmäßiger Bürger.«
»Wenn Simon ein Bürger war«, meinte Silversleeves, »dann hätte er dies wahrscheinlich nicht sein dürfen. Aber das spielt keine Rolle, denn Adam Ducket besitzt in eben diesem Moment Land, für das er Dienste leistet. Er ist in diesem Moment ein Leibeigener. Oder sollen wir etwa die uralten Gesetze Londons ändern und aus diesem Leibeigenen einen Bürger machen?«
Dagegen kam nicht einmal Bull an. Ducket war ein Leibeigener, das stand außer Frage.
»Es tut mir leid, Adam Ducket«, sagte der Bürgermeister. »Das ist eine schlimme Sache, und Ihr seid wahrscheinlich nicht einmal schuld daran, aber wir können keine Leibeigene als Bürger dulden. Ihr müßt uns verlassen.«
»Und was ist mit meinem Handwerk? Ich bin Fischhändler!«
»Ich fürchte, das müßt Ihr unterlassen«, erwiderte der Bürgermeister, »da Ihr ja kein Bürger seid.«
Hilflos wandte sich Adam an Barnikel und Mabel. »Was soll ich nur tun?« fragte er sie.
»Wir werden dir schon helfen«, versprach Barnikel.
»Und was ist mit Lucy?«
Nun sprach Mabel als echte Londonerin, auch wenn sie Adam fast wie eine Mutter gewesen war. »Es ist zwar schrecklich, aber Lucy kann dich nun nicht mehr heiraten. Du bist kein Bürger.«
So hatte sich Pentecost Silversleeves nach einer sehr langen Wartezeit endlich doch noch rächen können.
1224
Zweifellos ging es wieder bergauf. Schwester Mabel, die inzwischen fünfundsiebzig Jahre alt war, betrachtete die Welt um sich herum mit großer Zuversicht.
England war befriedet. Nach einem ständigen Streit zwischen den Baronen und dem König war Johann plötzlich gestorben. Er hatte einen Sohn hinterlassen, der nun, weil er noch sehr jung war, mit Hilfe eines Regentschaftsrats das Land regierte. Der Rat leistete gute Arbeit. Die Magna Charta und die darin verankerten Freiheiten waren noch zweimal bestätigt worden. London hatte einen Bürgermeister. Zwar war es den Londonern nicht gelungen, die Gemeindesteuer zu vermeiden, aber die neue Regierung ließ sich nicht auf fremde Kriege ein und hatte es nicht nötig, hohe Abgaben zu fordern. Sogar mit dem Papst hatte man sich geeinigt, worüber Mabel sich besonders freute.
Auch in London hatte es in letzter Zeit einige Verbesserungen gegeben. Über dem Kirchenschiff von St. Paul's hatte man eine große Kuppel errichtet, die dem massigen Gebäude Anmut und Würde verlieh. Mabel freute sich auch über die zwei neuen religiösen Gruppen in der Stadt, die nun damit beschäftigt waren, ihre bescheidenen Unterkünfte zu errichten: die Anhänger des heiligen Franz, die Franziskaner oder Greyfriars, und die Dominikaner, die Blackfriars.
»Ich mag die Friars«, pflegte Mabel oft zu sagen. »Sie tun etwas.« Die Franziskaner, die sich vor allem der persönlichen Armut verpflichtet hatten, kümmerten sich um die Armen, die Blackfriars um den Schulunterricht. Mabel mochte vor allem die Greyfriars. »Solange wir uns alle darum bemühen, wird alles besser werden«, sagte sie oft. Mit diesem Gedanken hatte sie sich auch an ihr heutiges Tagewerk gemacht.
Sie waren schon ein merkwürdiges Paar, wie sie sich da langsam vorwärts bewegten. Mabel, noch immer stark und voll Energie, auch wenn sie etwas langsamer geworden war, neben ihr die dürre, stocksteife Gestalt, die ihren Arm umklammerte. Doch so dünn und gebeugt Silversleeves auch war, er wirkte noch immer, als habe er das ewige Leben.
Er war völlig blind, und jede Woche ging Mabel mit ihm spazieren. Zuerst setzte sie ihn auf seinen sanften kleinen Zelter und führte ihn zu einem passenden Fleck, dann lief sie ein paar Schritte mit ihm, bevor sie ihn wieder heimbrachte.
Heute wollte sie ihn zur London Bridge führen. Anstelle der alten Holzbrücke sah man nun eine neue Steinbrücke kurz vor ihrer Fertigstellung. Es hatte lange genug gedauert. Dreißig Jahre waren vergangen, bevor eine Straße die großen Piers verband, und dann war diese vom Feuer zerstört worden, und die Arbeiten mußten von vorn anfangen. Aber nun überquerten neunzehn große Steinbögen die Themse, und die auf ihnen ruhende Brücke war vor kurzem so verbreitert worden, daß nun Häuser darauf standen und die Straße zwischen diesen Häusern noch immer breit genug war, daß zwei Karren sich kreuzen konnten. In der Mitte der Brücke gab es eine kleine steinerne Kapelle, die Thomas Becket, dem Stadtheiligen, der einen Märtyrertod gestorben war, gewidmet war.
Sie ließen das Pferd an der Kirche St. Magnus am Nordende der Brücke stehen, und Mabel führte den alten Mann zu Fuß über die Brücke.
»Wo sind wir? Was ist das für eine Straße?«
»Die Straße zum Himmel. Oder zur Hölle.«
»Ich will wieder zurück. Du führst doch etwas im Schilde«, beschwerte er sich. Und recht hatte er. Mabel hatte eine Mission, die mit ihrem armen alten Bekannten, dem Kustos von St.-Lawrence-Silversleeves, zu tun hatte. Der Mann war schon vor langer Zeit gestorben, und auch seine Frau lebte nicht mehr. Eine Tochter war schwerkrank, sie war im Krankenhaus aufgenommen worden; die andere fristete ein jämmerliches Dasein in einer schäbigen Hütte nicht weit von der Kirche. Die Familie Silversleeves weigerte sich, etwas für sie zu tun. Mabel hatte sich bei Pentecost und seinen Kindern beschwert, aber nichts war geschehen. Doch sie hatte sich geschworen, für die Tochter des Kustos etwas zu tun. Und da ihr die kleine Kapelle auf der Brücke so gut gefiel, hatte sie beschlossen, den alten Mann heute hierher zu führen. Dort angekommen, geleitete Mabel Silversleeves zu einer Bank.
»Was ist das für ein Ort?«
»Eine Kirche. Und jetzt hört mir gut zu: Ich habe keine Medizin, um Euch wieder sehend zu machen. Aber ich werde es schaffen, Euch Eure Sünden einsehen zu lassen. Ihr kniet Euch jetzt nieder und betet so lange, bis Ihr Euch entschlossen habt, etwas für die Tochter des Kustos zu tun.«
»Und wenn ich es nicht tue?«
»Dann lasse ich Euch einfach hier.«
Grummelnd kniete er sich hin, und Mabel begab sich in eine andere Bank, um selbst still zu beten. Während sie in ihr Gebet vertieft war, hörte sie plötzlich Silversleeves' dünne Stimme: »Ich kann wieder sehen!« Er starrte auf die Innenflächen seiner Hände. »Ich kann wieder sehen!«
Mabel bekreuzigte sich. »Der Heilige hat uns ein Wunder zuteil werden lassen. Werdet Ihr der armen Frau jetzt etwas geben?«
»Ja«, sagte er noch immer ganz benommen. »Ja, wahrscheinlich werde ich ihr jetzt etwas geben.« Er blickte sich in der Kapelle um. »Erstaunlich! Ich kann wirklich wieder sehen. Was ist das für eine Kapelle?«
»Die Kapelle des heiligen Thomas.«
»Thomas?«
»Thomas Becket natürlich. Wer sonst?«
Einen Monat später schied Bruder Michael friedlich aus dem Leben, von Mabel liebevoll umsorgt. Zwar hatte er es nicht mehr geschafft, von seinem Bruder den Gewinn aus der vor langer Zeit abgeschlossenen Wette einzufordern, aber das war auch nicht nötig gewesen. Bull hatte St. Bartholomew's bereits eine sehr großzügige Spende zukommen lassen.
Mabel betete noch eine Weile still an seinem Sterbebett, dann trat sie vor seine Zelle. Da sah sie im Zwielicht dieser frühen Stunde eine Gestalt am anderen Ende des Ganges.
Der langschwänzige Dämon drehte sogar seinen Kopf und starrte sie an. Offenbar war er gekommen, um sich seine Beute zu holen, doch nun schlich er mit leeren Händen davon, was Mabel sehr zufriedenstellte.