DER BÜRGERMEISTER
1189
IM SOMMER 1189 war König Heinrich II. von England gestorben,
und da der von ihm gekrönte Erbe schon in den Tod vorausgegangen
war, folgte sein zweiter Sohn Richard auf den Thron.
Es begann eine Zeit, die in den Bereich der Legenden
eingegangen ist. Denn welche historische Legende ist wohl bekannter
als die von Robin Hood und dem geldgierigen Sheriff von Nottingham,
vom guten König Richard, der auf einem Kreuzzug außer Landes
weilte, und seinem bösen Bruder Johann? Aus tatsächlichen
Ereignissen ist ein nettes Märchen entstanden. Doch was sich
wirklich in diesen Jahren ereignete, ist noch interessanter als das
Märchen. Es ereignete sich hauptsächlich in London.
Neuigkeiten verbreiteten sich rasch, wo
immer er sich aufhielt. Eines Morgens im August hatte sich eine
kleine Menge vor dem schönen neuen Tor versammelt, um der Ankunft
des Königs beizuwohnen. Niemand war so aufgeregt wie der Junge, der
ganz vorne stand.
David Bull sah fast genauso aus, wie sein Vater Sampson mit
Dreizehn ausgesehen hatte: hellhaarig, mit einem breiten, rosigen
Gesicht und klaren blauen Augen, die nun vor Aufregung
funkelten.
Sie standen vor der Eingangspforte zum Tempel. Von allen
kirchlichen Gebäuden, die in der ganzen Stadt entstanden, war
keines so stattlich wie die der beiden geistlichen Ritterorden.
Diese militärisch-religiösen Organisationen hatten sich zum Schutz
derjenigen verpflichtet, die in den Heiligen Krieg zogen. Nördlich
von Smithfield hatten sich die Ritter des Heiligen Johannes
angesiedelt, die sich um die Krankenhäuser kümmerten; hier, etwa
auf der Hälfte des Weges, der von St. Bride's Richtung Westen nach
Aldwych führte, lag das Gelände des mächtigen Templerordens, der
für große Mengen Geld und Nachschub sorgte. Die erst vor kurzem
errichtete massive Steinkirche erkannte man sofort aufgrund ihrer
Form – wie alle Kirchen dieses Ordens war sie nicht rechteckig,
sondern rund. Aus dieser Kirche würde nun gleich der größte Held
der Christenheit heraustreten: König Richard Löwenherz.
Ein Krieger war zu allen Zeiten ein Held. In den letzten
Jahrzehnten hatte sich in der Welt der Ritter jedoch einiges
verändert. Die Kreuzzüge gaben dem Ritter eine religiöse Berufung.
Der neue Zeitvertreib, der auf dem Festland entstanden war, die
Ritterturniere, brachte zusätzlichen Prunk, und aus den Höfen in
der Provence und aus Aquitanien kommend entstand eine Vorliebe für
Balladen und Geschichten über die höfische Liebe. Man pflegte die
höfischen Manieren, die bislang in der nördlichen Welt unbekannt
waren. Der vollkommene Ritter war ein Kämpfer, ein Pilger und ein
Minnesänger. Er betete zur Heiligen Jungfrau, doch sein heiliger
Gral war die edle Dame in ihrem Gemach. Er kämpfte auf den
Turnieren, doch er sang auch Balladen. Er war religiös, galant,
erotisch. Das Zeitalter der Ritterlichkeit dämmerte heran und kam
in den Geschichten des legendären König Artus und der Ritter seiner
Tafelrunde, die nun zum erstenmal aus dem Lateinischen und
Französischen ins Englische übersetzt wurden, zum vollsten
Ausdruck. Richard Löwenherz war der Held dieses neuen
Zeitalters.
Er war auf dem kultivierten Hof seiner Mutter in Aquitanien
aufgewachsen und konnte Gedichte und Balladen schreiben. Er liebte
die Turniere und war ein furchterregender Krieger,
Belagerungsexperte und Burgenbauer. Selbst diejenigen, die ihm sehr
nahestanden, die wußten, daß er auch eitel und grausam war, mußten
zugeben, daß er neben seiner Gabe des Herrschens auch über
unvergleichlichen Stil und Charme verfügte. Nun hatte er die Bitten
der Templer und anderer erhört, die sich tapfer gegen die Sarazenen
im Heiligen Land behaupteten, und wollte sich auf das geheiligteste
aller ritterlichen Abenteuer, den Kreuzzug, begeben.
Der Kreuzzug sollte sogar die alte Eifersucht zwischen dem
König von Frankreich und den Plantagenets beschwichtigen. Der König
von Frankreich und Richard sollten gemeinsam – wie Brüder – in den
Kampf ziehen. Und die Expedition des Königs hatte auch etwas
Mystisches; angeblich nahm er das uralte Schwert König Artus', das
magische Excalibur, mit auf seine Reise.
Der alte König hatte in seinen letzten Jahren nur wenig Freude
gehabt. Die Empörung über Beckets Tod war immer heftiger geworden,
bis schließlich Heinrich öffentlich am Grab Thomas Beckets in
Canterbury Buße tat. Becket war zum Heiligen ausgerufen worden.
Dann war Heinrichs geliebte Mätresse, die holde Rosamunde,
gestorben. Seine Frau und die Kinder hatten sich gegen ihn gewandt;
zwei seiner Söhne einschließlich seines geplanten Nachfolgers waren
gestorben. Doch nun war der heldenhafte Richard zu seiner Krönung
nach England gekommen.
Ganz London nahm teil an diesem aufregenden Ereignis. David
sah auf der Themse eine Flotte von seetüchtigen Schiffen, die eine
Gruppe abenteuerlustiger Londoner – keine Adlige, sondern Söhne von
Kaufmannsfamilien wie seiner eigenen – auf den Kreuzzug des Königs
mitnehmen sollte.
Nun öffneten sich die Tore der Kirche. Jubel hob an, als eine
große, ansehnliche Gestalt in einem blaugoldenen Umhang, begleitet
von sechs Rittern, in das Sonnenlicht hinaustrat. Mit festem
Schritt ging er zu seinem Pferd, schwang sich behende in den Sattel
und ritt auf das Stadttor zu. Auf seinem Weg ließ Richard Löwenherz
noch einmal den Blick über die kleine Menge schweifen. Er sah den
Jungen, blickte ihm direkt in die Augen und lächelte. Er wußte
genau, daß er durch diese simple Geste den Jungen unwiderruflich
gewonnen hatte. Dann gab er seinem Pferd die Sporen und ritt nach
Westminster davon.
David Bull blickte ihm nach und murmelte: »Ich werde mit ihm
gehen. Ich muß auf den Kreuzzug.« Dann dachte er an den
schrecklichen Wutausbruch, den dieses Vorhaben bei seinem Vater
auslösen würde; doch sein Onkel Michael würde ihm schon helfen. Er
würde mit dem Vater reden.
An eben diesem Tag führte ein langnasiger
Mann auf einem Schecken eine elegant gekleidete Dame auf ihrem
Zelter und zwei Packpferde über die Brücke in die Stadt hinein. Der
Mann war Pentecost Silversleeves. Die Dame war Ida, die Witwe eines
Ritters, und auch wenn sie sich tapfer bemüht hatte, es nicht zu
tun, hatte sie doch eben zu weinen begonnen; sie sollte nämlich
verkauft werden.
Während sie auf die vor ihr liegende Stadt blickte, kam es Ida
vor, als habe sich die ganze Welt in Stein verwandelt. Zu ihrer
Linken sah sie die dicken Mauern der Festung am Ludgate, zu ihrer
Rechten die graue Masse des Towers. Über den beiden niedrigen
Hügeln von London, die mit Häusern übersät waren, thronten die
hohen, schmalen Turme von St. Paul's. Selbst am Wasser neben ihr
hatte man begonnen, massive Fundamente für eine neue Brücke zu
bauen, die sicherlich ebenfalls aus Stein sein würde. Und dann
erklangen die Kirchenglocken, feierlich, gedämpft, als ob sie
ebenfalls aus Stein wären.
Ida war dreiunddreißig. Unter ihrer steifen Kopfbedeckung war
ihr dunkles Haar straff zurückgekämmt und mit einem Tuch bedeckt.
Hinter dem Schleier verbarg sich ein ovales, hübsches Gesicht. Das
Gewand mit den breiten Ärmeln verhüllte einen schlanken, blassen
Körper mit kleinen Brüsten und langen Beinen. Sie war die Tochter
eines Ritters und die Witwe eines Ritters. Sie war eine Dame, doch
darum schien sich niemand weiter zu kümmern, nicht einmal König
Richard. Denn auf Befehl des Königs führte sie dieser langnasige
Kleriker davon, um sie mit einem ganz gewöhnlichen Kaufmann zu
verheiraten, von dem sie nichts weiter wußte, als daß er Sampson
Bull hieß.
»Könnt Ihr mir denn gar nichts über ihn sagen?« hatte sie
Silversleeves noch am Vortag gefragt.
»Es heißt, daß er sehr launisch ist.« Mehr erfuhr sie
nicht.
Dank der hervorragenden Verwaltung seines Vaters war König
Richard Löwenherz einer der reichsten Herrscher der christlichen
Welt; auf alle Fälle um einiges reicher als sein Rivale, der König
von Frankreich. Doch so ein Kreuzzug war teuer. Als der Papst vor
zwei Jahren zum dritten Kreuzzug aufgerufen hatte, um Jerusalem von
dem islamischen Herrscher Saladin zu befreien, hatte König Heinrich
eine Sondersteuer erhoben, den Saladinzehnt. Doch selbst dieser
reichte nicht aus, und so hatte König Richard schon vor seiner
Ankunft sein Schatzamt informiert, daß es sämtliche verfügbaren
finanziellen Mittel bereitstellen solle. Richard hatte bislang kaum
einen Fuß nach England gesetzt. »England kommt mir feucht und
langweilig vor«, hatte er seinen Vertrauten gestanden. »Doch wir
lieben es, weil es uns viel Geld bringt.«
Im Sommer 1189 war deshalb einiges zu verkaufen: Sheriffämter,
Handelsprivilegien, Steuerausnahmen. Unter den zu verkaufenden
Gütern des Königs befanden sich auch zahllose Erbinnen und Witwen,
die aufgrund des Feudalrechts seinem Schutz unterstanden; mit denen
er tun konnte, was ihm beliebte. Dies bedeutete, daß er die
aristokratischen Damen an die meistbietenden Käufer veräußern
konnte, wenn er dringend Bargeld brauchte.
Ida war die siebte Witwe, die Silversleeves in weniger als
sechs Wochen aufgestöbert und verkauft hatte. Er war stolz auf
seine Transaktion. Ida war arm. Wenn Pentecost nicht gewußt hätte,
daß der reiche Witwer Bull nach einer adligen Ehefrau Ausschau
hielt, hätte man Ida wohl nur schwer verkaufen können. Als
Pentecost nun die Tränen auf ihrem Gesicht sah, bemerkte er kühl:
»Macht Euch nichts draus, Madame. Wenigstens werdet Ihr für einen
guten Zweck verkauft.«
Als sie in den Cheap einbogen und an den buntbemalten
Holzbuden vorbeiritten, bekam Ida den Schreck ihres Lebens. Kurz
bevor sie zu der kleinen normannischen Kirche St. Maryle-Bow
gelangten, deutete Silversleeves auf eine Gruppe von Kaufleuten vor
der Kirchentür: »Das dort ist er, der Mann in Rot.« Als Ida das
grobe, rote Gesicht und den stämmigen Körper ihres zukünftigen
Mannes erblickte, fiel sie in Ohnmacht.
Pentecost sah untätig zu, während die Herumstehenden sich
bemühten, Ida wieder ins Leben zurückzurufen. Seine Gedanken
schweiften von der glücklosen jungen Witwe zu wichtigeren
Belangen.
Oberflächlich betrachtet hatte er zum erstenmal in zwanzig
Jahren gute Aussichten. Nicht nur, daß sein alter Feind, König
Heinrich, tot war, nein, er hatte sogar noch einen Patron
gefunden.
William Longchamp war jemand, der es aus eigener Kraft weit
gebracht hatte. Er war zäh, tüchtig und ehrgeizig und hatte sich im
Dienst der Plantagenets ein beträchtliches Vermögen erworben. Als
er Silversleeves kennenlernte, überlegte er sich gerade seinen
nächsten Schritt, und dazu brauchte er jemanden, der vollkommen von
seinem guten Willen abhängig war.
Pentecost hatte nie das Vertrauen seiner Vorgesetzten im
Schatzamt gewinnen können, so sehr er sich auch darum bemüht hatte,
und war deshalb höchst erfreut, als Longchamp sich plötzlich seiner
annahm. »Wenn ich ihm gute Dienste leiste«, erklärte er seiner
Frau, »dann macht er uns reich.« Dabei war er keineswegs arm; er
hatte von seinem Vater, der vor einigen Jahren gestorben war, ein
großes Vermögen geerbt. Aber er hatte auch eine ehrgeizige Frau und
drei Kinder, die ihn bereits eifrig befragten, mit welcher
Erbschaft sie wohl zu rechnen hätten, obwohl der älteste erst
sechzehn war. »Longchamp wird Kanzler von England werden«,
berichtete Silversleeves seiner Familie. »Er wird dem König zwar
eine stattliche Summe für dieses Amt zahlen müssen, aber das
Geschäft ist nahezu besiegelt.« Seine Frau küßte ihn, und die
Kinder klatschten begeistert in die Hände.
Es gab nur ein Problem. Richard Löwenherz würde in weniger als
zehn Tagen gekrönt werden. Bald darauf würde er sein Königreich
verlassen, um in seinen Kreuzzug zu ziehen. Aber würde er je wieder
zurückkehren? Viele zweifelten daran. Auf so einem Kreuzzug ließen
viele Menschen ihr Leben; einige starben im Kampf, doch die
Mehrheit fiel auf der langen, gefährlichen Reise nach Osten
Krankheiten oder Unfällen zum Opfer. Wenn der König überlebte, was
würde er bei seiner Rückkehr in seinem Reich vorfinden?
Die Lage im Reich der Plantagenets war kompliziert. Es hatte
drei Anwärter für das riesige Erbe König Heinrichs gegeben:
Richard, seinen Bruder Johann und ihren Neffen Arthur. Richard
hatte das gesamte Reich geerbt, Arthur den alten Familienbesitz der
Bretagne. Johann hatte nur ein paar reiche Ländereien erhalten,
darunter auch einige im Westen Englands, und mußte dafür
versprechen, sich während der Abwesenheit seines Bruders dem
Inselkönigreich fernzuhalten. Noch schlimmer war es jedoch für
Johann, daß das gesamte Reich nicht an ihn, sondern an den jungen
Arthur fallen würde, falls Richard starb, ohne einen Sohn zu
hinterlassen.
Es war gefährlich, daran bestand kein Zweifel. Ein leeres
Königreich, ein unzufriedener Bruder. Silversleeves war die
Situation absolut nicht geheuer. Aber eines war sicher: Was auch
immer an Unheil bevorstand, er würde nicht auf der falschen Seite
stehen, dafür würde er schon sorgen.
Am frühen Nachmittag betrat Schwester Mabel
die St.-Paul'sKathedrale, um hier wie üblich zu beichten. Und heute
hatte sie sogar tatsächlich etwas zu beichten.
Seit ihrer Vision vor einigen Jahren wußte Mabel, daß der
Teufel gegen den armen Bruder Michael und vielleicht auch gegen sie
etwas im Schilde führte. Doch nun war die Schlange der Versuchung
so schnell gekommen, daß sie sie völlig unvorbereitet erwischt
hatte.
Es war an einem Samstagmorgen gewesen, dem Tag, an dem in
Smithfield der Pferdemarkt stattfand. Sie und Bruder Michael waren
herumspaziert und hatten die Pferde bewundert. Eben wollten sie
sich auf ihren Rückweg zum Krankenhaus machen, als jemand einen
Warnschrei ausstieß. Sie sahen einen riesigen, kastanienbraunen
Hengst durch die auseinanderlaufende Menge geradewegs auf sie zu
galoppieren. Bruder Michael warf sich, ohne zu zögern, in den Weg
des Pferdes und griff nach seinem Zaumzeug. Zwei Männer kamen ihm
zur Hilfe. Weitere Schreie ertönten, dann gab es ein Geräusch, als
würde etwas zerreißen. Kurz darauf führte Bruder Michael, dessen
Soutane ziemlich zerfetzt war, den Hengst mit einem stolzen Grinsen
zurück zu seinem Besitzer.
Da wurde Mabel klar, daß sie noch nie seinen Körper gesehen
hatte. In ihrer Vorstellung war er immer groß und dünn gewesen,
doch hier zeigte sich ihr ein athletischer, gutgebauter Mann, der
sich die Fetzen seiner Soutane vom Leibe riß.
Zum erstenmal in ihrem Leben verspürte Schwester Mabel eine
körperliche Begierde. Sie wußte, daß der Teufel ihr dieses Gefühl
geschickt hatte. Sie betete Tag und Nacht, doch da sie tagtäglich
mit Bruder Michael zusammentraf, wurde sie sich seiner Anwesenheit
immer bewußter, bis sie schließlich eine allumfassende Liebe für
ihn empfand, die so stark war, daß ihr der Atem stockte, sobald er
auch nur den Raum betrat. Nach drei Wochen fühlte sie sich diesem
alles durchdringenden Gefühl so ausgeliefert, daß sie sich zur
Beichte aufmachte.
Unter einem der dunklen, hochaufragenden Säulenbögen von St.
Paul's fragte sie ein ziemlich überraschter junger Priester: »Ist
denn schon etwas passiert?«
»Nein, Vater«, erwiderte sie traurig.
»Dann bete zu unserer gesegneten Mutter, der Jungfrau Maria«,
sagte er, »und wisse in deinem Herzen, daß du nicht sündigen
wirst.«
Doch Mabel hatte bei all ihrer Frömmigkeit einen Sinn für das
Praktische, wie er den Menschen zu eigen ist, die Kranke behandeln.
»Das wird mir nicht viel nützen«, sagte sie, »denn wahrscheinlich
werde ich nicht umhinkönnen, es dennoch zu tun.«
Ida war schier untröstlich über ihr
Schicksal, und nicht nur deshalb, weil Bull dick, ungehobelt und
ihr völlig fremd war, sondern vor allem deshalb, weil er aus der
falschen Schicht kam. Das war das allerschlimmste für sie, eine
kaum erträgliche Demütigung. Doch da sie keine mächtigen Freunde
hatte, war nichts mehr daran zu ändern.
Die Trauung fand im engsten Familienkreis in St. Mary-leBow
statt. Ida war froh, daß sie gleich darauf wieder in Bulls Haus
zurückkehren konnte.
Auf Sampsons Gesicht lag nur eine deutlich erkennbare Regung:
Zufriedenheit. Dadurch, daß er Bocton wieder in seine Hände
bekommen hatte, hatte sich für Bull ein lebenslanger Traum erfüllt,
und seine Ehe mit Ida war die Krönung dieses Traumes. Er wollte
sich nun wieder einen Weg in die normannische Oberschicht bahnen,
aus der er verdrängt worden war. Er war nicht der einzige. Mehrere
andere Londoner Kaufleute hatten solche Verbindungen geschlossen.
»Und eines Tages«, erklärte er dem jungen David, »kann sie uns
helfen, für dich ein Edelfräulein zu finden.« Vielleicht würden die
Bulls schon in der nächsten Generation mehr Land besitzen als je
zuvor. Kein Wunder, daß Bull höchst zufrieden war.
Bulls Mutter wirkte auf Ida wie eine freundliche, fromme alte
Frau, aber offensichtlich hatte sie nicht die Gewohnheit, viel zu
reden. Der Junge, David, der sie immer so schüchtern anstarrte, kam
ihr erfreulicher vor. Sie erkannte gleich, daß er ein tapferer,
freimütiger kleiner Kerl war, der sicher sehr einsam war. Als sie
ihm sanft zu verstehen gab, daß es ihr leid tat, daß er seine
Mutter verloren hatte, und daß sie hoffte, ihre Stelle einnehmen zu
können, sah sie, wie seine Augen feucht wurden, was sie sehr
bewegte.
Die eigentliche Überraschung in der Familie war Bruder
Michael. Wie erstaunlich, daß dieser grobschlächtige Kaufmann so
einen Bruder hatte! Als sie in Michaels freundliche, intelligente
Augen blickte, mochte sie ihn auf der Stelle. Sie erkannte seine
Reinheit. Da sie Männer der Kirche schon immer bewundert hatte, bat
sie ihn, sie doch recht bald wieder zu besuchen, woraufhin der
Mönch errötete.
Doch die ehelichen Pflichten blieben ihr nicht erspart, und
hier ging Sampson Bull sehr schlau vor. Er wußte sehr wohl, wie
widerwillig Ida diese Ehe eingegangen war, betrachtete dies jedoch
als Herausforderung. Als sie in ihrem Schlafzimmer allein waren,
ließ er sich viel Zeit. In der ersten Nacht ließ Ida den Kaufmann
schweigend tun, was er tun mußte, denn sie war sich ihrer neuen
Lage durchaus bewußt und wußte auch, daß nebenan der Junge schlief.
In der zweiten Nacht biß sie sich schweißgebadet auf die Lippen. In
der dritten stieß sie laute Lustschreie aus. Nachdem sie
eingeschlafen war, betrachtete der Kaufmann ihren blassen Körper
mit grimmigem Vergnügen und murmelte leise: »Jetzt, Lady, ist Eure
Schande komplett!«
Am Morgen des dritten September 1189 wurde König Richard I.
von England in der Westminsterabtei gekrönt, wenn auch unter einem
ungewöhnlichen Umstand: Weil der galante Kreuzfahrerkönig plötzlich
Angst hatte, die heiligen Riten könnten durch Hexerei verdorben
werden, hatte er am Vortag befohlen, daß zur Krönung keine Juden
und keine Frauen zugelassen werden durften.
Vor der Türschwelle seines Bruders blieb
Michael zögernd stehen. Warum nur hatte er versprochen, das Thema
Kreuzzug anzuschneiden? Er wußte doch, daß es seinen Bruder nur
wütend machen würde.
Die Beziehung zwischen den Brüdern hatte sich in den letzten
Jahren gebessert. Auch wenn Sampson nach wie vor respektlos war,
schien er sich doch mit dem Leben seines Bruders abgefunden zu
haben. Eines Tages hatte die Mutter Michael zu sich rufen lassen
und eine beträchtliche Geldsumme in seine Hände gelegt. »Ich
möchte, daß du es für die Familie verwendest, jedoch nur für
religiöse Zwecke«, hatte sie gesagt. »Behalte das Geld, bis du
weißt, was du damit anfangen kannst. Gott wird dir sicher einen Weg
zeigen.« Michael hatte erwartet, daß sein Bruder Einspruch erheben
würde, doch der Alderman hatte nur gelacht, als er davon erfuhr.
Als nun vor einem Jahr Bulls Frau gestorben war und Bruder Michael
fast täglich vorbeigekommen war, um ihn und David aufzuheitern,
hatte Bull eines Tages mit einem entschuldigenden Blick bemerkt:
»Ich muß schon sagen, Bruder, du benimmst dich wirklich anständig!«
Nein, eigentlich wollte er jetzt wirklich keinen Streit
anfangen.
Aber da war noch etwas anderes.
Es waren nun fast zwanzig Jahre seit der groben
Herausforderung vergangen, vor die sein Bruder ihn gestellt hatte.
»Ich glaube nicht, daß du deine blöden Gelübde einhalten kannst!«
Aber er hatte es getan. Sein Armutsgelübde war ohnehin leicht
einzuhalten gewesen; in St. Bartholomew's gab es keinen Reichtum.
Auch der Gehorsam war ihm nicht schwergefallen. Mit der Keuschheit
war es schon schwieriger. Vor allem in jungen Jahren war er immer
wieder einmal von Frauen in Versuchung geführt worden, aber mit der
Zeit war ihm das keusche Leben zu einer angenehmen Gewohnheit
geworden. Seine Arbeit machte ihm viel Freude. Als er die Vierzig
überschritten hatte, glaubte er, daß er endgültig gefeit sei. Warum
also zögerte er nun an der Schwelle des Hauses seines Bruders?
Wollte sein Instinkt ihn vor drohender Gefahr warnen?
Nach der Krönung war Sampson Bull noch zum Gottesdienst in die
Westminsterabtei gegangen; danach feierte König Richard mit seinem
Hof in der Westminsterhalle, und Bull ging zu einem bescheideneren
Mahl, zu dem er auch seinen Bruder eingeladen hatte, nach
Hause.
Es herrschte eine recht angenehme Stimmung. Zwar bemerkte
Bruder Michael, daß sein Neffe ihn immer wieder einmal ungeduldig
anstarrte, aber er hatte keine Eile. Er saß zwischen seiner Mutter
und Ida und freute sich, die alte Frau unterhalten zu dürfen, wenn
auch sein Blick immer wieder unwillkürlich zu Ida hinüberwanderte.
Ob sie mit seinem grobschlächtigen Bruder glücklich werden würde?
Er konnte nicht recht erkennen, was in ihr vorging. Erst gegen Ende
des Mahls brachte er das Gespräch endlich auf den Kreuzzug.
Zu seiner Überraschung wirkte Bull überhaupt nicht verärgert.
Das Kreuzzugsfieber hatte seinen Höhepunkt erreicht. Er wußte, daß
junge Burschen in Davids Alter oft eine Leidenschaft für alles
Religiöse überkam, die jedoch meist wieder verschwand, und wenn der
Junge abenteuerlustig war, sollte es ihm recht sein. »Du willst
also ins Heilige Land, David?« fragte er nur.
Da bekam David Hilfe von einem unerwarteten Verbündeten. Je
besser Ida den Jungen kennenlernte, desto lieber wurde er ihr. Der
Gedanke, ihn auf so einem gefährlichen Kreuzzug zu verlieren,
erfüllte sie zwar mit großem Schrecken, doch als Tochter eines
Ritters verstand sie den Jungen. Erst gestern hatte er ihr sein
Geheimnis anvertraut, woraufhin sie erwidert hatte: »Du bist aber
noch ziemlich jung!« Diesen Einwand hatte sie sofort bedauert, als
sie sah, wie er vor Scham errötete. Nun warf sie also mit ruhiger
Stimme ein: »Ich glaube, du solltest ihn gehen lassen.«
Bull runzelte die Stirn und bemerkte dann mit einer Spur von
Grausamkeit: »Obwohl du wegen eines Kreuzzuges gegen deinen Willen
verkauft worden bist, befürwortest du solche Unterfangen?«
»Es geht doch hier ums Prinzip«, erwiderte sie stolz und
schenkte Bruder Michael ein sanftes Lächeln.
Wie wunderschön sie war, dachte dieser, wie edel! Wie kostbar
sie hier unter dem Dach dieses Kaufmannshauses wirkte mit ihrem
blassen Gesicht und, ihren großen, braunen Augen! Er merkte, daß
auch der junge David sie bewundernd anstarrte.
Diese Bewunderung brachte Ida dazu, einen dummen Fehler zu
begehen. Mit einer Spur von Verachtung in der Stimme sagte sie, zu
ihrem Mann gewandt: »Aber weil es um Prinzipien geht, kannst du es
natürlich nicht verstehen.«
Sofort merkte sie, daß sie mit dieser Beleidigung zu weit
gegangen war. Bulls Gesicht begann sich zu röten.
»Nein«, erwiderte er dumpf, »das kann ich natürlich nicht.«
Die Adern auf seiner Stirn traten hervor. Bruder Michael und David
warfen sich ängstliche Blicke zu. Sie begann zu zittern, denn ihr
wurde klar, daß sie nun gleich einen der berüchtigten Wutausbrüche
des Kaufmanns erleben würde. Doch in eben diesem Moment stürmte ein
Diener in die Halle und schrie: »Herr! In der Stadt gibt es
Krawalle!«
Männer rannten durch die Straßen. Bruder Michael eilte die
Ironmonger Lane hinauf, von deren Ende er laute Schreie hörte.
Eines der strohgedeckten Holzhäuser stand in Flammen. Er stolperte
über einen toten Mann, der mitten auf der Straße lag. Dann kam er
zu der Menschenmenge – etwa hundert Leute, Männer, Frauen und
Kinder, hatten sich hier versammelt. Manche von ihnen waren
Gesindel, aber er sah auch zwei achtbare Kaufleute, die er kannte,
Lehrlinge, die Frau eines Schneiders und einige junge Kleriker. Sie
brachen die Tür eines Hauses ein. Eine rauhe Stimme brüllte: »Laßt
ihn nicht entkommen! Auf zur Rückseite!« Als er einen der Kaufleute
fragte, was denn hier los sei, erwiderte der Mann: »Sie haben den
König in Westminster angegriffen. Aber wir werden sie schon zu
fassen kriegen.« Es ging um die Juden.
Der Auslöser für den Londoner Aufstand 1189 war ein dummes
Mißverständnis. Während Richard und seine Ritter tafelten, waren
die Führer der jüdischen Gemeinde in den besten Absichten zum
Westminsterpalast gekommen, um dem neuen König ihre Aufwartung zu
machen. Da Frauen und Juden an der Krönung nicht hatten teilnehmen
dürfen, dachten die Wachposten an den Toren irrtümlicherweise, dies
solle ein Angriff werden, und begannen laut zu schreien. Einige
heißblütige Höflinge eilten mit gezückten Schwertern herbei und
schlugen zu. Mehrere Juden gingen zu Boden. Die Unruhe verbreitete
sich, und noch zur selben Stunde versammelten sich die Leute in der
Stadt. Im herrschenden Kreuzzugswahn fand sich schnell ein Vorwand
für einen Krawall.
»Wozu ein Kreuzzug, wenn wir diese fremden Ungläubigen mitten
in unserer Stadt schmarotzen lassen?« rief der Kaufmann. »Der
Kreuzzug findet hier statt, Leute! Tod den Ungläubigen!«
In diesem Moment trat der Jude aus seinem Haus, ein älterer
Mann mit blaßblauen Augen, einem schmalen Gesicht und einem langen,
grauen Bart.
Als er die aufgebrachte Menge vor seiner Tür erblickte,
schüttelte er mißbilligend den Kopf und murmelte ein Gebet. Da
erkannte Bruder Michael den alten Mann. Es war Abraham, der Jude,
der seinem Bruder das Anwesen in Bocton verkauft hatte.
Bruder Michael stürzte nach vorn. Als die Menschenmenge sah,
daß er ein Mönch war, wich sie zur Seite, und gleich darauf stand
er neben dem alten Mann und streckte einen Arm hoch.
»Nun, Bruder«, schrie eine Stimme, »wirst du ihn töten, oder
sollen wir es tun?«
»Niemand wird ihn töten«, rief Bruder Michael. »Geht
heim!«
»Warum nicht?« ertönte es aus der Menge. »Ist es nicht
rechtens, einen Ungläubigen zu töten?«
Was sollte er dazu sagen? Natürlich verbot es ihm schon seine
Menschlichkeit, einen Menschen zu töten, aber dies würde den Alten
jetzt nicht retten. Schließlich war die gesamte Christenheit
aufgerufen, die Ungläubigen, die Moslems, die Juden, die
Abtrünnigen, zu bekämpfen. Hilflos blickte er auf den alten Mann,
der leise murmelte: »Wir warten, Bruder.«
Dann kam ihm der rettende Gedanke. Der große Mönch Bernhard
von Clairvaux, der unermüdliche Klostergründer, der Mann, der zu
den früheren Kreuzzügen aufgerufen hatte und von der gesamten
Christenheit als Heiliger verehrt wurde – Bernhard persönlich hatte
sich auch zur Judenfrage geäußert: Es steht geschrieben, daß
schließlich auch die Juden zum wahren Glauben bekehrt werden. Wenn
wir sie jedoch töten, dann können sie nicht mehr bekehrt
werden.
»Der gesegnete Bernhard persönlich hat gesagt, daß den Juden
kein Leid zugefügt werden darf«, rief Bruder Michael endlich, »denn
sie müssen noch bekehrt werden.« Triumphierend lächelte er dem
alten Mann zu.
Die Menge zögerte. Die beiden Männer spürten, daß die Stimmung
noch immer schwankte. Bruder Michael richtete einen hilfesuchenden
Blick gen Himmel, dann tat er etwas, was er noch nie zuvor getan
hatte. »Wie dem auch sei«, rief er, »es spielt hier keine Rolle.
Ich kenne diesen Mann. Er hat sich bereits bekehren lassen.« Und
bevor noch jemand etwas darauf erwidern konnte, nahm er den alten
Mann beim Arm, schubste ihn durch die zögernde Menge und
marschierte mit ihm die Straße hinunter.
»Du hast gelogen«, bemerkte Abraham trocken.
»Verzeihung.«
Der alte Mann zuckte die Schultern. »Ich bin ein Jude«, sagte
er schroff, »ich werde dir nie verzeihen.« Dies war ein bitterer
jüdischer Witz, auch wenn Bruder Michael ihn nicht verstand.
Noch waren sie nicht in Sicherheit. »Ich bringe Euch in das
Haus meines Bruders«, meinte Bruder Michael.
Aber Bull, der in Begleitung von Pentecost Silversleeves neben
St. Mary-le-Bow stand, meinte nur: »Tut mir leid, aber ich will
nicht, daß mein Haus in Brand gesteckt wird. Er muß woanders
hin.«
Zur Überraschung des Mönchs löste Pentecost Silversleeves das
Problem. »Wir bringen ihn zum Tower«, verkündete er. »Die Juden
werden vom Burghauptmann beschützt. Kommt mit!« Und er schlug den
Weg Richtung Tower ein. Doch als Bruder Michael sich froh über das
Mitgefühl des Klerikers äußerte, sagte Silversleeves nur kühl: »Ihr
versteht wohl nicht recht – ich beschütze ihn doch nur, weil die
Juden zum Eigentum des Königs gehören.«
Nicht alles, was zum jüdischen Eigentum des Königs gehörte,
hatte so viel Glück. Es kam zu zahllosen Übergriffen, und der Pöbel
plünderte die Häuser der reichen Fremden. Als die Nachrichten vom
Aufstand in London sich verbreiteten, kam es in anderen Städten zu
ähnlichen Grausamkeiten. Am schlimmsten ging es in York zu, wo die
Mitglieder einer großen jüdischen Gemeinde bei lebendigem Leib
verbrannten. König Richard war höchst erbost, die Schuldigen wurden
schwer bestraft, doch der Londoner Aufstand im September 1189, der
erste seiner Art in diesem Land, markierte den Beginn des
allmählichen Niedergangs der jüdischen Gemeinde in England.
Wenn Schwester Mabel weiter froh und munter war, so war dies
zum Teil auf ein Ereignis am Anfang des Jahres zurückzuführen, das
ihrem Leben neuen Sinn verlieh. Als nämlich Simon der Waffenschmied
plötzlich starb und eine Witwe und einen kleinen Sohn hinterließ,
tröstete sie nicht nur die Mutter, sie kümmerte sich auch um den
kleinen Jungen. Da auch ihr Bruder, der Fischhändler, noch kleine
Kinder hatte, tauchte sie eines Tages mit dem kleinen Burschen in
den Armen bei ihm auf und verkündete: »Hier ist ein Spielgefährte
für unsere Kleinen!« Mit seinen mit Schwimmhäuten versehenen Händen
und seiner weißen Haarsträhne bekam der kleine Adam bei der Familie
Barnikel bald den Spitznamen Entlein, »little duck« oder »ducket«,
und rasch wurde er zu Adam Ducket. Kaum ein Tag verging, ohne daß
Mabel einen Anlaß fand, bei Adam und seiner Mutter vorbeizuschauen,
und die Witwe war froh über ihren Beistand. »Beide Tochter aus
Simons erster Ehe sind verheiratet«, erklärte sie Mabel. »Sie
kümmern sich überhaupt nicht um uns.«
Auch in anderer Hinsicht hatte die Witwe Glück. Die
Waffenschmiede war zwar von einem neuen Meister übernommen worden,
doch Simon hatte seiner Witwe das kleine Haus mit den vier Zimmern
am Cornhill hinterlassen, und indem sie zwei der Zimmer vermietete
und als Näherin arbeitete, schaffte sie es gut, sich
durchzubringen. Außerdem gab es noch ein weiteres Erbe, ein kleines
Stück Land bei Windsor.
Simons Witwe hatte nie verstanden, warum er an diesen paar
Morgen Land festhielt, die kaum einen Ertrag brachten, doch er
hatte ihr erklärt, daß schon sein Vater und davor dessen Vater
dieses Land besessen hatten. »Meine Familie lebte dort in der Zeit
König Alfreds«, pflegte er zu sagen. Jedes Jahr war er die zwanzig
Meilen dorthin geritten, um seine Pacht zu bezahlen und mit seinen
inzwischen ziemlich weit entfernten Vettern, die noch immer
Leibeigene waren, die Bearbeitung des Landes zu regeln. Kurz vor
seinem Tod hatte er seiner Frau noch das Versprechen abgefordert,
dieses Land nie aufzugeben. »Behalte es für Adam.«
»Was soll ich nun tun?« fragte sie Mabel. »Wie soll ich
überhaupt dorthin gelangen, um die notwendigen Vorkehrungen zu
treffen?« Da tauchte Mabel eines Morgens mit einem kleinen Pferd
und einem Karren auf, die ihrem Bruder gehörten. »Damit kannst du
nach Windsor fahren«, sagte sie. Und so machte sich Adams Mutter
auf den Weg, um ihr Erbe zu sichern.
Der Ort hatte sich seit der Domesday-Untersuchung kaum
verändert. Simons Witwe erkannte die Verwandten ihres Mannes
sofort, als sie unterwegs einen Burschen mit einer weißen
Haarsträhne traf, wie auch ihr Mann sie gehabt hatte. Es stellte
sich heraus, daß er das Oberhaupt der Familie war, und noch am
selben Abend bot er ihr eine Lösung für ihr Problem an. »Du
brauchst hier nicht jedes Jahr herzukommen«, erklärte er ihr. »Wir
werden das Land weiterhin bearbeiten; mit dem Ertrag werden wir die
Pacht bei dem Verwalter des Grundherrn begleichen, und das, was
dann noch übrigbleibt, wird dir einer von uns nach London
bringen.«
Gleich am nächsten Morgen wurde die Sache mit dem Verwalter
besprochen, und die Witwe konnte erleichtert ihren Heimweg
antreten.
Ida verbrachte einen angenehmen September in dem Haus, in dem
sie nun die Herrin war. Es war in den letzten Jahrzehnten
vergrößert worden. Bull wickelte seine Geschäfte im Erdgeschoß ab;
im ersten Stock gab es einen Aufenthaltsraum und ein Schlafzimmer,
im Dachgeschoß schliefen David und die Diener. Zwei Aspekte, die
bei den meisten Häusern im damaligen London zu finden waren,
verliehen dem Haus sein charakteristisches Aussehen. Zum einen
hatte das Obergeschoß eine größere Grundfläche als das Erdgeschoß,
so daß es mehrere Fuß in die Straße hineinragte. Bei den – noch
sehr wenigen – Häusern, die mehr als ein Obergeschoß hatten,
reichte der dritte Stock sogar noch weiter hinaus, wodurch die
engen Straßen fast zu Tunnels wurden. Zum anderen waren die
herausragenden Flächen bei Bulls Haus von Querbalken gestützt, die
aus den großen Ästen von gekappten Eichen bestanden. Diese wurden
einfach so belassen, wie sie waren. Manchmal hatte man nicht einmal
die Rinde entfernt, und deshalb waren diese Äste zwar immens stark,
doch keineswegs gerade. Infolgedessen wirkten diese mit Balken
gestützten Häuser schief, so, als würden sie gleich einstürzen.
Tatsächlich aber überdauerten sie Jahrhunderte, solange sie nicht
abbrannten. Dies war die größte Gefahr. In eben diesem Jahr war
eine Bestimmung erlassen worden, daß alle Bürger das Erdgeschoß
ihrer Häuser aus Ziegeln oder Steinen errichten und das Stroh auf
den Dächern durch Dachziegel ersetzen sollten. Doch Sampson Bull
hatte erklärt, daß er sich damit Zeit lassen würde; so ein Umbau
kostete viel Geld.
Obwohl Ida daran gewöhnt war, ein großes Anwesen zu leiten,
stellte sie fest, daß sie alle Hände voll zu tun hatte, denn ihr
Mann erwartete von ihr, daß sie sich auch für seine Geschäfte
interessierte. Bald blickte sie mit einem kundigen Auge auf
Wollhaufen, Stoffballen und importierte Seide. Die Diener, froh,
wieder eine Herrin zu haben, machten ihr keine Schwierigkeiten.
Ihre größte Freude war der junge David. Untertags besuchte er die
Schule bei St. Paul's, aber abends setzte er sich zu ihr. Sie hörte
ihm freundlich zu, und bald weihte er sie in all seine Geheimnisse
ein. Sie stellte fest, daß es ihr Spaß machte, dem Jungen eine
Mutter zu sein.
Und dann war da auch noch Bruder Michael. Ida beharrte darauf,
daß er einmal die Woche eine Mahlzeit bei ihnen einnahm, und
insgeheim wünschte sie sich, er würde öfter kommen.
Dieser neue Lebensrhythmus wurde von Bulls plötzlicher
Ankündigung unterbrochen, daß sie für ein paar Tage nach Bocton
reisen würden. Als sie am Ende eines langen Tages dort ankamen,
stellte Ida sofort fest, daß ihr der Ort gefiel. Der Ritter, der
dort gelebt hatte, hatte eine bescheidene, steinerne Halle mit
einem hübschen Hof und großen, hölzernen Nebengebäuden
hinterlassen. Es erinnerte sie an ihr früheres Heim. Als sie am
nächsten Morgen, kaum daß die Sonne aufgegangen war, den herrlichen
Ausblick auf den Weald von Kent sah, war sie hellauf begeistert.
»Bis König Wilhelm kam, war dieser Ort immer im Besitz unserer
Familie«, bemerkte Bull. In diesem Moment fühlte sich Ida fast
verwandt mit ihm. Dennoch hatte sie gemischte Gefühle. Sie war
froh, daß Bull so ein Landgut besaß, doch es erinnerte sie auch
schmerzhaft an den Verlust ihres früheren Lebens. Und vielleicht
war es dieses Verlustgefühl, das sie bald nach ihrer Rückkehr nach
London dazu veranlaßte, den ersten wirklich großen Fehler in ihrer
Ehe zu begehen.
Es passierte am Michaelitag. Sie kehrte gerade von einem
kleinen Spaziergang zurück, als sie von drinnen laute, verärgerte
Stimmen vernahm. Beim Eintreten sah sie, daß dort drei Personen
versammelt waren: Sampson Bull, der mit hochrotem Gesicht an dem
Eichentisch saß, Bruder Michael und ein bläßlicher, leicht
herablassender Pentecost Silversleeves.
»Wenn König Richard, auf diese Weise herrscht, dann kann er
zur Hölle fahren!« donnerte der Kaufmann. »Dann wird London einen
anderen König bekommen!« Ida erbleichte, dies war Hochverrat.
Der Grund für Sampsons Unmut waren die Steuern. Zwar herrschte
immer eine gewisse Spannung zwischen dem Monarchen und der Stadt,
doch es gab klar abgesteckte Grenzen. Die Stadt hatte dem König
jährlich einen bestimmten Steuersatz zu zahlen. Wenn der König
schwach war, konnte die Stadt einen geringeren Betrag aushandeln
und ihre eigenen Sheriffs wählen, die die Steuern eintrieben. War
der König stark, ging der Satz nach oben, und der König ernannte
die Sheriffs. Die jeweiligen Vereinbarungen wurden am Michaelitag
verkündet.
»Weißt du, was dieser verfluchte Richard getan hat?« donnerte
Bull. »Keine Sheriffs. Er schickt seine Beamten zu uns, wie diesen
Menschen da!« Er deutete auf Silversleeves. »Und die sollen dann
alles aus uns herausholen, was sie nur kriegen können.
Schändlich!«
Seine Worte trafen durchaus zu. Silversleeves hatte gerade
eine unglaublich hohe Summe von dem Kaufmann gefordert. Schließlich
mußte der Kreuzzug des Königs bezahlt werden.
»Sei vorsichtig, was du über den König sagst!« meinte Ida
dennoch mit einem leichten Vorwurf.
»Der König ist ein Dummkopf. Er sollte die Barone Londons
nicht derart herausfordern«, antwortete Bull.
Ida wußte, daß die reichen Londoner Bürger sich gerne als
Barone bezeichneten, hatte dies jedoch immer für eine Anmaßung
gehalten. Doch vom Mann des Königs kam keine heftige Reaktion.
Silversleeves wußte es besser. Ein starker König wie Wilhelm der
Eroberer oder Heinrich II. konnte in der Stadt die Oberhand
behalten, aber in der anarchischen Zeit vor König Heinrich waren
die Londoner durchaus in der Lage gewesen, dem König Paroli zu
bieten. Außerdem war der vorsichtige Exchequer-Beamte zwar
entschlossen, die Arbeit, die ihm sein Herr aufgetragen hatte,
auszuführen, doch er war in diesen unsicheren Zeiten ebenso darauf
bedacht, sich möglichst wenige Feinde zu machen.
Zu Idas Überraschung setzte er sich Bull gegenüber an den
Eichentisch und sagte fast entschuldigend: »Richard weiß nichts von
England und schert sich auch wenig darum. Doch momentan ist er sehr
mächtig. Ich glaube, Ihr müßt bezahlen.«
»Dieses Jahr schon. Nächstes Jahr vielleicht nicht.« Bull
zuckte die Schultern. »Wenn wir Glück haben, kommt er auf seinem
Kreuzzug um, und wir sind ihn los.«
Ida stockte der Atem. Doch Silversleeves war weit entfernt
davon, Einspruch zu erheben. Er beugte sich vielmehr vertraulich
vor und fragte: »Wir wissen alle, daß dies ein Fehler ist, aber
sagt mir ehrlich: Wie heftig wird London darauf reagieren?«
Bull dachte kurz darüber nach. »Wenn der König den
Gepflogenheiten den Rücken zukehrt«, meinte er dann mit ernster
Stimme, »dann werden wir uns dies nicht gefallen lassen.«
Die Gepflogenheiten waren in England von höchster Bedeutung.
Das alte Gewohnheitsrecht, das jeden Großgrundbesitz, jedes Dorf im
Königreich regierte, war zwar nirgends schriftlich festgehalten,
doch die normannischen Eroberer waren klug genug gewesen, niemals
daran zu rütteln. In ähnlicher Weise waren die Bräuche Londons
nirgends offiziell festgelegt, doch jeder König seit Wilhelm hatte
sich an sie gehalten. Dies war der Code, nach dem die
nordländischen und sächsischen Bürger der Stadt lebten. Eine
Verletzung dieser ungeschriebenen Gesetze kam dem Ende der
Zusammenarbeit gleich, dies war Pentecost völlig klar.
»Offen gestanden«, fügte Bull noch hinzu, »würde es mich nicht
überraschen, wenn dies zu einer Kommune führen würde.«
Silversleeves erbleichte.
Eine Kommune war an sich keine neue Institution. In der
Normandie hatte sich die alte Stadt Rouen schon ein halbes
Jahrhundert lang selbst verwaltet, und in anderen europäischen
Städten gab es ähnliche Modelle. Die Barone von London hatten diese
Idee immer wieder einmal ins Gespräch gebracht, wenn auch nie mit
sehr viel Erfolg. So eine Kommune war der Traum eines jeden
Bürgers. Sie bedeutete, daß die Stadt zu einer sich selbst
regierenden Einheit wurde, auf die der Monarch nahezu keinen
Einfluß hatte. Ein Königreich innerhalb des Königreichs, das seinen
eigenen Gouverneur wählte, der meist den Titel Mayor trug, wie er
bei den Franzosen hieß.
Der König bezog seine Einkünfte aus drei Hauptquellen. Zum
einen gab es die jährlichen festen Abgaben aus den Grafschaften,
zum anderen gelegentliche Steuern, die je nach Gutdünken des Königs
und seines Rats für bestimmte Zwecke erhoben wurden, also
Hilfeleistungen, theoretisch betrachtet Geschenke, die alle
feudalen Barone ihrem König machten; und dann gab es noch die
Gemeindesteuer, eine feste Steuer, die alle Freien, vor allem
diejenigen, die in den Städten lebten, dem König pro Kopf zu zahlen
hatten.
Im feudalen Europa wurde eine Kommune so behandelt, als sei
sie ein einziger feudaler Baron. Die feste jährliche Abgabe wurde
dem König von dem Mayor bezahlt, der sie nach eigenem Gutdünken
festsetzte, und ähnlich wurde mit den Hilfeleistungen verfahren.
Aber da die Kommune wie ein einzelner feudaler Baron betrachtet
wurde, wären all die Tausende von Freien, die innerhalb der
Stadtmauern lebten, nicht mehr die Männer des Königs, sie würden
vielmehr zu einem Baron gehören, der London hieß, und die
Gemeindesteuer würde entfallen. Die Kommune war tatsächlich eine
Art Steuerparadies für die gewöhnlichen Bürger. Kein Wunder, daß
Silversleeves diese Idee verabscheute.
»Würdet Ihr denn eine Kommune unterstützen?« fragte er.
»Durchaus!« erwiderte Bull grimmig.
Ida verfolgte dieses illoyale Gespräch mit wachsendem
Entsetzen. Für wen oder was hielten sich diese arroganten Kaufleute
eigentlich? Wenn sie die Witwe eines Magnaten gewesen wäre und über
die Macht der großen europäischen Städte Bescheid gewußt hätte,
dann hätte sie sicher den Mund gehalten. Aber sie war nur die Witwe
eines provinziellen Ritters, und sie war auch nicht besonders klug.
Also wandte sie sich nun mißbilligend an ihren Mann. »Wie sprichst
du von unserem König? Wir schulden ihm Gehorsam. Ihr nennt euch
Barone? Ihr seid doch nichts weiter als Kaufleute! Ihr redet von
einer Kommune? Die reine Unverschämtheit! Der König wird euch
zerschmettern, und dies zu Recht. Du vergißt einfach deinen
Platz!«
Ihre Worte waren gezeichnet von all dem Schmerz ihrer
Demütigung und der Erinnerung, daß sie noch immer eine Lady war.
Ida war ziemlich stolz auf sich. Die Absurdität dessen, was sie da
gesagt hatte, fiel ihr überhaupt nicht auf.
Bull starrte einen kurzen Moment lang schweigend auf den
Tisch, dann sagte er: »Es war wohl doch ein Fehler, dich zu
heiraten. Ich wußte nicht, daß du so dumm bist. Aber als meine Frau
hast du mir zu gehorchen, also verlasse nun diesen Raum!«
Als sie sich blaß und zitternd zur Tür begab, sah sie dort
David stehen, der sie genau beobachtete.
In den folgenden Wochen blieb die Beziehung zwischen Ida und
Bull sehr kühl. Der Wortwechsel hatte beide verletzt, und beide
zogen sich nun in eine Art bewaffnete Neutralität zurück.
Bruder Michael besuchte sie nach wie vor. Er tat, was er
konnte, um sie aufzuheitern, und betete für sie. Eines Nachmittags
setzte sich David still neben Ida und fragte nach einer Weile: »Ist
mein Vater böse?« Als sie diese Frage verneinte, wollte er wissen:
»Aber er sollte doch sicher nicht gegen den König sprechen?«
»Nein«, gab sie offen zu, »das sollte er nicht.«
Der Herbst ging in den Winter über. Anfang Dezember segelte
König Richard zur Normandie hinüber, in England war es ruhig.
In St. Bartholomew's wurde Weihnachten gefeiert. Nach dem
Gottesdienst luden die im Kloster lebenden Stiftsherren zu einem
Festmahl ein. Es gab Schwan, gewürzten Wein, dreierlei Arten von
Fisch und Süßigkeiten. Selbst die Insassen des Krankenhauses
bekamen eine gute Mahlzeit, und überall herrschte Frohsinn.
Schwester Mabel hatte mehr getrunken, als ihr bewußt war. Sie
war ziemlich angeheitert. Auf ihrem Weg durch das Kloster kam sie,
begleitet von Bruder Michael, an einem Kohlenbecken vorbei, und sie
schlug Bruder Michael vor, sich daneben niederzulassen und noch ein
Weilchen miteinander zu plaudern. Auch er fühlte sich wohlig
entspannt. Sie sprachen von ihren Familien, und plötzlich fragte
sie ihn, ob er jemals eine Frau geliebt habe. »Ja«, antwortete er,
»aber ich habe ja meine Gelübde geschworen.«
»Niemand wollte mich heiraten«, gestand Mabel. Kichernd
streifte sie ihr Gewand hoch und entblößte ein Bein bis zum Knie.
»Mit meinen Beinen war ich immer ganz zufrieden«, sagte sie. »Was
meinst du?«
Das Bein war ansehnlich genug, dieser Meinung wären sicher
viele gewesen. Doch als Bruder Michael nun darauf blickte, wurde
ihm klar, daß dies wohl der erste und einzige sexuelle Vorstoß war,
den Schwester Mabel je gewagt hatte. Er küßte sie sanft auf die
Stirn und meinte: »Ein wirklich hübsches Bein, Schwester Mabel, mit
dem du Gott ausgezeichnet dienen kannst.« Damit stand er auf und
ging.
Zwei Tage später gestand Mabel ihrem Beichtvater: »Für mich
ist alles zu spät. Ich werde zur Hölle fahren, daran ist nichts
mehr zu ändern. Aber Bruder Michael hat nicht gesündigt.«
In der letzten Dezembernacht fand ein geheimes Treffen statt.
Die sieben Männer, die einzeln und verstohlen in das Haus in der
Nähe des London Stone traten, waren alle Aldermen. Bei ihrem
einstündigen Gespräch waren sie sich einig, was sie wollten, und
entwickelten eine Taktik für ihr Vorgehen. Gegen Ende des Treffens
meinte einer von ihnen, daß sie wohl noch einen Helfershelfer
benötigten. Da erklärte Alderman Sampson Bull: »Ich kenne jemanden,
der trefflich dafür geeignet ist. Überlaßt diese Sache ruhig mir.«
Auf die Frage, wer dieser Mann denn sei, antwortete er lächelnd:
»Silversleeves.«
Wenige Tage darauf kamen Boten mit einer wichtigen,
beunruhigenden Nachricht nach London. Johann, der Bruder des
Königs, war in England gelandet.
April 1190
Pentecost Silversleeves blickte auf die
Familie Barnikel. Sie mochte ihn nicht, aber das war ihm
gleichgültig. Sie war nicht wichtig. Vor ihm standen der stämmige,
rothaarige Fischhändler und seine Kinder, eine weitere Frau, die er
nicht kannte, mit einem kleinen Jungen an der Hand, und die
sonderbare Schwester Mabel.
»Aber ich habe für diese Netze bezahlt«, protestierte der
Fischhändler.
»Ich fürchte«, entgegnete Silversleeves sofort, »daß es dafür
keine Entschädigung geben wird.«
Reusen. Das ewige Problem auf der Themse. Diesmal hatten
Barnikels Netze zwar Bulls Schiff nicht beschädigt, doch allein ihr
Anblick hatte den reichen Kaufmann erzürnt. Er sprach mit
Silversleeves, der sich mit dem Kanzler in Verbindung setzte, und
sofort wurde die Entfernung der Netze angeordnet, obwohl der
Fischhändler eine beträchtliche Summe für das Recht, sie
auszulegen, bezahlt hatte. Silversleeves wollte Bull gleich über
alles informieren. In den letzten drei Monaten war Alderman Sampson
Bull sein bester Freund geworden.
Alles hatte ganz langsam, fast unmerklich begonnen. Zuerst
hatte es nur vage Gerüchte gegeben, doch Silversleeves hatte die
Zeichen verstanden, und im März war er sich dann sicher gewesen.
Der Auslöser war Johann.
Warum hatte König Richard seinem jüngeren Bruder gestattet,
England zu betreten? Weil er ihn verachtete. Tatsächlich gab
Johann, verglichen mit dem Rest der Familie, ein kümmerliches Bild
ab. Sein Vater hatte seine Wutausbrüche zelebriert, Johann hatte
nur epileptische Anfälle. Richard war groß, blond und heldenhaft,
Johann gedrungen – er war kaum größer als einen Meter sechzig –,
dunkelhaarig und obendrein auch kein glücklicher Soldat. Richard
fürchtete ihn nicht, auch wenn er gelegentlich eine gewisse Schläue
zeigte. Wie jeder Plantagenet beneidete Johann seinen Bruder um den
Thron.
Nach außen hin war er untätig. Richard war erst seit zwei
Wochen abwesend, er versammelte seine Streitkräfte auf dem
Festland. Johann verweilte indessen auf seinen großen Ländereien im
Westen Englands. Es hieß, daß er sich vor allem der Falkenjagd
hingebe. Aber Silversleeves ließ sich nicht täuschen. Er wartet nur
auf den richtigen Zeitpunkt, um zuzuschlagen, dachte er sich. Und
er wußte auch, gegen wen sich dieser Angriff richten würde, nämlich
gegen seinen Dienstherrn, gegen Longchamp.
Dabei hatte anfangs alles bestens ausgesehen. Der Kanzler
hatte brillante Erfolge verbuchen können und war in der Abwesenheit
seines Herrn zum mächtigsten Mann Englands geworden. Für seine
eifrigen Bemühungen war Pentecost schon mit beträchtlichen Lehen
belohnt worden. Aber der Kanzler machte leider keinen Hehl aus der
Verachtung, die er gegen einige der großen feudalen Familien hegte.
»Und diese werden ihn stürzen«, erklärte Silversleeves seiner
Frau.
»Das dürfen sie nicht«, jammerte sie. »Er ist doch so wertvoll
für uns!«
Die Anzeichen waren gering, doch unheilverkündend. Wenn ein
Ritter oder ein Baron sich mit dem Kanzler überworfen hatte, kamen
bald darauf Berichte, daß der Betreffende Johann seine Aufwartung
gemacht habe. Und es gab Gerüchte. Im Januar bemerkte ein Kaufmann
Silversleeves gegenüber, daß sich Johanns Männer angeblich bereits
in London aufhielten. Welch ein Glück, daß Silversleeves sich so
gut mit Bull verstand!
Es hatte mit einer zwanglosen Einladung in das Haus des
Kaufmanns begonnen. Danach war man sich immer wieder einmal über
den Weg gelaufen. Wenn Pentecost darüber nachgedacht hätte, wäre er
wohl zu dem Schluß gekommen, daß Bull diese Freundschaft angestrebt
hatte. Aber er dachte kaum darüber nach, er war einfach froh
darüber. »Niemand weiß besser als er, was in der Stadt vor sich
geht«, berichtete Silversleeves seiner Frau. »Ich denke, ich werde
die Verbindung zu ihm pflegen.«
Er versuchte sogar, sich mit der Familie des Alderman zu
befreunden. Ida würde ihm zwar nie wirklich wohlgesonnen sein, aber
sie war etwas besänftigt durch die Tatsache, daß er sich in letzter
Zeit immer vor ihr verneigte und sie als Lady behandelte. Mit dem
Jungen hatte er es leichter. Er zeigte ihm das Schatzamt und
erklärte ihm, daß dort die Geschäfte des Königs abgewickelt würden.
Bei Bull persönlich wuchs er schier über sich hinaus. Der heutige
Vorfall mit den Reusen sollte den mächtigen Alderman einmal mehr
davon überzeugen, daß er und sein Dienstherr, Longchamp, seine
Freunde waren.
Als Pentecost sich anschickte, das Haus der Barnikels zu
verlassen, kam ihm plötzlich der kleine Junge an der Hand der Frau
irgendwie bekannt vor. Nachdenklich runzelte er die Stirn, dann kam
er auf den Grund dafür: Das Kind hatte eine weiße
Haarsträhne.
»Wer ist denn das?« fragte er, und Mabel erklärte es
ihm.
Gedankenversunken ging Pentecost zum Haus des Alderman. Er
hatte nicht gewußt, daß Simon der Waffenschmied einen Sohn
hinterlassen hatte, aber diese Neuigkeit kam ihm sehr gelegen. Er
hatte noch eine Rechnung zu begleichen, ob nun mit dem Vater oder
dem Sohn, war ihm egal. Und da der Sohn noch so jung war, hatte er
genügend Zeit, sich etwas Passendes einfallen zu lassen.
Bei seiner Ankunft im Haus von Bull wirkte der Kaufmann sehr
ernst. Nachdem er Silversleeves für seine Hilfe bei der
Angelegenheit mit den Reusen gedankt hatte, legte er eine Hand auf
seinen Arm und meinte: »Ich glaube, es gibt da eine Neuigkeit, die
Ihr wissen solltet.« Silversleeves erbleichte.
Im Mai tauchte ein Fremder im Haus der
Bulls auf – ein Ritter, Gilbert de Godefroi. Sein Landgut,
Avonsford, lag in der Nähe der Burg von Sarum im Westen Englands.
Bull gewährte ihm Unterkunft; einfache Pilger logierten in
Hospizen, doch ein reisender Ritter wohnte normalerweise bei einem
Kaufmann. Als Godefroi mit einem Brief von einem Kaufmann aus dem
Westen auftauchte, den Bull kannte, bot der Alderman ihm
selbstverständlich seine Gastfreundschaft an.
Gilbert de Godefroi hielt sich in London auf, um seine
geschäftlichen Angelegenheiten zu regeln, bevor er sich zum
Kreuzzug aufmachte. Der großgewachsene Ritter war ein Witwer
mittleren Alters mit einem traurigen, strengen Gesicht. Man sah
nicht viel von ihm, denn er stand immer schon im ersten
Morgengrauen auf, begab sich zur Frühmette nach St. Paul's und ritt
dann mit seinen Pferden in den Wäldern von Islington aus. Nach
einer kargen Abendmahlzeit zog er sich meist bald zurück. Auf
seinem Umhang befand sich ein rotes Kreuz, das Zeichen, daß er ein
Kreuzfahrer war.
Godefroi weilte seit vier Tagen bei der Familie, als Bruder
Michael ihn bei dem wöchentlich stattfindenden Familienmahl
kennenlernte. Er war beeindruckt von dem würdigen Gebaren des
Ritters. David starrte ihn ehrfürchtig an, und selbst Bull war
ruhiger als sonst. Ida zollte dem Ritter die ihm gebührende
Aufmerksamkeit; er war ja schließlich ihr Gast. Sie bediente ihn
als ersten, wie es die Höflichkeit erforderte, und
verständlicherweise trug sie das kostbare Gewand einer Lady. Aber
Ida war tatsächlich verändert. Seit der Ritter aufgetaucht war,
bemühte sie sich um seine Aufmerksamkeit. Sie hatte ihn sofort
wissen lassen, wer sie eigentlich war und wie gering sie hier
geschätzt wurde. Sie hatte ihm ihre Vorfahren aufgezählt in der
Hoffnung auf ein gemeinsames Bindeglied. Sie hatte sogar versucht,
sich ihm bei seinen Gebeten anzuschließen. All dies beobachtete
Bull schweigend. Auch Bruder Michael fiel es auf, und außerdem
bemerkte er, daß David richtig verliebt in den Ritter war. Tag für
Tag verfolgte der Junge den strengen Ritter. Er sah Godefroi zu,
wenn dieser mit Schwert und Keule trainierte; er half dem Knappen,
einem jungen Burschen, der nur wenig älter war als er selbst, wenn
dieser die Rüstung des Ritters pflegte, um sie vor Rost zu
schützen. Auch der Schild des Ritters, auf dem ein weißer Schwan
vor einem roten Hintergrund abgebildet war, faszinierte David. In
den letzten paar Jahrzehnten war es üblich geworden, daß ein Ritter
sich bei den Turnieren mit einem persönlichen Wappen schmückte. Für
David war es ein weiterer Beweis dafür, daß Godefroi ein Held
war.
Als der Ritter eines Morgens, beobachtet von David, Bruder
Michael und Ida, davongaloppierte, sagte der Junge zu seiner
Stiefmutter: »Ich wünschte, mein Vater wäre so wie er.«
Ida lachte. »Sei nicht töricht! Sieh dir doch deinen Vater an!
Man erkennt sofort, daß er nur ein Kaufmann ist. Ein Adliger wird
als solcher geboren, nicht dazu gemacht.« Und dann fügte sie zu
seinem Trost hinzu: »Ich werde eine adlige Frau für dich finden.
Vielleicht wird dein Sohn ja ein Ritter.«
Da erkannte David, daß sein mächtiger Vater nicht nur die
falsche Einstellung hatte, nicht nur eine niedrigere Stellung
einnahm als der feudale Ritter, sondern daß Gott ihn tatsächlich so
geschaffen hatte. Dies hatte er bislang nicht gewußt.
Aber es stimmte. Die normannische Herrschaft und die der
Plantagenets hatten in der englischen Gesellschaft eine enorme
Veränderung hervorgerufen, von der nur London verschont geblieben
war. Der angelsächsische Edelmann war stolz auf seine kämpferischen
Ahnen gewesen, aber sein Stand hatte sich vor allem auf seinen
Reichtum gestützt. Wenn jemand genügend Land besaß, war er ein
Edelmann, und die reichen Londoner Kaufleute wurden Thane. In
Kriegszeiten hatten sie mit den Leuten, die ansonsten ihre Felder
bearbeiteten, ein Aufgebot an Streitkräften erstellt. Doch die
normannischen Neuankömmlinge, die an die Stelle des alten
englischen Adels traten, waren getrennt vom Volk der Engländer.
Godefroi mochte zwar sein Anwesen in Avonsford wie seine
sächsischen Vorgänger leiten, aber seine erste Sprache war das
Französische. Er führte seine Bauern nicht in den Krieg, denn die
alten, nicht geübten englischen Truppen waren ohnehin kaum mehr
einsetzbar. Die Truppen von König Löwenherz bestanden aus fremden
Söldnern, tüchtigen Bogenschützen aus Wales und furchterregenden
routiers, Söldnern vom Festland. Der Reichtum des Ritters
spielte dabei keine Rolle. Godefroi gehörte zu einer separaten,
europäischen, militärischen Aristokratie, einer Kriegerkaste, die
aus einem weitverzweigten Netz von Verwandten bestand und auf alle
anderen hinunterblickte. Diese Vorstellung von Adel sollte die
englische Gesellschaft noch lange verunsichern.
Alderman Sampson Bull erkannte klugerweise, daß sich seine
Familie mit der Zeit ihren Weg in den Adel erkaufen und durch
Heirat verschaffen konnte, und auch Ida wußte dies, auch wenn sie
es bedauerte. Der junge David war vom Anblick des Ritters völlig
verzaubert; seinen Vater betrachtete er von nun an als einen sehr
gewöhnlichen Mann und verachtete ihn insgeheim – Idas jüngstes
Geschenk an ihren Mann.
All dies sah auch Bruder Michael, und es machte ihm schwer zu
schaffen, aber richtig entsetzt war er erst bei seinem nächsten
Besuch bei der Familie. Nach dem Essen verließ er mit seinem Bruder
und dem Jungen die Halle. Ida wollte noch einen Blick in die
Speisekammer werfen; die alte Mutter schlief in einer Ecke, der
Ritter blieb schweigend am Tisch sitzen. Rein zufällig kehrte
Bruder Michael noch einmal in die Halle zurück und sah dann etwas,
was ihn schwer traf.
Godefroi stand da, ruhig und unbewegt. Ida war wieder in die
Halle gekommen und stand vor ihm, während sie leise etwas zu ihm
sagte. Dann berührte sie den Ritter am Arm. Bei dieser winzigen
Geste kam es Bruder Michael vor, als wisse er alles. Bleich verließ
er den Raum.
In dieser Nacht hatte er einen schrecklichen Traum. Er sah
Idas blassen Körper in enger Umarmung mit dem des Ritters. Er
wachte auf, überkommen von einer kalten Angst, und fand keinen
Schlaf mehr. Er lief fünf Stunden bis zum Morgengrauen in seiner
Zelle auf und ab, ständig das schreckliche Bild vor Augen, wie Ida
den fremden Ritter liebte.
Bald nach dem Morgengrauen überquerte er Smithfield und ging
dann hinunter nach St. Paul's, wo eine Glocke zur Prim rief. Da sah
er auch Godefroi näherkommen. Unbewegt hörte sich der Ritter an,
was Bruder Michael ihm zu sagen hatte. »Ihr bezichtigt mich also
des Ehebruchs, Mönch?« fragte er nur kühl. »Wollt Ihr damit sagen,
daß ich besser gehen sollte? Das habe ich nicht nötig!« Damit begab
er sich in die Kirche.
Hatte sich Bruder Michael geirrt? Hatte er den frommen Ritter
zu Unrecht verdächtigt? Verwirrt kehrte Michael in sein Kloster
zurück und wußte gar nicht mehr, was er nun denken sollte.
Drei Tage später schickte sich Godefroi zum Aufbruch an. Ida
bot ihm ihren Handschuh als Pfand für seine Reise an – eine
höfische Geste aus der Ritterwelt, die er ernst zurückwies, indem
er sie daran erinnerte, daß er ja schließlich ins Heilige Land
pilgerte. Bruder Michael stieß einen Seufzer der Erleichterung
aus.
Nach der Abreise des Ritters wirkten Ida und der junge David
zunehmend unruhig. David zeigte sogar Zeichen körperlichen
Unwohlseins, und seine Schulleistungen fielen ab. So bat der
Alderman nach einer Weile Bruder Michael, seinem Sohn ein wenig zu
helfen.
Bruder Michaels Kenntnisse von der Welt waren typisch für
einen Mann mit bescheidener Bildung in jener Zeit: eine nette
Mischung aus Fakten und Volksglauben, die er sich aus der
Bibliothek der Westminsterabtei geholt hatte. Er konnte seinem
Neffen die Zusammensetzung Europas, die Häfen und Flüsse, die
Städte und heiligen Orte erklären. Er wußte viel von Rom und dem
Heiligen Land. Aber an den Rändern dieser riesigen
mittelalterlichen Welt begann sein Wissen in den Bereich der Fabel
auszuufern.
»Südlich des Heiligen Landes liegt Ägypten«, informierte er
David durchaus richtig. »Von dort aus hat Moses die Juden durch die
Wüste geführt. Und an der Mündung des großen Nils liegt Babylon.«
So hieß Kairo in der Welt des Mittelalters.
»Und wenn man den Nil flußaufwärts reist?« fragte der Junge
wißbegierig.
»Dann kommt man nach China.« So hatte es Michael in einem Buch
gelesen.
Die Kirche St.-Lawrence-Silversleeves war
ein hübscher kleiner Bau, eingezwängt zwischen einer Seilerei und
einer Bäckerei. Am Fuß des Hügels standen die Lagerhäuser der
normannischen Weinhändler. Die Kirche war aus Stein und hatte ein
Holzdach. Gut hundert Gemeindemitglieder hätten in ihr Platz
gehabt, wenn sich denn jemals so viele versammelt hätten. An einem
schönen Septembermorgen stattete Schwester Mabel dem Kustos dieser
bescheidenen Kirche einen Besuch ab.
Der Kustos von St.-Lawrence-Silversleeves war ein armer,
kränkelnder Kerl mit einer Frau und zwei Kindern. Theoretisch war
die Frau, mit der er zusammenlebte, natürlich nicht seine Ehefrau,
sondern seine Konkubine, da er ja dem geistlichen Stand angehörte,
aber selbst unter den strengsten Kirchgängern bezeichneten nur
wenige sein moralisches Vergehen als schlimm. Die meisten Londoner
Kirchendiener waren verheiratet; ohne Frau wären sie wahrscheinlich
verhungert.
Die Situation in St.-Lawrence-Silversleeves war typisch. Die
Familie Silversleeves ernannte den Vikar, der aus dieser Stellung
sein Einkommen bezog. Wenn es in der Familie niemanden gab, der
diesen Posten haben wollte, wurde er an einen Freund oder Bekannten
vergeben. Der Berufene war auch noch Vikar an mehreren anderen
Kirchen und bezog auch daraus Einkünfte. Zur Ausübung der Pflichten
an all diesen Kirchen ernannte er einen Kustos, dem er einen derart
kümmerlichen Lohn bezahlte, daß der arme Kerl, wenn er keine Frau
hatte, die für beider Unterhalt aufkam, kaum das Holz für sein
Herdfeuer kaufen konnte.
Der Kustos von St.-Lawrence-Silversleeves war fünfunddreißig
Jahre alt. Er hatte schütteres, graues Haar und litt unter
gelegentlichen Schwindelanfällen. Seine Frau arbeitete in der
danebenliegenden Bäckerei. Sie war etwas robuster als er, litt
jedoch unter Krampfadern. Die beiden lebten mit ihren zwei bleichen
Töchtern in einer winzigen Hütte hinter der Kirche.
Schwester Mabel besuchte sie, so oft sie konnte. Heute war sie
mit einem Trank aus wildem Lattich gegen die schwindende Sehkraft
des Mannes und Zehrkraut gegen seine Schwindelanfälle gekommen. Sie
hatte auch Wacholder für die geschwollenen Beine der Frau
mitgebracht und Weizenbrot, weil die Kinder Würmer hatten. Als sie
die Hütte wieder verließ, hatte sie nur einen einzigen Gedanken:
Der elende Silversleeves mußte unbedingt etwas für diese armen
Leute tun.
Sie ging geradewegs zu seinem Haus, aber er war nicht da. Also
trat sie ihren Heimweg Richtung Smithfield an. Als sie an der
großen, offenen Fläche ankam, sah sie Silversleeves an der Pforte
zu St. Bartholomew's stehen und mit Bruder Michael reden. Sie eilte
zu den beiden hinüber, doch plötzlich ließ sie etwas innehalten.
Hinter den beiden Männern stand eine seltsame, grünweiße Gestalt
mit einem vogelartigen Gesicht, einem geschwungenen Schwanz und
einem Dreizack in den Händen. Es war der Dämon, mit dem sie vor
vielen Jahren während einer Vision gesprochen hatte. Sein Gesicht
mit dem Schnabel wirkte hämisch und schadenfroh. Er ist gekommen,
um Silversleeves zu holen, dachte sie ohne Bedauern. Doch dann sah
sie zu ihrem Entsetzen, daß der Dämon Silversleeves nicht weiter
beachtete, sondern seine langen Arme um den heiligen Bruder Michael
legte. Und dieser merkte überhaupt nichts davon.
Als die sieben Aldermen sich kurz nach
Michaeli in diesem Jahr wieder trafen, waren sich alle einig, daß
Sampson Bull ausgezeichnete Arbeit geleistet hatte.
»Hervorragend, wie Ihr mit Silversleeves umgeht«, erklärte der
Anführer. Und in der Tat hatte auch Bull das Gefühl, daß er
Meisterhaftes vollbracht hatte. Nicht, daß er gelogen hatte. Kein
Bull tat jemals so etwas. »Aber vielleicht habe ich ein wenig
übertrieben«, gestand er. Und Pentecost hatte ihm bereitwilligst
geglaubt.
Als er dem Exchequer-Beamten in diesem Frühjahr erzählt hatte,
daß Johanns Gesandte mit einigen der führenden Aldermen Londons ins
Gespräch getreten seien, war Silversleeves' Furcht nur zu
offensichtlich gewesen. Dabei stimmte es tatsächlich, daß ein paar
geheime Gespräche stattgefunden hatten, aber Johann war noch nicht
zuversichtlich genug, und auch die Aldermen waren noch nicht
bereit, mehr als ein vages gemeinsames Interesse erkennen zu
lassen. Doch indem Bull Pentecost in dem Glauben beließ, daß
bereits eine Verschwörung im Gang sei, nötigte er ihn zum
Handeln.
»Angesichts diesen monströsen Steuern«, hatte er Pentecost
gewarnt, »wird die Stadt auf jeden Fall Johann unterstützen, wenn
dieser Euren Herrn angreift.«
Von dem Tag an warnte Silversleeves den Kanzler immer wieder
eindringlich vor den Gefahren, es sich mit der Stadt zu
verscherzen. Kaum eine Woche verstrich, ohne daß er bei Bull
besorgt um Neuigkeiten nachfragte, und der Kaufmann pflegte darauf
stets Dinge zu sagen wie etwa: »Johann ist überall«, oder: »Es
sieht nicht gut aus für Longchamp.«
Im Hochsommer erhielt der Alderman Hinweise, daß ihre Kampagne
erfolgreich verlief. Und nun, vor wenigen Tagen, waren zu Michaeli
die wunderbaren Neuigkeiten aus dem Schatzamt gekommen.
»Alles, was wir wollten!« verkündete Bull seinen Freunden
begeistert. »Die Sondersteuern des Königs abgeschafft. Die
jährlichen festen Abgaben wieder auf ihrem ursprünglichen niedrigen
Stand. Zwei Sheriffs, die wir wählen können.« Zu Silversleeves
meinte er später feierlich: »London steht in Eurer Schuld, Master
Silversleeves.« Und als der Beamte Näheres erfahren wollte, sagte
Bull: »Warum sollte London Johann unterstützen, wenn wir einen
Freund wie Longchamp haben?«
Bei dem Treffen im Haus in der Nähe des London Stone
verkündete der Anführer der Gruppe, nachdem er Bull beglückwünscht
hatte, mit einem breiten Lächeln: »Und nun, meine Freunde, heißt es
nur noch abwarten.« An eben diesem Tag hatte er die Nachricht
erhalten, daß König Richard Löwenherz die Segel gesetzt und das
Festland verlassen habe. Er war nun unwiderruflich unterwegs auf
dem fernen Mittelmeer.
Adams Mutter hörte nie mehr von ihren
Verwandten in Windsor. Keiner aus der Familie kam je nach London,
und sie bekam auch nie einen Penny von ihnen zu Gesicht. Nachdem
über ein Jahr ohne eine Nachricht von ihnen verstrichen war, hatte
sie sich fest vorgenommen, im nächsten Jahr noch einmal persönlich
nachzuforschen. Oder vielleicht auch erst im übernächsten Jahr. Es
war schließlich ein ziemlich weiter Weg.
Als Adam fünf war, erklärte sie ihm: »Dein Vater hatte ein
paar Äcker in einem kleinen Dorf. Eigentlich stünde uns daraus ein
gewisser Ertrag zu.« Dem Jungen sagten diese Worte zu dem damaligen
Zeitpunkt nichts, und da seine Mutter nie mehr darauf zu sprechen
kam, vergaß er die Angelegenheit schließlich völlig.
In diesem Herbst kehrte David Bulls
Krankheit zurück. Plötzlich wurde er so blaß und dünn, daß sein
Vater sich ernsthaft Sorgen machte. Man versuchte alles mögliche
einschließlich Mabels Kräutermittel, und nach einer Weile schien
sich David wieder zu erholen, doch im Januar kehrte die Krankheit
abermals zurück.
Zuerst hatte es geschneit, dann war es bitterkalt geworden.
Londons Straßen verwandelten sich zu spiegelglatten Eisflächen, und
auf die Wege wurde Asche gestreut. Jeden Tag kämpfte sich der Mönch
traurig seinen Weg hinunter zum Haus seines Bruders. Wenn David mit
seinen fünfzehn Jahren schon sterben mußte, dann war die
Vorbereitung darauf das mindeste, was Michael tun konnte. Und der
Junge unterhielt sich gern mit ihm. Er wollte alles vom Himmel, der
Hölle und dem Teufel wissen. Eines Tages fragte er ihn: »Wenn meine
Seele Gott sucht, warum liebt sie dann die Welt, die so weit
entfernt ist vom Himmel? Heißt das, daß der Teufel mich erobert
hat?«
»Nicht unbedingt«, erklärte ihm der Mönch. »Weltliche
Begierden sind eigentlich nur eine Verdrehung deines Wunsches nach
der Ewigkeit.«
»Wenn das so ist«, fragte David, »warum habe ich dann Angst,
diese Welt zu verlassen?«
»Du hast nichts zu befürchten, wenn du bereit dazu bist und
Gott gedient hast«, erwiderte der Mönch.
»Ich hätte gern an einem Kreuzzug teilgenommen«, sagte der
Junge seufzend. »Aber so habe ich gar nichts geleistet.«
Eine Woche später wurde es etwas wärmer. David klammerte sich
noch immer an sein Leben, und sein Onkel betete noch immer für ihn.
Und eines Tages überkam Bruder Michael das unerklärliche Wissen,
daß der Junge überleben würde. Er gestand es Ida, die so bewegt
davon war, daß sie ihn küßte. An diesem Morgen sah Michael auf
seinem Heimweg ein Schneeglöckchen auf einem kleinen Grasfleck
gleich neben St. Paul's blühen.
Mitte Februar verstand Schwester Mabel
endlich ihre Vision. Wieder hatte sie den Kustos von
St.-Lawrence-Silversleeves besucht. Zwar stieß sie bei dem
Exchequer-Beamten stets auf taube Ohren, wenn sie versuchte, ihn zu
überreden, etwas für die arme Familie zu tun, aber sie versuchte
weiterhin nach Kräften, die armen Leute zu unterstützen. Nach
diesem Besuch beschloß sie, noch rasch bei David Bull
vorbeizuschauen. Als sie in die Halle hineinstapfte, saßen die drei
zusammen in der Nähe des Fensters, und in diesem Moment ging ihr
die Wahrheit auf.
Diesmal war kein Dämon da, nur drei sehr menschliche
Gestalten. Der Junge saß vor einem aufgeschlagenen Buch am Tisch.
Bruder Michael saß neben ihm und erklärte ihm einen schwierigen
lateinischen Satz. Ida saß auf der gegenüberliegenden Seite und
blickte ihn bewundernd an. Entsetzt erkannte Mabel, daß vor ihren
Augen eine widernatürliche Liebe wuchs.
Sie verabreichte David die Medizin, die sie ihm mitgebracht
hatte, und verabschiedete sich rasch. Als sie an diesem Abend den
Mönch im Kloster traf, sagte sie ihm ohne Umschweife: »Hüte dich
vor einer widernatürlichen Liebe, Bruder Michael!«
Michael wurde nur selten böse, doch nun stand er kurz davor.
Dann wurde ihm klar, daß Mabel wohl eifersüchtig war, aber was
nützte es schon, ihr dies geradewegs zu sagen? Was seine Gefühle zu
Ida betraf, fühlte er sich zuversichtlich. »Wir müssen alle auf der
Hut sein«, wies er sie sanft zurecht. »Ich versichere dir, daß ich
es bin. Bitte sage mir so etwas nicht noch einmal!«
Juni 1191
Prinz Johann hatte gute Arbeit geleistet.
Anfang dieses Jahres gab es wohl kaum noch einen Baron in England,
der nicht einen Groll gegen den Kanzler hegte und nicht Johanns
Freund geworden war. Und dann, im Frühling, wurde Johann
aktiv.
Zuerst hatte er eine der Burgen im Süden als persönliches
Eigentum beansprucht. Dann hatte ein wichtiger Sheriff im Norden
dem Kanzler seinen Gehorsam verweigert. Im März kam ein Bote mit
noch schlimmeren Nachrichten nach London: »Johann hat die Burg in
Nottingham eingenommen.« Diese Burg war eine der stärksten
Festungen in Mittelengland. Johann zog im Königreich umher und
holte sich überall in den Grafschaften Unterstützung. Einer der
Barone stellte eine gefährliche Streitmacht an den Grenzen zu Wales
auf. In der Stadt fragte man sich nur noch zwei Dinge: Wird der
Kanzler den Bruder des Königs bezwingen? Wird Johann tatsächlich
London angreifen?
Silversleeves starrte auf die Szene, die sich da vor ihm
abspielte. Vor dem Tower errichtete ein kleines Aufgebot an Männern
hastig einen neuen Wall. Sie gruben auch einen großen Graben aus.
Mutlos beobachtete Pentecost diese Bautätigkeiten. Longchamp mochte
ein begabter Verwalter sein, aber er war kein Burgenbauer. Der
Aushub für den Wall war viel zu niedrig, die Mauern nicht stark
genug, um einem richtigen Angriff standzuhalten. Der Graben sollte
ein Wassergraben werden, aber momentan enthielt er kaum mehr als
eine kleine Schlammpfütze. Erst vor einer Woche hatte es im East
Cheap einen kleinen Aufstand gegeben. Er war zwar mühelos
niedergeschlagen worden, doch Pentecost hegte den Verdacht, daß
Johanns Männer ihn angefacht hatten.
Würde London dem Kanzler die Treue halten? Er hatte den
Londonern alles gegeben, was sie von ihm gefordert hatten. Aber er
war einfach schrecklich ungeschickt. Im vorigen Monat hatte er bei
seinen hastigen Arbeiten am Tower den Obstgarten eines Alderman
zerstört. Dennoch hatte Bull ihm versichert, daß London dem König
die Treue halten würde, egal, ob man Longchamp nun mochte oder
nicht.
Aber wo war König Richard nun? War er überhaupt noch am Leben?
Niemand konnte diese Fragen beantworten.
Bruder Michael war glücklich, denn David
ging es wieder besser. Inzwischen unternahmen er und Ida oft einen
kleinen Spaziergang mit dem Jungen. Anfangs hatte David immer nur
wenige Schritte geschafft, aber Ende März schritten er und der
drahtige Mönch so wacker aus, daß Ida ihnen lachend erklärte, daß
sie mit ihnen nicht mehr Schritt halten konnte.
An einem warmen Tag Ende April kamen sie nach Aldwych, wo ein
paar mutige Knaben in die Themse sprangen. Zur Überraschung seines
Onkels rannte David zu ihnen hinunter, entledigte sich seiner
Kleider und sprang ebenfalls in den Fluß. Bruder Michael wollte ihn
zurückhalten, konnte sich jedoch auch nicht der Freude erwehren bei
dem Anblick seines nun wieder erstarkten, gesundeten Körpers. Doch
aus Angst vor einer neuen Erkältung beeilte sich der Mönch, den
Jungen trockenzurubbeln, und legte auf dem Heimweg einen Arm um
ihn, um ihn zu wärmen.
Obwohl er nun meist wieder recht munter war, war David auch
oft nachdenklich. Er betete gern mit dem Mönch und stellte ihm
immer wieder Fragen zur Religion. Als Ida und Bull sich im Mai nach
Bocton begaben, blieb David in London unter der Obhut seines Onkels
zurück mit der Entschuldigung, daß es doch so schön sei, in der
Stadt den Frühling in voller Blüte zu erleben.
Bruder Michael wußte, daß es seine Aufgabe war, die Seele des
Jungen zu retten. Schließlich hatte Gott David vor dem Tod bewahrt,
und dafür gab es sicher einen Grund. Und noch etwas wurde ihm klar:
Die göttliche Vorsehung hatte ihm die Mittel dazu anvertraut: das
Geld seiner Mutter. Die Umstände entsprachen genau ihren
Vorstellungen. Das Geld würde dem religiösen Wohl der Familie
dienlich sein.
Mitte Juni begab er sich zur Westminsterabtei, bat um ein
Gespräch mit dem Abt und regelte alles mit ihm. Nachdem er sein
Leben ganz der Arbeit im Bartholomew's gewidmet hatte, hatte er nun
das Gefühl, sich eine Rast verdient zu haben. Zumindest konnte er
dann auch noch ein Auge auf David werfen.
An einem angenehmen Maiabend stellte Bruder Michael seinem
Neffen die kritische Frage: »Ich glaube, du bist zum religiösen
Leben berufen. Wie denkst du darüber?« David errötete vor Freude
und rief dankbar: »O ja, das glaube ich auch!«
»Wenn du in die große Westminsterabtei eintrittst, werde auch
ich dort sein und über dich wachen.«
Michael war glücklich. Er zweifelte zwar nicht daran, daß sein
Bruder ärgerlich sein würde, aber er erinnerte sich auch daran, wie
gebrochen Bull gewesen war ob der Aussicht, seinen Sohn zu
verlieren, und deshalb hegte er nun die Hoffnung, daß das Herz des
ungläubigen Kaufmanns sich vielleicht doch erweichen lassen würde.
Zumindest konnte Bull froh sein, daß sein Sohn sich in einem nahe
gelegenen Kloster in Sicherheit befand. Und Michael hegte nicht den
geringsten Zweifel daran, daß Ida seine Freude und Dankbarkeit
teilen würde, wenn sie ihren Stiefsohn sicher im Schoß der Kirche
wüßte. Im Juni würden die beiden zurückkehren, und so wartete
Bruder Michael nun zwar nervös, doch auch hoffnungsvoll darauf,
ihnen die wunderbaren Neuigkeiten mitzuteilen.
Aber Idas blasses, vornehmes Gesicht versteinerte sich, und
sie bedachte ihn mit größter Verachtung, als sie die Neuigkeiten
erfuhr. »David ein Mönch? Wie sollte er da jemals Kinder
haben?«
»Wir sind doch alle Kinder Gottes«, erwiderte Michael
geknickt.
»Gott braucht meinen Stiefsohn nicht«, gab sie ihm wütend
zurück. »Er wird in eine adlige Familie einheiraten.«
Nun regte sich auch in Michael die Wut. »Ihr würdet also Euren
Familienstolz vor Gott und das Glück Eures Sohnes stellen?«
»Darüber laß andere urteilen, du intrigante alte Jungfer!«
kreischte sie. »Verlasse auf der Stelle dieses Haus, und kehr
zurück zu deinen elenden Krüppeln!«
Eine Stunde später, nach einem hastigen Gespräch mit ihrem
Mann, in dem sie zu bestem Einverständnis gelangt waren, machten
sich Sampson und Ida wieder nach Bocton auf, und zwar mit David im
Geleit.
Doch die schlimmste Erniedrigung erfuhr Bruder Michael an
diesem Nachmittag im Kloster von St. Bartholomew's, als er seine
Sorgen mit Mabel besprach. »Ich habe doch versucht, dich vor einer
widernatürlichen Liebe zu warnen!« sagte sie.
Bruder Michael dachte an die Verachtung, mit der Ida ihn
behandelt hatte. »Ich glaube nicht, daß ich sie noch liebe.«
Mabel verzog das Gesicht. »Sie? Du meinst Ida?«
»Wen denn sonst?« Überrascht blickte er auf.
»David natürlich! Den Jungen. Du hast dich doch in den Jungen
verliebt, oder etwa nicht?«
Kurz verschlug es Bruder Michael die Sprache, dann wallte eine
immense Wut in ihm auf. Aber bevor er diese noch in Worte fassen
konnte, merkte er plötzlich entsetzt, daß Mabel recht hatte und er
es in seiner Unschuld einfach nicht hatte wahrnehmen wollen. Von
Gram und Scham gebeugt stand er auf und schlurfte wie ein alter
Mann in seine Zelle.
In Bocton wurde David vollends gesund. Er
liebte das alte Anwesen und den herrlichen Ausblick; er unternahm
lange Spaziergänge in den Wäldern und Feldern mit seinem Vater; er
las Rittergeschichten mit Ida, die als Herrin des Landgutes in
ihrem Element war. Vielleicht ließen ihm die Geister seiner
Vorfahren etwas von ihrer Kraft zukommen. David war noch nie so
zufrieden gewesen, und dasselbe ließ sich wohl auch von Ida und
seinem Vater behaupten. Durch die von Davids Krankheit verursachte
Krise waren sie sich nähergekommen. Nun wirkten sie zum erstenmal
wie ein glücklich verheiratetes Paar, ob sie nun über
Renovierungsarbeiten an dem alten Gebäude sprachen, gemeinsam durch
den Obstgarten spazierten oder einfach nur friedlich nebeneinander
auf einer Bank in der Sonne saßen und den Blick auf den Weald
genossen.
Die von dem treulosen Prinzen Johann angezettelten Unruhen
schienen sich gelegt zu haben. Im Juli hatte der Erzbischof von
Rouen einen Frieden zwischen Johann und Longchamp vermittelt. In
England war es wieder ruhig. König Richard, so hieß es, erfreue
sich bester Gesundheit auf seinem Kreuzzug und habe im August eine
hübsche Prinzessin geheiratet.
Einmal kam Silversleeves aus London angereist, um mit dem
Kaufmann zu reden, und David lauschte ihrer Unterhaltung mit großem
Interesse.
»War es klug von Richard, diese Prinzessin zu heiraten?«
fragte Bull.
»Ich denke schon«, erwiderte Silversleeves. »Sie kommt aus
Navarra, was südlich von Aquitanien liegt; durch diese Verbindung
schmälert Richard die Möglichkeiten des französischen Königs, ihn
aus dieser Richtung anzugreifen.«
David war leicht verwirrt. Wie seine sächsischen Vorfahren sah
er die Dinge am liebsten ganz eindeutig. Entweder war jemand ein
Freund oder ein Feind; beides zusammen ging doch nicht. »Aber König
Richard und der König von Frankreich sind doch Freunde?« fragte er.
»Sie ziehen doch gemeinsam in den Kreuzzug?«
Silversleeves lächelte traurig. Angesichts der Größe des
Plantagenet-Reiches, das sich im Westen Frankreichs erstreckte,
konnten die Könige von Frankreich und die Plantagenets nie mehr als
nur vorübergehende Freunde sein. »Er ist nur im Moment Richards
Freund«, erklärte er.
»Ich würde für König Richard sterben!« verkündete David. »Ihr
etwa nicht?«
Silversleeves zögerte nur eine Sekunde, dann antwortete er
lächelnd: »Natürlich, ich bin doch ein Mann des Königs.«
Es war schon lange her, daß Pentecost
Silversleeves einmal richtig panisch gewesen war, aber nun, am
Nachmittag des fünften Oktober, stand er kurz davor. In der linken
Hand hielt er eine dringende Aufforderung seines Herrn und Patrons,
in der rechten ein weiteres Dokument, das ebenso erschreckend war.
Beides stellte ihn vor die schreckliche Frage, auf welche Seite er
sich nun begeben sollte.
Die Krise war Mitte September ausgebrochen, und deshalb war
die Michaeli-Sitzung des Schatzamts in das fünfzig Meilen entfernte
Oxford verlegt worden. Aber dieser ruhige Burgenort mit seiner
kleinen Gelehrtengemeinde schenkte Silversleeves auch keinen
Frieden. Der Grund für dieses unglückselige Geschäft war ein
unehelich geborener Sohn, das Problem lag darin, daß dieser zum
Erzbischof von York ernannt worden war.
Natürlich war es nicht ungewöhnlich, daß die unehelichen Söhne
des Königs Bischöfe wurden. Damit hatten sie ein Einkommen und
einen Aufgabenbereich. Die Ernennung eines der vielen Söhne
Heinrichs II. zum Erzbischof hätte kaum eine Rolle gespielt. Doch
nun hatte er sich, wie jedermann wußte, auf Johanns Seite
geschlagen, und König Richard hatte ihm ausdrücklich untersagt,
England zu betreten. Im vergangenen Monat war er dennoch in Kent
gelandet; der Kanzler hatte ihn aufgefordert, seine Treue zu
schwören; der gerissene Bursche hatte sich geweigert. Und dann
hatte Longchamp den Fehler begangen, ihn in den Kerker zu
werfen.
Das Ganze war eine vorsätzliche Falle gewesen, meinte
Pentecost, und sein Herr war hineingestolpert. Zu Johanns großer
Freude war es zu einer öffentlichen Empörung gekommen. Der
Erzbischof wurde bald wieder freigelassen, doch nun wurde er als
Märtyrer gefeiert, wie Becket. Johann und seine Anhänger hatten
protestiert, und nun fand eine große Ratsversammlung auf der Hälfte
des Weges zwischen London und Oxford statt, zu der Longchamp
geladen war, um sein Vorgehen zu erklären. »Diesmal werden sie ihn
packen«, stöhnte Silversleeves.
Noch waren viele Mitglieder des Rats Johann gegenüber
unsicher. Der Kanzler hatte noch immer mehrere Burgen
einschließlich Windsor. Wie immer würde London eine
Schlüsselposition einnehmen. Wohin würde die Stadt sich wenden?
Silversleeves war nicht überrascht, daß sein Herr ihn nun sofort
nach London zitiert hatte.
Aber was hatte es mit dem Pergament in seiner anderen Hand auf
sich? Auf den ersten Blick wirkte es wie ein ganz normales Dokument
aus dem Schatzamt. Doch wenn man auf eine der Ecken blickte, sah
man in einem Großbuchstaben eine sorgfältig gemalte, böse Karikatur
des Kanzlers, ein wahres Meisterwerk. Longchamp sah aus wie ein
fleischiger Wasserspeier, aus seinem Mund tropfte es heraus, als
habe er mehr in sich hineingeschlungen, als er behalten konnte.
Keiner der hier tätigen Schreiber hätte es gewagt, so etwas in den
Unterlagen liegen zu lassen, wenn er sich nicht sicher gewesen
wäre, daß der Kanzler dem Untergang geweiht war. Am
allerschlimmsten für Silversleeves war es, daß am Rand neben dem
Großbuchstaben noch eine weitere Karikatur zu sehen war, ein Hund,
den der Kanzler an der Leine führte. Das Gesicht des Hundes mit
seinem gierigen, sabbernden Maul und seiner langen Nase war
ebenfalls nicht zu verkennen. Es war er selbst.
Also dachten sie hier, daß auch er dem Untergang geweiht war.
Wenn sie recht hatten, sollte er seinen Patron sofort verlassen.
Schnell überdachte er noch einmal die gesamten Aktionen des
Kanzlers. Gab es unbekannte Verbrechen, deren er seinen Herrn
bezichtigen konnte, wenn er zu Longchamps Feinden überlief? Gab es
welche, in die er nicht selbst verwickelt gewesen war? Nur zwei
oder drei, doch im Notfall würde es schon reichen. Wenn Longchamp
andererseits diese Krise überstand und er ihn im Stich gelassen
hatte, würde ihn dies sämtliche Hoffnungen auf zukünftige Vorteile
kosten. Mehrere quälende Minuten lang überdachte er seine Zukunft.
Dann zog er sein Messer heraus, schnitt die beleidigende Ecke des
Pergaments ab und verließ den Raum. Am Abend war er unterwegs nach
London.
Am siebten Oktober verbrachte Ida eine ruhige Mittagsstunde im
Haus unter dem Hauszeichen des Bullen. Nach den Aufregungen der
letzten beiden Tage war sie sehr froh darüber.
Am Vortag war Longchamp mit einer Truppe von Leuten aus
Windsor nach London gekommen. Nun war er im Tower und sicherte die
Befestigungsanlagen. Heute morgen hatte sich die Nachricht
verbreitet, daß sich der Rat, Prinz Johann, seine Ritter und viele
bewaffnete Männer der Stadt näherten. »Sie wollen den Kanzler
absetzen«, berichtete der Bote.
Aber das war vielleicht gar nicht so einfach. Wenn die Stadt
Richard die Treue hielt und die Tore schloß, würde der Rat nicht
viel ausrichten können. Vor zwei Stunden war Bull zu einer
Versammlung aller Aldermen und der Großen der Stadt gegangen, auf
der man die Haltung dem Rat gegenüber besprechen wollte, und nun
wartete Ida ungeduldig auf ihren Beschluß. Als sie jemanden im Hof
hörte, dachte sie, es sei ihr Mann, doch zu ihrer Überraschung
tauchte Silversleeves auf.
Bull ging währenddessen frohgemut mit großen Schritten an St.
Paul's vorbei. Alles war wunschgemäß gelaufen.
Die Versammlung der Aldermen hatte in einem Saal hinter
verschlossenen Türen stattgefunden. Mehrere Vorgehensweisen wurden
vorgeschlagen. Aber die Siebenergruppe hatte sich gut darauf
vorbereitet. Die monatelange diskrete Beeinflussung der Meinungen
ihrer Kollegen trug nun endlich Früchte. Schließlich war man
übereingekommen, ihr alles anzuvertrauen, und in eben diesem Moment
schlich sich ein Bote leise durch das Ludgate aus der Stadt hinaus.
Außerdem war man sich einig, daß es für den Erfolg der Strategie
der Sieben unerläßlich war, über das Treffen strengstes
Stillschweigen zu wahren.
Zu seiner Überraschung fand er bei seiner Heimkehr
Silversleeves vor, der auf ihn gewartet hatte. Der Mann tat ihm
schon fast leid, so gehetzt wirkte er. Nun rannte er auf den
Kaufmann zu und flehte ihn um Neuigkeiten an.
Der Kaufmann überlegte rasch. »Ihr seid zu Longchamp
unterwegs?« fragte er. Silversleeves nickte. »Dann sagt ihm, daß
London loyal ist.«
Sogleich machte sich ein erleichterter Silversleeves auf
seinen Weg in den Tower, während Bull sich überlegte, ob er eben
gelogen hatte. Aber nein, ein Bull log nie. »Ich habe ja nur
gesagt, daß London loyal ist«, murmelte er laut vor sich hin. Er
hatte nicht gesagt, wem diese Loyalität galt.
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit sah David Bull, der den
ganzen Nachmittag lang vom Ludgate aus nach Zeichen der
heranrückenden Streitkräfte Ausschau gehalten hatte, eine
sonderbare kleine Prozession. Wer waren diese zwanzig vermummten
Reiter, die von Männern mit Fackeln und Laternen durch die stillen
Straßen der Stadt geführt wurden? David folgte ihnen neugierig auf
ihrem Weg den Hang zum Walbrook hinunter. Am London Stone hielt die
Gruppe an. Drei Reiter ritten einen Weg gegenüber des Steines
hinauf, einige andere stiegen von ihren Pferden. David schlich sich
noch ein wenig näher an sie heran. Er bemerkte eine große Gestalt
mit einer Laterne, die sich von der Gruppe entfernte und in eine
dunkle Gasse einbiegen wollte. David rannte ihr nach, berührte sie
am Arm und fragte leise: »Sir, könnt Ihr mir sagen, wer diese Leute
sind?«
Da wandte sich die Gestalt ihm zu, und überrascht erkannte er
im Schein der Laterne das Gesicht seines Vaters. »Geh heim!«
zischte Bull. »Ich werde dir später alles erklären.«
Doch David zögerte, er konnte seine Neugier einfach nicht
zügeln. »Aber wer sind denn diese Leute, Vater?« flüsterte
er.
Die gemurmelte Antwort seines Vaters versetzte ihn in noch
größeres Erstaunen: »Prinz Johann, du Dummkopf. Und jetzt
geh!«
Erleichtert hatte Ida vernommen, daß ihr Mann und seine
Kaufmannskollegen loyal waren. Offensichtlich zeigte ihr Einfluß
nun doch eine Wirkung. Bull war zwar nur ein ungehobelter Kaufmann,
aber immerhin hatte er Ehrgefühl, dachte sie.
Als David nun nach Hause kam und ihr erzählte, was passiert
war, konnte sie es erst gar nicht fassen. »Da mußt du etwas falsch
verstanden haben«, sagte sie nur. Aber als eine Stunde verstrichen
war, begann sie, nachdenklich zu werden. Was führte ihr Mann im
Schilde? Als Bull schließlich heimkehrte, fragte sie ihn sogleich
mit eisiger Stimme: »Was hast du getan?«
»Einen Handel abgeschlossen«, antwortete er kühl.
»Du hast mit dem Verräter Johann verhandelt?«
»Ja, mit Johann.« Lag Verachtung in seiner
Beherrschtheit?
»Dem Feind des Königs. Was für einen Handel?«
Bull war so zufrieden, daß es ihm egal war, was seine Frau von
ihm dachte. »Morgen wird Prinz Johann zusammen mit dem königlichen
Rat offiziell die Stadt betreten. Wir werden die Tore öffnen und
sie willkommen heißen. Dann wird die Stadt Prinz Johann und dem Rat
ihre volle Unterstützung beweisen, indem sie Longchamp absetzen
wird. Wenn nötig, werden wir den Tower stürmen.«
»Und dann?«
»Dann werden wir schwören, Johann als König Richards
Nachfolger anzuerkennen, und nicht Arthur.«
»Warum habt ihr das getan?« Idas Stimme war heiser vor
Mißbilligung.
Bull lächelte nur. »Als Gegenleistung für Londons
Zusammenarbeit in diesen kritischen Zeiten hat Prinz Johann uns
etwas gewährt, das wir dringend brauchen.«
»Und das wäre?«
»Die städtische Selbstverwaltung natürlich. London ist jetzt
eine Kommune. Wir werden morgen unseren Bürgermeister wählen.
London ist frei.«
Kurze Zeit war Ida zu überrascht, um Worte zu finden, dann
brach es aus ihr heraus. »London eine Kommune!« schrie sie. »Nur,
damit ihr Kaufleute euch Barone nennen und so tun könnt, als sei
euer Bürgermeister ein König? Dafür habt ihr England an diesen
Teufel Johann verkauft? Verräter!«
Bull zuckte nur die Schultern und wandte sich von ihr ab.
Deshalb sah er auch nicht, daß David Tränen in die Augen gestiegen
waren und er seinen Vater nicht nur entsetzt, sondern zum erstenmal
in seinem Leben haßerfüllt anstarrte, bevor er aus dem Haus
rannte.
Pentecost ritt mit vier Reitern durch die dunklen Straßen. Er
hatte sich der Patrouille angeschlossen, um eventuelle Neuigkeiten
herauszufinden. Sein Gespräch mit Longchamp hatte ihm wieder Mut
gemacht. Der Kanzler mochte zwar manchmal etwas ungeschickt sein,
doch seine kühle Entschlossenheit war zu bewundern. Pentecost hatte
erfahren, daß seine Burgen bestens verteidigt werden konnten, und
auch die Vorrichtungen am Tower waren in gutem Zustand. »Morgen bei
Tagesanbruch werdet Ihr kontrollieren, daß auch wirklich alle Tore
Londons geschlossen bleiben, und zwar auf meine Anordnung hin!«
hatte er Silversleeves befohlen. Sodann hatten sie gemeinsam einen
Brief an König Richard aufgesetzt, in dem Johanns verräterische
Machenschaften ausführlich geschildert wurden. »Wenn die Stadt fest
bleibt, wie Ihr mir gesagt habt, dann können wir Johann
wahrscheinlich abwehren«, hatte Longchamp gemeint. »Und dann werden
wir für Euch natürlich auch ein weiteres Landgut finden, mein
Freund Silversleeves.«
Die Patrouille war am Fuß von Cornhill angelangt und wollte
gerade zum Tower zurückkehren, als sie drei Ritter vom Fluß
heraufreiten sah. Als der Anführer der Patrouille ihnen befahl,
sich zu erkennen zu geben, antwortete einer der Ritter nur: »Wer
seid Ihr, dies von uns zu fordern?«
»Männer des Kanzlers. Und nun sagt mir, wer Ihr seid!« Die
Ritter unterhielten sich kurz leise miteinander, dann sagte einer
der drei: »Ich bin Sir William de Montvent. Und Euer Herr ist ein
Hund!«
Johanns Männer. Was hatte dies zu bedeuten? Silversleeves
blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Er hörte, wie Schwerter
gezückt wurden, sah das schwache Aufblitzen von Stahl in der
Dunkelheit, und schon trabten die Ritter auf sie zu.
Instinktiv versuchte Pentecost, sein Pferd umzulenken und zu
entkommen. Aber der Kies auf dem Weg und Pentecosts Panik brachten
das Pferd dazu, auszurutschen und zu stürzen, und Pentecost hatte
noch Glück, sich bei dem Sturz auf den harten Boden nicht zu
verletzen.
Bis er es geschafft hatte, wieder auf die Füße zu kommen,
waren zwei der drei Ritter schon gut hundert Meter von ihm
entfernt, doch der dritte war noch da und blickte kühl auf ihn
herab, das Schwert nach wie vor gezückt. »Wie wär's mit einem
kleinen Schwertkampf?« fragte er höhnisch und begann gelassen, von
seinem Pferd abzusteigen.
Entsetzt zog Pentecost sein Schwert. Der Ritter kehrte ihm
beim Absteigen den Rücken zu. Silversleeves stach zu; von einem
tiefen Hieb tödlich getroffen, brach der Ritter mit einem Aufschrei
zusammen. Pentecost sah sich um. Was sollte er nun tun? Die anderen
waren nicht mehr zu sehen.
In diesem Moment sah er eine niedergeschlagen wirkende Gestalt
vom West Cheap her durch die Dunkelheit auf ihn zulaufen. Es war
David Bull. Pentecost zögerte. Sollte er sich verstecken? Zu spät –
der Junge hatte ihn bereits entdeckt und rannte zu ihm. Erschrocken
hielt er inne, als er den gefallenen Ritter erblickte. »Er hat mich
angegriffen«, beeilte sich Silversleeves zu sagen. »O Sir«, rief
der Junge, »wißt Ihr schon, was passiert ist? Mein Vater und die
Aldermen haben London an Prinz Johann verkauft! Die Stadt soll eine
Kommune werden.« Wieder war er den Tränen nahe. »Damit ist wohl
alles verloren?« fragte er geknickt.
Pentecost blickte sich hastig um. Die Ritter würden sicher
bald zurück sein, um ihren Gefährten zu suchen. Hatte noch jemand
den Mord gesehen? Er glaubte es nicht.
»Noch ist nicht alles verloren«, sagte er. »Der Kanzler ist
hier. Wir haben Leute, die für uns kämpfen.«
»Ihr werdet Euch also Prinz Johann widersetzen und für König
Löwenherz kämpfen?«
»Selbstverständlich«, antwortete Pentecost. »Du doch auch,
oder etwa nicht?«
»O ja«, rief David Bull.
»Gut. Dann nimm mein Schwert«, sagte Silversleeves und reichte
es ihm. »Ich werde seines nehmen.« Er bückte sich und hob die Waffe
des toten Ritters auf. Und dann stach er das Schwert des Ritters
direkt in David Bulls Herz. Er legte das Schwert dem gefallenen
Ritter wieder in die Hände und schloß dessen Finger um den Knauf,
dann begab er sich mit seinem Pferd in eine Gasse in der Nähe und
wartete ab.
Alles geschah so, wie er es erwartet hatte. Nach wenigen
Minuten kehrten die anderen beiden Ritter, die die Patrouille bis
zum Tower verfolgt hatten, zurück, um nach ihrem Gefährten zu
sehen. »O mein Gott«, rief einer. »Er ist von einem Jungen getötet
worden.«
»Der Junge hat ihn von hinten angegriffen. Seht nur!«
»Aber vor seinem Tod hat er es noch geschafft, das kleine
Biest zu töten.« Sie hoben die Leiche ihres Kameraden auf und
ritten davon.
Kurz darauf tauchte Pentecost bei dem Aldermann auf. »Ich
möchte Euch um einen Gefallen bitten«, sagte er. »Ich habe
Longchamp verlassen. Er ist am Ende. Würdet Ihr bei Johann und dem
Rat ein gutes Wort für mich einlegen?«
Da Bull sich ein wenig schuldig fühlte, weil er ihn vorher an
der Nase herumgeführt hatte, willigte er grummelnd ein.
»Ihr seid wirklich ein wahrer Freund!« sagte
Silversleeves.
»Habt Ihr zufällig meinen Jungen gesehen?« wollte Bull noch
wissen. »Er ist vor einem Weilchen auf die Straße gerannt.«
»Nein«, erwiderte Pentecost.
Am siebten Oktober 1191 fand in der Geschichte Londons ein
einmaliges Ereignis statt. Von der großen Glocke von St. Paul's
herbeigerufen, traf sich der alte Folkmoot, der sich aus den
Bürgern Londons zusammensetzte, und vernahm, wie der Rat in
Anwesenheit von vielen Magnaten und natürlich Prinz Johann den
Kanzler Longchamp absetzte. Johann wurde als Nachfolger auf den
Thron ausgerufen. Außerdem wurde erklärt, daß London eine Kommune
werden und einen Bürgermeister bekommen sollte, was allerdings noch
von König Richard – falls er je zurückkehrte – bestätigt werden
mußte.
Bei dieser Zeremonie hielt sich Alderman Sampson Bull abseits
von seinen Mitkämpfern und vergoß stille Tränen. Als ihm die
Tragödie seines Sohnes mitgeteilt worden war und er den Leichnam
Davids heimholte, hatte er in seinem Schmerz zuerst Ida die Schuld
gegeben. »Du hast ihn gegen mich aufgewiegelt und seinen Kopf mit
Unsinn vollgestopft!« schrie er. »Jetzt kannst du sehen, wozu dies
geführt hat! Verlasse mein Haus, und zwar für immer!« Als sie sich
weigerte, schlug er sie.
Sie fühlte sich so schuldig, sie war so entsetzt, hatte soviel
Mitleid mit dem Kaufmann angesichts seiner Pein, daß sie sich nicht
gegen ihn zur Wehr setzte. Erst als er zum drittenmal ausholte,
flehte sie: »Schlag mich bitte nicht noch einmal! Ich bin
schwanger.«
1215
Schloß Windsor war ein hübscher Anblick. Es war im letzten
Jahrhundert auf einem eichenbestandenen Hügel errichtet worden und
thronte nun wie ein Wächter über den grünen Wiesen an der Themse.
Von hier aus hatte man einen hervorragenden Blick auf die
umliegenden Weiler und die ganze Umgebung. Um den breiten Gipfel
über den Bäumen erhoben sich die hohen Zinnen der Burg. Im
Gegensatz zu dem eckigen, grimmigen Tower strahlte diese andere,
flußaufwärts gelegene große Königsburg etwas Ruhiges, fast
Freundliches aus.
Silversleeves hatte sich nur etwa drei Meilen von der Burg
entfernt, als er sich wünschte, dies nicht getan zu haben. Als er
an diesem Junimorgen ausgeritten war, hatte die Sonne geschienen,
aber jetzt setzte ein heftiger Regen ein. Mit den Regentropfen, die
sich an der Spitze seiner großen Nase sammelten, gab er eine
traurige Gestalt ab, und dies nicht nur wegen seines Alters.
Schließlich zog der mächtige Graf Marshai, einer der größten
Beamten des Königreichs, mit über Siebzig noch immer auf seinem
Pferd in den Kampf. Aber Silversleeves mit seinen hängenden
Schultern und seiner Nase, die im Lauf der Jahre noch länger
geworden zu sein schien – und der in seinen fünfzig Jahren am
Exchequer niemals befördert worden war –, gab eine ausgezeichnete
Zielscheibe für Spott ab. Inzwischen kursierten mehrere lustige
Fassungen von der Geschichte, wie er damals von König Heinrich II.
aus der Westminsterhalle hinausgejagt worden war. Die
Seitenwechsel, die er in letzter Minute vollzogen hatte, waren zu
weiteren, hinter vorgehaltener Hand erzählten Legenden geworden.
Und wäre da nicht die Tatsache, daß er noch immer sämtliche
Exchequer-Rolls auswendig kannte und Rechenaufgaben blitzschnell im
Kopf lösen konnte, dann hätte man ihn wohl schon vor vielen Jahren
in den Ruhestand versetzt.
Immerhin konnte er sich damit trösten, daß er wichtig genug
war, um zu einer großen Versammlung eingeladen zu werden, die vor
drei Tagen auf einer Wiese in der Nähe des Schlosses, die den Namen
Runnymede trug, stattgefunden hatte.
Richard Löwenherz war kein guter König
gewesen, dafür hatte er sich viel zu kurz in England aufgehalten.
Als er schließlich auf dem Schlachtfeld fiel und sein Bruder Johann
ihm nachfolgte, hofften viele, daß alles besser werden würde.
Natürlich konnte niemand vorhersehen, welches Unheil Johanns
Regentschaft über das Land bringen würde. Er hatte seinen Neffen,
den Jungen Arthur aus der Bretagne, ermordet. Dann hatte er auf
einer Reihe von schlecht geführten Feldzügen nahezu das gesamte
Reich seines Vaters auf der anderen Seite des Kanals verloren. Er
schaffte es, sich derart heftig mit dem Papst zu streiten, daß
dieser über ganz England ein Interdikt verhängte. Jahrelang gab es
keine Messen; nicht einmal eine anständige Beerdigung war möglich.
Schließlich stieß er so viele von Englands mächtigen feudalen
Familien vor den Kopf, daß eine entschlossene Gruppe sich gegen ihn
auflehnte, um ihn zur Vernunft zu bringen.
Das Ergebnis war die Magna Charta, die Johann vor drei Tagen
auf Runnymede mit seinem Siegel hatte bestätigen müssen.
Eigentlich war es ein konservatives Dokument. Bei den meisten
Bedingungen, die es dem König stellte, und den grundlegenden
Freiheiten, die es dem Volk versicherte, handelte es sich um die
schon lange eingebürgerten Regelungen der feudalen Gesellschaft und
des alten englischen Gewohnheitsrechtes. Dennoch gab es einige
Verbesserungen: Witwen wie Ida zum Beispiel konnten nicht länger zu
einer erneuten Heirat gezwungen werden, und bestimmte Klauseln
sollten die Menschen vor einer Gefangenschaft ohne
Gerichtsverhandlung schützen. Einige der Punkte waren tatsächlich
revolutionär. Die Rebellen hatten durchgesetzt, daß es anstatt des
alten Rats der Großen – der Gruppe hoher Adliger, die bislang den
König beraten hatten – einen gewählten Rat von fünfundzwanzig
Männern geben sollte, dem auch der Erzbischof von Canterbury und
der Bürgermeister von London angehören sollten. Dieser Rat sollte
sicherstellen, daß der Monarch sich an die Magna Charta hielt. Wenn
er es nicht tat, konnte der Rat ihn absetzen.
»So etwas hat es noch nie gegeben!« bemerkte Silversleeves zu
einem der rebellischen Barone. »Noch nie hat ein Monarch sich so
einem Gesetz unterworfen. Damit wäre England ja eine Kommune, und
der König wäre nicht mehr als ein Bürgermeister.«
»Ganz recht, mein Lieber«, erwiderte der Edelmann.
»Schließlich hat uns London auf diese Idee gebracht.«
Auch London wurde in der Magna Charta erwähnt.
Sonderbarerweise hatten die Aldermen nicht auf ihrem Recht
bestanden, aus London eine Kommune zu machen, obwohl sie
entschlossen waren, sich ihre Privilegien zu erhalten. »Es ist
wegen der Steuern«, erklärte Bull Silversleeves. »Eine Kommune wird
ja steuermäßig wie ein einziger Baron behandelt. Das hieße
natürlich, daß die gewöhnlichen Bürger von den Reichsten von uns
erwarten würden, einen größeren Anteil zu zahlen. Wenn aber der
König jeden einzelnen Bürger individuell besteuert, dann trifft es
uns Aldermen nicht so hart. Also wollen wir die Kommune doch nicht
so sehr, wie wir ursprünglich dachten.« Die Stellung des
Bürgermeisters war in der Magna Charta auf alle Zeiten gesichert.
»Den lassen wir uns nie mehr wegnehmen«, versicherte Bull
Silversleeves. Eine weitere kleine Klausel besagte, daß sämtliche
Reusen aus der Themse entfernt werden sollten, ebenso wie aus dem
Medway und allen anderen Flüssen Englands. Nur der Küstenbereich
war davon ausgenommen. So hatte also Alderman Sampson Bull nach
mehr als vierzig Jahren den Sieg über den König
davongetragen.
Auf der Suche nach Schutz vor dem Regenguß bog Silversleeves
auf einen Weg ein, der zu einem Weiler führte, den er bislang noch
nie besucht hatte. Er ritt zu einem Bauernhaus und bat um Einlaß.
Erst als er langsam wieder trocken wurde, bemerkte er etwas
Merkwürdiges an der Bauernfamilie, die ihm zögernd ihre
Gastfreundschaft gewährt hatte: Der Vater hatte eine weiße
Haarsträhne. Silversleeves hielt sich etwa eine Stunde bei ihnen
auf, bis es zu regnen aufhörte. Dann ritt er noch bei dem Verwalter
des Anwesens vorbei, zu dem der Weiler gehörte.
Zufrieden lächelnd kehrte Silversleeves spät an diesem Tag
nach London zurück.
Das Leben hatte es gut gemeint mit Adam
Ducket. Er war jetzt Mitglied der Fischhändlergesellschaft, einer
bescheidenen Handwerksgilde, die ihm aber eine achtbare Position
sicherte. Zwar hatte es auch in seinem Leben ein trauriges Ereignis
gegeben – vor einigen Jahren war seine erste Frau im Kindbett
gestorben. Doch sein alter Patron Barnikel hatte eine Tochter,
Lucy, im heiratsfähigen Alter, und im Frühling sollte die Hochzeit
stattfinden.
An einem trüben Novembernachmittag kam ein Bote mit
sonderbaren Nachrichten zu Adam Duckets Haus am Cornhill. Er sollte
in zwei Wochen vor dem Hustings erscheinen. »Ich habe doch nichts
verbrochen«, sagte er zu dem Boten. »Was soll das also?« Als er es
am nächsten Tag im Haus des Bürgermeisters herausfand, wollte er
seinen Ohren kaum trauen.
Das alte Hustings-Gericht versammelte sich im allgemeinen
immer montags in einer einfachen steinernen Halle in Aldermanbury,
einem Bezirk gleich oberhalb des Judenviertels. Neben der Halle
befanden sich ein offener Vorplatz und mehrere Höfe. Die Straßen in
dieser Gegend beschrieben merkwürdige Kurven. Bis vor einigen
Generationen waren an diesem Ort noch die Umrisse eines römischen
Amphitheaters zu erkennen, doch inzwischen war es völlig in
Vergessenheit geraten. Der Gerichtshof, in dem sich der
Bürgermeister und die Aldermen trafen, wurde als Gildenhalle
bezeichnet.
In dieser Gildenhalle stand also Adam Ducket an einem kalten
Novembermorgen, neben sich Barnikel und Mabel zur Unterstützung,
vor dem Bürgermeister und den Aldermen Londons sowie vor seinem
Ankläger, Silversleeves.
Die letzten zehn Tage waren wie ein verstörender Traum
gewesen. Die Anklage war von einem Mann gekommen, den er kaum
kannte, und man warf ihm nicht einmal ein Verbrechen vor. »Sie
behaupten, daß ich nicht das bin, was ich zu sein glaube«, sagte er
zu Mabel. »Und ich kann es nicht beweisen.«
Er hatte es versucht. Gleich, nachdem er die Beschuldigung
erfahren hatte, war er zu dem Weiler in der Nähe von Windsor
geritten. Aber zu seiner Verwunderung bestätigten die entfernten
Vettern, die er noch nie besucht hatte, und der Verwalter des
Feudalherrn seine Schuld. »Wenn nur meine Mutter noch lebte!«
jammerte er. »Sie hätte mir vielleicht mehr dazu sagen können.«
Aber so konnte ihm niemand helfen.
Silversleeves hatte sich ans Werk gemacht. Er mochte zwar
dürr, gebeugt und eine Zielscheibe öffentlichen Spottes sein, aber
jetzt, voll und ganz in seinem Element, wuchs er schier über sich
hinaus. »Die Anklage ist ganz einfach«, erklärte er. »Hier vor dem
Bürgermeister und den Aldermen steht Adam Ducket, Fischhändler und
angeblicher Bürger Londons. Meine Pflicht an diesem Tag ist es,
Euch zu erklären, daß ich herausgefunden habe, daß er ein Betrüger
ist. Er ist zwar Adam Ducket, aber ein Bürger dieser noblen Kommune
ist er nicht. Adam Ducket ist kein Freier, er ist ein
Leibeigener.«
Die Großen Londons seufzten gelangweilt. »Gebt uns einen
Beweis!« sagten sie.
Eine solche Beschuldigung, der Vorwurf der Leibeigenschaft,
war keineswegs ungewöhnlich und wurde seit vielen Generationen
immer wieder vor den Londoner Gerichten erhoben. Zwar konnte ein
Leibeigener theoretisch davonlaufen und in einer Stadt leben, und
wenn er es unbehelligt ein Jahr und einen Tag lang schaffte, dann
war er frei. Doch solche Flüchtigen wurden meist als Vagabunden
behandelt, wenn sie kein Geld hatten. Die Freien in London hatten
ihre Verwandten, die sie einstellten, und ihre Gilden, die
geschützt werden mußten. Sie waren eine stolze Gemeinschaft. Und
wenn die Freien von London etwas nicht ausstehen konnten, dann war
es die Anwesenheit von Leibeigenen unter ihren Bürgern. »Wir sind
Barone«, hieß es, »keine entlaufenen Leibeigenen.« So war es kaum
denkbar, daß ein Leibeigener es schaffte, sich als Bürger zu
verkleiden.
Nun brachte Silversleeves Adams Vettern herein, die er von
Windsor herbeizitiert hatte, und dann auch noch den Verwalter des
dortigen Anwesens. Alle schworen, daß Adam die Äcker, die sein
Vater und vor ihm seine Vorfahren besessen hatten, zwar besaß, aber
nicht mit Geldleistungen, sondern mit Diensten dafür bezahlte. Und
in gewisser Weise hatten sie recht. Denn in all den Jahren hatten
Adams Mutter und später auch er selbst sich nie die Mühe gemacht,
sich darum zu kümmern, und seine Vettern hatten den Pachtzins für
Adams Land mit Arbeit beglichen und dafür die bescheidenen Erträge
für sich behalten. Seit zwölf Jahren wußte der Verwalter, daß Adams
Land mit Diensten entgolten wurde, die seine Vettern für ihn
übernahmen. Also war Adam, obwohl er in London lebte, was diese
Angelegenheit betraf, ein Leibeigener.
»Ich wußte, daß ich Vettern habe, die Leibeigene sind, aber
wir waren immer frei«, protestierte der junge Mann. Doch nun zog
Silversleeves seinen Trumpf aus dem Ärmel. »Ich habe das große
Domesday Book von König Wilhelm befragt«, informierte er das
Gericht. »Und dort taucht nichts auf von freien Besitzungen. Die
Mitglieder dieser Familie waren immer Leibeigene.« Die Tatsache,
daß vor eineinhalb Jahrhunderten ein normannischer Beamter einen
der wenigen Fehler in dieser großen Erhebung verursacht hatte,
indem er vergessen hatte, Duckets Vorfahren als Freie zu
registrieren, war etwas, das Silversleeves nicht wußte.
Der Bürgermeister schwieg, die Aldermen wirkten ernst. Da
ergriff Sampson Bull das Wort. »Irgend etwas stimmt hier nicht«,
sagte er grimmig. »Der Mann dieses Vaters war Simon der
Waffenschmied, ein geachteter Bürger, mit dem Silversleeves eine
Auseinandersetzung hatte, wenn ich mich recht erinnere. Wenn Ducket
Simons Sohn ist, dann ist er ein rechtmäßiger Bürger.«
»Wenn Simon ein Bürger war«, meinte Silversleeves, »dann hätte
er dies wahrscheinlich nicht sein dürfen. Aber das spielt keine
Rolle, denn Adam Ducket besitzt in eben diesem Moment Land, für das
er Dienste leistet. Er ist in diesem Moment ein Leibeigener. Oder
sollen wir etwa die uralten Gesetze Londons ändern und aus diesem
Leibeigenen einen Bürger machen?«
Dagegen kam nicht einmal Bull an. Ducket war ein Leibeigener,
das stand außer Frage.
»Es tut mir leid, Adam Ducket«, sagte der Bürgermeister. »Das
ist eine schlimme Sache, und Ihr seid wahrscheinlich nicht einmal
schuld daran, aber wir können keine Leibeigene als Bürger dulden.
Ihr müßt uns verlassen.«
»Und was ist mit meinem Handwerk? Ich bin Fischhändler!«
»Ich fürchte, das müßt Ihr unterlassen«, erwiderte der
Bürgermeister, »da Ihr ja kein Bürger seid.«
Hilflos wandte sich Adam an Barnikel und Mabel. »Was soll ich
nur tun?« fragte er sie.
»Wir werden dir schon helfen«, versprach Barnikel.
»Und was ist mit Lucy?«
Nun sprach Mabel als echte Londonerin, auch wenn sie Adam fast
wie eine Mutter gewesen war. »Es ist zwar schrecklich, aber Lucy
kann dich nun nicht mehr heiraten. Du bist kein Bürger.«
So hatte sich Pentecost Silversleeves nach einer sehr langen
Wartezeit endlich doch noch rächen können.
1224
Zweifellos ging es wieder bergauf.
Schwester Mabel, die inzwischen fünfundsiebzig Jahre alt war,
betrachtete die Welt um sich herum mit großer Zuversicht.
England war befriedet. Nach einem ständigen Streit zwischen
den Baronen und dem König war Johann plötzlich gestorben. Er hatte
einen Sohn hinterlassen, der nun, weil er noch sehr jung war, mit
Hilfe eines Regentschaftsrats das Land regierte. Der Rat leistete
gute Arbeit. Die Magna Charta und die darin verankerten Freiheiten
waren noch zweimal bestätigt worden. London hatte einen
Bürgermeister. Zwar war es den Londonern nicht gelungen, die
Gemeindesteuer zu vermeiden, aber die neue Regierung ließ sich
nicht auf fremde Kriege ein und hatte es nicht nötig, hohe Abgaben
zu fordern. Sogar mit dem Papst hatte man sich geeinigt, worüber
Mabel sich besonders freute.
Auch in London hatte es in letzter Zeit einige Verbesserungen
gegeben. Über dem Kirchenschiff von St. Paul's hatte man eine große
Kuppel errichtet, die dem massigen Gebäude Anmut und Würde verlieh.
Mabel freute sich auch über die zwei neuen religiösen Gruppen in
der Stadt, die nun damit beschäftigt waren, ihre bescheidenen
Unterkünfte zu errichten: die Anhänger des heiligen Franz, die
Franziskaner oder Greyfriars, und die Dominikaner, die
Blackfriars.
»Ich mag die Friars«, pflegte Mabel oft zu sagen. »Sie tun
etwas.« Die Franziskaner, die sich vor allem der persönlichen Armut
verpflichtet hatten, kümmerten sich um die Armen, die Blackfriars
um den Schulunterricht. Mabel mochte vor allem die Greyfriars.
»Solange wir uns alle darum bemühen, wird alles besser werden«,
sagte sie oft. Mit diesem Gedanken hatte sie sich auch an ihr
heutiges Tagewerk gemacht.
Sie waren schon ein merkwürdiges Paar, wie sie sich da langsam
vorwärts bewegten. Mabel, noch immer stark und voll Energie, auch
wenn sie etwas langsamer geworden war, neben ihr die dürre,
stocksteife Gestalt, die ihren Arm umklammerte. Doch so dünn und
gebeugt Silversleeves auch war, er wirkte noch immer, als habe er
das ewige Leben.
Er war völlig blind, und jede Woche ging Mabel mit ihm
spazieren. Zuerst setzte sie ihn auf seinen sanften kleinen Zelter
und führte ihn zu einem passenden Fleck, dann lief sie ein paar
Schritte mit ihm, bevor sie ihn wieder heimbrachte.
Heute wollte sie ihn zur London Bridge führen. Anstelle der
alten Holzbrücke sah man nun eine neue Steinbrücke kurz vor ihrer
Fertigstellung. Es hatte lange genug gedauert. Dreißig Jahre waren
vergangen, bevor eine Straße die großen Piers verband, und dann war
diese vom Feuer zerstört worden, und die Arbeiten mußten von vorn
anfangen. Aber nun überquerten neunzehn große Steinbögen die
Themse, und die auf ihnen ruhende Brücke war vor kurzem so
verbreitert worden, daß nun Häuser darauf standen und die Straße
zwischen diesen Häusern noch immer breit genug war, daß zwei Karren
sich kreuzen konnten. In der Mitte der Brücke gab es eine kleine
steinerne Kapelle, die Thomas Becket, dem Stadtheiligen, der einen
Märtyrertod gestorben war, gewidmet war.
Sie ließen das Pferd an der Kirche St. Magnus am Nordende der
Brücke stehen, und Mabel führte den alten Mann zu Fuß über die
Brücke.
»Wo sind wir? Was ist das für eine Straße?«
»Die Straße zum Himmel. Oder zur Hölle.«
»Ich will wieder zurück. Du führst doch etwas im Schilde«,
beschwerte er sich. Und recht hatte er. Mabel hatte eine Mission,
die mit ihrem armen alten Bekannten, dem Kustos von
St.-Lawrence-Silversleeves, zu tun hatte. Der Mann war schon vor
langer Zeit gestorben, und auch seine Frau lebte nicht mehr. Eine
Tochter war schwerkrank, sie war im Krankenhaus aufgenommen worden;
die andere fristete ein jämmerliches Dasein in einer schäbigen
Hütte nicht weit von der Kirche. Die Familie Silversleeves weigerte
sich, etwas für sie zu tun. Mabel hatte sich bei Pentecost und
seinen Kindern beschwert, aber nichts war geschehen. Doch sie hatte
sich geschworen, für die Tochter des Kustos etwas zu tun. Und da
ihr die kleine Kapelle auf der Brücke so gut gefiel, hatte sie
beschlossen, den alten Mann heute hierher zu führen. Dort
angekommen, geleitete Mabel Silversleeves zu einer Bank.
»Was ist das für ein Ort?«
»Eine Kirche. Und jetzt hört mir gut zu: Ich habe keine
Medizin, um Euch wieder sehend zu machen. Aber ich werde es
schaffen, Euch Eure Sünden einsehen zu lassen. Ihr kniet Euch jetzt
nieder und betet so lange, bis Ihr Euch entschlossen habt, etwas
für die Tochter des Kustos zu tun.«
»Und wenn ich es nicht tue?«
»Dann lasse ich Euch einfach hier.«
Grummelnd kniete er sich hin, und Mabel begab sich in eine
andere Bank, um selbst still zu beten. Während sie in ihr Gebet
vertieft war, hörte sie plötzlich Silversleeves' dünne Stimme: »Ich
kann wieder sehen!« Er starrte auf die Innenflächen seiner Hände.
»Ich kann wieder sehen!«
Mabel bekreuzigte sich. »Der Heilige hat uns ein Wunder zuteil
werden lassen. Werdet Ihr der armen Frau jetzt etwas geben?«
»Ja«, sagte er noch immer ganz benommen. »Ja, wahrscheinlich
werde ich ihr jetzt etwas geben.« Er blickte sich in der Kapelle
um. »Erstaunlich! Ich kann wirklich wieder sehen. Was ist das für
eine Kapelle?«
»Die Kapelle des heiligen Thomas.«
»Thomas?«
»Thomas Becket natürlich. Wer sonst?«
Einen Monat später schied Bruder Michael
friedlich aus dem Leben, von Mabel liebevoll umsorgt. Zwar hatte er
es nicht mehr geschafft, von seinem Bruder den Gewinn aus der vor
langer Zeit abgeschlossenen Wette einzufordern, aber das war auch
nicht nötig gewesen. Bull hatte St. Bartholomew's bereits eine sehr
großzügige Spende zukommen lassen.
Mabel betete noch eine Weile still an seinem Sterbebett, dann
trat sie vor seine Zelle. Da sah sie im Zwielicht dieser frühen
Stunde eine Gestalt am anderen Ende des Ganges.
Der langschwänzige Dämon drehte sogar seinen Kopf und starrte
sie an. Offenbar war er gekommen, um sich seine Beute zu holen,
doch nun schlich er mit leeren Händen davon, was Mabel sehr
zufriedenstellte.