DER KRISTALLPALAST

1851

ALLES WAR SORGFÄLTIG GEPLANT. Genau um drei Uhr würde sich die Familie in dem großen Haus oben in Blackheath treffen – denn wie jede der vier Töchter (oder deren Ehemänner) bestätigen konnte, kam es nicht in Frage, bei dem alten Herrn zu spät zu kommen, und noch dazu war es sein Geburtstag; undenkbar, da nicht pünktlich zu sein.
Aber es war noch früh an diesem Augusttag. Ihr Mann hatte berechnet, daß sie sich zwei Stunden und vierzig Minuten Vergnügen gönnen konnten. Aufgeregt schritten Harriet Penny und ihr Gatte auf das große Gebäude zu, das wie ein Zauberschloß aus einem Märchen vor ihnen glitzerte und funkelte. Noch nie hatte man so etwas gesehen. Über zwanzig Meter hoch (man hatte im Inneren sogar eine Ulme stehengelassen) und viermal so lang wie St. Paul's, erstreckte sich das monumentale Gebäude über fast sechshundert Meter am südlichen Rand des Hyde Park. Und das Erstaunlichste – es bestand fast gänzlich aus Eisen und Glas.
Die riesige Halle der Weltausstellung von 1851 – der Kristallpalast, wie man sie sofort nannte – war ein Triumph britischer Ingenieurkunst. Von der Idee her ein überdimensionales Gewächshaus, bildeten die nahezu vierundachtzigtausend Quadratmeter Glas, die aus genormten Standardteilen industriell hergestellt worden waren, und Tausende gußeiserner Träger und Säulen einen luftigen Raum über siebenundsiebzigtausend Quadratmeter Bodenfläche. Dabei war das gigantische Gebäude innerhalb weniger Monate errichtet worden. Der Kristallpalast verkörperte alles, was leicht und modern war. Das einzig Altmodische war das Sperberpärchen, das man in dem Gebäude fliegen ließ, um die Vögel zu bekämpfen, die die Galerien heimsuchten. Die Idee zu dieser Weltausstellung und ihrer großen Halle stammte von Königin Viktorias intelligentem deutschem Ehemann Albert, der der führende Kopf des Projekts war und es bis zur Vollendung begleitete. Das königliche Paar war immens stolz darauf.
Schon bezeichnete man die Weltausstellung als einen Triumph. Aus ganz England strömten die Leute herbei, um sie zu sehen. Franzosen, Deutsche, Italiener, Amerikaner und selbst Besucher aus dem Fernen Osten kamen zu Millionen, um ihre Sensationen zu bewundern. Und es kamen nicht nur die Vornehmen. An den meisten Tagen konnten gewöhnliche Leute sie für nur einen Shilling besuchen.
Harriet war noch nicht in der Weltausstellung gewesen, obwohl sie schon im Mai eröffnet worden war. Ihre drei Schwestern hatten sie gesehen, aber sie hatte gewartet, bis sie mit ihrem Mann hingehen konnte. Zufrieden hakte sie sich bei ihm unter. Sie hatte Glück gehabt mit Penny. Ihre älteren Schwestern, Charlotte und Esther, hatten mit über dreißig Jahren jüngere, ehrgeizige Männer geheiratet und schienen ganz glücklich. Und da war noch ihre jüngere Schwester Mary Anne, aber sie war natürlich etwas anderes. Harriet war dreiundzwanzig gewesen, als sie Penny kennenlernte, und obwohl er zwei Jahre jünger war, hatte sie sich sofort zu dem bebrillten jungen Mann mit der ruhigen, aber entschiedenen Art hingezogen gefühlt. Sein Vater, der Bankier, hatte seine Kinder mit mehreren Treuhandvermögen großzügig versorgt, aber der junge Penny hatte eigene Ambitionen im Versicherungswesen. Ihre älteren Schwestern waren wegen ihres Vermögens geheiratet worden, doch Penny hatte Harriets Geld nicht gebraucht.
Der Kristallpalast selbst war schon beeindruckend, doch die Exponate waren atemberaubend. Jedes Land der Erde, das einige Bedeutung hatte, war mit einer Abteilung vertreten. Aus Indien stammte ein ausgestopfter Elefant mit einem prachtvollen juwelenbesetzten Sitz auf dem Rücken; und auch der sagenhafte Diamant Koh-i-noor war ausgestellt, angestrahlt von einer Gaslampe. Aus den Vereinigten Staaten kamen landwirtschaftliche Maschinen, einschließlich einer Entkörnungsmaschine zum Reinigen von Baumwolle, außerdem Colonel Colts Revolver und eine schwimmende Missionskirche, die den Delaware hinauf- und hinunterfuhr. Der russische Zar hatte herrliche Zobelpelze gesandt; ein türkischer Pavillon war aufgebaut, man konnte chinesisches Porzellan, verschiedenste nützliche Dinge aus Kanada und Australien sowie Gesteinsproben aus Südafrika bewundern. Frankreich steuerte eine Kuvertfaltmaschine und einen Springbrunnen mit Eau de Cologne bei. Berlin schickte wissenschaftliche Apparate, Maschinen zur Spitzenherstellung. Die größte Ausstellung jedoch, die fast den halben Raum einnahm, stellte Großbritannien selbst. Kutschen, Maschinen, Textilerzeugnisse, das neue Galvanisierungsverfahren, Uhren, reichverzierte Möbel im viktorianischen Stil, wie man ihn später bezeichnen sollte, Wedgwood-Porzellan und für historisch Interessierte sogar die Nachbildung eines mittelalterlichen Hofes. Die Botschaft der Ausstellung war unmißverständlich: England blühte und gedieh, war weltweit führend in der Industrieproduktion und stand an der Spitze des größten Reiches unter der Sonne.
Abgesehen vom Verlust der amerikanischen Kolonien vor siebzig Jahren hatte das britische Empire ständig expandiert. Kanada, Westindien, Australien, große Gebiete Afrikas, Indien, Australien und Neuseeland standen alle unter seiner Herrschaft, so daß die Sonne über dem Reich im wörtlichen Sinne nie unterging. Aber es war kein orientalischer Despotismus. Die britische Marine beherrschte zwar die Meere, und es stimmte auch, daß mancher lokale Widerstand gegen die Ausbreitung englischen Handels und englischer Aufklärung hart niedergeschlagen wurde, doch tatsächlich war die britische Militärmacht zu Lande sehr klein. Die kultivierteren Dominions entwickelten eine Form selbstverwalteter Zugehörigkeit; der Rest des Empires blieb, was er immer war – ein Fleckenteppich aus Kolonien, verwaltet von Kaufleuten, Siedlern, vereinzelten Garnisonen und einigen wenigen, in der Regel wohlmeinenden Verwaltungsbeamten, die an einen protestantischen Gott und an den Handel glaubten. Es waren keine Abgaben, sondern Rohstoffe, vor allem die überaus wichtige Baumwolle, die nach Großbritannien flossen, wo sie verarbeitet und wieder weltweit exportiert wurden. Der Handel, unterstützt durch Erfindergeist, brachte dem Volk Wohlstand und die Zivilisation in die entlegensten Teile des Erdballs.
Zweieinhalb Stunden schritten Harriet und ihr Mann Arm in Arm durch die Ausstellung, und erst als sie schließlich wieder hinaus in den sonnigen Hyde Park traten, blickten sie hinauf zum Himmel und sahen sich dann mit einer Mischung aus Belustigung und Beklommenheit an. »Wie es wohl Mary Anne ergangen ist?« fragte Penny.
Esther Silversleeves und ihr Mann waren früh dran, als sie über die London Bridge gingen. Arnold Silversleeves war ein respektabler Mann. Er war groß, noch größer als sein Vater, der frühere Leiter von Bedlam. Er hatte eine große lange Nase, war ganz ohne Arg und hatte noch nie einen Witz verstanden. Doch er war bereits Partner in der Ingenieurfirma Grinder und Watson, wo man abgesehen von seiner sonstigen Kompetenz anerkannte, daß seine mathematischen Fähigkeiten fast schon genial waren. Seine Zuneigung zu seiner Frau und den Kindern war einfach und ehrlich, obwohl die einzige wahre Leidenschaft seines Lebens Gußeisen war. Er hatte seine Frau schon einmal zur Weltausstellung mitgenommen, um ihr die Maschinen zu zeigen, davor schon dreimal vor der Eröffnung, um zu sehen, wie der Kristallpalast gebaut wurde, und ihr die Konstruktionsprinzipien zu erklären.
Arnold Silversleeves lächelte, als sie das große, hallenartige Gebäude betraten, die Eisenbahngesellschaft LondonGreenwich. Außer den glänzenden Messingteilen war die Lokomotive grün gestrichen, und hinter ihr stand ein halbes Dutzend brauner Waggons. Sie zischte und dampfte munter und schnaubte hin und wieder fröhlich. Auf dem Bahnsteig neben ihr standen zwei uniformierte Wachen mit spitzen Mützen, die so stolz aussahen, als würden sie den Buckingham-Palast bewachen. Wenn das viktorianische Zeitalter riesige Fortschritte brachte, so deshalb, weil es das Zeitalter der Dampfkraft war.
Obwohl die erste Dampfmaschine bereits zur Zeit Georgs III. erfunden worden war, hatte sich die Einführung der Dampfkraft erstaunlich langsam vollzogen. Die Dampfmaschinen der Textilfabriken im Norden, primitive Dampfschiffe, eine Lokomotive, die in Kohlenzechen Kohle beförderte, und eine dampfgetriebene Presse für den Druck der Londoner Times waren schon seit den Tagen des Regenten in Gebrauch, aber unter Königin Viktoria gab es nun die ersten Personenzüge. Mehrere Eisenbahngesellschaften wetteiferten in London miteinander. Euston Station hatte die Midlands und den Norden erschlossen. Silversleeves und seine Firma hatten vor drei Jahren einen großen Kopfbahnhof namens Waterloo gebaut, von dem aus Züge in den Süden und in den Westen fuhren. Während Postkutschen zehn Passagiere in einer Geschwindigkeit von etwa acht Meilen pro Stunde transportierten, faßten die Waggons, die hinter einer Dampflokomotive über die Eisenschienen ratterten, hundert Passagiere und fahren vierzig Meilen pro Stunde. Die Dampfeisenbahn brachte die Leute von weither zur Weltausstellung im Kristallpalast.
Die Dampflokomotiven brachten Ordnung ins Königreich. Eisenbahnen erforderten einen Fahrplan, doch obwohl die Greenwicher Zeit nach und nach auf allen Weltmeeren anerkannt wurde, hatten die Provinzstädte in England immer noch ihre eigene Ortszeit. Nun begannen sie, von einer Londoner Standardzeit auszugehen.
Silversleeves liebte Ordnung; Ordnung bedeutete Glück und Fortschritt. Selbst die Ärmsten konnten davon profitieren. Der Bau der neuen Eisenbahnlinien von Euston aus hatte ganze Gebiete von Elendsquartieren und Slumwohnungen zerstört. »Diese Leute werden alle in neuen Wohnungen untergebracht«, erklärte er. Er prophezeite sogar, daß eines Tages viele aus dem einfachen Volk, die nicht direkt neben ihrer Arbeitsstelle wohnen mußten, in sauberen neuen Siedlungen außerhalb der Stadt untergebracht und jeden Tag mit der Eisenbahn zur Arbeit befördert werden würden. Da die Bevölkerung unablässig zunahm, verstopften die pferdegezogenen Omnibusse und die vielen Droschken und Kutschen jeden Tag mehrere Stunden lang das gesamte Gebiet von Westminster bis zum alten Stadtzentrum. »Dieses Problem können wir mit einer Untergrundbahn lösen«, versicherte Silversleeves seiner Frau. »Von einem Ende Londons zum anderen innerhalb von Minuten. Es ist nur eine Frage der Entlüftung und des Rauchabzugs.«
Auch für die stinkende alte Themse hatte er eine Lösung: ein neues Kanalisationssystem. Erst im letzten Jahr hatte er in Eigeninitiative eine Studie dieses Problems erstellt und war an jedem freien Tag hinunter in das Labyrinth der Kanalisationsröhren, Kloaken, unterirdischen Wasserkanäle und Senkgruben gestiegen. Er hatte ein vollkommen neues System entworfen, von dem er die städtischen Behörden überzeugen wollte, bisher ohne Erfolg.
Die Eisenbahn von der London Bridge aus verlief auf hohen gemauerten Bogen, die sich wie ein riesiges Aquädukt über die zusammengekauerten Behausungen Southwarks zu den Grünflächen von Greenwich und Blackheath spannten und einen phantastischen Blick über das ganze Gebiet boten. Esther hatte gerade wieder einmal den Plänen ihres Mannes für eine neue Kanalisation gelauscht, als sie bei einem Blick aus dem Fenster plötzlich rief: »Arnold! Schau! Ich glaube, das ist Mary Anne!«
Einige Sekunden lang, nachdem der Earl of St. James die Entwürfe auf dem Eßtisch von Kapitän Jonas Barnikel ausgerollt hatte, blieb der Seemann stumm. Der junge Meredith, der seinen Vater vertrat, sah interessiert zu. Dann strich sich Barnikel über den roten Bart und äußerte seine Meinung. »Das ist das Schönste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.«
»Damit können wir die Amerikaner schlagen«, erklärte St. James. »Ich wette darauf.«
Es waren die Entwürfe für ein Segelschiff. Obwohl allmählich ein Teil des Handels auf den Weltmeeren mit Dampfschiffen abgewickelt wurde, machte der Transport mit Segelschiffen immer noch den weitaus größten Anteil aus. Die schnellsten, elegantesten und romantischsten waren die Klipper, sozusagen die Windhunde der Meere. Die Entwürfe ließen vermuten, daß dies der schnellste Klipper werden könnte, den man je gebaut hatte.
Die Amerikaner hatten alles verändert, als ihre berühmt schnellen Baumwollklipper vor zwei Jahren in den englischen Teehandel eingestiegen waren. Die Schiffe verließen London mit verschiedenen Ladungen, nutzten die nordöstlichen Passatwinde, um den Atlantik hinunter und um die Südspitze Afrikas zu segeln, dann fahren sie mit Hilfe der ozeanischen Sturmwinde weiter in den Fernen Osten, wo sie ihre Fracht löschten. Im Hochsommer kamen sie in die chinesischen Häfen Shanghai oder Futchou, ankerten zwischen den Dschunken und Sampans und warteten auf die ersten Lieferungen von Teeblättern der neuen Ernte. Kaum waren sie an Bord, wurden die Schiffe, während alle anderen Salutschüsse abfeuerten, voll beflaggt aus dem Hafen geschleppt, um zu dem großen Wettrennen in die Heimat anzutreten. Mit den südöstlichen Passatwinden kamen sie zurück. Beobachtungsposten an der Küste von Kent hielten Ausschau nach den ersten Schiffen, Menschenmassen eilten zu den Londoner Docks. Die amerikanischen Klipper trafen so lange vor den englischen Schiffen ein, daß es erniedrigend war. Das spornte den Wettkampf an. Die Londoner Gesellschaften gaben Schiffe in Auftrag, die so konstruiert waren, daß sie alle früheren Modelle an Schnelligkeit übertrafen. Diese neue Klasse von Klippern, sechzig bis neunzig Meter lang, schnittig und stabil, mit einem Wald von Segeln auf den drei hohen Masten – manche hatten mit ihren vierunddreißig Segeln mehrere tausend Quadratmeter Leinwand an Bord –, konnten vollbeladen in drei Tagen tausend Meilen zurücklegen und die ganze Reise von China in hundert Tagen oder noch weniger bewältigen. Zumeist wurden sie in Schottland gebaut. Das neue Schiff, dessen Bauplan vor Barnikel lag, sollte in einem knappen Jahr sein bisheriges ersetzen.
»Wie sollen wir es taufen?« fragte der Earl. »Sie haben die Wahl.«
»Wir nennen es Charlotte«, antwortete Barnikel. Denn ihr verdankte er alles. Sicher war er ein erstklassiger Seemann und Kapitän, aber es war die Heirat mit der ältesten Tochter des alten Herrn gewesen, die es ihm ermöglichte, einen Anteil an einem Schiff zu kaufen, auf dem er selbst Kapitän war. Auch ihr hübsches georgianisches Haus in Camberwell Grove hatten sie mit Charlottes Geld gekauft. Und obwohl er nun selbst ein Vermögen machte, freute ihn der Gedanke, seinem Schwiegervater bald sagen zu können: »Der Earl und ich haben den Klipper gerade nach Charlotte benannt.«
Jonas Barnikel würde ein Fünftel der Charlotte besitzen. Ein weiteres Fünftel gehörte dem Bankier Meredith, der heute seinen Sohn geschickt hatte, drei Fünftel dem Earl of St. James. Der junge Meredith war noch eine unbekannte Größe. Er war erst kürzlich aus Eton gekommen und hatte seinen Vater gebeten, ihn ein Jahr lang reisen zu lassen, bevor er sich einem Regiment anschloß, und da Barnikel in Kürze nach Indien reisen würde, hatte der Bankier ihn gefragt, ob er den Jungen mitnehmen würde. Heute war ihre erste Begegnung, und Barnikel taxierte den jungen Mann. Er war ein attraktiver Bursche, groß, kastanienbraunes Haar, athletische Figur. Sicher ein prächtiger junger Gentleman – aber aus welchem Holz war er wirklich geschnitzt?
»Wir gehen jetzt dann zu meinem Schwiegervater, bei dem wir heute speisen«, erklärte er. »Vielleicht würden Sie gerne mitkommen?«
Meredith sah den Earl fragend an, und dieser nickte. »Es wird mir eine große Freude sein.«
Als die Familie Barnikel eine halbe Stunde später zusammen mit Meredith in ihrer Kutsche nach Blackheath hinauffuhr, machte der junge Mann sie auf einen Gegenstand am Himmel aufmerksam. »Oh, Jonas!« rief Charlotte Barnikel. »Das muß Mary Anne sein!«
Es ging nur eine leise Brise, gerade genug, um die Fahrt zu ermöglichen. Mary Anne umklammerte den Rand des Korbes, der schlingerte und furchteinflößend knarzte, als die Gärten von Vauxhall unter ihnen immer kleiner wurden.
»Hast du Angst?« rief ihr Mann ihr ins Ohr.
»Natürlich nicht!« log sie. Der Ballonführer lächelte beiden aufmunternd zu, während der riesige blaugoldene Ballon über ihnen in den klaren Himmel zur Sonne aufstieg. Ein paar schreckliche Sekunden lang fragte sich Mary Anne, ob der Boden des Korbes durchbrechen würde.
Die Gärten unter ihnen boten kein schönes Bild, nicht nur wegen der heruntergekommenen Straßen, die sich um den Park ausgebreitet hatten, sondern auch wegen der Eisenbahngleise. Gerade fuhr ein Zug über das Ziegelviadukt; das Geratter und der Rauch störten die frühere Stille des Ortes. Die Gärten von Vauxhall waren im letzten schmutzigen Stadium des Niedergangs. Doch von hier aus starteten immer noch die Heißluftballons. Man nutzte sie, um ein Panorama der Stadt zu zeichnen, oder unternahm wagemutige Reisen, auf die man Wetten abschließen konnte; manchmal ging es sogar bis Deutschland. Heute machten Mary Anne und Edward Bull einen kurzen Ausflug nach oben, der irgendwo bei Blackheath enden würde.
Als Mary Annes Gatte sie vor Monaten gefragt hatte, was sie sich zu ihrem Geburtstag wünsche, der gleich nach dem des alten Herrn kam, hatte sie aus Spaß »eine Ballonfahrt« geantwortet. Nun war sie völlig verblüfft, als er vor drei Tagen beiläufig bemerkte: »Ich habe deine Ballonfahrt arrangiert, Mary Anne. Am Samstag vormittag ist es soweit, wenn Wind und Wetter günstig sind. Das heißt, wenn du immer noch willst.« Da konnte sie kaum einen Rückzieher machen.
Ihre Schwestern waren entsetzt. »Wie kannst du so tollkühn sein? Warum mußt du immer anders sein, Mary Anne?« Sie hatte sich von ihnen versprechen lassen, daß sie ihren Ehemännern und vor allem dem alten Herrn nichts sagen würden.
Die Fahrt war auch sehr teuer. Aber das war kein Problem, da Edward Bull der Erbe der Brauerei war. Mary Anne war die einzige Tochter des alten Herrn, die jung geheiratet hatte, und sie war hübsch. Lebhaft, mit haselnußbraunen Augen und einer weißen Strähne in den braunen Locken, die sie sehr vornehm aussehen ließ, besaß sie eine Eleganz und einen Stil, der ihren Schwestern fehlte.
Innerhalb von Sekunden war der Ballon auf einer Höhe von hundert, hundertfünfzig, zweihundert Metern und stieg noch weiter. Dann drosselte der Ballonführer das Tempo, das Gefährt schwebte ruhig, und Mary Anne spürte, wie ihre Panik nachließ. Nun konnte sie über den Korbrand auf London hinabspähen und wurde mit einem wundervollen Ausblick belohnt. Das Bautempo hatte sich in den letzten zwanzig Jahren nicht verringert. Am Südufer zogen sich die Häuser fast lückenlos von Southwark bis Clapham hin; die Dörfer Chelsea und Kensington am Nordufer wurden fast gänzlich von Häuserreihen in nachgemacht georgianischem Stil verschluckt, und noch weiter oberhalb der City wurden gerade die Wälder von Islington abgeholzt. Der Lavendelhügel war jedoch immer noch ein duftendes Feld, der größte Teil von Fulham bestand noch aus Obstgärten und Gärtnereien, und oberhalb des Regent's Park bis nach Hampstead war noch offenes Gelände. Man war davon ausgegangen, daß der Wind von Westen wehte und sie so über Süd-London Richtung Blackheath fahren würden, doch nun bemerkte Mary Anne, daß sie nach Norden trieben. Wenn sich nichts mehr änderte, würden sie in den Feldern hinter Islington landen. »Dann kommen wir zu spät zu dem alten Herrn«, meinte Bull.
Doch Mary Anne spürte plötzlich eine Welle wilder Ausgelassenheit. »Es ist mir egal!« rief sie. »Es ist wundervoll!«
Ihr Mann lachte. »Schau«, sagte er. »Wir fahren direkt über das Parlament.«
Die Houses of Parliament waren ein interessanter Anblick. Vor siebzehn Jahren hatte irgendein Beamter beschlossen, daß man die Dokumente der alten Schatzkammer durchforsten müsse, und als er in den modrigen Kellern Zehntausende ordentlich zusammengebündelter Kerbhölzer fand, mit denen man früher Schulden und Zahlungsbeträge markiert hatte – manche davon lagen seit Thomas Beckets Zeiten hier –, entschied er, daß man sie verbrennen solle. Seine Untergebenen erledigten das so gründlich, daß sie den gesamten Westminster-Palast anzündeten, und bis zum nächsten Morgen war bis auf die robuste Westminster Hall alles niedergebrannt. Um die alte normannische Halle herum erhob sich nun ein neuer Palast. Das gotisch inspirierte Gebäude aus hellbraunem Stein, entworfen von dem Londoner Architekten Barry, mit dem von Pugin gestalteten prächtigen Inneren im Stil des Mittelalters war eine passende Ergänzung für die Abtei daneben. Das House of Commons war bereits fertig, am House of Lords wurde noch gearbeitet, und am östlichsten Ende nahe der Westminster-Brücke sah Mary Anne den leeren Sockel des großen Uhrturms, der alles andere überragen sollte.
Von Westminster aus schwebten sie weiter über Whitehall bis Charing Cross. Vor ein paar Jahren hatte man den königlichen Marstall abgerissen und einen riesigen Platz, den Trafalgar Square, angelegt, in dessen Mitte eine hohe Säule mit einer Statue Nelsons stand. Als sie gerade über den Seehelden flogen, drehte der Wind und trug sie wieder zurück zum Fluß. Ein paar Minuten später fuhren sie über Bankside und Southwark in die Richtung von Blackheath, bis der Ballonführer so sanft wie möglich landete, keine halbe Meile vom Haus des alten Herrn entfernt. Eine glückliche, aufgeregte Mrs. Bull stand wieder auf festem Boden, küßte ihren Mann und erklärte triumphierend: »Ich glaube, wir werden die ersten sein!«
Um die Mitte des Nachmittags machte sich eine andere Person auf den Weg nach Blackheath, denn an diesem Tag sollte der alte Herr unerwarteten Besuch bekommen.
Das Westend hatte seit zwei Jahrhunderten expandiert, doch die Entwicklung des Eastends war jünger. Unmittelbar östlich vom Tower begannen die Docklands mit dem St. Katharine's Dock und erstreckten sich flußabwärts durch Wapping und Limehouse bis zu der großen Flußschleife, die den Vorsprung der Isle of Dogs bildete, wo man die riesigen Becken der Westindiendocks angelegt hatte. Oberhalb dieser Docklands, beginnend am Aldgate in der Stadtmauer, hatte es immer eine Reihe einfacher Siedlungen gegeben: zuerst Spitalfields, wo sich die hugenottischen Seidenweber niedergelassen hatten, dann Whitechapel, Stepney, Bow und Poplar. Mittlerweile waren sie alle zu einer schmutzigen, ausufernden Vorstadt zusammengewachsen – Docks, kleine Fabriken, Klitschen, in denen unglaubliche Ausbeutung herrschte, und heruntergekommene Straßen, jede mit ihrer ganz speziellen Anwohnerschaft. Arme Immigranten kamen in der Regel ins Eastend, und es gab kaum ärmere als die letzte Gruppe von Einwanderern, die sich in den Straßen Whitechapels zusammendrängten.
Es hatte immer eine irische Bevölkerungsgruppe in London gegeben. Seit dem vorigen Jahrhundert lebte eine wachsende Gemeinde in den Mietskasernen des Kirchspiels St. Giles, westlich von Holborn. Doch das war nichts im Vergleich zu der Einwanderungswelle der letzten sieben Jahre, verursacht durch eine einzige Feldfrucht, die keinen Ertrag mehr brachte. Jahrelang hatte eine zahlreiche und relativ dichte Bevölkerung, die auf einem Teil des besten Ackerlandes in Europa lebte – das meiste davon in der Hand abwesender englischer Grundbesitzer –, sich vor allem von der äußerst nahrhaften Kartoffel, die ursprünglich aus Amerika stammte, ernährt. Als es sieben Jahre hintereinander nur Mißernten gab, kam es zu einer furchtbaren Krise. Auswandern oder verhungern war die Alternative. So kam es zu dem gewaltigen Exodus, von dem Irland sich eineinhalb Jahrhunderte lang nicht mehr erholen sollte.
Die Menschen flohen nach Amerika, nach Australien und in die englischen Hafenstädte, natürlich auch nach London. Die größte Londoner Gruppe hatte sich in Whitechapel niedergelassen, wo es in den nahen Docks Arbeit gab. Von einer dieser vor allem von Iren bevölkerten Straßen war die unerwartete Besucherin zu dem alten Herrn aufgebrochen.
Der alte Herr mochte es, die ganze Familie um sich versammelt zu sehen. Mit seinem weißen Bart und dem rosigen alten Gesicht sah er wie ein gütiger Monarch aus. Selbst im Sommer trug er am liebsten einen schweren Gehrock und ein weißes Seidenhalstuch, das mit einer Perlennadel befestigt war. Sein georgianisches Herrenhaus in Blackheath wurde von einem Butler und acht Bediensteten geführt, und es hieß, er habe ein Einkommen von zehntausend Pfund im Jahr. Der stille, freundliche alte Herr verlangte nichts außer Pünktlichkeit.
Um fünf Uhr, nachdem die Kindermädchen alle Enkelkinder fortgebracht hatten, kündigte der Butler das Dinner an. Abgesehen von dieser altmodisch frühen Stunde verlief alles ganz modern. Die Gentlemen führten die Damen in das große Eßzimmer. Der alte Herr sprach das Tischgebet, danach setzten sich alle. Der riesige Tisch mit der weißen Damastdecke, dem schönen Geschirr und dem eindrucksvollen silbernen Tafelaufsatz bot einen vornehmen Anblick. Da der alte Herr Witwer war, bat er in der Regel eine seiner Tochter, die Rolle der Gastgeberin zu übernehmen, und heute war seine Wahl auf Mary Anne gefallen. So saß sie ihm gegenüber am anderen Kopfende, einen älteren Nachbarn zur Rechten und den Jungen, den Barnikel mitgebracht hatte, zur Linken. Während der Suppe machte sie höfliche Konversation mit dem alten Gentleman, und erst beim Fisch wandte sie ihre Aufmerksamkeit Meredith zu.
Mary Anne hatte vom Triumph ihrer Ballonfahrt noch ganz rosige Wangen. Es war nicht mehr die Rede davon, dieses Abenteuer vor dem alten Herrn geheimzuhalten; sie und Edward waren dem alten Mann begegnet, als er mit seinem Ebenholzstock über die Heide kam, um sich den gelandeten Ballon anzusehen. Er war sehr erstaunt, sie anzutreffen, aber er schien die Sache eher amüsant zu finden. »Er hat dir immer alles durchgehen lassen, Mary Anne«, bemerkte Harriet zu ihrer Schwester.
Sie war mit ihren Schwestern und all den Kindern zu beschäftigt gewesen, um dem jungen Mann vor dem Essen viel Aufmerksamkeit zu schenken. Sie stellte nun fest, daß sie wohl nur zwei oder drei Jahre älter war als er, aber eine ganze Welt lag zwischen einer jungen Ehefrau und einem Jugendlichen, der gerade die Schule hinter sich hatte.
Sie fand ihn gut aussehend und sehr liebenswürdig; er war ruhig und höflich, aber gar nicht schüchtern. Er hatte eine vornehme Eleganz an sich, die den anderen am Tisch fehlte. Sie fragte ihn nach seiner Schulzeit und nach seinen Vorlieben. Er sei ein guter Sportler, und er liebe die Freuden der Jagd, gestand aber, daß er auch Sinn für Poesie habe und fasziniert von Geschichte sei.
»Erwägen Sie dann nicht, zur Universität zu gehen, Mr. Meredith?« fragte sie.
»Mein Vater ist dagegen«, erwiderte er. »Und um die Wahrheit zu sagen, ich habe ein solches Verlangen, die Welt zu sehen…«
Sie lachte. »Ich glaube, Sie sind bestimmt weit abenteuerlustiger als wir übrigen.«
Mehrere Köpfe wandten sich ihnen zu. Sie errötete ein wenig, weil sie nicht die Absicht gehabt hatte, so laut zu lachen. Auch der alte Herr starrte sie an.
Wenn der alte Herr eine Dinnergesellschaft gab, wollte er gerne unterhalten werden. Neue Gäste meinten oft, er habe kaum Notiz von ihnen genommen, doch in Wirklichkeit unterzog er sie insgeheim einer gründlichen Prüfung, bevor er sie plötzlich bat, etwas von sich zu berichten. Barsch ertönte seine tiefe Stimme vom anderen Tischende. »Ich höre, daß Mr. Meredith ein Jahr lang auf Reisen gehen will. Vielleicht möchte er uns ein wenig von seinen Plänen erzählen?«
»Oh, Vater!« protestierte Mary Anne. »Den armen Mr. Meredith so ins Kreuzverhör zu nehmen. Er wird sich wünschen, er wäre niemals hierhergekommen.«
»Keineswegs«, erwiderte Meredith. »Doch in Wahrheit, Sir, sind meine Pläne nicht sehr ausgefeilt. Mein erster Wunsch ist, ein paar Monate durch Indien zu reisen.«
»Fabelhaft, Mr. Meredith!« Silversleeves war offenkundig der Meinung, er solle etwas sagen, um den jungen Mann zu ermutigen. »In Indien werden Ihnen sicher Möglichkeiten zur Entwicklung eines ausgedehnten Eisenbahnnetzes auffallen.«
»Sie befassen sich, wenn ich recht verstehe, mit Eisenbahnen in Indien?« fragte der alte Herr.
»Nein, Sir«, lächelte Meredith. »Ich fürchte, ich suche nicht nach etwas, das so genau umrissen ist.«
Ein leises Hüsteln kam von der Mitte des Tisches. Obwohl die Familien Meredith und Penny durch das Bankhaus in Verbindung standen, waren sich die jüngeren Generationen nie nähergekommen. Die Meredith hatten etwas zu Sorgloses, zu Aristokratisches an sich, das der vorsichtigen Natur der Pennys mit ihren hugenottischen und schottischen Vorfahren zuwiderlief. Und so war Penny, der im Versicherungsgeschäft tätig war, etwas verärgert, als er diesem leichtfertigen Sprößling der Meredith zuhörte. »Man treibt sich doch nicht monatelang auf dem halben Erdball herum, ohne ein bestimmtes Ziel im Auge zu haben«, meinte er. »Oder unternehmen Sie eine Vergnügungsreise?«
Meredith errötete über die implizite Beleidigung. »Ich habe ein Projekt im Sinn«, erklärte er dann. »Es gibt vieles über Indien mit seiner alten und vielfältigen Kultur zu erforschen. Ich dachte, ein paar Monate lang die Religion der Hindus und ihre Götter zu studieren.«
»Und wie wollen Sie das anstellen?« fragte Mary Anne.
»Ich vermute, ich sollte in ihre Tempel gehen und Unterweisung bei ihren Priestern suchen«, erwiderte Meredith ernst. »Vielleicht sollte ich eine Weile mit ihnen zusammenleben. Es wäre interessant, sie wirklich genau kennenzulernen.«
Die Gesellschaft starrte ihn in entsetztem Schweigen an. »Aber Mr. Meredith«, sagte Esther Silversleeves schließlich, »diese Leute sind Heiden!«
»Wilde«, stimmte der alte Herr zu. »Schlechte Idee.«
Edward Bull lachte. »Ich bin sicher, Ihr Vater kennt Leute in Indien, die Sie führen könnten, Mr. Meredith. Wäre schade, wenn Sie Ihre Zeit vergeudeten. Und das Geld Ihres Vaters.«
Der Ton war deutlich gönnerhaft und tat den ganzen Plan als dummes Zeug ab. Mary Anne errötete verärgert. »Ich finde Mr. Meredith' Wunsch, mehr über die Völker unseres Empires zu wissen, sehr lobenswert«, rief sie. »Es klingt faszinierend.«
»Sei nicht albern, meine Liebe. Das ist alles Unsinn«, schalt ihr Mann. Sie sah ihn an. Edward mochte ihr eine Ballonfahrt geschenkt haben, aber er sollte besser nicht meinen, er könne anfangen, auch sie als dumm abzutun. Sie blickte zu dem jungen Meredith. Er hatte den Kopf ein wenig gesenkt; er wollte nicht mit ihnen streiten, da er Gast in ihrem Haus war. Ein Gast, stellte sie plötzlich fest, der weit besser erzogen und intelligenter war als sie alle. Selbst ihr liebevoller Gatte mit seinen blauen Augen, seinem hübschen Gesicht und seiner männlichen Art, selbst Edward, obwohl keineswegs dumm, wirkte grobschlächtig im Vergleich zu diesem jungen Mann. Sie hatte eben die Brauerei Bull geheiratet mit all ihren Vorzügen, Stärken und Schwächen.
Es gab zwei Möglichkeiten, bei Wapping die Themse zu überqueren. Man konnte eine Fähre nehmen. Aufgrund der zahlreichen Brücken verschwand der traditionelle Beruf des Fährmanns in der City und im Westend zwar mehr und mehr, doch unten in den Docks konnten Passagiere mit genügend Geld immer noch einen Fährmann anheuern. Die zweite Möglichkeit war der Themse-Tunnel, der Wapping mit Rotherhite am Südufer verband. Brunei und sein Sohn – zwei der größten Ingenieure Englands, wenn auch der Vater aus Frankreich gekommen war – hatten ihn entworfen und den Bau überwacht. Technisch war er ein Meisterwerk, kommerziell jedoch ein Mißerfolg. Die Fahrbahnen, die zum Tunnel hinunterführen sollten, waren nie gebaut worden. Nur die Fußgängertreppen waren in Gebrauch, und es war eine mutige oder arme Person, die sich dort hindurchwagte und riskierte, von den hier auf der Lauer liegenden Straßenräubern ausgeplündert zu werden. Aber die Besucherin des alten Herrn hatte überhaupt kein Geld.
Es war reiner Zufall, daß sie sich an ihn wenden wollte – ausgelöst durch einen Zeitungsartikel. Nur wenige Leute in der Whitechapel Street, wo sie wohnte, konnten lesen, aber ein Mann konnte es, und er hatte sie auf den alten Herrn aufmerksam gemacht. »Lord Shaftsburys ›Gesellschaft zur Verbesserung der Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen‹«, hatte er vorgelesen, »hat eine höchst großzügige Spende von einem Gentleman in Blackheath erhalten.« Darauf folgten Name und Adresse des alten Herrn. »Er muß ein freundlicher alter Gentleman sein«, hatte der Mann hinzugefügt.
Sie war nicht ganz sicher, wer der alte Herr war, und sie fragte sich, ob sie ihm schreiben solle. »Ich könnte für dich schreiben«, bot ihr Freund ihr an. Dank der neu organisierten Penny-Post konnte es sich selbst eine arme Person in Whitechapel leisten, einen Brief zu schicken. Doch schließlich hatte sie sich dafür entschieden, diesen freundlichen Gentleman persönlich aufzusuchen. Der Weg von Whitechapel durch den Tunnel nach Blackheath war nur etwa sechs Meilen lang. »Vielleicht hilft er mir, wenn er mich sieht«, sagte sie zu ihrem Freund. Lucy Dogget war schwanger.
Die Dinnergesellschaft des alten Herrn hatte wieder zu ihrem vergnügten Verlauf gefunden. Zum Fleisch wurde ein ausgezeichneter Claret serviert. Mary Anne hatte höflich wieder ihre Unterhaltung mit dem alten Herrn zu ihrer Rechten aufgenommen. Sie sah, daß jedermann sich entschlossen hatte, die peinliche Torheit des jungen Meredith zu vergessen. Der alte Herr beschrieb die Rhododendren, die er aus Indien kommen ließ, um seinen Garten zu verschönern. Silversleeves erklärte einer alten Lady, wie man den Dampf einer Untergrundbahn absaugen konnte. Captain Barnikel beschrieb die schönen Konturen seines neuen Teeklippers. Penny fragte sich laut, wofür man den Kristallpalast verwenden könne, wenn die Weltausstellung vorbei war. Mary Anne warf Meredith einen verstohlenen Blick zu. In einem knappen Jahr, dachte sie, wird er sich einem Regiment angeschlossen haben, egal, was er vorher in Indien macht; er wird Uniform tragen. Er wird in einem roten Rock sehr attraktiv aussehen.
Der letzte Gang bei einem viktorianischen Dinner bestand aus zwei verschiedenen Arten von Gerichten: Wachteln, Huhn mit Mayonnaise, speckumwickelter Truthahn, grüne Erbsen à la française. Danach konnte man den Gaumen mit einem Souffle »reinigen«. Doch für jene, die einen süßeren Abschluß mochten, gab es Kirschkompott, Charlotte russe, neapolitanische Kuchen, Madeiragelee, Erdbeeren und Feingebäck.
Die Gäste am Tisch unterhielten sich nun in kleinen Gruppen. Mary Anne wandte sich erneut an den jungen Meredith. »Erzählen Sie mir von den Hindugöttern. Sind sie wirklich so schrecklich?«
»Die religiösen Schriften der Hindus sind ebenso alt wie die Bibel, vielleicht sogar älter«, versicherte er ihr. »Sie sind in Sanskrit geschrieben, das eine gemeinsame Wurzel mit unserer eigenen Sprache hat.« Er erzählte so anschaulich von Wischnu und Krischna, daß sie ihn bat weiterzusprechen, und er beschrieb die sagenhaften Paläste der Maharadschas, ihre Elefanten und Tigerjagden. Dieser aristokratische Abenteurer, der nur ein paar Jahre jünger war als sie, würde bald weit weltgewandter, erfahrener und interessanter sein, dachte sie, als es ihr jemals möglich sein würde.
Doch dann bemerkte sie, daß Edward sie aufmerksam beobachtete. Manche Dinge verstand er sehr gut; eines davon war die Brauerei. Er verstand, daß sein Bier tadellos sein mußte. Er verstand es auch, ein guter Sportler zu sein, denn das war in diesem sportlichen Zeitalter gut fürs Geschäft. Er verstand etwas von Effizienz und Buchhaltung. Er verstand auch, daß seine Frau und der junge Meredith einander zuviel Aufmerksamkeit entgegenbrachten. Im Grunde machte es nichts aus, er wußte, daß Mary Anne Meredith nicht wiedersehen würde. Doch es ärgerte ihn trotzdem. Er hatte Lust, diesen lästigen Jungen in seine Schranken zu weisen.
Bald hatte er Gelegenheit dazu. Die Pennys, die immer noch begeistert über die Weltausstellung sprachen, hatten sich gerade über die großartigen Abteilungen Frankreichs und Deutschlands geäußert, als Silversleeves bemerkte: »Die Franzosen sind, da sie stärker südländisch und keltisch geprägt sind, wundervoll kunstbegabt, aber die Maschinen in der deutschen Abteilung – das ist das wirklich Beeindruckende. Die Deutschen sind wie wir praktische Leute – die Römer der modernen Zeit.« Er sah den Tisch hinunter. »Es sind praktische Leute, die Reiche errichten, Mr. Meredith. Sie sollten besser die Deutschen studieren als die Götter der Hindus.«
Diese Sichtweise war in den letzten Jahren in England sehr populär geworden. Schließlich seien die Angelsachsen eine germanische Rasse, sagte man; auch der Protestantismus habe in Deutschland begonnen. Die königliche Familie war deutscher Herkunft, der Gatte der Königin war deutsch. Fleißig, selbstbewußt, ein nordgermanisches Volk, so wollten die Viktorianer sich selbst sehen. Die Tatsache, daß sie im selben Maße keltisch, dänisch, flämisch und französisch waren, hatte man irgendwie vergessen.
»Und dennoch gibt es einen Unterschied zwischen unserem Empire und dem römischen Imperium«, betonte Edward. »Und das sollte Mr. Meredith vielleicht auch berücksichtigen. Unser Empire ist nicht durch Eroberung entstanden. Die Römer haben Armeen gebraucht, wir nicht. Wir bieten diesen rückständigen Ländern ganz einfach die Vorteile des freien Handels. Der freie Handel bringt ihnen Wohlstand und Zivilisation.«
»Aber Edward«, wandte Mary Anne ein, »Wir haben in Indien eine riesige Armee.«
»Nein«, widersprach er.
»Tatsächlich hat Ihr Gatte ganz recht, Mrs. Bull«, schaltete sich Meredith höflich ein. »Die große Mehrheit der Truppen sind indische Regimenter, die vor Ort aufgestellt und von den Indern bezahlt werden.«
»Ich freue mich, daß Sie mir zustimmen«, hakte Bull wieder ein. »Und beachte bitte, Mary Anne, noch einen Satz, den Mr. Meredith gerade gesagt hat: ›Von den Indern bezahlt‹. Die britische Armee dagegen wird vom britischen Steuerzahler aus seinem hartverdienten Einkommen finanziert. Wenn Mr. Meredith Offizier wird, ist es sein Lebenszweck, unseren Handel zu schützen. Und da ich für Mr. Meredith und seine Leute werde zahlen müssen, denke ich, daß die Kosten möglichst gering sein sollten.«
Das war beleidigend, und Mary Anne errötete verlegen. Dennoch hätten wenig Leute widersprochen, wie Bull sehr wohl wußte. Gewiß gab es auch ein paar, die eine weitgespanntere Auffassung von Englands Rolle hatten. Bei einem Dinner in der City hatte Edward vor kurzem neben Disraeli gesessen, einem lästigen Politiker, dachte er, der den Kopf voll alberner Träume von imperialer Größe hatte. Aber Disraeli bildete eine Ausnahme. Die meisten Mitglieder des Parlaments waren weit eher geneigt, solide Whigs wie Gladstone zu unterstützen, der für freien Handel, eine stabile Währung, minimale Regierungsausgaben und niedrige Steuern eintrat. Selbst ein reicher Mann wie Bull bezahlte nur drei Prozent Einkommensteuer. Und das hielt er für mehr als genug.
»Ich habe nicht die Absicht, die Steuern zu erhöhen«, erwiderte Meredith ruhig.
»Aber bestimmt ist die Religion der Völker in unserem Empire doch wichtig?« meinte Esther. »Wir schicken Missionare…«
»Gewiß, Esther«, antwortete Bull. »Aber in der Praxis folgt die Religion dem Handel.«
Es war zuviel. Zuerst beleidigte Edward Meredith, und nun war er selbstgefällig. Mary Anne wurde langsam wütend auf alle. Sie waren so ignorant und dabei so von sich überzeugt. »Aber was ist, Edward«, fragte sie mit gespielter Unschuld, »wenn die Hindus und die anderen Völker des Empires unsere Religion gar nicht haben wollen? Vielleicht ziehen sie es vor, ihre eigenen Götter zu behalten.« Das war natürlich unerhört, aber sie wollte es so. Esther sah schockiert drein. Aber wenn sie Edward hatte ärgern wollen, schien ihr das nicht gelungen zu sein. Nachsichtig korrigierte er sie wie ein Schulkind. »Es ist eine Frage der Zeit. Wenn die weniger zivilisierten Völker der Welt zunehmend in Kontakt mit uns kommen, werden sie sehen, daß unsere Lebensweise besser ist. Sie werden unsere Religion ganz einfach deshalb akzeptieren, weil sie richtig ist. Das moralische und religiöse Gesetz. Habe ich recht, alter Herr?«
»Absolut«, erwiderte dieser. »Moral, Mr. Meredith. Das ist der Schlüssel.«
Nun erschien der Butler mit Madeira- und Portweinkaraffen. Das war das Signal für die Ladys, sich in den Salon zurückzuziehen, während die Männer allein ihren Portwein tranken. Mary Anne erhob sich als Zeichen für die anderen Frauen, und manche der Gentlemen begleiteten sie höflich zur Tür. Dort lächelte Mary Anne Meredith an und gab ihm die Hand, als wolle sie sich verabschieden – eine Geste ohne besondere Bedeutung, bis auf ein winziges Detail, das ihn erröten ließ.
Als sie in den Salon trat, nahm ihre Schwester Charlotte sie am Arm und flüsterte: »Du hast seine Hand gedrückt! Wie konntest du nur?«
»Das hast du gar nicht sehen können.«
»Ich konnte es erkennen.«
»Dann mußt du eine Expertin sein. Wessen Hand hast du gedrückt?«
Charlotte hütete sich, mit Mary Anne zu streiten, sondern begnügte sich damit zu murmeln: »Nun, du wirst ihn nie wiedersehen.«
Das Haus des alten Herrn war sehr groß. Etwas zurückgesetzt, über einer runden Auffahrt starrte das gute Dutzend Fenster mit gleichgültiger Zurückhaltung auf Blackheath, wie um deutlich mitzuteilen, daß das quadratische Ziegelhaus, zu dem sie gehörten, nur der Besitz eines sehr reichen Mannes sein könne.
Unsicher ging Lucy zur Tür und läutete nervös. Ein Butler öffnete die Tür. Stotternd fragte sie, ob sie beim richtigen Haus sei, sagte ihren Namen und fragte, ob der alte Herr sie empfangen würde. Der Butler war ein wenig unsicher, was er tun sollte. Kannte der alte Herr sie? Sie glaubte es. Er entschied, daß er sie auf dieser Basis nicht einlassen konnte, sagte ihr, sie solle draußen warten, während er sich erkundigte. Ein paar Minuten später kam er zurück und führte sie in die Halle, vorbei an geschlossenen Türen und die Treppe hinunter in ein kleines Zimmer im Souterrain. Dort ließ er sie höflich allein und schloß weniger höflich die Tür hinter sich zu. Es dauerte etwa zwanzig Minuten, bis sie endlich hörte, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte und die Tür aufging. Sie stand dem alten Herrn gegenüber. Lucy bemerkte, daß er sie nicht erkannte. »Hallo, Silas«, sagte sie.
Es fiel schwer zu glauben, daß dieser rotbackige alte Mann mit dem ordentlich gestutzten Bart und dem maßgeschneiderten Gehrock wirklich Silas war. Die Verwandlung war erstaunlich.
»Ich dachte, du seist vielleicht gestorben«, sagte er langsam. »Ich habe einmal nach dir gesucht, konnte dich aber nicht finden.«
»Ich habe auch nach dir gesucht und dich ebenfalls nicht gefunden«, erwiderte sie.
Aber das war schon sehr lange her. Sie hatte Silas nach dem Tag, an dem er das Boot verkauft hatte, nur noch einmal gesehen. Ein Jahr später war er in ihre Wohnung gestapft und hatte barsch gesagt: »Komm heute mit mir, Lucy. Ich hab was für dich.« Widerstrebend hatte sie ihn zu seinem übelriechenden Karren begleitet. Sie fuhren hinunter nach Southwark, dann nach Bermondsey, bis sie schließlich in einen großen Hof kamen, der von einem hohen, baufälligen Holzzaun umgeben war.
Silas Doggets Müllhaufen war bereits an die zehn Meter hoch. Schmutz, Unrat, Plunder jeder Art; der Abfall, die Überbleibsel und der Ausschuß der Metropole, aufgetürmt zu einem fauligen, stinkenden Berg. Eine Schar zerlumpter Menschen kletterte darauf herum, grub mit Schaufeln, siebte oder arbeitete mit den bloßen Händen – alle unter dem stechenden Blick eines Aufsehers. Was fanden sie? Eisenstücke, Messer, Gabeln, Kupferkessel, Pfannen, jede Menge Holz, alte Kleider, Münzen in rauhen Mengen, sogar Schmuck. Alle Gegenstände wurden sorgfältig in verschiedenen Behältern gesammelt oder zu kleineren Haufen aufgeschichtet, wo Dogget selbst ihren Wert taxierte. »Dieser Haufen wird mir ein Vermögen einbringen«, sagte er. Und Lucy – das war sein großzügiges Angebot – konnte mit beim Aussortieren helfen. Die anderen, die nur Gelegenheitsarbeiter waren, bekamen nur einen Pence pro Tag, aber ihr würde Silas wöchentlich dreißig Shilling zahlen. Doch als Lucy den schmutzigen Haufen betrachtete, verließ sie der Mut. Sie hatte mit Silas Leichen aus dem Fluß gezogen; Horatio hatte im Themseschlamm nach Münzen gewühlt; die Erinnerungen waren zu schmerzlich. Sie lehnte ab.
Silas fuhr sie nach Hause. »Du wirst nie ein besseres Angebot bekommen.«
»Es tut mir leid.«
»Starrsinnig wie dein Vater. Dann kannst du zur Hölle fahren.«
Bald danach war sie umgezogen. Ihre Mutter war gestorben. Lucy fand Arbeit bei einem Knopfhersteller in Soho und nahm eine Unterkunft bei einer Familie im Kirchspiel St. Giles, um näher bei ihrer Arbeitsstelle zu sein. Dort blieb sie zehn Jahre lang. Es stellte sich heraus, daß sie Talent zum Farbmischen hatte. Man konnte ihr irgendein Materialstück zeigen, und sie konnte die Farbstoffe so mischen, daß genau der gleiche Ton herauskam. Doch die großen Farbbottiche hatten einen scharfen Geruch und machten ihr das Atmen schwer. Aus Angst, sie könne Asthma bekommen wie ihre Mutter, gab sie es auf.
Etwa um diese Zeit lernte sie ihren Freund kennen. Er war der Cousin einer irischen Familie in St. Giles, die sie kannte, lebte aber selbst in Whitechapel. Er besorgte ihr Arbeit auf einem Boot, das Freunden von ihm gehörte. Seinetwegen zog sie wieder um, und er gab ihr in diesen Jahren Freundschaft und sogar Zuneigung. Er konnte lesen und schreiben und hatte Arbeit als Angestellter bei einer großen Werft in der Nähe. Allmählich wurde aus der Freundschaft mehr, bis schließlich, als sie einmal allein waren, das Unvermeidliche geschah. Und dann noch öfter.
»Es tut mir leid, daß ich komme, wenn du beschäftigt bist«, meinte Lucy. »Es hört sich an, als hättest du Besuch.«
»Besuch?« Er zuckte die Achseln. »Nur ein paar Freunde.«
Lucy wußte nicht, daß er eine Familie hatte. Sogar vor zwanzig Jahren, als er bereits Vater von vier Töchtern war, hatte Silas es nie für nötig gehalten, diese Tatsache zu erwähnen. Er hatte darauf geachtet, daß Lucy nie irgendwelche anderen Verwandten gefunden hatte, die sein Geheimnis hätten verraten können.
»Und dieses Haus«, Lucy deutete um sich, »das gehört alles dir? Du mußt reich sein.«
»Manche Leute glauben das. Ich habe mein Auskommen.« Das war natürlich eine Lüge. Als Lucys Mutter starb, hatte er den Müllhaufen in Bermondsey bereits durchgekämmt, dann legte er drei weitere in Westlondon an. Bald darauf stellte er fest, daß er noch mehr verdienen konnte, wenn er Abfallberge zusammentrug und sie dann zur Verwertung an andere verkaufte. Die riesigsten Haufen hatte er für Zehntausende Pfund verkauft. Als Silas sich schließlich zurückzog, hatte er zehn Müllberge zu Geld gemacht und war in der Tat ein sehr reicher Mann.
»Warum bist du hier?« fragte er.
Sie erklärte ganz offen, daß sie ein Kind bekam. Warum hatte sie es dazu kommen lassen? Es hatte zuvor zwei Männer gegeben, die sie heiraten wollten, aber sie hatte verzichtet, weil beide arme Arbeiter waren. Ein einziger Unfall, und sie waren womöglich verkrüppelt und starben, so wie ihr Vater. Und was dann? Bittere Not, dieselbe Art von Leben für ihre Kinder, die sie und Horatio gekannt hatten. Das wollte sie nicht. Warum hatte sie es dann mit ihrem Freund dazu kommen lassen? Vielleicht, weil sie ihn liebte. Vielleicht, weil er ein Angestellter mit ein wenig Bildung war. Vielleicht, weil sie jetzt über dreißig war. Und vielleicht auch, weil er ihr Zuneigung entgegenbrachte. Aber er war verheiratet.
Silas verzog angewidert das Gesicht. »Du warst immer eine Närrin. Was willst du also?«
»Hilfe«, sagte sie einfach und wartete.
Silas Dogget überlegte. Es war zehn Jahre her, daß er nach Blackheath gezogen war; zuvor hatte er ein ganz passables Haus in Lambeth gehabt. Für die meisten Leute war er ein reicher und respektabler alter Mann. Manche wußten, daß er sein Vermögen mit Abfallhaufen gemacht hatte, aber nicht viele. Von seinen Töchtern konnte sich nur Charlotte an die schmutzige Wohnung in Southwark erinnern und daran, wie er stinkend vom Boot heimgekommen war. Die mittleren Mädchen hatten ab dem Alter von zehn Jahren eine kleine Privatschule für junge Ladys besucht; Mary Anne war von einer Gouvernante unterrichtet worden. Keines der Mädchen hatte unter ihrer niedrigen Herkunft gelitten. Wenige Männer kümmerten sich besonders darum, wo das Vermögen einer jungen Frau herkam. Selbst die reizlosen älteren Tochter hatten gute Ehemänner gefunden, und die hübsche Mary Anne hatte die Auswahl gehabt. Während einer Zeit von zwanzig Jahren war Silas nicht nur vom Müllsammler zum reichen Mann geworden, sondern die ganze Familie war aus der Gosse aufgestiegen zu Respektabilität und dem behüteten Wohlstand der Mittelschichten, was im Fall der Pennys und Bulls in noch höhere Gesellschaftsklassen führen konnte.
Der alte Herr hatte nicht die Absicht, sich durch Lucys Notlage hinunterziehen zu lassen. Was sollte er also mit ihr anfangen? Er vermutete, wenn er ihr unter der Bedingung, daß sie seine Familie nicht behelligte und den Mund hielt, jeden Monat eine kleine Summe gab, würde sie wohl still verschwinden. Aber eines konnte er nicht dulden. »Hoffen wir, daß das Kind stirbt«, sagte er. »Aber wenn nicht, mußt du es hergeben. Wir suchen ein Waisenhaus oder etwas ähnliches.« Eine arme Verwandte zu haben war eine Sache, aber daß ein gefallenes Mädchen den nun respektablen Familiennamen Dogget beschmutzte, eine andere.
»Aber ich wollte Hilfe, um das Kind großzuziehen«, sagte sie. »Silas, willst du kein Mitleid mit mir haben? Laß mich das Kind behalten. Es ist alles, was ich je haben werde. Es ist hart für eine Frau, niemanden zu haben, den sie lieben kann.«
Silas betrachtete sie ungerührt. Er trat an einen Tisch, auf dem Feder und Tinte waren, und schrieb ihr einen Namen und eine Adresse auf. »Das ist mein Rechtsanwalt«, sagte er und gab ihr den Zettel. »Geh zu ihm, wenn du bereit bist, das Kind loszuwerden. Ich teile ihm mit, was er tun soll. Das ist die Hilfe, die du von mir bekommst.«
Dann drehte er sich um und ging hinaus. Ein paar Minuten später kam der Butler wieder, gab ihr zwei Shilling für die Heimfahrt und schickte sie hinaus. Er vergaß nicht den Befehl, daß er sie unter keinen Umständen je wieder ins Haus lassen sollte.