DIE CUTTY SARK
1889
UNTEN AUF DER BÜHNE steigerte sich der bunte Chor der
Gondolieri zu einem jubelnden Crescendo. Das Publikum – Männer in
Abendjacken und weißen Krawatten, Frauen mit gekräuseltem Haar und
Kleidern aus Seide und Taft mit Turnüren – genoß jeden Augenblick.
Nancy und ihre Mutter hatten eine Privatloge genommen. Während ihre
Mutter hinten saß, beugte sich Nancy aufgeregt vor, die Hand mit
dem Fächer auf die Brüstung gestützt. Seine Hand war kaum zwei
Zentimeter von ihrer entfernt. Näherte sie sich? Würden sie sich
berühren?
Im spätviktorianischen London gab es drei Ebenen der
Unterhaltungskultur. An der Spitze stand die Oper in Covent Garden.
Für die Armen gab es das Variete, eine Mischung aus Liedern, Tanz
und Tingeltangel. Dazwischen hatte sich im letzten Jahrzehnt eine
neue Art von Schauspiel entwickelt. Die Operetten Gilberts und
Sullivans waren voller leichter Melodien und bezaubernder
Lustspielszenen; Sullivans Musik war oft der Oper ebenbürtig, und
Gilberts Verse fanden an Brillanz und Satire nicht ihresgleichen.
Die Piraten von Penzance oder Mikado – jedes
Jahr hatte eine neue Produktion London begeistert und sollte bald
auch New York im Sturm erobern. 1889 war das Jahr der
Gondolieri.
Man konnte nicht sagen, daß an Miss Nancy Dogget aus Boston,
Massachusetts, etwas besonders Bemerkenswertes gewesen wäre. Sie
hatte natürlich einen schönen Teint. Ihr goldblondes Haar war in
der Mitte gescheitelt und auf eine Weise nach hinten frisiert, die
für eine Einundzwanzigjährige vielleicht ein wenig kindlich war.
Außergewöhnlich waren nur ihre porzellanblauen Augen. Der Begleiter
jedoch, der an diesem Abend so aufmerksam an ihrer Seite saß,
schien alles zu sein, was man sich nur wünschen konnte: charmant,
gebildet, mit einem prächtigen Haus und einem schönen alten Besitz
in Kent. Mit seinen dreißig Jahren war er alt genug, um ein Mann
von Welt zu sein, aber immer noch jung genug, daß die Mädchen zu
Hause sie um ihn beneidet hätten. Und außerdem, wie ihre Mutter
verkündet hatte, als sie ihn das erste Mal sah: »Meine Liebe, er
ist ein Earl!«
Nicht daß eine vornehme Abstammung für ein Mädchen aus Boston
etwas Neues gewesen wäre. Die alten Bostoner Familien – Cabots,
Hubbards, Gorhams, Lorings – wußten genau, wen ihre Vorfahren
geheiratet hatten. Die Doggets waren wie die meisten
alteingesessen. Sie waren zusammen mit Harvard herübergekommen, und
es ging sogar das Gerücht, sie seien an Bord der Mayflower
gewesen. Ihr Treuhandvermögen war felsenfest angelegt. Und wenn hin
und wieder ein Kind mit feinen Schwimmhäuten geboren wurde,
bereitete das niemandem große Sorge – nicht einmal die größten
Bewunderer der alten Ostküstenfamilien behaupteten, daß sie für
ihre Schönheit berühmt seien.
Mr. Gorham Dogget war ein echter Bostoner. Er war in Harvard
gewesen; er hatte ein Mädchen aus einer reichen alten New Yorker
Familie geheiratet. Doch er hatte auch Abenteuergeist. Indem er in
die Eisenbahnen investierte, die den weiten Mittelwesten
erschlossen, hatte er sein bereits beträchtliches Vermögen
verdreifacht.
Wie andere Amerikaner, die im neuen Industriezeitalter reicher
als je zuvor wurden, hatte Gorham Dogget auch die Freuden Europas
entdeckt. Dem Beispiel der englischen Aristokraten im Jahrhundert
zuvor folgend, machten sie die große Europarundreise, und als
Ausgangspunkt hatten sie London gewählt. Allerdings gab es in
Europa noch mehr zu erwerben als alte Gemälde oder Bildung.
»Glaubst du, St. James wäre ein guter Ehemann?« hatte Nancy
ihre Mutter gefragt. »Dann wäre ich eine Gräfin.«
»Du solltest an den Menschen denken, nicht an seinen Titel«,
mahnte ihre Mutter. »Aber ich glaube, er ist ein ehrbarer Mann, und
ich bin sicher, daß dein Vater ihn mögen würde.«
»Bisher hat er sich nicht erklärt«, war Nancys ein wenig
niedergeschlagene Antwort. »Vielleicht hat er ja gar kein Interesse
an mir.« Doch als das Finale der Gondolieri seinen Höhepunkt
erreichte, ließ der Earl of St. James seine Hand ganz sachte die
ihre berühren.
Sie wäre überrascht gewesen, wenn sie ihn eine Stunde später
gesehen hatte. Der gegenwärtige Earl nutzte das große Zimmer im
ersten Stock des Hauses am Regent's Park als Bibliothek und Büro.
Anders als seine Vorfahren hatte er eine intellektuelle und eine
künstlerische Ader. Er besaß eine gute Auswahl an Büchern und sogar
eine kleine Gemäldesammlung. Nun blickte er traurig von seinem
Schreibtisch auf die Gestalt ihm gegenüber.
»Ich vermute, ich muß Miss Dogget heiraten, Muriel«, seufzte
er. »Der einzige, der mich noch retten kann, ist Barnikel.«
Der vorherige Earl hatte zweimal geheiratet. Aus der ersten
Ehe war Lady Muriel das einzige überlebende Kind; aus der zweiten
stammte der gegenwärtige Earl, der fünfzehn Jahre jünger war. Es
war kaum zu glauben, daß der schlanke, attraktive Peer und seine
Halbschwester verwandt waren. Lady Muriel de Quette war so dick,
daß sie sich kaum in den breiten Ledersessel in der Bibliothek
zwängen konnte. Sie sprach nur selten. Sie fuhr nicht, sie ging
nicht, sie las nicht. Aber sie aß. Ununterbrochen. Im Augenblick
verzehrte sie eine große Schachtel Pralinen.
»Na ja, sie ist ein hübsches kleines Ding.« Der Earl seufzte
wieder. »Wir könnten uns ja immer noch ganz gut halten, wenn
Großvater nicht…«
Der vorsichtige, konservative Lord Bocton, dem kurz nach der
großen Wahlrechtsreform das Geld seines Vaters zugefallen war,
hatte den größten Teil davon in Ackerland investiert, und selbst
der ausschweifende Lebensstil seines Sohnes George, Vater des
gegenwärtigen Earls, hätte den Reichtum der Familie nicht zugrunde
gerichtet, wenn nicht die Eisenbahn gewesen wäre. Als Mr. Gorham
Dogget in die Eisenbahnlinie investierte, die den Mittelwesten
Amerikas erschloß, besiegelte er den Untergang vieler englischer
Adliger. Die riesigen Mengen billigen Getreides aus Amerika ließen
die Preise fallen, und damit auch den Wert des Ackerlandes. Als der
gegenwärtige Earl erbte, war er gezwungen, mehr als acht Hektar
Land sehr billig zu verkaufen, um die Schulden seines Vaters zu
bezahlen. Das große Haus in London und der alte Landsitz Bocton
blieben ihm noch, aber das Einkommen war sehr gering. Bald würde
das eine Haus, vielleicht auch beide, verkauft werden müssen. Wenn
Lord St. James eine Frau suchen wollte, dann besser bald. Nicht daß
er jemanden absichtlich über seine finanzielle Lage täuschen
wollte. Aber ein Lord mit einem prächtigen Haus in London und einem
Familiensitz auf dem Land war doch weit akzeptabler als einer, der
nichts hatte.
Lord St. James stand auf, tastete in seiner Weste nach einem
Schlüssel und schloß damit einen Geheimschrank auf. Dahinter befand
sich ein kleiner Safe, aus dem er mehrere Lederetuis nahm. Während
seine Schwester unbeweglich zusah, legte er die Etuis auf den
Schreibtisch und öffnete sie, so daß man den funkelnden Inhalt sah.
»Das haben wir immer noch, Muriel«, sagte er.
Der Familienschmuck der St. James war besonders schön. Vor
allem die Halskette aus Rubinen war bemerkenswert, und es war
weithin bekannt, daß die neue Gräfin St. James, wer sie auch sein
mochte, sie tragen würde. Für den Earl waren die Juwelen ein
Rettungsanker. Er liebte Frauen und hatte zwei lange Affären
genossen, aber ihm lag auch an seiner Freiheit. Nur aus einem
Gefühl der Familienpflicht dachte er an Heirat. Ohne einen Erben
würde die Grafenwürde der St. James erlöschen. Andererseits – wenn
seine Werbung scheiterte, würde ihm der Verkauf des Gutes Bocton
und des Schmucks immer noch genug Einkommen bringen, um als
Privatier gut leben zu können. »Natürlich werde ich immer für dich
sorgen«, versprach er Lady Muriel.
Der Grund, warum der Earl seine Werbung um Nancy nicht
besonders eilig betrieb, befand sich einige tausend Meilen entfernt
auf dem Meer und hieß Charlotte Rose. Die Wettfahrt der
Segelschiffe mit dem ersten Tee aus China war vorbei, seit der
Sueskanal, vor zwanzig Jahren eröffnet, den Weg in den Fernen Osten
über das Mittelmeer abkürzte. Die Dampfer mit den gewaltigen
Frachten, die sich ihren Weg durch das Wasser pflügten, ohne auf
den Wind angewiesen zu sein, schlugen nun die Segelschiffe auf
dieser Route. Aber die ruhmreichen Tage der Klipper waren noch
nicht vorbei, denn sie brachten nun Wolle aus Australien. Die beste
Schur wurde im Frühling in Sydney in Australien verladen – in der
nördlichen Hemisphäre war Herbst – und im Eiltempo zum Londoner
Wollmarkt verschifft, der im Januar stattfand. Angetrieben von den
ozeanischen Sturmwinden fuhren die Klipper ostwärts über den
gefährlichen antarktischen Teil des Pazifiks, um das
südamerikanische Kap Horn herum, und ließen sich von den
Passatwinden über den Atlantik treiben. Bei dieser Wettfahrt konnte
es kein Dampfer mit ihnen aufnehmen. Ein Jahr vor seinem Tod hatte
der letzte Earl ein Viertel eines neuen Klippers erworben, der noch
schneller war als die Charlotte, die Charlotte Rose,
wie Barnikel sie getauft hatte. Auf diesem Schiff machte der alte
Kapitän jedes Jahr phantastische Wettfahrten – seine
Durchschnittszeit von Australien her hatte in den letzten drei
Jahren achtzig Tage betragen. Zum finanziellen Gewinn der Reise
kamen die Wetten hinzu. Jeder der erstklassigen Klipper hatte seine
besonderen Eigenschaften, jeder Kapitän seine Stärken und
Schwächen. Man schloß hohe Wetten ab, und eine der verwegensten war
die des Earl of St. James. Seine Quote war ungewöhnlich hoch –
sieben zu eins. Die Summe, die er verwettet hatte, betrug ein
Jahreseinkommen. Wenn er verlor, würde es keinen so großen
Unterschied machen; wenn er nicht Geld heiratete, mußte er ohnehin
verkaufen. Wenn er jedoch gewann, konnte er noch weitere fünf Jahre
stilgerecht leben, bevor wieder eine Krise drohte. Wenn die
Charlotte Rose in sechs Wochen als erstes Schiff aus
Australien zurückkam, war es nicht mehr nötig, daß Lord St. James
Nancy Dogget heiratete. Seine Absicht war daher – da er sie nicht
verletzen wollte –, ihr Interesse wachzuhalten, ohne sich selbst zu
sehr zu verpflichten. »Man hat die Charlotte Rose neu
instand gesetzt. Es gibt nur ein Schiff, das sie schlagen könnte,
und Barnikel ist sicher, daß er schneller sein kann«, sagte er
seiner Schwester. »Wir müssen nur die Cutty Sark
besiegen!«
In der letzten Zeit fragte sich Mary Anne
manchmal, ob sie und ihre Tochter Violet im selben Haus bleiben
konnten. Weder ihre drei Söhne noch Violets zwei Schwestern hatten
ihr solchen Arger gemacht. »Du bist wie dein Vater«, warf sie dem
Mädchen vor. »Nie gibt es einen Kompromiß mit dir. Alles ist
entweder schwarz oder weiß!« Bull zufolge war das Problem jedoch,
daß Violet zu sehr ihrer Mutter ähnelte. Eine Rebellin. »Aber ich
war nie unvernünftig«, konterte Mary Anne dann.
Die wahre Schwierigkeit lag in ihrer Erziehung. Wie die
meisten Tochter ihrer Gesellschaftsklasse hatte sie eine
Gouvernante – eine hochgebildete Frau, die ihnen sagte, daß Violet
begabt war, und die sie weit über das erforderliche Niveau
gefördert hatte. Bull hatte die Gouvernante in diesem Herbst
entlassen, da es sicherlich ihre Schuld war, daß Violet sich die
närrische Idee in den Kopf gesetzt hatte, auf die Universität zu
gehen. Das war grotesk. Noch vor vierzig Jahren hatte es diese
Möglichkeit überhaupt noch nicht gegeben. Obwohl es in Oxford und
Cambridge kleine Colleges für Frauen gab, wurden diese doch nur von
einer Handvoll Schülerinnen besucht, und sie wurden auch noch nicht
als vollwertige Mitglieder der Universität anerkannt. »Dein Vater
würde es nie zulassen, daß du ohne Beaufsichtigung irgendwo lebst«,
sagte ihre Mutter. Aber Violet wandte sofort ein, daß sie ja zu
Hause bleiben und in London zur Universität gehen könne.
Sie hatte recht. Die Londoner Universität war kurz vor Königin
Viktorias Thronbesteigung gegründet worden, um religiösen
Nonkonformisten, denen der Zugang zu Oxford und Cambridge immer
noch verwehrt war, das Studium zu ermöglichen – und somit eine
fortschrittliche Sache. Die Institutsgebäude waren verstreut, es
war nicht erforderlich, daß die Studenten im College wohnten, und
bereits seit mehreren Jahrzehnten waren dort Frauen zu akademischen
Graden zugelassen. Aber welche Frauen sollten so etwas anstreben?
Mary Annes ältester Sohn Richard war in Oxford gewesen. Er war als
Gentleman dorthin gegangen und hatte ihr stolz erzählt, daß er
während der ganzen Zeit nie ein Buch gelesen hatte. Als sie ihn
nach den Studentinnen gefragt hatte, war seine Antwort:
»Blaustrümpfe, Mutter. Wir sind ihnen aus dem Weg gegangen.« Und
was sollte Violet mit dem ganzen Wissen anfangen? Lehrerin oder
Gouvernante werden? Das war nicht im Sinne der Bulls.
»Du bist nicht unattraktiv«, sagte Mary Anne zu ihrer Tochter.
»Du wirst einen Ehemann finden. Männer mögen es nicht, wenn eine
Frau zu intelligent ist, und wenn du es bist, mußt du lernen, es zu
verbergen.«
Violet, die nicht wie die anderen Kinder der Bulls blond und
blauäugig, sondern dunkelhaarig mit einer weißen Strähne war, hatte
sofort gekontert. »Ich will keinen Mann heiraten, der Angst vor
intelligenten Frauen hat!«
Es bestand nicht die geringste Möglichkeit, daß Edward Bull
nachgab, noch war es denkbar, daß Violet klein beigab. Die
Atmosphäre im Haus war wie ein ständiges Gewitter. »Ich weiß, daß
du das nicht verstehst«, erklärte Violet ihrer Mutter verächtlich.
»Du bist vollkommen glücklich damit, alles zu tun, was Papa sagt.
Hast du in deinem Leben nie etwas anderes gewollt?«
Und wenn, dachte ihre Mutter, woher willst du das wissen? Ihre
dreißig Ehejahre mit Edward waren nicht so übel gewesen. Er konnte
halsstarrig und herrisch sein, aber das waren die meisten Männer.
Wenn sie sich manchmal mehr gewünscht hätte – daß wenigstens einer
seiner Freunde einmal ein Buch gelesen oder Sinn für Humor gehabt
hätte –, so hatte sie das für sich behalten. Wenn es Augenblicke
gegeben hatte, in denen sie vor Langeweile und Frustration hätte
schreien mögen, so waren sie vorbeigegangen. Der Lohn der Ehe – das
sorgenfreie Leben, die Kinder – hatte das wahrhaft wettgemacht. Und
wenn ich das durchgestanden habe, dachte Mary Anne grimmig, dann
kann sie das auch. »Das Leben ist nicht so, wie es deiner Meinung
nach sein soll«, sagte sie dem Mädchen unverblümt. »Und je eher du
das merkst, desto besser.«
Wenigstens gab es ein Stück neutrales Territorium, auf dem
diese Feindseligkeiten endeten. Jeden Mittwochnachmittag fahren
Mary Anne und Violet mit der Bahn nach London und nahmen eine
Droschke zum Piccadilly. Diese breite Straße hatte ihr vornehmes
Flair behalten. Neue Herrenhäuser nahmen nun den Platz der alten
Paläste ein, doch Burlington House – nun die Royal Academy – lag in
seiner alten Pracht hinter dem ummauerten Hof. Fortnum and Mason
war immer noch hier. Und ein paar Türen weiter die Straße hinunter
war das Allerheiligste, wo selbst Violet ihre Streitsucht
vergaß.
An einem kalten Dezembernachmittag begaben sich Mary Anne und
Violet auf ihren gewohnten Ausflug zur besten Buchhandlung im
viktorianischen London, Hatchards am Piccadilly. Es war mehr als
eine Buchhandlung – fast ein Club. Draußen standen Bänke, wo
Dienstboten sich niederlassen konnten, während die Herrschaften
drinnen herumstöberten. Im hinteren Teil war ein gemütlicher Salon,
wo Stammkunden plaudern und vor dem Kamin die Zeitung lesen
konnten. Angehörige des Königshauses kamen zu Hatchards, der Herzog
von Wellington hatte es geliebt; die politischen Rivalen Gladstone
und Disraeli wurden beide hier gesehen. Mary Anne hatte hier einmal
sogar Oscar Wilde getroffen, der seine Bühnenstücke zur Beurteilung
zu Hatchards sandte.
Für Mary Anne und ihre Tochter war Hatchards ein Ort der
Entspannung. Mary Annes kostbarste Besitztümer waren die Ausgaben
von Dickens und Thackeray, die sie hier gekauft hatte. Ein
freundlicher Verkäufer hatte sie ermutigt, auch Tennysons Gedichte
zu lesen. Violet kaufte philosophische Werke, von Plato bis zu so
modernen britischen Denkern wie Ruskin, die Mary Anne zwischen
ihren Büchern versteckte, damit Edward sie nicht sah.
Heute jedoch suchten sie nach Weihnachtsgeschenken, und Mary
Anne hatte gerade für ihren ältesten Sohn ein Buch über die Jagd
gefunden, als sie bemerkte, daß ein hochgewachsener Mann auf der
anderen Seite des Tisches sie beobachtete. Als sie aufsah, wurde er
gerade von einem Verkäufer angesprochen. »Ich habe das Buch, das
Sie wollten, Colonel Meredith.«
Wie konnte ein Mann, der so alt war wie sie, so unglaublich
attraktiv aussehen? Sein kurzgeschnittenes Haar war immer noch
kastanienbraun, die grauen Schläfen ließen ihn nur besser aussehen.
Die Falten um seine Augen sprachen von einem Mann, der viel von der
Welt gesehen hatte. Sein Körper war schlank und straff. Mit seinem
langen, seidigen Schnurrbart war er jeder Zoll ein vornehmer
Colonel, doch hatte er auch eine Sanftheit und Intelligenz an sich,
die darauf hindeuteten, daß er mehr war als ein Soldat.
»Mrs. Bull?« fragte er, als er zu ihr trat. Mary Anne
versuchte zu nicken, doch zu ihrem Schrecken errötete sie nur. »Ich
vermute, Sie erinnern sich nicht mehr an mich.«
»Aber ja doch!« Sie fand ihre Stimme wieder und bemerkte, daß
Violet zu ihnen kam. »Sie wollten nach Indien gehen und Tiger
schießen.«
»Sie sind ganz unverändert.« Er schien es wirklich zu
meinen.
»Ich? Oh! Kaum. Meine Tochter Violet. Colonel Meredith.«
Colonel Meredith war erst seit ein paar Monaten wieder in
England. Dreißig Jahre Reisen hatten ihn in viele Länder gebracht.
Das Personal bei Hatchards kannte ihn, weil in Kürze ein Buch von
ihm erscheinen sollte: Liebesgedichte, übersetzt aus dem
Persischen. Er hatte ein Haus in West-London, das groß genug
für seine Sammlungen war. Er hatte nie geheiratet. Aber vielleicht
hätte sie Lust, nächsten Mittwoch zum Tee zu kommen?
»O ja!« antwortete sie zu ihrem eigenen und ihrer Tochter
Erstaunen.
Als es üblich wurde, das Dinner immer später einzunehmen,
hatten die viktorianischen Engländer den orientalischen Brauch des
Nachmittagstees angenommen. Er war eine einfache Mahlzeit,
gewährleistete, daß der Besuch nicht zu lange wurde, und konnte
ganz schicklich sowohl von Ladys als auch von Junggesellen
angeboten werden.
Am nächsten Mittwoch kurz nach vier Uhr kamen Mary Anne und
Violet zu Colonel Meredith' Haus am Holland Park. Es stand in der
Melbury Road in einem Garten mit gestutzten Bäumen und sah mit
seinem Turmchen und den Bleiglasfenstern wie ein Miniaturschloß
aus. Vor allem staunten die Besucherinnen, als nicht der übliche
Butler, sondern ein Sikh mit Turban die Tür öffnete und sie in die
Bibliothek des Colonels führte. An den Wänden hingen konventionelle
Porträts seiner Vorfahren; vor dem Kamin standen ein
lederüberzogener Hocker und zwei Armsessel. Doch hier endete die
englische Tradition. Über dem Feuer hingen zwei Elfenbeinzähne, auf
dem Tisch standen Elfenbeinschatullen, chinesische Lackschachteln
und ein hölzerner Buddha. Ein Elefantenfuß, der neben einem
Schreibtisch stand, war zu einem Papierkorb umgearbeitet worden. In
einer Ecke war ein Halter mit indischen Dolchen und ein silberner
Elefantengott, das Geschenk eines Maharadschas; in einer anderen
hingen einige schöne persische Miniaturen. Neben dem Kamin stand
ein Paar orientalischer Pantoffeln mit nach oben gerollten Spitzen,
die Meredith trug, wenn er allein war. Und auf der Mitte des
türkischen Teppichs lag ein prächtiges Tigerfell.
Der Tee wurde sofort serviert, indischer und chinesischer, und
der Colonel bestand darauf, sie selbst zu bedienen. Er schien sehr
gut gelaunt, und es dauerte nicht lange, bis er auf Mary Annes
Fragen hin einiges aus seinem faszinierenden Leben erzählte. Das
britische Empire hatte zwar als reines Handelsimperium floriert,
doch in den letzten Jahrzehnten hatte sich das Gewicht auf subtile
Art verschoben. Die Kaufmannsinsel Großbritannien, die erkannte,
daß sie Indien, wo es nach 1850 einen Aufstand gegeben hatte,
kontrollieren und die Durchfahrt durch den ägyptischen Sueskanal,
an dem Premierminister Disraeli den größten Anteil gekauft hatte,
schützen mußte, war gezwungen gewesen, eine stärker imperiale und
administrative Rolle zu übernehmen. Das war gut gelungen. Die
hochgebildete Elite der englischen Beamtenschaft in Indien hatte
eine profunde Kenntnis des Subkontinents erlangt. Die
Armeeoffiziere beherrschten häufig die lokalen Sprachen, und
gebildete Soldaten wie Colonel Meredith waren nichts
Ungewöhnliches.
Als er äußerte, er habe nie Zeit gehabt zu heiraten, war das
zum Teil die Wahrheit. Er hatte viel Zeit in Indien, China und
Arabien verbracht. Über seine amourösen Eroberungen sagte er
nichts, doch sie waren legendär. Die Wirkung auf Mary Anne war
unerwartet und erregend. Beim ersten Gurkensandwich empfand sie
dasselbe Schwindelgefühl wie damals bei ihrer Ballonfahrt. Als er
ihnen Walnußtorte servierte, wußte sie nur noch, daß sie ihr Haus,
ihre schwierige Tochter und ihren Mann verlassen und in Meredith'
Arme stürzen wollte. Um sich wieder zurück ins Umfeld ihrer Familie
zu zwingen, fragte sie: »Violet möchte zur Universität gehen. Was
halten Sie davon?«
Violet war anfangs eher verdrossen, doch dann hatte sie die
Bücher an der Wand entdeckt und Meredith danach gefragt. Neben den
üblichen englischen Klassikern und einer Sportabteilung mit Titeln
wie Großwildjagd in Bengalen standen hier auch persische und
arabische Bücher und sogar zwischen Holz gepreßte Schriftrollen in
Sanskrit. »Wie viele Sprachen beherrschen Sie?« hatte Violet
gefragt. »Sieben, und ein paar Dialekte«, hatte er
geantwortet.
Nun, auf Mary Annes Frage hin, sagte er ruhig: »Es kommt
darauf an, wozu Sie auf die Universität gehen wollen.«
»Weil ich mich langweile«, antwortete Violet offen. »Die Welt
meiner Eltern ist absurd.« – »Nicht absurd«, widersprach Meredith.
»Aber wenn Sie meinen, daß Sie Ihren Horizont erweitern wollen, ist
die Universität als solche nichts für Sie, obwohl sie hilfreich
sein kann. Ich selbst war nie auf einer Universität.« Er lächelte.
»Im Grunde ist es eine Sache des Charakters. Schicksal, nehme ich
an.«
Das schien Violet zum Schweigen zu bringen, und Mary Anne war
Meredith dankbar, daß er so geschickt mit der Frage umgegangen war.
Aber das Mädchen war immer noch entschlossen, Arger zu machen.
Gerade als sie aufbrechen wollten, blickte Violet auf die Mokassins
am Kamin und eine lange indische Holzpfeife auf dem Tisch und
fragte: »Tragen Sie jeden Abend diese Mokassins und rauchen diese
Pfeife, Colonel Meredith?«
»Ja, in der Tat«, gab er zu.
»Wollen Sie es uns nicht zeigen, bevor wir gehen? Ich bin
sicher, meine Mutter würde Sie gerne in Ihrem natürlichen Aufzug
sehen.«
»Violet, wirklich!« Mary Anne errötete.
Meredith schien das jedoch eher amüsant zu finden. »Warten Sie
einen Augenblick«, sagte er und verließ den Raum. Als er zurückkam,
trug er einen roten Morgenmantel aus orientalischem Seidenbrokat
und einen roten Fes auf dem Kopf. Er schlüpfte in die Mokassins,
setzte sich auf den Sessel neben den Kamin, füllte fachmännisch die
Pfeife, zündete sie an und begann zu ziehen. »Reicht das?« fragte
er. Mary Anne fand den Anblick Meredith' in seinem »natürlichen
Aufzug« abstoßend, aber das war nichts im Vergleich zu dem Gefühl,
das sie hatte, als er beim Abschied ihre Hand diskret drückte und
sagte: »Ich hoffe, wir sehen uns wieder.«
»Es ist ein Dilemma, Muriel.« Der Earl of
St. James schüttelte den Kopf. Vor zwei Tagen war Mr. Gorham Dogget
aus Boston gekommen und hatte erklärt, unmittelbar nach Weihnachten
werde er seine Frau und seine Tochter aus dem feuchten Winter zu
einer dreimonatigen Kreuzfahrt auf den Nil und über das Mittelmeer
mitnehmen. Ob Nancy und ihre Mutter danach wieder nach London
kommen würden, war noch nicht entschieden.
Das Problem mit der Cutty Sark war ihre Robustheit. Ihr
Kapitän konnte mehr Leinwand aufziehen, als jeder andere es wagen
würde, und trotzdem pflügte sich der Klipper gefahrlos durch die
rauheste See. »Barnikel mag ja sagen, daß wir sie schlagen können,
aber es ist ein zu großes Risiko«, fuhr der Earl fort. »Wir sind
nicht mehr in der Zeit.« Lady Muriel kaute nachdenklich Dörrobst.
»Ich mache ihr morgen einen Antrag«, schloß St. James.
Vielleicht hätte Esther Silversleeves mehr
Selbstvertrauen gehabt, wenn die Ehemänner ihrer Schwestern nicht
so erfolgreich gewesen wären. Jonas und Charlotte Barnikel waren,
obwohl der Kapitän bei seinen vielen Reisen ein kleines Vermögen
gemacht hatte, solide Geschäftsleute geblieben. Die Pennys dagegen
waren eine etablierte Familie der City, besuchten die Dinners der
Livreegesellschaften und gingen hin und wieder sogar in die Oper
von Covent Garden. Die Bulls waren nun so reich geworden, daß ihre
Kinder mit jungen Ladys und Gentlemen verkehrten. Arnold
Silversleeves und seine Frau waren etwas anderes. Ihr Haus stand
auf dem nördlichen Hügel von Hampstead, hübsch gelegen, nicht weit
vom offenen Gelände von Hampstead Heath. Viele der dortigen Häuser
waren prächtig oder reizvoll, ihres nicht. Die hohen, sperrigen
Giebel erinnerten ein wenig an den eckigen Mr. Silversleeves
selbst. Zumindest war es groß, und dank ihres Vermögens litten sie
nie an dem kleinsten Mangel.
Arnold Silversleeves war bis zum Rückzug ins Privatleben
Teilhaber bei Grinder und Watson geblieben. Seine Ingenieurkunst
wurde geachtet, doch schienen die Projekte, an denen er mit seiner
Firma beteiligt war, nie sonderlich profitabel. Entweder wählte er
sie wegen ihrer technischen Herausforderung aus, oder sein eigener
Perfektionismus verringerte die Gewinnspanne. Was den sozialen
Aufstieg betraf: Die Familie war respektabel und versorgt; was
sollte er sich mehr wünschen? Dabei war er, wie all seine Partner
zugaben, einer der besten Köpfe unter den Londoner Ingenieuren.
Zweifellos aus diesem Grund war er vor kurzem von dem reichen
Amerikaner verpflichtet worden, dessen Besuch in ihrem Haus kurz
vor Weihnachten Esther Silversleeves in helle Aufregung versetzt
hatte.
Arnold Silversleeves erlebte die Befriedigung, daß eine Reihe
von Projekten zur Verbesserung der Lebensbedingungen, von denen er
geträumt hatte, verwirklicht wurden. Als das Parlament Ende der
fünfziger Jahre endlich beschlossen hatte, die Londoner
Kanalisation von Grund auf zu erneuern, erteilte es den Auftrag
nicht seiner Firma, sondern dem Ingenieur Bazalgette. Es war
bezeichnend für Silversleeves, daß er diesem großen Mann sofort
seine eigenen Zeichnungen des existierenden Systems anbot, anhand
deren dieser seine Entwürfe überprüfte. Die daraus resultierende
ThemseUfereinfassung, das Embankment, die sich nun von Westminster
bis Blackfriars über die neuen Hauptrohre hinzog, bereitete
Silversleeves ebensoviel Freunde, als hätte er selbst davon
profitiert. Man hatte ihn als Berater zu einer weiteren technischen
Großtat herangezogen, die sich nun über der Themse erhob. Die
beiden riesigen Türme der Tower Bridge wurden mit Stein verkleidet
und im neugotischen Stil der viktorianischen Zeit gestaltet, so daß
ein harmonisches Gesamtbild mit dem Tower und den
Parlamentsgebäuden weiter flußabwärts entstand. »Das Steingehäuse
ist nur Verkleidung«, erzählte er seiner Frau fröhlich. »Darunter
ist ein riesiges Stahlgerüst.« Für die großen Hebebäume – das
massive Paar stählerner Zugbrücken, die sich öffneten, um hohe
Schiffe hindurchzulassen – hatte er dem Ingenieur Barry als Berater
zur Seite gestanden; und Brunei, Barrys Kompagnon, hatte ihn erneut
gerufen, um die komplizierte Statik der beiden mächtigen, dreißig
Meter langen, schwenkbaren Brückenbogen zu überprüfen. Am meisten
begeisterte sich Silversleeves jedoch für das neue Projekt, für das
ihn der Amerikaner engagiert hatte. Sein alter Traum von einer
Londoner Untergrundbahn war teilweise verwirklicht worden. Ein
System tiefer Durchstiche und Tunnels mit Luftabzügen für Dampfzüge
war bereits gebaut worden, aber es war heiß und rußig, und ohne den
Abriß oder das Untergraben großer bebauter Areale konnte man es
nicht zu dem komplizierteren System erweitern, das London nun
brauchte. »Aber wenn wir tief hinuntergehen, zehn bis fünfzehn
Meter vielleicht, könnten wir ein ganzes sicheres Netz bauen«,
erklärte er. »Der Zug würde in einer Röhre verlaufen.« Doch es war
vollkommen unmöglich, einen Dampfzug durch eine tiefe Röhre fahren
zu lassen. Es mußten also elektrische Bahnen sein.
Elektrizität. Für den vorausschauenden Arnold Silversleeves
war sie der Vorbote des modernen Zeitalters. 1860 hatte Swan die
elektrische Lampe erfunden, aber erst vor zehn Jahren war in London
das erste elektrische Beleuchtungssystem auf dem neuen
Themse-Embankment installiert worden. 1884 begannen die ersten
elektrischen Straßenbahnen die pferdegezogenen zu ersetzen. Vor
fünf Jahren perfektionierte Parsons eine Dampfturbine, die einen
Dynamo antrieb, und eröffnete so das Feld für öffentliche
Elektrizitätswerke. Silversleeves hatte bereits seinen eigenen
Dynamo gebaut und einige elektrische Lampen im Haus
installiert.
Das einzige Problem war, Männer zu finden, die kühn genug
waren, die Untergrundbahn zu bauen und zu betreiben. Sie würde wie
fast alles im viktorianischen England ein kommerzielles Unternehmen
sein, und britische Investoren waren hinsichtlich der neuen
Technologie noch vorsichtig. Nicht so die Amerikaner. Und bei
seinem letzten Besuch in London hatte sich Mr. Gorham Dogget an
Arnold Silversleeves gewandt. »Elektrische Bahnen haben in Chicago
funktioniert«, sagte er. »London ist die Stadt mit der höchsten
Bevölkerungsdichte der Welt und braucht unbedingt ein neues
Transportsystem. Erstellen Sie mir eine Studie über die
Durchführbarkeit, und ich werde Investoren finden.« Und er hatte
den ersten Teil eines Honorars bezahlt, das den Ingenieur mit den
Augen zwinkern ließ.
Gorham Doggets Besuch in ihrem Haus hatte Esther Silversleeves
in solche Aufregung versetzt, daß sie die Pennys um Unterstützung
gebeten hatte. Sie hatten ihren Sohn mitgebracht, einen
intelligenten jungen Mann, der seinen Weg in der City machte. Der
Herr aus Boston schien sie für akzeptable Gesellschaft zu halten.
Auch das Essen schien Gnade vor seinen Augen zu finden. In einer
Sache aber wußte sie nicht, wie sie sich verhalten sollte – und
erst als die Ente serviert wurde, sprach sie sie an. »Mein
Mädchenname war ebenfalls Dogget«, wagte sie sich vor.
»Wirklich? Ihr Vater war ein Dogget? Was hat er
gemacht?«
»Er war ebenfalls Investor«, erwiderte sie mit nur einem Hauch
von Erröten.
»Hört sich nach einem ordentlichen Mann an! Wir sind mit der
Mayflower nach drüben gefahren.« Er schien auch Gefallen an
der jüngeren Generation zu finden. Esthers ältesten Sohn Matthew
und seine Frau betrachtete er offensichtlich mit Wohlwollen.
Matthew war Rechtsanwalt in einer guten Firma, und Dogget hatte
bereits angedeutet, daß er vielleicht Arbeit für ihn habe. Der
junge Penny erzählte eifrig von seinen Bemühungen, die
Versicherung, die sich im Familienbesitz der Pennys befand, auf ein
aufregendes neues Gebiet, auf den prosperierenden Markt der
Lebensversicherungen, zu verlegen.
»Ein vernünftiger, vorausblickender junger Mann, Ihr Sohn«,
murmelte der Bostoner Harriet Penny zu.
Erst als die Desserts serviert wurden, erhielt Esther
Silversleeves wirklich die Chance zu glänzen. »Weiß jemand von
Ihnen etwas über einen gewissen Lord St. James?« erkundigte sich
Gorham Dogget beiläufig.
Errötend vor Vergnügen über die Verbindung, auf die sie sich
berufen konnte, begann Esther: »O ja, ich kann Ihnen alles über den
Earl sagen. Er und mein Schwager sind Partner in der Schiffahrt;
ihr Klipper ist die Charlotte Rose. Sie glauben, daß sie
sogar die Cutty Sark schlagen kann! Tatsächlich hat der Earl
so hoch auf sie gewettet, daß ich glaube, sein Vermögen liegt
gänzlich auf den Schultern meines Schwagers. Er ist der Kapitän,
wissen Sie.« Sie strahlte alle an, während Mr. Gorham Dogget ein
nachdenkliches Gesicht zog.
Lucy Dogget blieb nicht mehr viel Zeit.
Wenn sie das Mädchen retten wollte, mußte sie es bald versuchen.
Für eine alleinstehende Frau mit Kind in Whitechapel war es hart.
Manchen ging es noch schlechter; Familien mit sechs oder sieben
Kindern und einem arbeitslosen Vater. Diebstahl oder Prostitution
waren ihre einzigen Möglichkeiten, und in der Regel folgten bald
Krankheit und Tod.
Für Lucy hatte der große Kampf darin bestanden, ihren kleinen
Jungen aus diesen Verhältnissen herauszuhalten. Sein Vater hatte in
den fünf Jahren, die er noch lebte, etwas geholfen, aber dann blieb
sie allein zurück. Sie hatte eine Reihe niederer Arbeiten
verrichtet, um sich und das Kind zu ernähren, und hatte den Jungen
überredet, auf eine Schule des Kirchspiels zu gehen, für die sie
ein paar Pence bezahlen mußte. Aber das hatte ihn gelangweilt, und
er hatte es vorgezogen, herumzusausen und Gelegenheitsarbeiten
anzunehmen. Im Alter von zwölf Jahren konnte William zwar ein wenig
lesen und seinen Namen schreiben, arbeitete aber den größten Teil
des Tages bei einem Bootsbauer. Dabei blieb er jedoch nicht, mit
sechzehn suchte er sich Gelegenheitsarbeiten auf den Docks. Mit
neunzehn heiratete er die Tochter eines anderen Dockarbeiters, mit
zwanzig hatte er einen eigenen Sohn, der aber bald starb. Ein
weiterer folgte, dann drei Tochter, von denen nur eine überlebte.
Vor acht Jahren starb seine Frau im Kindbett. Solche Dinge
passierten, und viele Männer heirateten wieder. Nicht so William.
Er begann statt dessen zu trinken. Und so hatte Lucy mit siebzig
Jahren erneut Mutterpflichten.
Whitechapel hatte sich mittlerweile verändert. Eine Reihe
schrecklicher Pogrome in Osteuropa hatten ab den achtziger Jahren
einen großen Teil der jüdischen Bevölkerung zur Emigration
gezwungen. Viele konnten in die Vereinigten Staaten fliehen, doch
einige Zehntausende kamen ins tolerante England und fanden wie
andere Flüchtlinge zuvor ihre erste Heimat im Londoner Eastend. Die
Neuankömmlinge waren in der Regel sehr arm, trugen seltsame
Kleidung und sprachen Jiddisch. »Sie bleiben für sich und machen
keinen Ärger«, bemerkte Lucy billigend, zog aber trotzdem mit ihren
Nachbarn nach Stepney. Dort fand sie Arbeit in einer Fabrik, die
Regenkleidung herstellte, und tat ihr Bestes, um die beiden
Enkelkinder durchzubringen.
1870 war die allgemeine Schulpflicht eingeführt worden, und
selbst im Eastend gab es nun in jedem Kirchspiel eine Art von
Schule. Noch war es nicht möglich, das Gesetz in der Praxis
durchzusetzen. Nur wenige Kinder besuchten regelmäßig den
Unterricht, und bei Tom, ihrem Enkel, mußte Lucy es aufgeben, als
er zehn war. Seine Schwester Jenny war anders. Sie verdiente ein
paar Pence, indem sie dem Lehrer half, den anderen Kindern das
Lesen beizubringen. Jenny konnte noch gerettet werden.
Vor fünf Jahren hatte Lucy die Arbeit aufgeben müssen, weil
ihre Beine schwach wurden. Doch ein paar Pence konnte sie mit der
Fertigung von Streichholzschachteln noch verdienen. Das Material
bekam sie gestellt, den Klebstoff mußte sie selbst kaufen. Die
Firma Bryant and May bezahlten ihr zweiundzwanzig Pennies für zwölf
Dutzend, ein Gros, das sie ablieferte. Wenn Lucy vierzehn Stunden
arbeitete, brachte sie sieben Gros pro Tag fertig, so daß sie in
einer Achtundneunzigstundenwoche vier Pfand und zehn Shilling
verdiente.
Mit Jennys Hilfe konnten sie die Miete bezahlen und ein paar
Lebensmittel kaufen. Aber was würde aus Jenny werden, wenn Lucy
starb? Ihr Sohn war ein Trinker. Ihr Enkel Tom hatte sich mit den
rüpelhaften Jugendlichen aus der jüdischen Gemeinde eingelassen,
die zwar nicht soviel tranken, aber immer spielten. Im letzten Jahr
hatte es in Whitechapel die furchtbaren Morde Jack the Rippers
gegeben. Bisher waren die Opfer Prostituierte, aber welches Mädchen
konnte sicher sein, wenn solche Irren frei herumliefen?
Noch etwas beunruhigte Lucy. Das erste Zeichen für Unruhen im
Eastend hatte es letztes Jahr in der Streichholzfabrik Bryant and
May gegeben, als die Mädchen dort, angeführt von einer energischen
Außenseiterin namens Annie Besant, gegen ihre Hungerlöhne
protestierten. Dieses Jahr war eine andere Frau gekommen, Eleanor
Marx, deren Vater, Karl Marx, ein revolutionärer Schriftsteller
war, der im Westend lebte, um den Arbeitern des Gaswerks bei der
Gründung einer Gewerkschaft zu helfen, und kurz darauf hatte es
einen großen Streik bei den Docks gegeben. »Ich sage nicht, daß sie
unrecht haben«, meinte Lucy zu Jenny. Ihr Sohn hatte ihr oft die
schrecklichen Szenen beschrieben, wenn man die Gelegenheitsarbeiter
um die Schichten raufen ließ. »Aber wohin soll das führen?« Sie
wollte für Jenny einen sicheren Hafen finden. Aber wie? Lucy fiel
eine einzige Möglichkeit ein. Und so machte sie sich an einem
kalten Dezembertag auf einen Weg, den sie viele Jahre lang nicht
gegangen war.
In der Welt der Rechtsanwälte gab es keinen erhabeneren und
würdigeren Ort als den großen Platz in der Nähe der Chancery Lane,
Lincoln's Inn Fields, wo sich die Büros der Anwaltskanzlei Odstock
und Alderbury befanden.
Lucy war nie bei Silas' Anwälten gewesen, da sie ihr Kind
nicht hergeben wollte. Vor zwölf Jahren erfuhr sie aus einer alten
Zeitung von seinem Tod. Sie hatte an seinen Anwalt geschrieben, ob
ihr Verwandter sie vielleicht bedacht hatte, doch dem war nicht
so.
Ihr fiel niemand ein, der ihr geben könnte, was sie suchte:
eine Stellung für Jenny in einem anständigen Haus, so weit vom
Eastend entfernt wie möglich, wo man sie freundlich behandeln
würde.
Sie sprach um zehn Uhr vormittags in dem Büro am Lincoln's Inn
vor, nannte ihren Namen und bat um ein Gespräch mit Mr. Odstock. Er
ließ sie zwei Stunden lang warten, wußte aber, wer sie war. »Ich
fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Aber was ist aus seinem ganzen Vermögen geworden?« platzte
Lucy heraus.
»Nun«, meinte er ein wenig überrascht, »seine Tochter…« Als er
ihren verblüfften Blick sah, verschloß er sich sofort wie eine
Auster. »Ich fürchte, ich kann nichts für Sie tun«, erklärte er und
führte sie hinaus. Zehn Minuten lang saß Lucy draußen in der Kälte
und überlegte. Silas hatte Tochter. Vielleicht hätte eine von ihnen
Mitleid mit Jenny? Aber wer waren sie, und wo?
Plötzlich erinnerte sich Lucy an etwas, das man ihr erzählt
hatte. Zu Beginn ihrer Regierungszeit hatte Königin Viktoria
angeordnet, daß alle Geburten, Heiraten und Todesfälle, bisher nur
im jeweiligen Kirchspiel verzeichnet, in einem einzigen Register
für ganz London erfaßt wurden, das der Öffentlichkeit zugänglich
war. Wenn ich die Eheschließungen der Tochter finden könnte, dachte
Lucy, kann ich vielleicht ihre Namen herausfinden. Sie erkundigte
sich bei einem vorbeikommenden Rechtsanwalt nach der Adresse, und
am frühen Nachmittag stand sie vor den umfangreichen
Verzeichnissen, nach Vierteljahren geordnet, in denen auf dickem
Pergamentpapier jede Heirat in England niedergeschrieben war.
Lucy hatte keine Ahnung gehabt, daß es so viele Doggets gab.
Sie übersah Charlotte, weil die Familie bei ihrer Heirat noch nicht
nach Blackheath umgezogen war, fand aber ein wenig später einen
anderen Eintrag: Dogget, Esther, mit Silversleeves, Arnold. Konnte
das eine Tochter sein? Wo war sie jetzt? Wie konnte man die Adresse
herausfinden? Dann fiel ihr etwas ein, das sie im Büro der Anwälte
gesehen hatte, eine Art Adreßverzeichnis.
Da der Earl of St. James ausreichend Zeit und gute Laune
hatte, beschloß er, einen Spaziergang zu machen. Sein Heiratsantrag
war ein großer Erfolg gewesen. Er hatte Nancy zu einer Spazierfahrt
begleitet. Und an der Stelle, wo der westliche Teil des Hyde Park
in die Kensington Gardens überging, hatte er sie gebeten, ihn zu
heiraten. Sie hatte um Bedenkzeit gebeten – das erforderte
natürlich das gute Benehmen –, aber nur um ein paar Tage, und er
hatte kaum Zweifel, daß die Antwort ein Ja sein würde. »Natürlich
müssen Sie auch noch meinen Vater fragen«, hatte sie ihn
ermahnt.
Nun fühlte er sich so fröhlich und so sicher, daß er das
Mädchen wirklich gern hatte, daß er sich ein Geschenk gönnte. Es
gab viele Gemäldehändler in London, aber am liebsten ging er in die
Galerie des Franzosen Durand-Ruel in der New Bond Street. Seit
kurzer Zeit sammelte der Earl Bilder der Themse. Er hatte eines von
dem amerikanischen Maler Whistler gekauft, der in London lebte,
aber dessen Preise waren zu hoch. Für weniger Geld konnte er bei
Durand-Ruel ein Bild von dem unmodernen, aber wunderbaren
französischen Künstler Claude Monet kaufen, der oft nach London
kam, um den Fluß zu malen.
Sowohl seine Frau als auch seine Tochter
hatten bemerkt, daß Gorham Dogget seit gestern besorgt schien.
Zweimal war er geschäftlich unterwegs gewesen, und nun, als er in
der Eingangshalle saß, wirkte er ungewöhnlich nervös. Dabei befand
er sich an seinem Lieblingsort in London.
In ganz Europa gab es wahrscheinlich nichts, das mit dem Hotel
Savoy vergleichbar war. Ersonnen von D'Oyly Carte, bot das
neueröffnete Hotel an der Stelle des alten SavoyPalastes den
neuesten amerikanischen Komfort, verbunden mit europäischer
Vornehmheit: ein Meisterwerk. Statt des üblichen Marsches in ein
Badezimmer auf dem Gang, was selbst in den besten Hotels üblich
war, hatte jede der luxuriösen Suiten des Savoy ihr eigenes Bad.
Chefkoch war der berühmte Escoffier; Direktor war Cesar Ritz – ein
Unternehmer, der diskret alles arrangierte.
Dogget schien erfreut, den Earl zu sehen, und lud ihn in eine
ruhige Ecke ein, wo sie sich unterhalten konnten. Seine Frau und
seine Tochter würden gleich herunterkommen, erklärte er und fragte,
ob St James in der Zwischenzeit etwas besprechen wolle. Das Signal
war deutlich, und der Earl bat höflich um die Hand seiner
Tochter.
»Ich kann nicht für sie antworten«, erwiderte der Bostoner,
»aber Sie scheinen mir ein prächtiger Mann zu sein. Als Nancys
Vater muß ich Ihnen jedoch ein paar Fragen stellen. Ich vermute,
Sie können sie ernähren?«
»Unser Reichtum ist geschrumpft, Mr. Dogget. Der Grundbesitz
wirft wenig ab, obwohl ich natürlich noch andere Einkünfte habe.
Aber das Haus und der Besitz in Bocton sind in gutem Zustand, und
es gibt auch noch den Familienschmuck…« Er war zu wohlerzogen, um
das andere Pfand zu erwähnen – den Titel.
»Sie haben also genug zum Leben?«
»O ja.« Im Augenblick stimmte das noch.
»Und Sie lieben meine Tochter aufrichtig, um ihrer selbst
willen? Das ist mir ein Anliegen, Lord St. James.«
»Absolut.« Eine glatte Lüge war keine Lüge, wenn sie
bedeutete, sich einer Dame gegenüber galant zu zeigen, sagte sich
der Earl.
»Gut.« Von weiteren Äußerungen wurde Dogget abgehalten, als
Cesar Ritz, der sonst so diskrete Direktor, in einem unpassenden
Moment bei ihnen auftauchte.
»Verzeihen Sie, Sir«, unterbrach er und reichte Dogget ein
Blatt, auf das der Amerikaner einen gereizten Blick warf. »Nicht
jetzt, Mr. Ritz!«
»Verzeihung, Sir. Sie sagten, die Angelegenheit würde heute
vormittag erledigt… Ihre Frau und Ihre Tochter waren wochenlang
hier, Sir. Das kann nicht so weitergehen.«
»Sie wissen genau, daß es da kein Problem gibt.«
»Wir haben eine Antwort auf eine Anfrage erhalten, die wir an
Ihre Bankiers in Boston gerichtet haben, Sir.«
St. James schien es, als sei der Amerikaner sichtlich vor ihm
gealtert. Er schrumpfte zusammen, dann erwiderte er barsch: »Ich
habe immer noch ein Haus in Boston, Mr. Ritz. Das Savoy wird
bezahlt werden; Sie müssen nur ein wenig warten. In ein oder zwei
Tagen muß ich ohnehin aufbrechen.« Etwas verlegen blickte er auf
St. James. »Ein paar ungünstige Investitionen, fürchte ich, Lord
St. James. Mein Vermögen ist anscheinend weg. Aber ich denke, ich
kann mit der Zeit doch noch etwas für Nancy tun. Ich habe einmal
ein Vermögen gemacht, also schaffe ich das auch ein zweites Mal.
Vielleicht kommen Sie mit auf die Ausfahrt«, schlug er vor.
Doch der Earl of St. James entschuldigte sich und zog sich
hastig zurück. Nachdem er fort war, sah Dogget zu Cesar Ritz auf.
»Danke, Mr. Ritz. Ich glaube, die Sache hat sich erledigt.«
Der Brief war in einer schönen Handschrift
geschrieben – sauber und gelehrtenhaft, aber auch sehr männlich.
Violet war im Zimmer, als Mary Anne ihn öffnete. »Von Colonel
Meredith!« sagte sie, bevor sie nachdenken konnte.
Das Mädchen warf Mary Anne einen wissenden Blick zu, den sie
höchst unpassend fand. »Was schreibt er?«
»Daß er in zwei Wochen bei Hatchards eine Lesung seiner
persischen Gedichte hält. Jedermann kann hingehen, aber er wollte
es uns persönlich wissen lassen.« Klug gemacht, dachte sie. Die
Einladung zu einem Rendezvous, aber vollkommen unschuldig; es war
nicht einmal nötig zu antworten. Sie konnte mit Violet hingehen
oder allein. Sie konnte auch überhaupt nicht hingehen. Wäre sie
doch nicht vor dem Mädchen damit herausgeplatzt.
»Gehst du hin, Mama?«
»Ich glaube nicht«, meinte Mary Anne.
In der letzten Zeit waren so viele Dinge
geschehen, daß Esther Silversleeves sich kaum an eine Zeit erinnern
konnte, in der sie mehr nachzudenken gehabt hätte. Drei Tage nach
Weihnachten war ihr Sohn ins Savoy gebeten worden, wo man ihm einen
Stapel juristischer Dokumente gegeben hatte, die er bearbeiten
sollte. Und Arnold war noch nie so beschäftigt gewesen. »Diese
Amerikaner haben solch kühne Träume«, sagte er ihr. »Ich wünschte,
ich hätte mein ganzes Leben für solche Männer arbeiten können.«
Erstaunlich war jedoch vor allem, daß der Bostoner ihren Schwager
Penny am nächsten Tag fragte, ob sein Sohn ihn und seine Familie
auf ihrer Kreuzfahrt begleiten wolle.
»Er soll einfach alles stehen und liegen lassen, das Schiff
von Southampton nehmen und drei Monate unterwegs sein – den Nil
hinauf!« erzählte Harriet Penny ihr aufgeregt. »Ich glaube, er
möchte, daß unser Sohn seiner Tochter Gesellschaft leistet«, fügte
sie hinzu.
Trauriger war es, daß kurz nach Neujahr die Cutty Sark
zurückgekehrt war, während es von der Charlotte Rose noch
keine Nachricht gab. »Er schafft es schon«, sagte ihre Schwester
Charlotte, als Esther sie besuchte. »Er kommt immer heil nach
Hause.«
Aber Esther sah, daß Charlotte sich Sorgen machte.
Weniger wichtig, aber höchst seltsam war der kleine
Zwischenfall vor drei Tagen. Zwar hatte die Entwicklung des
Telefons Arnold Silversleeves nicht so fasziniert wie elektrische
Bahnen, aber er hatte gleich eines angeschafft, als eine
Vermittlung für Hampstead eingerichtet wurde. Aber wem konnte nur
die merkwürdige Frauenstimme gehören, die vor drei Tagen angerufen
hatte?
»Mrs. Silversleeves? Sind Sie die Tochter des verstorbenen Mr.
Silas Dogget aus Blackheath?«
Kaum hatte Esther bejaht, hing die Anruferin ein. Gerade
dachte sie wieder an die seltsame Anruferin, als es an der Tür
läutete und das Mädchen verkündete: »Miss Lucy Dogget,
Madam.«
Lucy bestand darauf, sie könne ihr Anliegen erst vorbringen,
wenn sie allein seien. Esthers Neugier siegte schließlich, die
einfach gekleidete alte Frau schien harmlos. Lucy hatte zwei Tage
damit verbracht, sich respektable Kleider auszuleihen. In ihrem
grauen Mantel, dem schwarzen Hut und Kleid hätte man sie für eine
achtbare Haushälterin halten können.
»Ich wollte Sie allein sprechen, weil ich Sie nicht in
Verlegenheit bringen wollte«, erklärte sie. Sie erzählte in
einfachen Worten ihre Geschichte, und als sie geendet hatte,
starrte Esther Silversleeves sie entsetzt an.
»Sie meinen, der reiche Verwandte war…«
»Oben in Blackheath. Ein sehr stattlicher Gentleman, muß ich
sagen. Sie müssen sehr stolz auf ihn gewesen sein.«
Der dunkle Abgrund war da; das leise Platschen eines Ruders im
Nebel; der dumpfe Aufprall einer Leiche im Boot. Dinge, die Esther
kaum gekannt, aber immer gefürchtet hatte. Ein kalter, feuchter
Alptraum, der in das respektable Haus in Hampstead Heath eindrang.
Esther dachte an Arnold, an ihre Söhne, an den jungen Penny, der
den Nil hinauffuhr, an die Bulls, an Lord St. James.
Und an Silas, den Abfallfischer. »Brauchen Sie Geld?« fragte
sie schließlich heiser.
Lucy schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht gekommen, weil ich um
Geld betteln will. Nein, nur das Mädchen braucht eine anständige
Stelle, als Dienstmädchen, wissen Sie. In einem anständigen Haus,
wo es sicher ist, wo man gut zu ihm ist. Ich habe gehofft, daß Sie
vielleicht etwas wissen.«
»Wie lange ist es her, seit Sie zu meinem Vater gekommen
sind?«
»Achtunddreißig Jahre.«
»Sie müssen große Not erduldet haben.«
»Ja«, erwiderte Lucy. Und dann brach sie plötzlich zusammen.
»Es tut mir leid«, murmelte sie, und ihr ganzer Körper bebte. »Es
tut mir so leid.«
»Sie soll in Sicherheit sein. Sie soll hierher kommen«,
erwiderte Esther Silversleeves zu ihrem eigenen Erstaunen.
Für einen Mann, der stets wie aus dem Ei
gepellt war, sah der Earl of St. James an diesem Tag nicht
besonders gut aus. Er hatte sich einen Mantel mit Schultercape über
das offene Hemd geworfen, sich einen Bowler auf den Kopf gestülpt
und geistesabwesend einen roten Seidenschal um den Hals
geschlungen, bevor er nach draußen gestürmt war und eine Droschke
gerufen hatte. Sogar seine Schlüssel vergaß er. Barnikel und die
Charlotte Rose waren gerade eingetroffen, drei Wochen zu
spät.
Der vergangene Monat war für St. James hart gewesen. Da war
zum einen die peinliche Sache mit Nancy. Ein Gentleman sollte sein
Wort nicht rückgängig machen, aber diese Eheschließung konnte er
natürlich nicht weiterbetreiben. Er hatte ihr einen Brief
geschrieben, der andeutete, daß manches in seiner eigenen
Vergangenheit es notwendig machte – daß es sogar der Anstand gebot
–, seinen Antrag zurückzuziehen. Er tröstete sich mit dem Gedanken,
daß der Bostoner, nachdem er sein Vermögen verloren hatte, ihn wohl
kaum noch einmal in London in Verlegenheit bringen würde. Das
einzige Rätsel war ein Gerücht, daß Mr. Dogget sich doch auf seine
Nilkreuzfahrt begeben habe.
Während die Tage vergingen, hatte er ängstlich auf Neuigkeiten
von den Klippern gewartet. Zuerst war die niederschmetternde
Nachricht eingetroffen, daß man die Cutty Sark die
Küste von Kent heraufkommen sah; dann ihre Ankunft im Londoner
Hafen und das Wissen, daß er seine Wette verloren hatte. Dann Tag
für Tag das Warten ohne weitere Nachrichten.
Nun stand er am Kai, und Barnikel erzählte ihm, wie er beim
Versuch, die Cutty Sark zu überholen, in einen Sturm geraten
war, einen Mast verloren hatte und an einem südamerikanischen Hafen
haltmachen mußte, um das Schiff zu reparieren. Seufzend blickte er
hinüber zu der schnittigen Cutty Sark auf ihrem
Liegeplatz. »Ich weiß jetzt, daß kein Schiff auf dem Meer dieses
jemals einholen wird.«
»Sie hat mich zugrunde gerichtet«, sagte der Earl düster und
ging. Ihm blieb nun wirklich nichts anderes mehr übrig, dachte er,
während er in einer Droschke nach Hause fuhr. Das Haus am Regent's
Park mußte er verkaufen, es kam viel zu teuer. Es war kein
beglückender Gedanke, mit Lady Muriel ein kleineres Haus zu teilen.
Vielleicht sollte er nach Frankreich gehen. Grimmig gestimmt, aber
nachdenklich kam er zu Hause an und erfuhr die ungewöhnliche
Neuigkeit, daß seine Halbschwester ausgegangen sei. »Sie hat nicht
gesagt, wann sie zurückkommt«, fügte der Butler hinzu.
St. James ging hinauf in seine Bibliothek und setzte sich in
den großen Sessel. Es dauerte ein paar Minuten, bis er entdeckte,
daß die Tür zu dem Raum, in dem sich der Safe befand, halboffen
stand. Auch der Safe war offen – und leer. »Der Schmuck!« rief er.
Er wollte schon den Butler rufen, als er auf dem Schreibtisch seine
Schlüssel sah. Daneben lag ein weißes Blatt Papier, auf das seine
Schwester in ihrer großen, kindlichen Schrift nur drei Worte
gekritzelt hatte: ICH BIN FORT. Mit einem Wutschrei verfluchte der
Earl of St. James sie alle – Muriel, Nancy, Gorham Dogget und
Barnikel. »Und zur Hölle auch mit dir!« schrie er. »Du verdammte
Cutty Sark!«
Es war nur gut, daß der Earl nicht beobachten konnte, wie
Barnikel an diesem Abend zu seiner Frau Charlotte nach Camberwell
zurückkam. Nachdem sie ihm etwas zu essen gemacht, ihm seinen
Lieblingsgrog gebracht hatte und er sich behaglich am Kamin
niederließ, bemerkte sie: »Es tut mir leid, daß es nicht besser
gelaufen ist, aber es gibt einen Trost. Wir haben einen schönen
Batzen Geld gemacht.«
»Wie meinst du das?«
»Ich habe auf das Rennen gewettet. Das heißt, ich habe unseren
Sohn für mich wetten lassen. Und zwar auf die Cutty
Sark.«
»Du wettest gegen deinen eigenen Gatten, Frau?«
»Ich wußte, daß du nicht gewinnen konntest. Die Cutty
Sark hat zu viele Segel. Wir haben tausend Pfund
gewonnen!«
Nach einer Pause fing Kapitän Barnikel an, in seinen Grog zu
lachen. »Manchmal bist du so schlimm wie dein alter Herr!« gluckste
er.
»Sind Sie sicher, daß das Mädchen nichts
weiß?« fragte Esther Silversleeves Lucy.
»Nicht das geringste«, versicherte Lucy.
»Dann sagen Sie Ihrer Enkelin, daß Sie mich über ein
Stellenbüro gefunden haben«, ordnete Esther an. »Und Sie müssen ihr
sagen, da mein Mädchenname zufällig derselbe ist wie ihrer, halte
ich es nicht für passend, daß sie sich weiterhin Dogget nennt. Sie
muß ihren Namen ändern. Sie soll sich Ducket nennen.«
Lucy war damit vollkommen einverstanden. Mit erschreckender
Heftigkeit erklärte Esther: »Wenn jemals irgendein Wort, irgendeine
Anspielung auf meinen Vater oder auf die Vergangenheit von ihr
kommt, werde ich sie zur selben Stunde auf die Straße setzen, und
zwar ohne Zeugnis. Das sind meine Bedingungen.« Erst als Lucy
getreulich versprach, sie werde sich daran halten, wurde Esther
wieder weicher.
So kam Jenny Ducket, wie sie nun genannt wurde, Anfang Februar
1890 zu Mrs. Silversleeves, um sich als Hausmädchen ausbilden zu
lassen.
Der Frühling 1890 hätte im Haushalt Edward
und Mary Anne Bulls eine Zeit nie dagewesener Freude sein sollen.
Ende März verkündete Edward eine atemberaubende Neuigkeit. »Der
Earl of St. James verkauft seinen Besitz in Bocton in Kent«, teilte
er der versammelten Familie beim Dinner mit. »Und ich kaufe ihn mit
allem Drum und Dran! Er hat einen Wildpark und eine wunderbare
Aussicht.« Er grinste seinen Sohn an. »Das sollte dir doch gut
zupaß kommen, da du so ein Gentleman geworden bist.«
»Uns auch!« riefen zwei seiner Töchter. Akzeptable junge
Männer mochten Mädchen, deren Väter einen Landsitz besaßen. Nur
Violet machte sich nicht die Mühe, mehr als vage zustimmend zu
lächeln.
In den letzten Wochen hatte Violet begonnen, zu Vorträgen zu
gehen. Zuerst hatte ihre Mutter darauf bestanden, sie zu begleiten,
doch nach drei oder vier langweiligen Nachmittagen in der Royal
Academy oder einem Institut der Universität hatte sie es aufgegeben
und dem Mädchen erlaubt, diese faden, aber respektablen
Veranstaltungen allein zu besuchen.
Eines Abends in der ersten Aprilwoche kam Violet in Mary Annes
Zimmer und schloß die Tür hinter sich. »Mutter«, erklärte sie
ruhig, »es gibt etwas, das du wissen solltest. Ich werde Colonel
Meredith heiraten.« Sie besaß die Unverschämtheit zu lächeln.
Zuerst verschlug es Mary Anne die Sprache. »Aber… das kannst
du nicht!« stotterte sie schließlich. »Du bist nicht volljährig.
Dein Vater wird es verbieten.«
»Ich bin fast volljährig. Und außerdem könnte ich immer noch
durchbrennen, wenn ihr mich dazu zwingt.«
»Aber du kennst ihn kaum! Wie…«
»Ich bin zu der Dichterlesung bei Hatchards gegangen, Mutter.
Und seither habe ich ihn mindestens zweimal pro Woche gesehen. Wir
gehen zu Vorträgen, in Galerien und Konzerte.«
»Aber du solltest einen jungen Mann heiraten! Sogar ein
Studium wäre noch besser als das.«
»Er ist hochgebildet und der interessanteste Mann, den ich je
in meinem Leben kennenlernen werde. Morgen wird er Vater
aufsuchen.«
»Dein Vater wird ihn aus dem Haus werfen.«
»Das bezweifle ich. Colonel Meredith ist reich und ein
Gentleman. Papa wird froh sein, mich los zu haben. Und wenn nicht,
sorge ich für einen Skandal«, fügte Violet kühl hinzu.
»Aber Kind«, jammerte Mary Anne. »Denk an sein Alter. Das ist
unnatürlich.«
»Ich liebe ihn! Wir sind leidenschaftlich ineinander
verliebt.«
Bei dem Wort »leidenschaftlich« zuckte Mary Anne unwillkürlich
zusammen, dann sah sie dem Mädchen voll ins Gesicht. »Sicher… du
meinst doch nicht…«
»Ich würde es dir nicht sagen, wenn es so wäre«, erwiderte
Violet sanft. »Aber immerhin, Mutter, eines ist jedenfalls sicher.
Du kannst ihn nicht haben.«