DIE FLAMME GOTTES
1603
ZWEI MÄNNER AUF der britischen Insel, mehrere hundert Meilen
voneinander entfernt, ersehnten in den nassen, windigen Märztagen
des Jahres 1603 ein persönliches Zeichen von Gott. Im Norden
wartete Jakob Stuart, König von Schottland, auf einen Boten. Denn
unten im Süden, in einem Palast an der Themse, lag die alte Königin
Elisabeth im Sterben. Und wer sollte ihr Nachfolger werden?
Jakobs Großmutter stammte aus dem Hause Tudor, sie war König
Heinrichs Schwester gewesen, so daß er der nächste Blutsverwandte
war. Obwohl Sohn dieser heimtückischen Katholikin Maria, Königin
der Schotten, war Jakob selbst makellos. Man hatte ihn auf den
Thron seiner Mutter gesetzt, die er kaum kannte, und ihn dazu
ausgebildet, als vorsichtiger Protestant zu regieren. Dafür hatte
das strenge schottische Reformationsparlament gesorgt.
Dann, eines Morgens, kam Wind auf, und der Sturm der Zeit
blies durch die Ahnengalerie der Tudors. Ein Bote ritt nach Norden.
Das Zeitalter der Stuarts hatte begonnen.
Von St. Mary-le-Bow aus ein Stückchen die
Gasse hinunter, dort wo früher einmal ein Gasthaus gewesen war und
vor Jahrhunderten das Schild mit dem Bullen gehangen hatte, stand
nun ein sehr schönes Wohngebäude. Gebaut aus Ziegeln mit Fachwerk,
mit Mörtel verputzt, fünf Stockwerke hoch und umgeben von einem
ummauerten Obstgarten, überragten seine drei Giebel das darunter
gelegene kleine Kirchspiel St. Lawrence-Silversleeves.
Alderman Ducket mit seinem Abscheu davor, daß in Blackfriars
wieder Schauspiele aufgeführt wurden, wohnte hier seit zwei Jahren,
und als der Bote zu seinem Ritt nordwärts zu König Jakob aufbrach,
ging es auch für Ducket um das Schicksal seiner Familie. Vorsichtig
blickte er in die Wiege, in der das Neugeborene lag. Verstohlen
steckte er die Hand hinein und fühlte nach den Fingern. Dann
lächelte er erleichtert.
Dreimal hatte er geheiratet. Drei Kinder hatte er von seiner
ersten Frau, drei von seiner zweiten, und nun, von seiner dritten
Frau, lag da sein neuntes Kind. Und alle waren sie frei von dem
Fluch der feinen Schwimmhäute an den Fingern. Er hatte nie den Tag
vergessen, als er, noch ein kleiner Junge, die Hände seines
Großvaters betrachtet hatte. »Mein Großvater hatte dieselben
Hände«, hatte der alte Mann ihm erklärt. »Und der hatte sie
ebenfalls von seinem Großvater – dem Ducket, der in den Fluß
getaucht ist und die Erbin der Bulls geheiratet hat.«
Die Duckets waren reich. Als König Heinrich die Klöster
aufgelöst und dabei einen großen Teil des riesigen Kirchenschatzes
übernommen hatte, war der Großvater des Alderman als Silber-Ducket
bekannt geworden, weil er davon soviel erworben hatte. Doch sie
hatten nie versucht, ihre niedrige Herkunft zu verleugnen. Als
Abkömmlinge auch der Bulls verachteten sie instinktiv jede Lüge,
und außerdem wurden sie in jeder oder doch jeder zweiten Generation
durch die feinen Schwimmhäute daran erinnert. Doch für Jakob Ducket
war es so, als fließe in den großen Strom der patrizischen Bulls,
zu dem er sich zugehörig fühlte, ein verschmutzter Bach. Schlimmer
noch, in diesen zunehmend calvinistischen Zeiten konnte man darin
das Mißfallen Gottes sehen, ein Zeichen, daß er und sein gesamtes
Geschlecht womöglich nicht zu Gottes Auserwählten gehörten. Doch
sein Vater war nicht verunstaltet gewesen, und auch er selbst
nicht. Angstvoll hatte er jedes seiner neugeborenen Kinder, die
dritte Generation, untersucht, und nun waren drei mal drei
gekommen, allesamt unversehrt. Der Fluch war aufgehoben.
Als er auf sein neuntes Kind, seinen dritten Sohn,
hinabblickte, lächelte er glücklich, und da er eine Neigung zur
Geschichte der Antike hatte, verkündete er frohgemut: »Nennen wir
ihn Julius. Wie Julius Cäsar, der Name eines Helden.«
Einen Monat später kam der Beweis der göttlichen Gunst, die
der Familie nun anhaftete, als Ducket mit dem Lord-Mayor dem neuen
König zur Begrüßung entgegenritt und zusammen mit den anderen
Aldermen zum Ritter geschlagen wurde. Nun war er Sir Jakob Ducket,
dem Monarchen durch heilige Lehnstreue verbunden. Und so konnte er
seinen Kindern diese beiden wichtigen Lehren mitgeben: »Seid dem
König treu. Es scheint, daß Gott uns auserwählt hat. Seid demütig.«
Womit er natürlich eigentlich meinte: Seid stolz.
1605
Am Vorabend des 5. November, an dem Tag, an
dem König Jakob – der erste dieses Namens in England, der sechste
in Schottland – sein englisches Parlament eröffnen sollte, wurde
entdeckt, daß unter dem Palast von Westminster eine große Menge von
Pulver gelagert worden war und ein gewisser Guy Fawkes, zusammen
mit anderen katholischen Verschwörern, die Absicht hatte, den
König, das Oberhaus und das Unterhaus bei der Zeremonie in die Luft
zu sprengen.
Dieses Komplott erregte riesiges Aufsehen. Sir Jakob Ducket
nahm voller Grimm seine Familie mit zum Kirchhof der
St.Paul's-Kathedrale, um den Hinrichtungen beizuwohnen. Der
Säugling Julius war noch zu klein, doch als er vier Jahre alt war
und die Kinder des Viertels gegenüber von St. Mary-leBow einen
großen Scheiterhaufen errichteten und zum Gedenken an diesen Tag
symbolisch eine Puppe als Guy Fawkes verbrannten, wußte er, was das
bedeutete. Sein Vater hatte ihm eingeschärft: »Keine Papisterei,
Julius. Die Papisten sind der innere Feind.«
1611
Es war unmöglich, Martha Carpenter nicht zu
mögen. Niemand, der sie kannte, konnte sich vorstellen, daß sie
jemals aus Bosheit handeln würde. Immer sanft, immer bescheiden,
hatte sie in den siebenundzwanzig Jahren ihres Lebens niemals etwas
für sich selbst verlangt. Als man ihr sagte, sie müsse zu Hause
bleiben und für ihre Großmutter sorgen, nahm sie das als Pflicht
der Liebe auf sich. Als Cuthbert auszog und das Globe baute,
besuchte sie ihn weiterhin und betete für seine Seele, obwohl ihre
Großmutter ihn verfluchte. Nun hielt sie ihrem Bruder die Bibel
hin. »Schwöre«, sagte sie.
Mit vielen anderen Puritanern teilte Martha die Tugend der
Hoffnung, eine wichtige Tugend, die die Welt verändern sollte. Die
Reformation war nicht nur gekommen, um zu zerstören. Die wahre
Lehre der Protestanten, wie sie es sahen, war eine Lehre der Liebe,
und ihre besten Prediger vermittelten eine Botschaft
außergewöhnlicher Freude.
Es gab viele solcher Männer in London. Als Kind war ihr
Lieblingsprediger ein Schotte gewesen, ein alter Mann mit krausem
weißem Haar und blauen Augen. »Nimm den Prunk, die Weltlichkeit und
den Aberglauben der Kirche Roms fort«, hatte er ihr gesagt, »und
was bleibt? Die Wahrheit. Denn wir haben das Wort Gottes in der
Heiligen Schrift.« Wenn sie die Bibel las, sprach Gott unmittelbar
zu ihr.
Mehrere ihrer Nachbarn im kleinen Kirchensprengel St.
Lawrence-Silversleeves waren ebenfalls Puritaner. Wenn sie
zusammenkamen, um eine Predigt zu hören oder gemeinsam in einem
ihrer Häuser zu beten, geschah das im Geist der Nächstenliebe.
Ermahnungen waren selten. Jede Gemeinde im presbyterianischen
Schottland und in den calvinistischen Gebieten Europas war auf
diese Art aufgebaut. Es gab keine Priester, jede Gemeinde wählte
ihren eigenen Vorsteher. Es gab auch keine Bischöfe. Die
Kirchspielversammlung wählte reihum regionale Ausschüsse, um ihre
Tätigkeiten zu koordinieren. Und die Entwicklungen im Ausland
hatten die Saat der größten aller Hoffnungen keimen lassen – daß
Gottes Königreich vielleicht auf Erden kommen könne.
Natürlich konnte das wahre und vollkommene Königreich erst am
Ende der Welt erwartet werden, das wußte man aus dem Buch der
Offenbarung. Aber man konnte sich diesem Zustand immerhin nähern.
War es nicht die klare Pflicht jedes frei geborenen Puritaners,
zusammen mit seinen Brüdern zum Licht zu streben und Gottes
Königreich – die strahlende Stadt auf einem Hügel – hier und jetzt
aufzubauen? Letztendlich war das nicht mehr als der
mittelalterliche Gedanke einer Gemeinde, doch diesmal eine Gemeinde
für Gott.
Martha besaß auch die Tugend der Geduld, und Geduld war
vonnöten. Als König Jakob aus dem presbyterianischen Schottland
nach England gekommen war, hatten die Puritaner freudig erwartet,
er würde den wahren Glauben mitbringen. Aber Jakob hatte es nicht
gefallen, von den schottischen Presbyterianern gegängelt zu werden,
und ihm war klar, daß die Autorität der Monarchie von der
Oberhoheit über die anglikanische Kirche abhing. Die englische
Staatskirche mit ihrem reformierten katholischen Glauben, ihren
Bischöfen, Zeremonien und allem anderen mußte bleiben.
So hatte immer noch der Bischof von London die Herrschaft über
die alte St.-Paul's-Kathedrale, und der Geistliche in dem kleinen
Kirchspiel St. Lawrence-Silversleeves, unterstützt von Ducket und
anderen Kirchenältesten, drang darauf, daß Martha und die
puritanischen Gemeindemitglieder dreimal im Jahr zur Kommunion
gingen und respektvoll ihren äußeren Konformismus zur Staatskirche
zu Schau stellten.
Das Buch, das Martha nun ihrem Bruder hinschob, war die Genfer
Bibel. Sie enthielt die gesamte Heilige Schrift, zur Zeit Heinrichs
VIII. von Tyndale und Coverdale in einfaches Englisch übersetzt,
und war seit einem halben Jahrhundert die geliebte Schrift jedes
englischen Protestanten. Sogar illustriert war sie. Zwar war in
diesem Jahr auf Geheiß des Königs eine neue Übersetzung entstanden,
die weniger calvinistisch im Tonfall, aber auch weniger vertraut
war. Obwohl sich diese neue King James Bible, die nun
autorisierte Version, an der geliebten Genfer Bibel orientierte,
enthielt sie viele klangvolle, vom Latein inspirierte Wendungen,
die einfachen Puritanern nicht gefallen konnten, und wie die
meisten wahren Protestanten hatte Martha nicht vor, sie zu
benutzen.
Sie hatte Geduld mit Cuthbert gebraucht. Ihre Großmutter hatte
gesagt, er sei verdammt, aber sie hatte die Hoffnung nie
aufgegeben. Und allmählich schien es, als würden ihre Gebete
erhört. Er hatte ein vernünftiges, durchaus nicht gottloses Mädchen
geheiratet. Nach der Geburt einer Tochter überredete Martha die
alte Frau sogar zu einem Besuch. Und nach der Geburt des ersten
Sohnes hatten Cuthbert und seine Frau Martha gebeten, ihm einen
Namen auszusuchen. Sie hatte einen Namen aus der Bibel gewählt.
»Nennt ihn Gideon, denn er war ein Streiter des Herrn.« Aber dieses
verfluchte Theater. Trotz ihrer Gebete geriet Cuthbert nach all
diesen Jahren immer noch auf Abwege. Sie hatte immer seinem Freund
Meredith, diesem Weiberhelden, die Schuld daran gegeben, aber
schuld war teilweise auch der Bühnenautor Shakespeare, denn er
schien die Bewohner Londons mit einem Zauberbann belegt zu haben.
Macbeth, Othello, Hamlet – die Massen strömten zu Tausenden
ins Globe, und der törichte Cuthbert lief ihnen nach. Shakespeare
würde am Tag des Jüngsten Gerichts für einiges Rede und Antwort
stehen müssen. Aber Cuthbert konnte gerettet werden, und heute
hatte Martha ihre Chance.
Vor drei Wochen war ihre Großmutter gestorben, so daß sie
allein in dem Haus zurückblieb, in dem sie und Cuthbert
aufgewachsen waren. Cuthberts Wohnung war klein, seine Familie
wurde jedes Jahr größer, und als er und seine Frau vor ein paar
Tagen gekommen waren, um zu fragen, ob sie nicht diese größeren
Räumlichkeiten teilen könnten, wußte Martha, was sie tun mußte.
»Ich kann euch nicht in Großmutters Haus wohnen lassen, wenn ihr
weiterhin ins Theater geht«, erklärte sie. »Es ist an der Zeit. Ich
helfe euch, einen bösen Zauber zu brechen.«
Der arme Cuthbert dachte an seine Familie, und als ihm die
Bibel hingeschoben wurde, schwor er. Dann ging er wieder,
kummervoll, aber gerettet.
Sir Jakob war erstaunt, wie rasch Julius
lernte. Vier seiner Kinder waren im Säuglingsalter gestorben, drei
Mädchen und zwei Jungen hatten überlebt. Zwei der Mädchen waren
verheiratet, der ältere Junge war mit sechzehn Jahren nach Oxford
gegangen. Die Mädchen und der ältere Junge neigten zur
Leichtfertigkeit und zur Faulheit, doch an Julius konnte Sir Jakob
keinen Fehler finden. »Keine Papisterei!« oder »Gott schütze den
König!« rief er mit vier Jahren so laut, daß selbst Sir Jakob
belustigt war. Wenn er ausging, genoß er es, Julius dabeizuhaben.
Diese Unternehmungen verliefen stets nach demselben Muster. Wenn
sie die Gasse hinaufgingen, vorbei an Mary-le-Bow, bogen sie rechts
ab nach Cheapside, wie Westcheap nun genannt wurde. Bekleidet mit
einem dunklen Umhang und Rock, passenden Beinkleidern und Schuhen
mit Silberschnallen, den exakt gestutzten grauen Bart über einer
gestärkten weißen Halskrause, einen Stock mit Silberknauf in der
Hand, erschien Sir Jakob Ducket stets als das, was er war, als
protestantischer Gentleman. Und wie stolz war Julius, nun acht
Jahre alt und in Breeches und Rock gekleidet, mit einem großen,
weichen Spitzenkragen, wenn er an seiner Seite schritt und die
höflichen Verbeugungen der vorbeigehenden Männer entgegennahm. Ihre
erste Anlaufstelle war stets die Gildehalle der Seiden- und
Textilhändler, der Mercer.
Die Welt der Londoner Gilden war prachtvoller denn je. Die
größten, darunter die Mercer, hatten nicht nur eigene Wappen,
sondern auch ihre offiziellen Livreen und waren als
Livreegesellschaften bekannt. Wie andere Gilden während der
Tudorzeit hatten die Mercer, immer noch an der alten Stelle, wo
Thomas Beckets Haus gestanden hatte, einen luxuriösen Bankettsaal
erbaut, mit riesigen Eichenbalken an der Decke und vielen
Vergoldungen. »Wir waren immer Mercer«, wurde Julius von seinem
Vater erinnert.
Doch ihr eigentliches Ziel, vorbei an Cheapside und der
Poultry, ein Stückchen den Cornhill hinauf, war ein Ort, den Julius
liebte. Er lag auf dem sanft abfallenden Hang des östlichen
Stadthügels, gerade unterhalb der riesigen Stätte, wo vor
zwölfhundert Jahren einmal das römische Forum gewesen war.
Ein großer, quadratischer, gepflasterter Hof, um den sich die
Gebäude im Renaissancestil mit offenen Arkaden gruppierten, erbaut
unter Elisabeths Herrschaft auf Initiative von Sir Thomas Gresham,
einem Seiden- und Textilhändler. Es war die Königliche Warenbörse.
Hier wagte Sir Jakob Ducket zu Beginn des Stuart-Zeitalters
Spekulationen, von denen seine Vorfahren nicht einmal hätten
träumen können.
Während des ganzen Mittelalters hatten die riesigen Flotten
der deutschen Hansestädte die nördlichen Meere beherrscht, und die
mächtige Börse von Antwerpen in Flandern war das Zentrum des
gesamten nordeuropäischen Handels gewesen. Doch während der
vergangenen sechzig Jahre hatten sich gewaltige Veränderungen
vollzogen. Mit neuem Selbstbewußtsein hatte die englische
Handelsschiffahrt dem Monopol der Hanse solche Einbußen zugefügt,
daß der Stalhof der Hanse in London schließlich geschlossen worden
war, und als die Reformation das protestantische Antwerpen in einen
ruinösen Krieg mit seinem katholischen Oberherrscher, dem Haus
Habsburg, führte, schnappte sich London einen dicken Brocken des
flandrischen Handels. Die neue Königliche Warenbörse, in der sich
die Londoner Kaufleute trafen, war eine Nachbildung der großen
Börse in Antwerpen.
Doch die eigentliche Veränderung ging tiefer. Die Bulls, Sir
Jakobs Vorfahren, stolze Mitglieder der Tuch- und Wollhändler,
hatten Wolle und schließlich auch Tuch exportiert. Silber-Ducket
hatte bereits mehr Tuch als Wolle ausgeführt. Doch diese alten
Gilden waren allmählich reif für den Niedergang. »Das Wachstum muß
anderswo herkommen«, hatte Silber-Ducket prophezeit. Eine Gruppe
wagemutiger elisabethanischer Unternehmer, zumeist Seiden- und
Textilhändler, standen im Zentrum dieser Entwicklung; »Kaufleute
und Abenteurer« nannten sie sich selbst. Als Freibeuter wie Francis
Drake neue Märkte erschlossen, wurden Reisen und Transporte
finanziert; man strebte nach Handelsprivilegien und Verträgen.
Einzelne Gruppen erschlossen jeden neuen Markt, doch da ihr
Geschäft große Investitionen in der Schiffahrt erforderten, mußte
das Risiko aufgeteilt werden. So wurde in London die
Kapitalgesellschaft geboren. Die Levantinische Gesellschaft, die
Moskauer Gesellschaft, die Guineagesellschaft, die
Ostindiengesellschaft – an der Königlichen Warenbörse wurde Julius
mit jeder vertraut. Sir Jakob hatte Anteile bei allen. Er erzählte
Julius davon oder las dem Jungen manchmal aus den aufregenden
Reiseberichten Richard Hakluyts vor. Eines Tages an der Warenbörse,
als sein Vater ihn fragte, welches dieser großen Abenteuer er am
liebsten mochte, rief Julius begeistert: »Die
Virginiagesellschaft.«
Als Sir Walter Raleigh diesem großen amerikanischen Gebiet
seinen Namen gegeben hatte, lebten dort lediglich einige Indianer;
Versuche, eine Handelsniederlassung zu gründen, scheiterten. Doch
in den letzten paar Jahren hatte die Virginiagesellschaft Siedler
ausgeschickt, um es noch einmal in der riesigen amerikanischen
Ödnis zu versuchen, und Captain John Smith hatte einen eher
unsicheren Brückenkopf namens Jamestown gegründet. »Warum
Virginia?« fragte Sir Jakob.
Wie konnte der Junge es erklären? War es die romantische
Verlockung dieses riesigen unentdeckten Kontinents, die seine
Begeisterung angefacht hatte? »Weil es wie Ulster sein wird«,
antwortete er, in Erinnerung an einige Dinge, die er seinen Vater
hatte sagen hören.
Sir Jakob blickte entzückt auf ihn nieder. Die Besiedlung von
Ulster in Nordirland war für ihn eine Quelle des Stolzes. König
Jakob hatte beschlossen, in diesem Land unzivilisierter Papisten
eine große Kolonie englischer und schottischer Siedler zu gründen.
Man hatte zu günstigen Bedingungen Land angeboten und eine
Vereinbarung mit den Londoner Gilden getroffen, die in großem Stil
investierten, um für spätere Renten und Profite Bauernhöfe
auszustatten und die gesamte Stadt Derry neu aufzubauen. Was nun
Virginia betraf – waren die unzivilisierten Papisten Irlands und
die heidnischen Indianer Amerikas nicht ganz ähnlich? Der König und
Sir Jakob drückten sich eindeutig aus: »Virginia soll das Ulster
Amerikas sein.«
Einen Monat später fand Julius die Seemannstruhe. Sie stand in
einer Ecke des großen Kellers im Haus seines Vaters hinter einigen
Tuchballen – eine dunkle alte Truhe, beschlagen mit einem
Gitterwerk von Messingbändern, die schon lange schwarz geworden
waren, und gesichert mit drei Vorhängeschlössern. Julius vermutete,
daß sie sehr alt war.
Die Londoner Warenbörse mochte das Abenteuer des Neuen
repräsentieren, doch der Knabe war immer noch von der alten Welt
umgeben. In seinem Zuhause gab es die schweren Himmelbetten aus der
Zeit König Heinrichs, eine ChaucerAusgabe von Caxton, gedruckt kurz
nach den Rosenkriegen, und das noch ältere Tafelsilber aus den
Klöstern, das SilberDucket erworben hatte. Sogar die
Eichenvertäfelungen und die Eichendecken mit ihren Streben und
runden Zierknöpfen, die erst vor zehn Jahren eingebaut worden
waren, schienen die Patina eines alten, rauchigen Zeitalters zu
tragen. Ebenso war es in Bocton. Die Fassade des alten
Sandsteinhauses war zwar in der Tudorzeit mit einer gleichmäßigeren
Doppelreihe von Fenstern mit Mittelpfosten neu gestaltet worden,
doch die Bauern des Landguts kamen immer noch in den alten
Gerichtssaal, um ihre Pacht an den Grundbesitzer zu bezahlen, und
die schwarzen alten Kessel in der Küche waren seit der Zeit der
Plantagenets in Gebrauch.
Die alte Seemannstruhe sah so geheimnisvoll aus, daß Julius
seinen Vater danach fragte und erstaunt die Antwort vernahm: »Das
ist ein Piratenschatz.«
Ein richtiger Pirat, und, noch aufregender, ein Mohr. Gebannt
hörte der Junge zu, als sein Vater ihm von dem fremdartigen
Seefahrer erzählte, der ihm den Schatz zur Verwahrung gegeben
hatte. »Es heißt, er habe ein Mädchen vom Globe entführt, aber
niemand weiß etwas Genaues. Man hat ihn nie wieder gesehen. Die
einen sagen, er sei nach Amerika gefahren, die anderen meinen, nach
der Südsee. Wenn er je zurückkehrt, wird es für ihn wohl die drei
Gezeiten geben.« Jedermann wußte, was die Strafe für Piraten war.
Bei Ebbe band man sie in Wapping, vom Tower aus etwas flußabwärts,
an einen Pfahl und ließ sie dort, bis sie dreimal von der Flut
überströmt worden waren – ein passender Wassertod. Die alten
Freibeuter hatten ihre Rolle ausgespielt. Da König Jakob nun mit
Spanien Frieden geschlossen hatte, brauchte man sie nicht einmal
mehr zu Englands Verteidigung. Zwar war den Puritanern jeder Hauch
von Freundschaft mit dem katholischen Feind zuwider, aber es war
nun einmal so, daß England sich kostspielige Kriege nicht leisten
konnte. Daher brauchte man keine Piraten mehr, die feindliche
Schiffe ausplünderten. Männer wie der Finstere Barnikel gehörten in
Ketten.
Aber Julius war einfach fasziniert. In seiner Phantasie war
der Finstere Barnikel bereits zu einem Riesen geworden, und er wäre
wohl in einen Tagtraum versunken, wenn die Stimme seines Vaters ihn
nicht aufgeschreckt hätte. »Ich will, daß diese Truhe dich etwas
Wichtiges lehrt. Überleg einmal. Wenn dieser Schatz dem König
gehörte, würde ich ihn dann mit meinem Leben bewachen?«
»Natürlich, Vater.«
»Aber er ist mir von einem Piraten anvertraut worden, der es
verdient, gehängt zu werden. Sollte ich also dennoch auf den Schatz
aufpassen?« Der Junge zögerte. »Ja, Julius«, mahnte der Vater,
»weil ich mein Wort gegeben habe. Und dein Wort muß heilig sein,
Julius. Vergiß das nie.«
Und Julius vergaß es nie, obwohl er sich insgeheim fragte, was
aus dem Piraten geworden war.
1613
Ende Juni 1613 ereigneten sich zwei Wunder.
Zuerst brannte das Globe Theatre völlig ab. Es geschah während
einer Vorführung von Shakespeares Heinrich VIII.: Eine
Kanone, die auf der Bühne abgefeuert wurde, sprühte Funken in das
Reetdach, so daß das ganze Theater zu brennen begann. Cuthbert, der
sein Wort gehalten und seit zwei Jahren kein Stück mehr gesehen
hatte, blickte traurig drein, doch Martha, die darin ein deutliches
Gottesurteil sah, wurde es leichter ums Herz.
Und zweitens heiratete Martha. John Dogget, Cuthberts Freund
mit der Bootswerkstatt, hatte plötzlich seine Frau verloren und
stand mit seinen fünf kleinen Kindern verzweifelt da. »Er braucht
eine Frau«, sagte Cuthbert zu Martha, »eine gute Frau, die sich um
die Kinder kümmert.« Sie besuchte die Familie und stellte fest, daß
Dogget ein hart arbeitender und gutmütiger Mann war, aber von all
seinen Pflichten überfordert, so daß seine Kinder keine rechte
Ordnung kannten. »Sie kennen kaum die Bibel«, bemerkte sie zu
Cuthbert. »Du könntest sie retten. Es wäre eine Christenpflicht«,
drängte er sie.
Einige Tage zögerte sie. Southwark hatte keinen Reiz für sie,
doch sie konnte nicht leugnen, daß die Not der Doggets groß war,
und daher suchte sie den Schiffsbauer wieder auf.
»Ihr müßt mich lehren, Euch eine Frau zu sein«, sagte sie
sanft, und Dogget versprach es. »Einige Veränderungen werden nötig
sein«, meinte sie.
»Natürlich«, erwiderte der zermürbte Vater. »Alles, was Ihr
wollt.«
1615
Eines frühen Nachmittags im Oktober 1615
sahen zwei Männer einer Zusammenkunft entgegen. Keiner der beiden
wollte dem anderen gerne begegnen. Der eine war Sir Jakob Ducket.
Sein Besucher, etwa vierzig Jahre alt, gehörte dem geistlichen
Stand an und trug einen dunklen Talar mit schmaler weißer
Halskrause, hatte aber dennoch einen Hauch von Eleganz an
sich.
Edmund Meredith hatte sein bestes Alter hinter sich. Seit
seinem katastrophal gescheiterten Stück waren fünfzehn Jahre seines
Lebens vergangen, aber was hatte er vorzuweisen? Drei weitere
Stücke, die niemand aufführen mochte. Um so ärgerlicher, da das
Theater mehr in Mode war denn je. König Jakob selbst war Mäzen der
Schauspieler am Globe, das nach dem Brand prachtvoll
wiederaufgebaut worden war. Shakespeare, anstatt sich
zurückzuziehen, eilte von Erfolg zu Erfolg. Als Edmund sich einmal
bei den Burbages beschwert hatte, daß Shakespeare seine Idee des
Mohren für den Othello gestohlen habe, hatten sie ihm
erwidert: »Es hat auch schon ein Dutzend Macbeths gegeben,
aber der von Shakespeare ist es, den die Leute sehen wollen.«
Edmund ging immer noch häufig ins Theater, hatte aber nicht mehr so
viele Freunde dort; selbst die Flemings waren nur noch entfernte
Bekannte.
Ihre Eltern waren zu dem Schluß gekommen, daß man Jane
ermordet haben mußte, doch irgendein Instinkt sagte Edmund, daß sie
am Leben sei; und da ihr Verschwinden in seinen Gedanken mit dem
Theaterbesuch des Finsteren Barnikel verbunden war, hatte er das
Gerücht von ihrer Entführung ausgestreut, das immer noch in der
Luft hing.
Wirklich bedeutsam war sie jedoch für seine eigene Reputation.
Vielleicht hatte es begonnen, als eine elegante Lady bemerkte: »Ich
glaube, Master Meredith, Ihr habt einen geheimen Kummer, zweifellos
eine Dame.« Zwei Jahre nach Janes Verschwinden hatte er einen Ruf
als Kavalier erworben, der seine große Liebe verloren hatte, und er
verfaßte einige leidenschaftliche Verse, die in weiten Kreisen
kursierten. Doch im Laufe der Jahre wurde am Hof eine neue,
gewinnsüchtige Nüchternheit vorherrschend, und seine
elisabethanische Galanterie genügte nicht mehr. Schließlich dachte
er tatsächlich daran zu heiraten. »Aber ich habe kein ausreichendes
Einkommen.« Er wußte nicht, was er mit sich anfangen sollte, und so
war er in den geistlichen Stand getreten. Obwohl die Kirche
normalerweise nicht die Laufbahn für einen Gentleman war, hatten
einige vornehme Männer, vom Hof enttäuscht oder der Welt müde, sie
in den letzten Jahren eingeschlagen, und einer dieser Männer hatte
Meredith tief beeindruckt.
Niemand konnte leugnen, daß John Donne in der Welt etwas
dargestellt hatte. Eine Gentleman durch Geburt, aus einer Familie,
die mit dem großen Thomas Morus verwandt war. Seine brillante
Dichtkunst und seine Liebesaffären machten ihn zu einem Kavalier
ganz nach Meredith' Herzen, und beide waren in London oft
zusammengekommen. Donne war außerdem ein Günstling des Königs
geworden, doch hatte König Jakob gesagt, er würde Donne nur helfen,
wenn er die Weihen empfangen habe. Nun war Donne eifrig darauf
bedacht, daß andere ihm auf dem Weg folgten, den man ihm
aufgezwungen hatte. »Ihr könntet es weit bringen, wenn Ihr eine
gute Predigt halten könnt«, meinte Donne. Nicht nur dies, dachte
Edmund, der eine verlockende Aussicht erkannte; er könnte auch ein
vornehmes Publikum gewinnen. Fast wie beim Theater.
»Ich glaube, ich verspüre den Ruf«, entschied er nach ein oder
zwei Wochen. Und so wurde er ordiniert.
Als nächstes mußte er Pfründe finden. Auch hierbei bot Donne
seine Hilfe an. »Es gibt ein unbesetztes Kirchspiel. Ich habe mit
dem König gesprochen, und dieser mit dem Bischof von London. Ihr
braucht Euch nur bei den Honoratioren der Kirchspielversammlung
anzuempfehlen. Wenn Sie Euch billigen, gehören Euch die Pfründe.
Ihr werdet kaum eine bessere Stellung finden. Der Tonangebende ist
ein großer Aktionär der Virginiagesellschaft.« Es gab nur ein
Problem. Der fragliche Honoratior war Sir Jakob Ducket.
Julius sah neugierig zu, wie Meredith nervös in das große,
holzvertäfelte Empfangszimmer trat, in dem die Mitglieder der
Kirchspielversammlung saßen. Sein Vater hatte ihm erlaubt zu
bleiben, damit er die Pflichten seiner Familie kennenlernen
konnte.
Wie die Stadt selbst hatte auch die überkommene
mittelalterliche Ordnung in London ihre Form bewahrt. Unter dem
gewählten Mayor regierten immer noch die Aldermen, jeweils einer in
den vierundzwanzig Stadtbezirken. Jeder dieser Bezirke hatte seinen
eigenen Rat, und, diesem unterstellt, hatte jedes Kirchspiel seine
Versammlung, gebildet aus den wichtigsten Mitgliedern der Pfarrei –
die sich faktisch selbst wählten –, die verantwortlich für Ordnung
und Wohlergehen der Gemeinde waren. In diesem Kirchspiel war es
zudem üblich, daß die Versammlung dem Bischof von London mitteilte,
wer ihrer Meinung nach Vikar werden sollte. Die
Kirchspielversammlung von St. Lawrence-Silversleeves bestand nur
aus drei Männern: Sir Jakob, Alderman; ein Tuchhändler, der im Rat
des Stadtbezirks war; und ein älterer Gentleman, der sich seit drei
Jahren nicht geäußert hatte.
Das Kirchspiel mochte klein sein, aber dank einer Stiftung,
die Silber-Ducket vor fünfzig Jahren eingerichtet hatte, waren es
nun reiche Pfründe, die man nicht leichtfertig vergab. Nur auf
Geheiß des Bischofs und aufgrund einer Nachricht vom Hof empfing
Sir Jakob Meredith, den er heftig mißbilligte. Daher begann er ohne
alle Höflichkeitsfloskeln:
»Schreibt Ihr immer noch Theaterstücke, Master
Meredith?«
»Nein, Sir Jakob. Seit vielen Jahren nicht mehr. Nur einige
religiöse, besinnliche Gedichte, allein für mich bestimmt.«
»Aber zweifellos habt Ihr eine Mätresse.«
»Nein, Sir Jakob.« Edmund war blaß geworden.
»Was hat Euch bewogen, in den geistlichen Stand zu
treten?«
Edmund, aus der Fassung gebracht, weil er sah, wie ihm seine
einzige Chance auf ein Amt durch die Finger glitt, platzte mit der
Wahrheit heraus: »Weil ich keine andere Möglichkeit gesehen
habe.«
Ein leises, unerwartetes Murmeln kam von dem Gentleman rechts
von Sir Jakob. »Reue.« Auch der Tuchhändler nickte billigend.
Ducket erkannte, daß er zu weit gegangen war. »Unsere Frage ist«,
fuhr er milder fort, »ob diese Besserung ehrlich ist.«
Meredith hatte sich wieder gefaßt. Ernst blickte er die drei
Männer an und erklärte ruhig: »Mein Großvater, Sir Jakob, war ein
Gentleman am Hof König Heinrichs. Mein Vater folgte ihm nach, und
ich habe nie jemanden sagen hören, daß mein Stand nicht ebenfalls
adlig sei. Aus welchen Gründen sollte ich dann die heiligen Weihen
empfangen, wenn nicht aus Überzeugung?« Das war gelungen. Eine
unwiderlegbare Antwort. Denn in der Tat, warum sollte irgendein
vornehmer Gentleman eine so bescheidene Beschäftigung suchen? Sir
Jakob zögerte. Während dieser kurzen Unterbrechung fragte Julius,
der am Kamin saß, unschuldig: »Ist es wahr, Sir, daß der König
persönlich für Euch gesprochen hat?«
Edmund, von dieser Einmischung ebenso überrascht wie alle
anderen, wandte sich an den Jungen. »Ich glaube, ja«, erwiderte er
mit einem charmanten Lächeln.
Damit war die Sache erledigt; der Tuchhändler und der alte
Gentleman strahlten freundlich. Sir Jakob war geschlagen und klug
genug, es sofort zu erkennen. »Es scheint, Master Meredith, daß Ihr
uns überzeugt habt«, erklärte er mit so guter Miene wie möglich.
»Aber vergeßt nicht«, fügte er hinzu, »daß wir gute Predigten
erwarten.«
Edmund, der seine Haut gerettet hatte,
konnte nun darüber nachdenken, daß er womöglich für den Rest seines
Lebens jeden Sonntag vor Sir Jakob predigen mußte und daß sein
einziger wahrer Freund ein zwölfjähriger Junge Im kommenden
Frühling summte und brummte es in der Gildehalle der Mercer
geradezu vor Menschen. Julius, den sein Vater mitgenommen hatte,
blickte sich wißbegierig um. Die neueste Sensation sollte hier zum
ersten Mal in der Öffentlichkeit erscheinen. Draußen in Cheapside
hatte sich eine große Menschenmenge zusammengefunden, denn alle
hofften, vielleicht einen Blick zu erhaschen.
Das Stimmengewirr wurde lauter. Ein Mann, gediegen und
gutaussehend, war von der anderen Seite her in die Halle getreten.
»Rolfe«, flüsterte Sir Jakob, doch dann verstummte sofort alles im
Saal, als sie eintrat.
Sie war fast wie ein Junge gekleidet: Samtrock mit einem
großen Spitzenkragen und Manschetten, schlichter Hut mit steifer
Krempe, unter dem sich ihr dunkles Haar hervorringelte. In der Hand
hielt sie einen Fächer aus Straußenfedern. Sie ging sehr aufrecht,
in kleinen Schritten. Abgesehen von der bräunlich-gelben Farbe
ihrer Gesichtshaut hätte man nie vermutet, daß sie Indianerin war.
Sie hieß Pocahontas.
Zumindest war das der Name ihres Stammes in Virginia, den die
Geschichtsschreibung ihr zu geben beschlossen hat. Bei ihrem
eigenen Volk war sie als Mataoka bekannt. Als sie zur Christin
getauft wurde, nahm sie den Namen Rebecca an, und da sie eine
indianische Prinzessin war, nannten die Londoner sie Lady Rebecca.
König Jakob persönlich – so sehr achtete er auf königlichen Rang –
hatte sogar Bedenken geäußert, daß eine Prinzessin, selbst von
einem wilden Stamm, einen Bürgerlichen aus England geheiratet
hatte. Die indianische Prinzessin, die mit den Siedlern
Freundschaft geschlossen hatte, war seit drei Jahren mit Captain
Rolfe verheiratet, und daher war es im Grunde genommen eine
einfache Mrs. Rolfe, die als erste Amerikanerin England
besuchte.
Ganz London hatte mittlerweile die romantische Geschichte
gehört, wie Captain Smith aus Jamestown von ihrem Stamm
gefangengenommen worden war und man ihm beinahe den Schädel
eingeschlagen hätte. Dieses Indianermädchen, noch ein Kind, hatte
den eigenen Kopf angeboten, um ihm das Leben zu retten. Mit Smith
hatte es keine Romanze gegeben; sie war noch zu jung gewesen. Doch
die auf diese Episode folgende Freundschaft mit den Siedlern hatte
sie mit Rolfe zusammengebracht, und nun wurde sie in England als
Heldin willkommen geheißen.
Für Julius sah sie jedoch kaum wie eine Heldin aus. Während
sie im Saal umherging und hier und da ein paar Worte sprach, konnte
man schwer entscheiden, ob ihre stille Anmut auf Scheu oder Hochmut
zurückzuführen war. Einen Augenblick später sah Julius eine
ausgestreckte Hand und ein Paar mandelförmiger brauner Augen, die
ihn anstarrten. Er wußte, daß sie über zwanzig war, doch sie hätte
fünfzehn sein können. Ihr Erscheinen war so sorgfältig inszeniert
wie ein Theaterstück. Nachdem sie die Runde im Saal gemacht hatte,
wurde sie hinausgeführt, gefolgt von der gesamten Gesellschaft. Ein
Aufgebot von Dienern, alle in der Livree der Seiden- und
Textilhändler, hob sie draußen auf der Straße auf eine offene
Sänfte, die sie auf den Schultern trugen, so daß die Menschenmenge
sie sehen konnte. Der Zug bewegte sich westwärts durch Cheapside,
während die Indianerin den Menschen zuwinkte. Dann war sie
plötzlich fort. Die Sänfte wurde abrupt gesenkt, Pocahontas stieg
in die geschlossene Kutsche, die an der Honey Lane wartete, das
Gefährt rumpelte davon und verschwand in der Milk Street. Alles war
so geschickt gemacht, daß die Aufmerksamkeit der Menschenmassen
noch nicht nachgelassen hatte, sondern nach einem neuen Ziel
suchte. Wie auf ein Stichwort hörte man von einem Podium vor St.
Mary-le-Bow eine tragende, aber einschmeichelnde Stimme, zu der
sich die Leute nun umwandten. »Seht die Magd des Herrn! Heute,
geliebte Brüder, haben wir ein Zeichen erblickt.« Es war Meredith,
der zu predigen begann.
Tatsächlich befand sich die Virginiagesellschaft in Nöten. Nur
ein paar Schiffe mit Siedlern waren ausgelaufen; es gab Gerüchte
über harte Bedingungen, Indianerüberfälle, Hungersnöte, und die
Gesellschaft machte Verluste. Sie brauchte Schützenhilfe. Ob die
Geschichte mit Pocahontas und Captain Smith also nun strikt der
Wahrheit entsprach oder ob die Virginiagesellschaft sie geschickt
erfunden hatte – der Besuch der zum Christentum bekehrten
Indianerprinzessin und ihres englischen Gatten war ein Geschenk des
Himmels, das Sir Jakob und seine Freunde zur größtmöglichen Wirkung
ausnützten.
Es war üblich, daß man einen Prediger bezahlte, der für eine
gute Sache werben sollte; die Virginiagesellschaft beschäftigte oft
Kaplane. Doch heute, mit einer Menschenmenge von fünfhundert Leuten
vor sich, hatte Meredith eine große Chance, und er vertat sie
nicht. Es war eine zweifache Botschaft, die er vorbereitet hatte.
Der erste Teil bezog sich auf Pocahontas; damit sollte die Neugier
der Menge geweckt werden. Die zweite Botschaft, der wahre Zweck der
Predigt, war eine Ermunterung, sich in Virginia anzusiedeln. Edmund
steigerte sich zu einem leidenschaftlichen rhetorischen Höhepunkt
und schloß: »Komm nun und ergreife Besitz von deiner Braut,
Virginia, deinem neu entdeckten Land.« Das war genau die Art von
Predigt, die der Virginiagesellschaft gefiel. In dem Augenblick,
als die Rede endete, mischten sich Angestellte der Gesellschaft
rasch unter die Leute und verteilten Stapel von Handzetteln, die
potentielle Siedler oder Investoren informierten, wie man sich an
die Zentrale der Gesellschaft in der Philpot Lane wenden
konnte.
Julius, der bei seinem Vater stand, konnte sehen, daß Sir
Jakob hochzufrieden war, und freute sich, denn er mochte Meredith.
Nachdem sie ihm gratuliert hatten und Sir Jakob geschäftlich
anderswohin gehen mußte, war Julius zu aufgeregt, um direkt nach
Hause zu gehen.
Als er schließlich heimkam, hatte er eine Neuigkeit für Sir
Jakob. »Weißt du, Vater, ich habe etwas ganz Seltsames
gesehen.«
Julius war nicht mehr oft mit Martha Carpenter
zusammengekommen, seit sie das Kirchspiel verlassen hatte, um
Dogget zu heiraten. Hin und wieder besuchte sie ihren Bruder und
seine Familie, doch das war alles, und über ihre neue Familie in
Southwark wußte Julius nichts. Daher war er neugierig gewesen, als
er die kleine Gruppe in der Watling Street sah.
Auch sie waren gekommen, um Pocahontas zu sehen, und waren
noch bei der Predigt geblieben: Dogget, fünf Kinder, davon das
älteste ein oder zwei Jahre älter als Julius, und ein Säugling, der
offenkundig von Martha war. Da Julius sah, daß Martha ihn erkannte,
ging er höflich hinüber und sprach mit ihr.
»Der Bootsbauer und zwei von seinen Kindern haben eine weiße
Strähne im Haar, Vater, genau wie wir. Aber am seltsamsten sind
ihre Hände. Dogget und eins seiner Kinder haben eine Art feiner
Schwimmhäute zwischen den Fingern.«
Eine Sekunde lang sah Sir Jakob aus, als habe man ihn
geschlagen. »Wie war der Name? Dogget?« Sir Jakob wußte nichts von
den Doggets in Southwark, noch konnte er sich vorstellen, daß
solche Leute irgendwie mit ihm verwandt sein könnten. Außer
natürlich im Zusammenhang mit dem Findling. Eine kalte Welle der
Furcht durchzuckte Sir Jakob. Der Waisenknabe, das Gossenkind. »Der
Fluch«, murmelte er. »Geh nicht zu diesen Leuten. Sie sind alle
verflucht.«
»Meinst du die Doggets, Vater, oder auch Martha Carpenters
Familie?«
»Alle.« Sir Jakob sagte das so entschieden, daß Julius es
nicht wagte, weitere Fragen zu stellen. Gleich am nächsten Tag
begann Sir Jakob insgeheim Erkundigungen über die Familie in
Southwark einzuholen.
Obwohl dieser Vorfall Julius verwirrte, wurde jeder Gedanke
daran verscheucht, als er in den folgenden Wochen mit seinem Vater
aus der Stadt ritt, um eine Investition zu besichtigen, auf die Sir
Jakob sehr stolz war.
Im alten London herrschte stets Mangel an anständigem
Trinkwasser. Natürlich gab es die Themse. Aber wenn die Metzger
ihre Abfälle hineingeworfen, die Gerber ihre Häute gewaschen, die
Brauer, Färber und andere ihre Abwässer eingeleitet hatten und dazu
dann noch die natürlichen Ausscheidungen einer Stadt von
zweihunderttausend Menschen kamen, schmeckte das Wasser aus dem
Gezeitenfluß alles andere als lieblich. Der Walbrook war unter
Häusern verschwunden; der Fleet stank. Zwar funktionierten die
alten Rohrleitungen aus Whittingstons Zeit noch und waren ausgebaut
worden, doch die Versorgung war unzureichend, und selbst dieses
Wasser mußte von Trägern, die jeweils zwei Eimer an einer
Schultertrage hängen hatten, von Haus zu Haus geschleppt werden.
»Wasser, kauft frisches Wasser!« hallten ihre Rufe jeden Tag in den
Straßen wider.
Nun sollte das alles geändert werden, dank Sir Hugh Myddelton.
Myddelton, ein Adliger aus einer führenden walisischen Familie,
hatte in der Gilde der Goldschmiede ein großes Vermögen erworben;
zudem war er ein Mann von großem Mut und Weitblick. Als er
angeboten hatte, der Stadt ein neues Wasserleitungssystem zu bauen,
waren der Mayor und die Aldermen mehr als dankbar gewesen, und Sir
Jakob Ducket hatte begeistert einen Anteil an dem Unternehmen
erworben.
Diese New River Company wurde von Myddelton selbst sachkundig
geleitet. Ein Kanal wurde gebaut, in dem man Wasser aus frischen
Quellen etwa zwanzig Meilen weiter nördlich heranführte. Oberhalb
der Stadt war ein Speicherbecken, und innerhalb der Stadtmauern
konnte das frische Wasser direkt in die einzelnen Häuser gepumpt
werden. Dieses Unternehmen war so kostspielig und kompliziert, daß
der König persönlich die Hälfte der Anteile gekauft und der
Gesellschaft ein Monopol zugestanden hatte.
Nichts bereitete Sir Jakob mehr Vergnügen, als zusammen mit
Julius aus London hinaus zureiten und dem Verlauf des Kanals bis zu
dem Speicherbecken zu folgen, von wo aus man einen Blick auf die
ferne Stadt hatte. Sie waren gerade aufgebrochen, als ein
fröhlicher Ruf sie aufhielt. »Vater! Man hat mir gesagt, daß ich
dich auf dieser Strecke finden würde.« Julius drehte sich um und
sah eine hochgewachsene dunkle Gestalt mit stolzer, fast
verachtungsvoll eleganter Haltung auf sie zureiten: sein älterer
Bruder Henry.
Drei Jahre war es her, daß sie ihn gesehen hatten. Von Oxford
aus war er mit einem Freund nach Italien gereist, hatte dort ein
Jahr studiert und dann ein Jahr in Paris verbracht. Mittlerweile
war aus einem blassen Studenten ein Mann geworden. In Schwarz
gekleidet, dieselbe Silbersträhne im Haar, sah man sofort, daß er
der Sohn seines Vaters war. Doch als er nun zu ihnen kam und die
beiden Männer am Kanal entlangritten und Neuigkeiten aus London,
Paris und vom französischen und englischen Hof austauschten, wurde
sofort ein subtiler Unterschied zwischen ihnen deutlich. Sir Jakob
war ein Gentleman, Henry ein Aristokrat; der puritanische Alderman
war streng, der elegante Weitgereiste hart; der Vater glaubte an
Ordnung, der Sohn an Herrschaft. Julius konnte kaum die Augen von
ihnen wenden; sein Herz schwoll an vor Stolz. »Bist du nun für
immer zurückgekommen?« wagte er schließlich zu fragen. Zu seiner
großen Freude schenkte ihm Henry sein seltsames sardonisches
Lächeln. »Ja, kleiner Bruder«, versprach er. »Nun bleibe
ich.«
1620
In einer sternenhellen Nacht im Juli 1620
standen etwa siebzig Leute in einem Halbkreis am Themseufer und
warteten auf die Morgendämmerung. Manche waren nervös, manche
aufgeregt, doch Martha fühlte nur großen Jubel über den Ruhm des
Herrn.
Seit Jahren hatten gottesfürchtige Menschen in London von
dieser Unternehmung gesprochen. Aber wer hätte sich je träumen
lassen, daß sie dabeisein würde? Wer hätte die außergewöhnliche
Veränderung in der Familie Dogget vorhersehen können? Oder die
unerwartete Haltung des Jungen. Oder die verwirrenden Umstände, die
dazu geführt hatten, daß die Familie an diesem Morgen am Ufer
stand. Martha sah zu ihrem Mann auf und lächelte. John Dogget
jedoch lächelte nicht.
John Dogget liebte seine Frau. Als Jane Fleming vor zwanzig
Jahren verschwand, war Dogget zutiefst bestürzt, doch die Zeit
verging, und zwei Jahre später hatte er ein lebhaftes Mädchen
geheiratet, Tochter eines Fährmanns, und war bis zu ihrem
plötzlichen Tod sehr glücklich mit ihr gewesen. Die Monate, die
dann folgten, waren so jammervoll gewesen, daß er kaum gewußt
hatte, was er tat, als er Martha geheiratet hatte.
Bevor er sie an ihrem Hochzeitstag heimbrachte, hatte er
versucht, das Haus neben der Bootswerkstatt für sie herzurichten,
doch die Familie hatte immer in einem fröhlichen Durcheinander
gelebt, und Gott allein wußte, was Martha wohl empfunden hatte.
Noch brachte ihr die Hochzeitsnacht, obwohl alles Wesentliche
gebührend vollzogen wurde, viel Freude, argwöhnte er. Er fühlte
sich unsicher, als er am nächsten Morgen zur Arbeit ging. Am Abend
kehrte er in verwandelte Verhältnisse zurück. Das Haus war sauber.
Die Kleider der Kinder waren gewaschen. Auf dem Tisch standen eine
große Pastete und eine Schüssel voll Äpfel, die mit Gewürznelken
gespickt waren, und vom Ofen her kam ein Duft von frischen
Haferküchlein. Seit einem Jahr hatte die Familie nicht mehr so gut
gegessen. Überwältigt von Dankbarkeit, hatte er sie in dieser Nacht
zärtlich und leidenschaftlich geliebt.
Auf ruhige Art hatte sie die Kinder für sich gewonnen. Martha
zwang sie nie dazu, sie anzuerkennen, aber die Kinder stellten
rasch fest, daß ihr Zuhause frisch roch, daß ihre Kleider geflickt
wurden und die Speisekammer aufgefüllt. Eine Atmosphäre
freundlicher Ruhe lag über dem Haus. Doch sie verwirrte ihn immer
noch. Die Doggets waren von Natur aus eine fröhliche Familie; aber
wenn sie lachten, saß Martha still lächelnd dabei, weil sie sah,
daß sie glücklich waren; sie selbst jedoch lachte nicht. Und lag
ihr wirklich etwas an ihrem Sexualleben? Sie wurde erregt, ja, aber
sie ergriff nie selbst die Initiative. Doch als sie ihn nach drei
Monaten gefragt hatte: »Bin ich eine gute Frau?«, schien sie
erfreut über seine Antwort: »Keine könnte besser sein.« Und zur
gegebenen Zeit hatten sie ein Kind bekommen.
Die Veränderung war so langsam vor sich gegangen, daß er nur
allmählich begriff, daß etwas mit seiner Familie geschehen war.
Selbst im rüpelhaften Southwark lächelten die besseren Ladeninhaber
ihm und seinen Kindern nun höflich zu – was sie zuvor nie getan
hatten. Noch überraschender war der Tag, als der Büttel des
Kirchspiels, der von ein paar lauten Trunkenbolden sprach, sich bei
ihm für diese Störung »gottesfürchtiger Leute wie Euch«
entschuldigte.
»Ich habe keine Frau geheiratet«, sagte Dogget manchmal
bitter. »Ich habe eine Kirchengemeinde geheiratet.« Es waren nicht
nur die Gebetsversammlungen, sondern es gab anscheinend ein ganzes
Netz ähnlich gesinnter Leute, das sich über sämtliche Stadtbezirke
erstreckte, fast wie eine riesige Gilde, an die sich Martha um
Hilfe wenden konnte. Dieses Netz kam höchst eindrucksvoll ins
Spiel, als John und Martha Streit hatten.
Es ging um den ältesten Jungen. Obwohl dazu erzogen, in der
Bootswerkstatt zu helfen, zeigte er keinen Wunsch, seinem Vater in
seinem Gewerbe nachzufolgen, sondern erklärte, er wolle als Fischer
zur See gehen. Dogget, der wußte, daß die Bootswerkstatt ein
solides kleines Unternehmen war, erwartete, daß Martha ihn
unterstützte, doch sie erklärte: »Du solltest ihn gehen lassen.
Unsere Arbeit ist Gottesdienst. Wie kann ein Mann Gott dienen, wenn
er seine Arbeit nicht liebt?«
»Er sollte seinem Vater gehorchen«, protestierte Dogget.
»Gott ist sein Vater«, verbesserte sie ihn sanft. »Nicht
du.«
Er war so zornig, daß er tagelang nicht mit ihr sprach. Doch
eine Woche später fand er sich mit Martha in Billingsgate, wo sie
von dem großen, rotbärtigen Oberhaupt der Familie Barnikel
empfangen wurden, einem der bekanntesten Männer in der
Fischhändlergilde, der ihm mitteilte: »Ich habe einen guten
Schiffsplatz für Euren Jungen gefunden. Kenne den Kapitän gut.« Und
bevor Dogget eine Antwort stammeln konnte, fügte er hinzu: »Freue
mich, Euch zu helfen. Der gute Name Eurer Frau eilt ihr
voraus.«
Während nun der Himmel heller wurde, schienen diese Worte in
seinem Kopf widerzuhallen. Der gute Name seiner Frau. Ohne diesen
verfluchten guten Namen wäre das alles nicht geschehen. Aber was
konnte er tun? Die Fähre kam, um sie zu holen. Und über dem Wasser,
gerade unterhalb von Wapping vertäut, konnte er die Falle sehen, in
die er geführt werden sollte. In diesen stabilen Dreimaster namens
Mayflower.
Gegen Mittag hatten sie den Medway überquert. Die
Mayflower war ein gutes kleines Schiff; hundertundachtzig
Tonnen, und zu einem Viertel gehörte sie Kapitän Jones, der sie
steuerte – ebenfalls ein Zeichen, daß sie solide war. Sie wurde oft
von Londoner Kaufleuten gemietet und hatte schon häufig Wein im
Mittelmeer transportiert. Seetüchtig, gut ausgestattet und
geräumig, war sie bestens ausgerüstet, um ihre Passagiere in die
Neue Welt zu bringen.
Martha war in der Vergangenheit öfter von Vertretern der
Virginiagesellschaft angesprochen worden, ob sie und ihre Familie
sich nicht dort ansiedeln wollten, doch das galt für halb London.
Sie hatte freundlich darauf hingewiesen, daß es wenig Sinn hatte,
den Atlantik zu überqueren, nur um auf der anderen Seite ebenfalls
König Jakobs Kirche zu finden. Aber dieses Unternehmen war anders.
Als sie von der kleinen Gruppe Puritaner gehört hatte, die
vorhatten, ihre eigene Gemeinde zu gründen, nicht in Virginia,
sondern in der Wildnis von Amerikas Nordküste, war sie fasziniert.
Sie hatte Dogget von ihrer Sehnsucht erzählt, doch er hatte nur
gelacht. Aber dann hatte der älteste Sohn, als er von einem
Fischzug zurückkehrte, verkündet: »Vater, es gibt eine neue
Gesellschaft, die eine Ansiedlung weit nördlich von Virginia plant,
in der Kolonie Massachusetts. Die Kaufleutegruppe ›Merchant
Adventurers‹ organisiert es. Wir könnten gut verdienen; Barnikel,
der Fischhändler, meint das auch. Es gibt dort Kabeljau.«
Das machte das ganze Unternehmen möglich. Auch König Jakob
wußte, daß dieses Siedlungsgebiet in der Nähe einiger der reichsten
Fischgründe in der Neuen Welt lag. »Natürlich ist es ein Risiko«,
räumte der Junge ein. »Aber du kannst Boote bauen, und ich fische.«
Trotzdem war Dogget nicht begeistert.
Das geheimnisvolle Angebot kam am nächsten Tag. Martha tappte
ebenso im dunkeln wie Dogget, obwohl es klar war, daß das Angebot
von einer oder mehreren Personen aus der puritanischen Gemeinde
kommen mußte. Eine Botschaft wurde überbracht, die besagte, wenn
sie an der Expedition teilnehmen wollten, sei ein Gönner bereit,
Dogget eine hübsche Summe für die Bootswerkstatt zu zahlen – weit
mehr, als sie wert war – und ihnen zudem Aktien der Gesellschaft zu
kaufen. Als dann sein Sohn zu ihm sagte: »Wo sonst könntest du
soviel Geld für die Familie bekommen, Vater?«, hatte er widerwillig
nachgegeben.
Die Reise der Mayflower ist gut dokumentiert. Das
Schiff fuhr die breite Themsemündung hinunter und weiter nach
Osten, dann bog es nach Süden ab, um die Spitze von Kent herum und
durch die Straße von Dover in den Ärmelkanal. Bei Southampton
sollte sie ein Schwesterschiff mit Pilgern treffen, die
Speedwell. Kurz vor Ende des Monats erreichte die
Mayflower Southampton.
Die Speedwell war ein sehr kleines Schiff, nur sechzig
Tonnen. Als sie Richtung Southampton kam, bewegte sie sich auf eine
seltsame, plumpe Art. Dogget starrte sie an und brummte: »Sie hat
zu schwere Masten. Dieses Schiff ist nicht seetauglich.«
Sie war es nicht. Nach einer Stunde hörten sie: »Sie muß
überholt werden, bevor sie weiterfahren kann.« Es war schon mitten
im August, als sie endlich aus Southampton ausliefen. Sie fuhren an
der sandigen Küste des New Forest vorbei, dann entlang den Klippen
und Buchten von Dorset. Im Morgengrauen des nächsten Tages waren
sie an der Küste Devons vorbei, als sie einen Schrei hörten. »Sie
holen ein.« Die Speedwell hatte ein Leck.
Endlich wurde die Speedwell wieder für seetüchtig
erklärt, und die beiden Schiffe setzten die Segel. Fünf Tage lang
pflügten sie sich in maßvollem Tempo westwärts. Am sechsten Tag
fiel die Speedwell zurück; eine Stunde später drehten die
beiden Schiffe um.
»Die Speedwell kann nicht weiterfahren; sie ist
morsch«, teilte Kapitän Jones den versammelten Passagieren mit, als
sie in den Hafen von Plymouth zurückgekehrt waren. »Die
Mayflower kann nur etwa hundert von euch aufnehmen, zwanzig
müssen also zurückbleiben.«
»Wir bleiben«, erklärte Dogget. Seine Kinder nickten, sogar
der älteste Sohn, und Martha konnte sie nicht tadeln. Auch andere
gaben nun zu, daß sie lieber nicht weiterfahren wollten. Und so
setzten die Pilgrim Fathers im September vom Hafen von Plymouth aus
endlich die Segel, jedoch ohne die Familie Dogget, die nach London
zurückkehrte.
Eines strahlenden Vormittags Anfang Oktober kehrte Sir Jakob
Ducket gerade in sein Haus zurück, als Julius ihm mitteilte:
»Erinnerst du dich an diese Leute, Vater, mit den seltsamen Händen?
Ich habe sie gerade wiedergesehen, zusammen mit Carpenter. Ich
glaube, sie wohnen bei ihm.«
Das war ein schwerer Schlag für Sir Jakob, denn er war es, der
ihnen anonym und über einen Mittelsmann eine ansehnliche Geldsumme
bezahlt hatte, damit sie abreisten. An diesem Abend, nachdem er
allein ein paar Stunden vor einem Krug Wein gesessen hatte, erlitt
Sir Jakob einen Schlaganfall. Zwei Tage später wurde klar, daß
seine beiden Söhne Henry und Julius seine Geschäfte übernehmen
mußten.
Jeden Abend, kurz vor Sonnenuntergang, stand sie auf dem
niedrigen Hügel, der Wheelers Hill genannt wurde, und blickte nach
Osten. Was betrachtete sie? Die ausgedehnten Felder unter ihr? Den
gewundenen Fluß? Suchte sie das Meer? Niemand fragte. Die Witwe
Wheeler behielt ihre Gedanken für sich.
Das Land der Wheelers war damals typisch für Virginia – ein
paar hundert Morgen, der Größe nach ein Gutshof. Wheeler selbst
hatte nie viel daraus gemacht, aber seine Witwe. Sie leitete alles
selbst und arbeitete hart. Sie hatte zwei Sklaven; aber die
Sklavenarbeit in Virginia begann damals erst. Die meisten Arbeiter
waren zwangsverpflichtete Engländer – manche waren arm oder hatten
Schulden, ein paar kleine Gauner mußten zehn Jahre lang arbeiten,
um ihre Freiheit zu erlangen. Die Witwe hatte den Ruf, gerecht,
aber hart zu sein. Wie viele andere Farmen in Virginia war jeder
Meter Boden mit einer einzigen Pflanzensorte bebaut, durch deren
riesige grüne Blätter der Wind blies: Tabak. Seit John Rolfe,
Pocahontas' Ehemann, sie eingeführt hatte, hatte der Tabakertrag in
Virginia einen erstaunlichen Aufschwung genommen. Vor ein paar
Jahren hatte man zwanzigtausend Pfund verschifft; dieses Jahr
vielleicht eine halbe Million.
Die Kolonie Virginia wuchs rasch. Es gab nun mehrere tausend
Siedler, die jedes Jahr mehr Land beanspruchten. Manche der großen
Farmen verdienten so gut, daß sie angefangen hatten, ein paar
Luxusgüter aus England einzuführen. Die Witwe Wheeler kaufte fast
nichts. Vielleicht war sie puritanisch, vielleicht einfach nur
geizig. Es war schwer zu sagen, da kaum einer ihrer Nachbarn etwas
über sie wußte. Sie wären sicherlich erstaunt gewesen zu erfahren,
daß sie fünfzehn Jahre lang mit dem schwarzen Piraten Barnikel
zusammengelebt hatte.
Auf der ersten Reise war sie seine Frau geworden; sie hatte
keine Wahl gehabt. Sie war seine Frau gewesen, als er sie, die
bereits schwanger war, in einem afrikanischen Hafen ließ, damit sie
dort ihr Kind gebar. Nach ein paar Monaten war er zurückgekehrt,
entzückt, einen Sohn vorzufinden, und hatte sie mit Geschenken
überschüttet. Fünf weitere Reisen, ein Dutzend Hafen, drei weitere
Kinder. Viele Jahre hatte sie an fremdartigen, exotischen Orten
verbracht, von der Karibik bis zur Levante. Zuerst war es seltsam
gewesen, in seiner Macht zu sein, zu wissen, daß er sie
wahrscheinlich töten konnte. Doch er war erstaunlich zärtlich. Ob
sie es wollte oder nicht, er verstand es, sie körperlich in Ekstase
zu versetzen. Und er war zu gerissen, um ihr je eine Chance zum
Entkommen zu geben. Nie fuhr er in die Nähe Londons. Was sollte sie
tun – ihre Kinder im Stich lassen? Das konnte sie nicht. Sie mit
nach London nehmen? Wie würde es ihnen dort mit ihrer dunklen
Hautfarbe ergehen? Wenn sie daran dachte, erriet sie Orlando
Barnikels insgeheime Wut, und schließlich erkannte sie, daß sie ihn
in gewisser Weise liebte.
Das Ende kam ganz plötzlich. Nach dem dritten Kind, einem
Jungen, hatte sie zwei Babys verloren. Orlando war viel unterwegs.
Nachdem der kleinere Junge mit zwölf Jahren seine erste Reise mit
dem Vater gemacht hatte, kündigte Orlando an: »Ich fahre nach
Amerika; komm mit.« Als sie Virginia erreichten und er sie in
Jamestown vom Schiff geleitete, hatte er ihr eine Tasche voller
Geld in die Hand gedrückt. »Es ist Zeit für dich, daß du mich
verläßt.«
Sie war fast dreißig. Jung genug, um in einer Kolonie, in der
oft Frauenmangel herrschte, zu heiraten und eine Familie zu haben.
Ein halbes Jahr später hatte sie Wheeler gefunden und geheiratet.
Doch er war krank geworden, und Kinder waren nicht gekommen. Von
Orlando hatte sie nie wieder etwas gehört. Doch in der letzten
Zeit, wenn sie auf dem Wheeler Hill stand und über die Pflanzung
blickte, stellte sie an klaren Tagen manchmal fest, daß ihr Blick
zum blau glitzernden Ozean schweifte.
Eine Neuigkeit, die sie von einem ihrer Zwangsarbeiter
erfahren hatte, hatte diese Veränderung bewirkt. Der Mann stammte
aus Southwark und kannte das Globe gut. Er hatte zwar keine Ahnung,
wer sie war, hatte ihr aber erzählt, daß ihre Eltern beide vor
kurzem gestorben waren und ihr Bruder ins West Country gegangen
war. Diese Neuigkeit hatte sie mit einem seltsamen Gefühl der
Freiheit erfüllt. Sie erkannte, daß es nun für niemanden von
Bedeutung war, was sie tat; sie würde keine peinlichen Fragen
beantworten müssen.
Tabakpflanzen laugten den Boden aus; nach sieben Jahren waren
damals die meisten Plantagen erschöpft. Das war kein sehr großes
Problem, da der ganze Kontinent Amerika vor den Siedlern lag; sie
legten einfach weiter im Landesinneren eine neue Pflanzung an. In
drei Jahren würde Wheelers Farm verbraucht sein, wußte Jane, und
sie würde fortgehen müssen. Doch bis dahin würde sie eine
ausreichende Summe Geld gespart haben. Genug vielleicht, um etwas
anderes zu tun, dachte sie, als sie Richtung Meer blickte.
Manche Leute mochten Henry hochmütig finden, doch Julius
bewunderte ihn dafür, wie beherzt er die Führung der Familie
übernommen hatte. Sir Jakob war rechtsseitig gelähmt und konnte
nicht mehr sprechen. Er war ein trauriger Anblick, und manche
Kinder hätten ihn vielleicht verstecken wollen. Nicht so Henry. Auf
seine Anweisung hin wurde Sir Jakob einmal wöchentlich, tadellos
gekleidet und begleitet von seinen beiden Söhnen, in einer Sänfte
in die Londoner Warenbörse getragen, damit die Leute ihm ihre
Aufwartung machen konnten. »Und damit unserer ganzen Familie«,
sagte Henry zu Julius. »Was auch geschieht, halte deinen Kopf
hoch.«
Julius hätte in diesem Jahr nach Oxford gehen sollen, doch
Henry teilte ihm mit: »Bruder, ich brauche dich. Ich kann nicht
alles allein machen.« Bald überließ er die tägliche Buchhaltung und
die Verschiffungspläne Julius. »Du hast einen Kopf für Zahlen«,
meinte er. Henry gelang dafür ein sehr kluger Schachzug. »Ich kaufe
ein Stück Land, direkt am Hügel von Bocton«, verkündete er eines
Tages, »um Hopfen für Bier anzubauen. Jeder macht das jetzt.« Und
es stellte sich heraus, daß er recht hatte. Für die englischen
Brauer, die mit importiertem Hopfen ein dunkleres Bier entwickelt
hatten, war es billiger, Hopfen im eigenen Land zu kaufen. Bald
wurde ein guter Vertrag mit der Brauerei Bull in Southwark
geschlossen, und in den folgenden Jahren brachten die Hopfengärten
in Bocton ein regelmäßig fließendes Einkommen.
Henrys größtes Geschick war, mit mächtigen Leuten Freundschaft
zu schließen. Ein paar Wochen nach seiner Rückkehr schien er
jedermann zu kennen, nicht nur in der Stadt, sondern auch am Hof.
Oft war er auf der Jagd oder speiste mit einem hohen Lord oder war
bei einer Hofgesellschaft in Whitehall. Und eines Nachmittags, als
Henry in seiner Jagdkleidung ankam, ließ er nonchalant ein Dokument
auf den Tisch fallen. Es war ein Vertrag für eine riesige Fracht
Seide, unterschrieben von Buckingham, dem mächtigsten Günstling am
Königshof.
Monopole waren heiß begehrt. Strenggenommen waren natürlich
die großen Handelsgesellschaften Monopole; ihre Konzessionen, die
ihnen die alleinigen Handelsrechte in fernen Regionen verliehen,
waren sicher zu solch großen Investitionen nötig. Doch die, von
denen Henry sprach, betrafen kleine Angelegenheiten: »Du willst
eine Bierschenke eröffnen? Du brauchst eine Konzession? Wende dich
an einen Günstling. Du brauchst Goldfaden? Ein Freund von mir hat
das Monopol. Ein winziges Monopol, Julius, ist immer noch ein
Vermögen wert. Und das gibt es an allen Höfen.«
Doch als Julius erwachsen wurde, gab ihm der Königshof Grund
zur Besorgnis; zwischen dem Haus Stuart und dem englischen Volk
stand nicht alles zum besten. König Jakob verhielt sich in seinem
hohen Alter peinlich. Ob er tatsächlich homosexuell war oder ob es
sich nur um eine senile Zuneigung zu jungen Männern handelte, wußte
niemand so recht. Glücklicherweise hatte sein Erbe Karl sowohl
Würde als auch einen untadeligen Lebenswandel, so daß die
puritanischen Engländer beim Vater ein Auge zudrückten und auf den
Sohn hofften. Natürlich gab es die Günstlinge des Königs. Der
mächtigste, der bald alles bestimmte, war Buckingham, ein junger
Mann von enormem Charme, seichter Intelligenz und so gutem
Aussehen, daß König Jakob ihn zum Herzog ernannte. Viele hatten das
Gefühl, daß Buckingham und seine Freunde zu viele Monopole
besaßen.
Das eigentliche Problem zeigte sich kaum ein Jahr nach Sir
Jakobs Schlaganfall. Das Parlament von 1621 begann nicht gerade in
bester Stimmung. König Jakob hatte es einige Jahre lang nicht
einberufen, obwohl diese Institution seit Jahrhunderten daran
gewöhnt war, regelmäßig konsultiert zu werden. Es fühlte sich
vernachlässigt. Falls einige der Lords die habgierigen Favoriten
des Hofes angreifen wollten, konnten sie mit der Unterstützung der
Commons rechnen. Kaum war das Parlament in Westminster versammelt,
fand es einen Weg, den König daran zu erinnern, wer es war.
»Impeachment«, berichtete Henry. Das Verfahren, bei dem das
House of Commons als Ankläger und das House of Lords als Richter
fungierte. »Seit den Plantagenets hat das kein Parlament mehr
versucht.«
Tatsächlich gingen die Commons sehr raffiniert vor. Sie
klagten nicht Buckingham selbst an, sondern zwei weniger mächtige
korrupte Günstlinge; und das Schöne am Impeachment war, daß Commons
und Lords ohne die Zustimmung des Königs eine Anklage durchsetzen
konnten. Die Botschaft war klar: Es war Zeit, dem Parlament
freundlich entgegenzukommen. Doch der gebildete, aber exzentrische
König Jakob glaubte, daß Monarchen, da von Gott gesalbt, auch von
Gottes Gnaden regierten – was hieß, daß seine Untertanen ihm
gehorchen mußten, weil er kein Unrecht tun konnte. Das war Gottes
Gebot, erklärte er, und sei immer so gewesen – eine Behauptung, die
jeden Monarchen aus dem Hause Plantagenet hätte schallend lachen
lassen. Die Tudorkönige hatten immer darauf geachtet, daß sie im
Parlament ihre Berater bei sich hatten, die die Debatten steuerten,
und Elisabeth I. war eine Meisterin des Kompromisses gewesen. König
Jakob jedoch erwartete nur Gehorsam. Das House of Commons verfaßte
ein Protestschreiben. »Und er hat es zerrissen«, berichtete
Henry.
»Was wird nun geschehen?« fragte Julius ängstlich.
»Nichts. Das Parlament ist verärgert, aber es weiß, daß der
König alt wird.«
Als Martha und Dogget wieder nach London kamen, warteten sie
ängstlich, ob ihr unbekannter Wohltäter, wenn er von ihrer Rückkehr
erfuhr, sein Geld einfordern würde. Aber er gab kein Zeichen von
sich, geheimnisvoll wie eh und je. Die nächste Frage war, was sie
nun tun sollten. Gideon Carpenter löste das Problem schließlich.
Sein Vater Cuthbert war plötzlich gestorben, daher schlug er vor,
er und Dogget sollten sich zusammentun. Sie fanden eine Wohnung in
der Nähe und einen kleinen Hof mit Werkstatt auf dem Garlic Hill,
und hier begannen sie, alles zu reparieren, was gebracht
wurde.
So kam es, daß Sir Jakob an kirchlichen Feiertagen, wenn er
sie zum Gottesdienst nach St. Lawrence-Silversleeves gehen sah,
voll ohnmächtigen Abscheus auf die verfluchte Familie starrte.
Julius, der sah, wie sein Vater vor Wut zitterte, wenn er sie sah,
konnte daraus nur schließen, daß Martha und ihre Familie wahrhaftig
sehr gottlos sein mußten. Dennoch hatte er an dem Tag, als er aus
der Stadt heraus über den Holborn zur Kirche St. Etheldreda ging,
nichts Böses gegen sie im Sinn.
In den letzten Jahrzehnten hatte sich hier einiges verändert.
Der alte Bischofssitz war nun die Residenz des spanischen
Botschafters, die Kirche seine Privatkapelle, und der Garten
daneben, der einem Günstling Königin Elisabeths namens Hatton
gehört hatte, trug nun diesen Namen. Gerade als Julius den Hatton
Garden erreichte, sah er die Kutsche des spanischen Botschafters
kommen, nahm höflich seinen Hut ab und verbeugte sich.
England in der Zeit der Stuarts nahm in Europa dieselbe
Position ein wie unter Elisabeth. Der Kontinent war immer noch in
ein katholisches und ein protestantisches Lager gespalten. Das
katholische Frankreich war mächtig, die Habsburger in Spanien und
Österreich waren immer noch entschlossen, die universale Kirche
Roms wieder einzusetzen; das protestantische England war eine
kleine Insel, die sich keinen Krieg leisten konnte. Jakob mußte
vorsichtig lavieren; doch anders als Elisabeth hatte er Kinder. Als
das katholische Österreich seinen deutschen Schwiegersohn aus
seinem Land geworfen hatte, überlegte Jakob: »Wenn wir Freundschaft
mit Spanien schließen, können wir sie vielleicht überreden, dem
Jungen seine Gebiete wieder zurückzugeben.« Daher gab es
vorsichtige Annäherungsversuche beim Botschafter des streng
katholischen Spanien. Den Londonern gefiel das nicht; das
Gleichgewicht der Macht bedeutete ihnen nichts. Sie hielten nichts
von katholischen Freunden.
Die kleine Gruppe von Lehrlingen, die im Hatton Garden
herumlungerte, war in ausgelassener Stimmung und deutete mit den
Fingern auf die spanische Kutsche. »Spanischer Hund!«
»Papist!« schrien sie. »Wir wollen hier keine Papisten!«
Julius dachte nicht weiter darüber nach, bis am nächsten Tag
Henry aus Whitehall kam und erklärte: »Der spanische Botschafter
ist beschimpft worden. Der König ist wütend.«
»Ich habe es gesehen«, erzählte Julius. »Es war gar nichts
dran.«
»Du hast es gesehen?« Henry griff ihn am Arm. »Hast du sie
gekannt? Du mußt es sagen. Die Schuldigen müssen gefunden und
schwer bestraft werden.«
Doch Julius zögerte, denn einer der jungen Männer war Gideon
Carpenter. Henry ermahnte Julius, es sei seine Pflicht, und wies
darauf hin, daß die Aussichten der Familie am Hof für immer dahin
seien, wenn jemand herausfand, daß Julius sein Wissen nicht
preisgegeben hatte.
Henry teilte alles dem Mayor und dem König mit, der ihm
herzlich dankte. Die betreffenden Lehrlinge wurden mit der
neunschwänzigen Katze ausgepeitscht. Einer von ihnen starb; Gideon
überlebte. Aber von diesem Tag an fühlte Julius Gideons Blick
unversöhnlich auf sich gerichtet. Martha beschränkte sich auf eine
einzige kummervolle Bemerkung, als sie ihm einen Tag nach der
Auspeitschung begegnete: »Das war nicht recht.« Und wie sein Vater
konnte Julius nur wünschen, all diese Carpenters und Doggets würden
das Kirchspiel und selbst das Land für immer verlassen.
Englische Monarchen hatten ihre Freunde immer mit Titeln
belohnt, die Stuarts jedoch verkauften sie. Das konnte lukrativ
sein. Doch anstatt die Lords mit zu vielen Neulingen zu behelligen,
verfielen die Stuarts auf eine brillante Idee: die Baronetswürde.
Ein Baronet saß nicht im House of Lords, erhielt aber den erblichen
Titel »Sir«. Nur wohletablierte Gentlemen mit hohem Einkommen
wurden akzeptiert, und Henry Ducket erwarb einen solchen Titel für
seinen Vater. Er kostete zwölfhundert Pfund. Ein Jahr später starb
König Jakob, und Sir Jakob folgte ihm bald darauf – mit einem
erblichen Adelstitel. Henry war nun Sir Henry.
In den folgenden Jahren stieg er beständig weiter auf. Karl I.
der neue König, heiratete schließlich eine katholische Prinzessin,
eine Französin, was weniger bedrohlich schien. Sie war noch sehr
jung, haßte Buckingham und fühlte sich zutiefst einsam, doch Henry
freundete sich mit ihr an. Das erwies sich als hervorragender
Schachzug. 1628 brachte ein ehemaliger Soldat Buckingham auf der
Straße um. Da der Günstling nun tot war, kamen sich Karl I. und
seine Königin so nahe wie nie zuvor. Und wie herzlich erzählte sie
ihm von »diesem liebenswürdigen Sir Henry«. Wenn der König nur
nicht mit seinen Parlamenten streiten würde. Doch Karl I. glaubte
wie sein Vater an sein Gottesgnadentum. Als er Geld verlangte,
wurde ihm fast nichts bewilligt, und der junge König wandte sich um
eine Anleihe an den Landadel. »Sie haben sogar einige Leute
eingesperrt, die sich geweigert haben, etwas zu leihen«, berichtete
Henry. Bald legte das Parlament eine Schrift vor, in der es den
König daran erinnerte, daß er seit der Magna Charta niemanden
illegal einsperren durfte und auch nicht das Recht hatte, Steuern
ohne Zustimmung des Parlaments zu erheben. Die nächste
Zusammenkunft Anfang 1629 führte zu einer Krise. Einige jüngere und
verwegenere Mitglieder des Unterhauses erklärten die
Protestation of the Commons gegen den König. »Eines kann ich
dir sagen«, informierte Henry Julius, »das Parlament wird nicht
mehr einberufen werden. Der König wird ohne es regieren.«
Im Jahre 1630 hatte Edmund Meredith
bedeutendere Dinge im Kopf als das Parlament. Mit ihm in seinem
Haus in der Watling Street lebten eine Haushälterin, ein
Stubenmädchen und ein Junge. Sein Einkommen war ausreichend; seine
Predigten außerhalb des Kirchspiels brachten ansehnliche
Zusatzvergütungen. Sir Henry, erfreut darüber, daß er einen
Gentleman als Vikar hatte, lud ihn einmal im Monat zum Dinner ein,
was Edmund sehr genoß. Dennoch wollte er fort.
Meredith wurde es ein wenig langweilig. Er hatte schließlich
Erfolg gehabt, doch nun fühlte er sich bereit zu Höherem. Er
konnte, wie er meinte, immer noch mehr in der Gesellschaft
darstellen; und er hatte sein Auge auf eine hohe Stelle geworfen.
John Donne lag im Sterben, und wenn er nicht mehr lebte, würde eine
Stelle frei – als Dekan der St.-Paul'sKathedrale. Wichtig war nicht
der alte Steinkoloß, sondern der Name und die Predigten.
Man predigte in der Kathedrale, aber aufgrund einer
eigentümlichen Tradition, die auf die frühen sächsischen Zeiten
zurückging, wurden die größten Predigten im Freien abgehalten, auf
der Kanzel im Kirchhof, die St. Paul's Cross genannt wurde. Für den
Mayor und die Aldermen wurden Holztribünen aufgestellt, und riesige
Menschenmengen versammelten sich. Es war die bedeutendste Kanzel
Englands. Aber wie konnte er diese Stelle bekommen? Sir Henry hatte
mit dem König gesprochen, aber die Person, auf die Meredith
wirklich Eindruck machen mußte, war der neue Bischof von London.
Und das war nicht leicht.
William Laud war ein kleiner Mann mit rotem Gesicht, einem
adretten grauen Geißbärtchen und einem eisernen Willen. Im Hinblick
auf die Kirche stimmte er vollkommen mit seinem König überein. »Es
gibt in London zu viele Presbyterianer und Puritaner; sogar der
halbe Klerus ist davon angesteckt.« Bald war Edmund klar, was er
tun mußte, wenn er Lauds Billigung erreichen wollte.
Der erste Schritt war, die Kirchspielversammlung zu
überzeugen. Darin sah er keine allzu große Schwierigkeit. Sir Henry
und Julius gehörten ihr nun beide an und leiteten das Kirchspiel in
vollkommener Harmonie, aber zu seinem Erstaunen schien Julius
beunruhigt. »Ist das nicht Papisterei?« fragte er.
»Überhaupt nicht«, versicherte ihm Meredith. »Der König
wünscht es, und der König ist kein Papist.«
England war protestantisch, doch was bedeutete das? Auf
europäischer Ebene, daß das Inselkönigreich zum protestantischen
Lager gehörte, damit es nicht von den katholischen Mächten
verschlungen wurde. Im Lande selbst, daß viele Engländer, vor allem
Londoner, Puritaner waren. Aber es blieb die Tatsache, daß die
nationale Kirche, wenn auch ein wenig modifiziert durch Königin
Elisabeth, in ihren Lehren immer noch diejenige war, die der
katholische Renegat Heinrich VIII. errichtet hatte.
Gute Mitglieder der anglikanischen Kirche konnten sagen, sie
seien protestantisch, und auch daran glauben; doch die Kirche König
Heinrichs und Königin Elisabeths war eine reformierte katholische
Kirche. Losgesagt vom Papst, abtrünnig, laut Rom sogar häretisch –
aber katholisch.
König Karl I. von England glaubte an den Kompromiß, der unter
Königin Elisabeth erarbeitet worden war – daß die englische
Staatskirche einen gereinigten Katholizismus darstellte und nun die
anglikanischen Bischöfe die wahren Nachfolger der Apostel waren.
Das Gesetz besagte, daß jedes Mitglied eines Kirchspiels am Sonntag
zur Messe gehen oder Bußgeld zahlen mußte. Nur wenige
Kirchspielversammlungen im pragmatischen England erzwangen dies
wirklich; in St. Lawrence-Silversleeves verschloß man die Augen.
König Karl I. jedoch erwartete Gehorsam, und auch Bischof Laud
legte Wert auf Zeremonien.
Eines Sonntags, drei Wochen später, waren Martha und ihr Neffe
Gideon überrascht, als sie vom Büttel des Stadtbezirks aufgesucht
wurden. Sie hätten morgen in der Kirche zu erscheinen, wurde ihnen
mitgeteilt, auf Geheiß Sir Henrys und der Kirchspielversammlung.
»Wir bezahlen die Buße«, bot Martha an.
»Bußgelder werden nicht akzeptiert«, erwiderte der
Büttel.
Das Kirchspiel St. Lawrence-Silversleeves umfaßte nicht einmal
hundert Haushalte, dennoch herrschte in der kleinen Kirche am
nächsten Tag ein solches Gedränge, daß die meisten Leute stehen
mußten. Gespannte Erwartung lag in der Luft. Martha bemerkte den
Unterschied sofort. »Der Altar«, flüsterte sie Gideon entsetzt zu.
»Schau!«
Seit mittlerweile Jahrzehnten stand der Altar in St. Lawrence
nach protestantischer Art vor dem kleinen Kirchenschiff. Heute
jedoch hatte man ihn in die Kanzel gestellt, die frühere Domäne des
Priesters, entfernt vom Kirchenvolk. Doch das war nichts im
Vergleich zu dem, was anschließend kam: die Ankunft von Reverend
Edmund Meredith.
Der Vikar von St. Lawrence-Silversleeves hatte bisher aus
Ehrerbietung vor König Jakob den traditionellen Chorrock oder
Vespermantel des Priesters getragen, aber stets so einfach und
nüchtern, daß sich Sir Jakob nie beschwert hatte. Nicht so heute.
Es sah aus, als sei ein plötzlicher Regen aus Gold über Edmund
gekommen. Die Kurzwarenhändler Fleming hatten ihm für nicht weniger
als vierzig Pfund Goldfaden und Ziermünzen für sein Gewand
verkauft. Die Gemeinde hielt den Atem an. Meredith, in diese
papistische Erscheinung verwandelt, hielt den Gottesdienst ab. Dann
stand er auf, um zu predigen.
»Ich will euch von zwei Schwestern erzählen«, verkündete er,
»ihre Namen sind Demut und Gehorsam.« Dann setzte er voller Gift
zum Angriff an. Mit jeder Seite des Puritanismus, die Martha lieb
war, setzte er sich unbarmherzig auseinander. Bischöfe, erinnerte
er sie, waren ihre geistlichen Oberhäupter, wie Könige regierten
sie von Gottes Gnaden. »Es ist der Wille des Bischofs, daß in
Zukunft alle Gemeinden an jedem Sonntag ihre Staatskirche besuchen.
In diesem Kirchspiel wird diese Regel durchgesetzt.« Streng
funkelte er sie an und befahl: »Hört also das Wort Gottes! Seid
demütig und gehorcht!«
Normalerweise stand Edmund an der Kirchtür, um sich von seinen
Gemeindemitgliedern zu verabschieden. Heute stand die
Kirchspielversammlung an seiner Seite. Julius sah sie alle
herauskommen und wollte gerade seinem Bruder nach Hause folgen, als
er sich Gideon gegenübersah, in dessen Gegenwart er sich stets
unbehaglich fühlte. Der junge Mann war streng religiös geworden,
und im letzten Jahr hatte er geheiratet. Aber die schreckliche
Auspeitschung konnte nie vergessen werden.
»Eure Kirchspielversammlung duldet solche Papisterei«, meinte
Gideon ruhig. »Aber sagt mir, Julius Ducket: Durch wessen Befugnis
tagt die Kirchspielversammlung?« Julius wußte kaum, was er sagen
sollte. »Wenn die Gemeinde die Kirchspielversammlung gewählt hat«,
fuhr Gideon fort, »sollten wir dort gottesfürchtige Männer und
einen gottesfürchtigen Pfarrer haben. Ihr sitzt in der
Kirchspielversammlung, als sei es von Gottes Gnaden. Ihr habt kein
Recht dazu. Ihr seid uns aufgezwungen.« Er drehte sich um und
ging.
Als Julius später Henry davon erzählte, reagierte dieser
verächtlich. »Vielleicht sollte dieser Bursche noch einmal
ausgepeitscht werden.« Aber Julius war verunsichert.
Meredith erhielt drei Tage später ein Ersuchen vom Sekretariat
Bischof Lauds: Der Bischof sei interessiert, seine Predigt zu
lesen. Ob er vielleicht eine saubere Abschrift habe?
Als er zwei Wochen später eines Abends ein Klopfen an seiner
Tür hörte, dachte er, es könnte ein Bote dieser erlauchten
Persönlichkeit sein, und war daher gelinde überrascht, als seine
Haushälterin ihm statt dessen ankündigte, eine Lady wünsche ihn zu
sprechen. »Eine Mrs. Wheeler.«
Einen Augenblick später stand er Jane gegenüber. Es war
unverkennbar sie. Die immer noch gutaussehende Frau vor ihm wirkte
jugendlich wie das Mädchen, das er gekannt hatte, obwohl ihre
Gestalt fälliger war. Ihr Seidenkleid ließ darauf schließen, daß
sie eine wohlhabende Frau war. Als er sie anblickte, schien es ihm,
als stehe vor ihm die lange verlorene Liebe seines Lebens. Und
Jane, die Meredith' immer noch attraktives Gesicht betrachtete,
fragte sich im stillen, ob sie ihn heiraten sollte.
Sie war nicht mit dieser Absicht nach London gekommen. Ihre
Ersparnisse aus Virginia reichten aus, daß sie angenehm leben
konnte, und nur wenn sie einen respektablen Mann finden konnte,
würde sie vielleicht noch einmal heiraten. Sie wußte, daß sie vor
allem eines wollte: Frieden.
Sie hatte angenommen, Meredith habe sich entweder eine reiche
Frau gesucht oder irgendeine Beschäftigung am Theater angenommen,
aber hier stand er, ein Geistlicher, einer der bekanntesten
Prediger der Stadt – attraktiv, respektabel und erstaunlicherweise
unverheiratet. Sie spürte eine Welle des alten Gefühls, doch die
Zeit hatte einen Panzer um ihr Herz gelegt.
»Du bist am Leben.« Er starrte sie immer noch verwundert an.
»Ich habe es immer geglaubt. Du bist verheiratet?«
»Ich bin Witwe. Gut versorgt. Mein Gatte Wheeler hatte eine
Pflanzung in Virginia, und wir hatten keine Kinder.«
»Ach ja.« Er lächelte. Sie sah, daß er denselben Gedanken
gehabt hatte wie sie.
»Eines würde ich gerne wissen«, meinte er nach langem
Schweigen. »Als du verschwunden bist, konntest du nicht unmittelbar
nach Virginia gegangen sein, da es die Kolonie damals noch nicht
gab.« Er sah ein wenig verlegen drein. »Ich hatte mich gefragt… Da
war ein Pirat… Ein Mohr…«
Jane hatte nicht beabsichtigt, Orlando zu erwähnen. Sie hätte
nur zu lügen brauchen. Doch sie wollte ihn ein wenig auf die Probe
stellen.
»Ich bitte dich, daß dies ein Geheimnis zwischen uns bleibt«,
sagte sie. »Aber wenn du es wissen willst, es stimmt. Er hat mich
entführt. Ich hatte keine Wahl. Niemand weiß es, und es ist lange
her.«
»Niemand«, murmelte er, »braucht es je zu wissen.« Jane fragte
sich, ob es der Gedanke war, daß ein Mohr sie körperlich besessen
hatte, der Edmund zurückzucken ließ?
Doch was in Edmunds Kopf vorging, war weit ausgewogener.
Sicherlich war ihm der Gedanke an den Mohren abscheulich, doch da
dies lang vorbei war, auch seltsam erregend. Aber konnte der Dekan
von St. Paul's eine Frau haben, die ein Mohr berührt hatte? Die
Vorstellung erfüllte ihn mit Entsetzen. Und als er an John Dogget
dachte, der peinlicherweise gerade in seinem Kirchspiel lebte,
schloß er traurig: »Aber man könnte es argwöhnen.«
Sie erriet, daß es vorbei war; ein paar Minuten später
trennten sie sich mit Beteuerungen der Hochachtung. In der Watling
Street traf sie zu ihrem Erstaunen John Dogget.
Während der langen ruhigen Jahre nach 1630 hatte Julius Ducket
eine brillante Idee. Sie könnte den König für immer vom Parlament
befreien.
Das Ende der Parlamente? Für jeden frei geborenen Engländer
war ein solcher Gedanke zwar ein Greuel, aber einer Reihe von
Leuten am Hof Karls I. vor allem seiner französischen Gattin
Henrietta Maria, erschien das wünschenswert und ganz natürlich.
Europas katholische Monarchien begannen zentralisierte
absolutistische Staaten zu errichten, ohne Demütigungen durch
emporgekommene Parlamente. »Auch wir wollen eine solche Monarchie
errichten«, beschlossen Karl I. der an das Gottesgnadentum glaubte,
und Henrietta Maria von Frankreich.
Soweit funktionierte alles. In England herrschte Frieden;
König Karl gelang es einigermaßen, mit seinem Einkommen
hauszuhalten; das Parlament hatte nichts zu sagen. 1633 wurde
Bischof Laud Erzbischof von Canterbury und begann mit einer
landesweiten strengen Durchsetzung der anglikanischen
Episkopalkirche, die »gründlich« sein würde, wie er versprach.
»Gründlich« wurde bald zur Parole für die gesamte Herrschaft des
Königs. »Die Puritaner hassen ihn, aber sie können ja immer noch
nach Amerika auswandern«, bemerkte Henry. »Laud ist der beste
Freund, den die Massachusetts Company je hatte.« Seit 1630, als ein
energischer Gentleman namens Winthrop dorthin ausgewandert war,
hatte die kleine puritanische Kolonie in Amerika rasch
expandiert.
Für Julius waren es glückliche Jahre. Er hatte ein fröhliches
blondes Mädchen aus einer ebenbürtigen Familie geheiratet, und bald
kamen Kinder. Henry, der bisher keinen Wunsch gezeigt hatte zu
heiraten und oft in Bocton war, hatte vorgeschlagen, sie sollten
das große Haus hinter Mary-le-Bow nehmen. Das Leben in London war
angenehm. Daß kein Parlament einberufen wurde, bedeutete zumindest,
daß es keine neuen Steuerforderungen gab. Eine Atmosphäre von
Wohlstand und Fortschritt herrschte in der Stadt, und außerhalb der
Mauern hatten zwei Adlige, Lord Leicester und Lord Bedford,
begonnen, auf einem Teil ihres Landsitzes große, um viereckige
offene Plätze gruppierte Häuser mit klassischen Fassaden errichten
zu lassen. Eines dieser Projekte – Covent Garden – kam sofort in
Mode, und Henry zog dort in ein schönes Haus.
Nach Henrys Auszug wurde Julius Vorsitzender der
Kirchspielversammlung, und auch hier versuchte er, ein fröhlicheres
Regime zu errichten. Meredith war es nicht gelungen, Dekan von St.
Paul's zu werden, und damit schien auch sein Reformeifer etwas
erlahmt zu sein. Die Messen in St. Lawrence-Silversleeves wurden
immer noch auf Lauds hochkirchliche Art zelebriert, doch Julius
erklärte Martha und ihrer Familie insgeheim, es würde genügen, wenn
sie einmal im Monat teilnahmen.
Eine Überraschung war es, als Edmund im Alter von fast sechzig
Jahren Matilda heiratete, eine respektable, dreißigjährige Jungfer,
Tochter eines Rechtsanwalts, die sich – selbst religiös – in seine
Predigten verliebt hatte. Ein Jahr später bekamen sie ein
Kind.
König Karls Herrschaft brachte den Duckets materiellen Gewinn
ein. Sie hatten dem König mehrmals persönliche Anleihen zu zehn
Prozent gewährt, die stets zurückgezahlt wurden. Noch besser, Karl
I. verpachtete die Abgaben. Für eine pauschale Summe hatte Henry
das Recht erworben, die Steuern für mehrere Luxusgüter
einzutreiben. »Wir machen sechsundzwanzig Prozent Profit«, prahlte
er vor Julius. »Anstatt die Parlamentssteuern zu bezahlen, machen
wir Profite, indem wir Geld beschaffen.«
Tatsächlich hatte dieses System nur eine Schwäche; es
funktionierte nur, solange kein nationaler Notstand eintrat. Bei
einem bewaffneten Konflikt würde der König Steuern fordern. »Und
das würde heißen, ein Parlament einzuberufen«, sorgte sich Henry
manchmal. »Was können wir tun, damit es nie dazu kommt?«
Dieses Problem löste Julius Ducket. Er stand auf der London
Bridge. Es war ein Sommerabend, und als er stromaufwärts auf die
sinkende Sonne über Westminster blickte, fiel ihm auf, daß die
Strahlen die gesamte Wasseroberfläche glitzern ließen, wie einen
riesigen Strom aus Gold. Gerade als er dachte, wie sehr das zu
einer so geschäftigen Handelsstadt paßte, kam ihm die Idee.
Natürlich: ein Strom aus Gold. Wenn man den Finanzbedarf des
Königs im Laufe der letzten zwölf Jahre betrachtete, fiel zuerst
die Höhe auf. Einhundert- oder zweihunderttausend Pfund – solche
Summen konnten einen Zusammenstoß mit dem Parlament auslösen. Aber
waren sie wirklich so riesig für das mächtige, handeltreibende
London? Eigentlich nicht. Zusammengenommen belief sich das
verfügbare Vermögen der Stadt auf zahllose Millionen. Selbst des
Königs Bedarf im Notfall konnte von London leicht aufgebracht
werden ohne Rückgriff auf das Parlament. London war ein Strom aus
Gold. Doch warum war London so zögerlich, Anleihen zu geben? Es war
nicht so, daß der König keine Zinsen zahlte. Das wahre Problem lag
in der Art der Anleihen und ihrer Rückzahlung.
Anleihen an die Krone waren fast immer für ein bestimmtes
Projekt, das den Londonern nicht immer gefiel. Zudem waren die
Anleihen normalerweise kurzfristig und mußten innerhalb eines
halben Jahres aus den Kroneinnahmen zurückgezahlt werden – die
Zinsen konnten also nie sehr hoch werden. Aber warum sollte man das
so machen? Geld war Geld; ob man es in eine Anleihe an den König
oder in einen Anteil an einer der großen Aktiengesellschaften
investierte, war dasselbe. Ihm kam ein weiterer Gedanke: Wenn ich
Anteile einer Kapitalgesellschaft kaufen kann, verspricht mir das
ein regelmäßiges Einkommen, warum dann nicht auf ähnliche Art
Anteile an den Schulden des Königs kaufen? Wenn man sein Geld
zurückwill, könnte man die Anteile an einen anderen verkaufen, der
dann künftig die Zinsen bekäme. Es gab keinen Grund, warum der
König das Kapital vor einem Zeitraum von etwa zwanzig Jahren
zurückzahlen sollte, solange er die Zinszahlungen leisten konnte.
Der Fluß des Geldes, wie ein goldener Strom durch die Stadt. Julius
Ducket hatte soeben die Staatsschulden erfunden.
Es war ein strahlender Tag, als Sir Henry Ducket seinen Bruder
zum König mitnahm. »Du mußt der Familie Ehre machen, wenn du dem
König vorgestellt wirst«, hatte Henry gemahnt. Daher prangte Julius
nun statt seiner üblichen eher einfachen Kleidung in einem
hellroten Rock mit roter Taille und einem Umhang. Anstelle einer
einfachen Halskrause trug er einen riesigen weichen Spitzenkragen,
der bis über die Schultern hing; seine weichen Lederstiefel hatten
Stulpen am Knie, und an seinem Hut mit riesiger Krempe steckte eine
große, gebogene Straußenfeder. »Kavalierstil« wurde diese Mode in
England genannt, und als zwei Kavaliere fuhren die Duckets die
Themse hinunter nach Greenwich.
»Du hast nichts zu fürchten«, beruhigte Henry ihn, als sie um
den alten Palast am Ufer gingen, aber Julius konnte nicht umhin zu
stöhnen: »O Bruder, ich bin so ein einfacher Kerl.«
Kein englischer Hof, nicht einmal unter König Heinrich, hatte
je eine solche Schar von großen Künstlern angezogen. Die Hofmasken
waren Meisterwerke. Große europäische Künstler wie Rubens und van
Dyck kamen und beschlossen zu bleiben. Trotz seiner bescheidenen
Mittel sammelte der König Gemälde – Tizian, Raffael, die flämischen
Meister. Der Hof war kosmopolitisch. Als sie den Grashang hinter
dem Palast hinaufschritten und sich umdrehten, lag vor Julius ein
so schöner Anblick, daß er nur hervorstoßen konnte: »Lieber Gott,
war jemals etwas vollkommener?«
Das Queen's House in Greenwich war gerade fertiggestellt
worden. Da es von den Tudorgebäuden vom Fluß abgeschirmt wurde,
hatte Julius es zuvor kaum bemerkt. Sein Architekt, der große Inigo
Jones, hatte bereits ein anderes klassisches Meisterwerk vollendet,
das Banqueting House in Whitehall, dessen Decke in diesem Jahr von
Rubens bemalt worden war.
Das Queen's House war vollkommen. Es stand allein am äußeren
Wall des alten Palastgartens und blickte auf den Park. Diese
leuchtendweiße Villa im italienischen Stil, nur zwei Stockwerke
hoch, mit drei übereinanderliegenden Fensterpaaren in der Mitte und
zwei an jeder Seite, bot einen klassisch perfekten Anblick.
König Karl I. kam auf sie zu. Gekleidet in einen Rock aus
gelber Seide, trug er ebenfalls einen breitkrempigen Hut, den er in
Antwort auf ihre hastigen Verbeugungen höflich lüftete. Er wurde
von einer Gruppe Gentlemen und einigen Ladys in langen schweren
Seidenkleidern begleitet. Er ging graziös, einen Stock mit goldenem
Knauf in der Hand. Doch als er sie erreicht hatte, stellte Julius
fest, daß er klein war; er reichte Julius kaum bis zur Schulter.
Dennoch war er die aristokratischste Persönlichkeit, der Julius je
in seinem Leben begegnet war. »Wir wollen hier sprechen«, meinte er
freundlich und führte die beiden Männer zu einem Rasenhügel, wo
eine Eiche Schatten bot und er höflich stehenblieb, um sie
anzuhören.
Zuerst verhaspelte sich Julius ein wenig, als er seine Idee
für die königlichen Anleihen erläuterte. Doch allmählich gewann er
mit Hilfe des Königs Selbstvertrauen. Wenn es Julius aus Nervosität
nicht gelang, einen Punkt klar darzustellen, bat König Karl I.
liebenswürdig: »Vergebt mir, Master Ducket, ich habe nicht ganz
verstanden…« Dieser kleine, höfliche, fast schüchterne Mann hatte
etwas fast Magisches an sich, das ihn von allen anderen abhob – den
königlichen Charme der Stuarts. Als Julius schließlich geendet
hatte, ertappte er sich bei dem Gedanken: Dieser Mann ist wirklich
nicht wie andere Menschen; er ist von Gott mit Königswürde
ausgezeichnet. Selbst wenn er unrecht hätte, er ist unbestreitbar
mein gesalbter König, und ich werde ihm folgen.
König Karl I. der aufmerksam bis zum Ende zugehört hatte,
stimmte zu, daß er gute Beziehungen zur Stadt aufrechterhalten
sollte, und diese neue Art, die Londoner zu Anleihen zu bewegen,
machte ihn neugierig. »Es wird weiter darüber gesprochen werden«,
versprach er Julius. »Wir fürchten Uns nicht vor Neuerungen. Obwohl
Wir natürlich auch bedenken müssen, was bereits innerhalb Unserer
Hoheitsrechte liegt.« Beide Brüder hatten das Gefühl, es sei ein
sehr zufriedenstellender Tag gewesen.
Daher war Julius ein wenig überrascht, als er im Herbst, ohne
noch einmal etwas über seine Vorschläge gehört zu haben, erfuhr,
daß der König von London und von den größeren Häfen Schiffsgeld
verlangte. Dieser Beitrag der Küstenstädte zu den Kosten der Flotte
war eine alte und legale Steuer, aber unpopulär. Vor Weihnachten
erhob König Karl I. sie auch von allen Inlandsstädten. »Das ist
unerhört«, bemerkte Henry. »Auch wenn der König behauptet, das
liege innerhalb seines Hoheitsrechts.« Anfang 1635 belangte König
Karl I. durch den königlichen Gerichtshof der Sternkammer die Stadt
London wegen Mißwirtschaft in ihrer Ansiedlung in Ulster. »Er hat
alles konfisziert und der Stadt siebzigtausend Pfund Bußgeld
auferlegt. Das ist auch eine Art, Geld aufzubringen«, stellte Henry
bitter fest. Ein paar Wochen später fragten die beiden Beauftragten
des Königs, wieviel die Stadt bezahlen würde, um sich eine
Begnadigung zu sichern. Die Stadt tobte vor Wut. »Es ist auf jeden
Fall raffiniert«, meinte Henry. »Der König bewegt sich immer
innerhalb seiner Hoheitsrechte.«
Aber Julius blieb es ein Rätsel. Wie war es möglich, daß
dieser sanfte König, nachdem er seinen Vorschlag angehört und
zugestimmt hatte, daß es wichtig sei, Londons Wohlwollen zu
erhalten, so etwas tat? Die Hälfte der Kaufleute in der Stadt
schwor nun, daß sie ihm nie wieder etwas leihen würden.
Was für ein Glück, dachte Martha, daß diese
respektable Mrs. Wheeler ein Auge auf ihren Gatten haben würde,
während sie getrennt waren. Dogget hatte sie vor Jahren miteinander
bekannt gemacht, als sie sich in Cheapside getroffen hatten. »Diese
Lady kommt aus Virginia, Martha«, hatte er erklärt. Sie hatte
erfahren, daß Mrs. Wheeler sich in Blackfriars niedergelassen
hatte, und ein paar Tage später hatte sie bemerkt, wie Meredith
sich höflich verbeugte, als sie vorbeiging. Die Lady mußte also
achtbar sein, so wenig Martha Meredith auch mochte.
Mrs. Wheeler war eine gute Zuhörerin. Wenn sie sprach, so
immer vernünftig und zur Sache. Sie war eine Freundin der ganzen
Familie geworden. Als Doggets kleinerer Sohn krank wurde,
unterstützte sie Martha bei den Nachtwachen an seinem Bett. Als
Marthas Tochter Schneiderin werden wollte, brachte ihr Mrs. Wheeler
mit unerwartetem Geschick fast alles bei, was sie brauchte. Einmal,
als Martha sie gefragt hatte, ob sie daran denke, wieder zu
heiraten, hatte Mrs. Wheeler nur gelacht: »Ich komme gut ohne einen
Mann aus.« – »Ein Ehemann bedeutet Pflichten«, stimmte Martha
zu.
Aber vor allem liebte sie es, mit Mrs. Wheeler über Amerika zu
sprechen, denn dieses Thema konnte sie stundenlang beschäftigen.
Immer wenn sie sich höflich einige Details aus Virginia angehört
hatte, fragte sie: »Und was habt Ihr über Massachusetts gehört?«
Das märchenhafte, gelobte Land. Der Traum von der gottesfürchtigen
Gemeinde, der leuchtenden Stadt, war ihr nie aus dem Sinn gegangen.
Und in den letzten Jahren sahen viele Engländer in diesem Traum
nicht mehr nur eine Hoffnung, sondern eine erfreuliche Realität.
Die Gründe dafür waren Laud und Winthrop.
Erzbischof Laud hatte London mit jedem Jahr stärker unter
seine Herrschaft gezwungen. Ein Kirchspiel nach dem anderen wurde
auf Linie gebracht; viele Geistliche resignierten. Nicht nur das:
Er war weltlich. Wenn er nach London gefahren kam, so zusammen mit
einem Gefolge vornehmer Gentlemen, Lakaien ritten ihnen voraus. Er
saß im Kronrat des Königs; er hatte die eigentliche Macht über die
Schatzkammer. Doch selbst dieser weltliche Prunk schockierte Martha
nicht so sehr wie sein Sakrileg.
»Heiligt den Sabbat.« Jeder gute Puritaner tat das. Doch der
König und sein Bischof erlaubten Sport und Spiele, die Ladys
durften elegante Kleider tragen; einmal hatte Martha sogar junge
Leute gesehen, die um einen Maibaum tanzten, und sich bei den
Kirchenoberen beschwert. Niemand hatte sich darum gekümmert.
Kein Wunder, daß sie und zahllose andere Puritaner sich nach
einer Möglichkeit des Entkommens sehnten, wenn sie solche Frevel
mit ansehen mußten, und Winthrop bot ihnen eine. Die Kolonie in
Massachusetts wuchs stetig und noch schneller als die in Virginia.
Mit jedem zurückkehrenden Schiff kam die Nachricht: »Es ist
wirklich eine gottesfürchtige Gemeinde.«
Martha sehnte sich danach zu gehen; 1634 waren bereits viele
ihrer Freunde fort. 1636 sah sie in Wapping eine kleine Flottille,
die nach Amerika aufbrach. Die tröpfelnde Emigration war zu einer
Flut geworden. Laud und der König mochten denken, daß sie nur ein
paar Unruhestifter verloren, aber tatsächlich brachten die Schiffe
der Puritaner nicht weniger als zwei Prozent von Englands gesamter
Bevölkerung an die Ostküste Amerikas.
Manchmal sprach Martha ihre Familie darauf an, doch Dogget
brummte, sie seien zu alt, obwohl sie beide erst in den Fünfzigern
waren und wesentlich ältere Leute die Reise unternahmen. Doggets
älterer Sohn, der die Berichte über den erstaunlich ertragreichen
Kabeljaufang hörte, erklärte: »Wenn ihr geht, komme ich mit.« Die
Person, die Martha zurückhielt, war Gideons Frau.
Martha hatte immer versucht, das Mädchen zu lieben, konnte
aber ein gewisses Gefühl der Enttäuschung nicht ganz überwinden.
Gideons Frau hatte ihm nur Mädchen geschenkt. Mit monotoner
Regelmäßigkeit kamen sie alle zwei Jahre. Getauft wurden sie auf
die frommen Namen, die den Puritanern so gefielen. Zuerst Charity,
dann Hope, dann Faith, dann Patience und schließlich Perseverance.
Am schwierigsten zu ertragen war ihre Krankheit. Damit verhielt es
sich seltsam. Sie schien immer dann auszubrechen, wenn Martha und
Gideon das Thema Amerika ansprachen. Eines Tages bemerkte Mrs.
Wheeler zu Martha: »Sie ist genau krank genug, um nicht zu
reisen.«
Dann gebar Gideons Frau zu jedermanns Überraschung Ende 1636
einen Jungen. Die Freude der Familie war so groß, daß sie nach
einem Namen suchten, der ihre Dankbarkeit gegenüber dem Herrn
ausdrücken sollte. Martha fand schließlich eine verblüffende
Lösung. Eines Wintermorgens hielt Meredith das Kind über das
Taufbecken und verkündete: »Ich taufe dich auf den Namen O Be
Joyful.«
Statt eines Namens wählten die Puritaner manchmal einen ganzen
Satz aus ihrer geliebten Bibel; ein deutlicher Ausdruck der Treue
zum Puritanertum. Und so wurde Gideons Sohn für die Welt O Be
Joyful. Gideons Frau konnte sich nun entspannen. Die ersten vier
Jahre im Leben des Säuglings waren bei weitem die gefährlichsten,
und sie wußte sehr gut, daß zumindest ein paar Jahre lang nicht
einmal Martha davon reden würde, O Be Joyful den Gefahren einer
langen Seereise auszusetzen. Gideons Frau wurde ganz gesund.
Es war eine große Überraschung für die Familie, als Martha im
Sommer 1637 eine kriminelle Handlung beging.
Master William Prynne, ein Gentleman und Gelehrter, war ein
streitbarer Mann. Vor drei Jahren hatte er ein Pamphlet gegen das
Theater geschrieben, das König Karl I. als Beleidigung seiner Frau
auffaßte, die damals in einigen Hoftheaterstücken mitspielte.
Prynne wurde verurteilt: Am Pranger spaltete man ihm die Nase und
schnitt ihm die Ohren ab.
1637 geriet Prynne erneut in Schwierigkeiten, diesmal, weil er
gegen die Entweihung des Sonntags durch Sportveranstaltungen
schrieb und darauf drängte, die Bischöfe abzuschaffen. »Er soll
wieder an den Pranger«, erklärte das Gericht des Königs, »und dann
wird er auf immer ins Gefängnis geworfen.«
»Ist denn jetzt alle freie Rede verboten?« fragten die
Londoner. Am 30. Juni war der Tag der Bestrafung, ein sonniger
Sommertag. Prynnes hochgewachsene Gestalt, bereits schrecklich
entstellt, obwohl er offensichtlich einmal ein gutaussehender Mann
gewesen war, stand stolz und ungebeugt auf dem Karren, auf dem man
ihn nach Cheapside zog. Eine riesige Menge jubelte ihm zu und warf
Blumen auf seinen Karren. Und als der abscheuliche Urteilsspruch
ausgeführt wurde, erhob sich Wutgeschrei. Martha kehrte zitternd
zurück.
Aber erst als Meredith am nächsten Sonntag in seiner Predigt
von der Schlechtigkeit solcher Leute wie Prynne sprach, die Gottes
Bischöfe ablehnten, konnte Martha nicht mehr an sich halten. Sie
stand auf und erklärte ruhig und mit fester Stimme: »Dies ist kein
Haus Gottes.« Als Dogget sie am Ärmel zog, fuhr sie fort: »Ich muß
es aussprechen.« Und das tat sie. Ihre kurze Rede in St.
Lawrence-Silversleeves blieb noch Jahre in Erinnerung, obwohl es
keine Minute gedauert haben konnte, bis der Büttel sie davonzerrte.
Es ging um Papisterei, Sakrileg, um das wahre Reich Gottes. Sie
sprach in einfachen Worten, die jeder Protestant der Gemeinde
verstand. Es war vor allem ein Satz, an den man sich erinnerte: »In
diesem Land gibt es zwei große Übel«, sagte sie. »Das eine nennt
man Bischof, das andere König.«
Es bedurfte aller Überredungskunst von Julius, sie zu retten.
Der Bischof von London wollte sie in den Kerker werfen, doch Julius
konnte nie seine Schuld gegenüber Gideon vergessen, und so erklärte
er ihr an dem Donnerstag nach ihrem Ausbruch: »Ihr müßt das Land
verlassen.«
»Dann gehe ich nach Massachusetts«, erwiderte sie. Und so
schickten sich Martha, ihre junge Tochter und Doggets beide Söhne
im Sommer 1637 an, aus London fortzugehen. Gideon und seine Familie
konnten noch nicht reisen, und da Gideon Doggets Hilfe in der
Werkstatt brauchte, kam man überein, daß auch er noch für ein oder
zwei Jahre bleiben sollte.
Es war eine sehr gemischte Gruppe, die sich in Wapping
versammelte, um an Bord zu gehen. Eine Reihe von Handwerkern, ein
Anwalt, ein Prediger, zwei Fischer, aber auch ein junger Absolvent
aus Cambridge, der vor kurzem geerbt hatte. Sein Name war John
Harvard.
Marthas letzte Worte, bevor das Schiff auslief, waren an Mrs.
Wheeler gerichtet. »Versprecht mir, daß Ihr ein Auge auf meinen
Mann haben werdet.« Und Mrs. Wheeler versprach es.
Viele Schiffen kamen im Herbst 1637 an der Küste von
Massachusetts an, auf einem davon Martha und John Harvard.
Kaum jemand beachtete den langsamen alten Kahn, der sich mit
einer Ladung Melasse durch die Karibik gepflügt hatte. Selbst der
Beamte, der seine Ankunft in Plymouth notierte, hätte seine
Existenz wohl vergessen, wenn der Kapitän des Schiffes nicht bei
seinem kurzen Zwischenaufenthalt im Hafen gestorben wäre. Das
prägte sich ein, denn obwohl das Haar des alten Seefahrers weiß
war, war seine Haut schwarz.
Orlando Barnikel starb friedlich. Die Jahre nach seiner
Seeräuberzeit hatten ihm keine große Befriedigung gebracht. Er
hatte sich nach und nach in eine ruhigere Rolle als Kapitän, den
man anheuern konnte, eingelebt. Man kannte ihn als schlauen alten
Seemann, dessen Schiffe durch jedes Wetter kamen. Wo waren seine
Söhne? Zwei waren tot, das wußte er. Einer war Korsar, Pirat im
Mittelmeer. Ein vierter – wer wußte es schon? Sie waren von ihm
fortgegangen.
Bevor er starb, wollte er noch eine letzte Schuld
zurückzahlen. Er bat um einen Anwalt und diktierte ihm unter vier
Augen ein kurzes Dokument, das er dem Maat, dem er vertraute, mit
der Anweisung übergab, er solle es Jane bringen, die er sorgfältig
beschrieb. »Gott allein weiß, ob sie noch lebt oder wie sie heute
heißt«, sagte er. »Aber ich habe sie in Virginia
zurückgelassen.«
1642
Im Glauben, die englischen Puritaner
eingeschüchtert zu haben, wandten König Karl I. und Erzbischof Laud
ihre Aufmerksamkeit nordwärts und befahlen, den strengen
Presbyterianern in Schottland das anglikanische Gebetbuch und die
anglikanische Messe aufzuzwingen. Innerhalb weniger Wochen war ganz
Schottland in Aufruhr. Und im folgenden Jahr bildeten die Schotten
eine riesige Organisation, die gewillt war, ihre protestantische
Sache zu verteidigen.
Sie waren bewaffnet und bereit, in England einzumarschieren.
Der Name dieses Bundes sollte in der schottischen Geschichte
widerhallen: der Covenant.
Karl I. rief seinen stärksten Gefolgsmann, den Earl of
Strafford, der seit einigen Jahren die unglücklichen Iren mit
eiserner Faust regierte, an seine Seite. Eine Art Streitmacht wurde
aufgeboten, aber die halbe Truppe schien auf der Seite der
Covenanter zu stehen. Nach über einem Jahr nutzloser Verhandlungen
berief Karl widerwillig ein Parlament ein. Es verlangte,
prinzipiell über Karls Regierung zu diskutieren, und so löste er
dieses sogenannte kurze Parlament nach ein paar Tagen ungeduldig
wieder auf. »Dann müssen wir Söldner anheuern«, beschloß Karl. Doch
hier begann sein größtes Problem: Geld. Er ersuchte die Stadt
London um eine Anleihe, aber niemand wollte leihen. »Wenn wir
müssen, beschaffen wir uns Einnahmen durch Münzverschlechterung«,
erklärte Strafford den Kaufleuten. Und was die Weigerung der Stadt
betraf, so schlug er dem König in Hörweite der Londoner vor:
»Verdoppelt die Forderung, Sire, und hängt ein paar Aldermen. Dann
wird es schon gehen.«
»Hätte der König nur auf mich gehört«, jammerte Julius seinem
Bruder vor, »wie er Schuldenanteile vergeben soll, dann wäre er
jetzt nicht in dieser Lage.« Aber nun war es so. Die Schotten, die
Karls Schwäche sahen, besetzten den Norden Englands und wollten
nicht weichen, bevor er nicht eine enorme Abfindung bezahlte. Karl
I. mußte daher wieder das Parlament einberufen, und im Herbst 1640
war es bereit, ihm entgegenzutreten.
»Diese Männer im Parlament«, erklärte Henry verärgert, »sind
nicht besser als Verräter. Sie machen gemeinsame Sache mit den
Schotten.« Natürlich taten sie das, doch sie waren keine Verräter,
sondern hauptsächlich Landadlige, die über Karls Regierung entsetzt
waren. Ein Unterhausabgeordneter namens Hampden hatte die Absicht,
einen Kreuzzug gegen das Schiffsgeld zu führen. Ein anderer, ein
Squire aus Ostanglien namens Oliver Cromwell – zufällig ein
entfernter Verwandter des Ministers Thomas Cromwell, der ein
Jahrhundert zuvor die Klöster aufgelöst hatte –, der zum erstenmal
im Parlament saß, war empört über den seiner Meinung nach gottlosen
Hof. Doch am bedeutsamsten von allen war ihr Anführer, ein
meisterhafter Taktiker namens John Pym.
»Pyms Überlegungen sind ganz einfach«, erklärte ein
untersetzter Gentleman Julius eines Tages in der Londoner
Warenbörse. »Solange die Schotten im Norden sitzen – und sie haben
uns versprochen, daß sie bleiben – und wir ihm hier alle Gelder
verweigern, ist König Karl in einem Schraubstock gefangen. Ihr seht
also, jetzt ist es Zeit, ihn unter Druck zu setzen.«
Und sie setzten ihn unter Druck. Das Recht des Königs auf Zoll
wurde abgeschafft; alle drei Jahre mußte das Parlament einberufen
werden; das jetzige Parlament tagte so lange, wie die Mitglieder es
für richtig hielten; die Siedlung in Ulster wurde an die Londoner
zurückgegeben. Im November wurde Strafford in den Tower gebracht,
einen Monat später folgte ihm Erzbischof Laud.
Dennoch war Julius nicht beunruhigt. Seit Jahrhunderten hatte
es immer wieder Widerstand der Parlamente gegen den König gegeben.
Die Lage war schlecht, aber nicht hoffnungslos. Die Besorgnis, die
er verspürte, wurde nicht vom Parlament verursacht, sondern von
seinem eigenen Kirchspiel St. Lawrence-Silversleeves. Es geschah,
kurz nachdem das Parlament zu tagen begonnen hatte. William Prynne
war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden, und eine riesige
Menge hatte ihn im Triumphzug durch die Straßen geführt. Die Rufe
hallten noch in Julius' Ohren wider, als man ihm sagte, Gideon
Carpenter sei an der Tür. Gideon zeigte ihm eine lange Schriftrolle
und fragte ihn: »Wollt Ihr unterzeichnen? Es ist eine Petition; wir
haben schon fast fünfzehntausend Unterschriften für die völlige
Abschaffung der Bischofskirche, ›mit Stumpf und Stiel‹.«
Julius hatte von dieser sogenannten Root and Branch Petition
gehört. Initiiert von Pennington, einem energischen Puritaner im
Gemeinsamen Rat, und unterstützt von den Gesandten der schottischen
Presbyterianer, die vor kurzem in London angekommen waren, hatte
viele, die Laud und seine Kirche haßten, unterzeichnet. Julius
konnte sich nicht vorstellen, daß König Karl I. überhaupt geruhen
würde, einen Blick auf ein solches Dokument zu werfen. »Warum
bringt Ihr das mir?« fragte er. »Als Ihr mich habt auspeitschen
lassen«, erwiderte Gideon, »habt Ihr mir keine Chance gegeben. Aber
ich gebe Euch eine.«
Wovon redete Gideon da? »Bringt es woandershin«, antwortete
Julius kurz angebunden. Ihm eine Chance geben – welch seltsame
Formulierung. Bald sollte er eine weitere kennenlernen.
Das Parlament erhob nun ein Impeachment gegen Strafford, doch
die rechtliche Begründung dieser Anklage war nicht ganz klar. »Wir
beschuldigen ihn verschiedenster Verbrechen, der König muß sein
Todesurteil unterzeichnen.«
»Wir leihen kein Geld, ehe nicht sein Kopf ab ist«, fügte die
Stadt London hinzu.
König Karl widersetzte sich. Eines Apriltages, als eine große
Menge sich versammelt hatte, um in Westminster ihre Meinung zum
Ausdruck zu bringen, traf Julius zufällig Gideon und meinte zu ihm,
gleichgültig, was man von Strafford halte, es sei wohl kaum
möglich, daß die Sache bis zur Exekution gehen werde. Der König
werde es einfach nicht zulassen.
»Welcher König?« lächelte Gideon.
»Welcher König? Es gibt nur einen König, Gideon.«
Doch dieser schüttelte den Kopf. »Es gibt jetzt zwei Könige«,
erklärte er. »König Karl in seinem Palast, und König Pym im House
of Commons. Und ich glaube, König Pym wird es so haben
wollen.«
König Pym? Der Anführer des Parlaments. Julius hatte diesen
Ausdruck noch nie zuvor gehört. »Ihr solltet vorsichtiger sein, was
Ihr sagt«, warnte er. Doch gleich am nächsten Tag kam er an einer
großen gedruckten Flugschrift vorbei, die an der Kreuzung von
Cheapside hing und deren Überschrift in kühnen Lettern verkündete:
»König Pym sagt…« Nach einer Woche hatte er es dutzendemal gehört.
Und nach einem Monat, drangsaliert vom Parlament und ohne jegliche
Mittel, war König Karl I. gezwungen nachzugeben. Strafford wurde
auf dem Tower Hill hingerichtet.
Doch es gab noch ein drittes schreckliches Wort, das Julius
lernen mußte. Den Sommer über veränderte sich wenig. König Pym
thronte sicher in seinem Parlament. König Karl I. unternahm eine
zwecklose Reise nach Norden, um einen Handel mit den Schotten zu
schließen, aber die Presbyterianer rührten sich nicht von der
Stelle. Julius und seine kleine Familie gingen im Sommer zu Henry
nach Bocton und brachten ein paar Familien mit Kindern aus dem
Kirchspiel mit – darunter Gideons Frau und Kinder –, die beim
Hopfenzupfen halfen. Sobald sie wieder in London waren, traf die
Nachricht von Unruhen in Irland ein. Menschen waren umgebracht,
Besitz niedergebrannt worden. König Pym und König Karl stimmten
überein, daß man Truppen senden müsse, um die aufsässige Provinz zu
unterwerfen. Aber damit endete die Übereinstimmung. »Ich werde die
Truppen befehligen«, erklärte König Karl I. »Unter keinen
Umständen«, antwortete das Parlament, »werden wir für Truppen
bezahlen, die der König dann gegen uns einsetzen wird.«
»Es genügt nicht, die Macht des Königs einzuschränken«,
argumentierte das Parlament weiter, »wir müssen ihn kontrollieren.«
Jede Woche wurde ein neuer und noch radikalerer Vorschlag erhoben.
»Die Armee muß sich dem Parlament allein verantworten«, erklärte
man. »Und wir sollten ein Vetorecht gegen die Minister des Königs
haben.« Und: »Keine Bischöfe mehr.« Im November sammelte Gideon
Unterschriften für eine weitere Petition.
»Ich war heute mit einigen der besonneneren
Parlamentsmitglieder zusammen«, erzählte Henry Julius eines Abends.
»Sie wollen den König kontrollieren, aber sie befürchten, daß Pym
sie zur Herrschaft des Pöbels führt.« Am Ende des Monats, als Pym
und seine Anhänger dem Parlament ihre sogenannte Grand
Remonstrance, die eine parlamentarische Kontrolle von Kirche und
Staat forderte, vorlegten, brachten sie diesen Einspruch gerade
noch durch, eine starke Minderheit stimmte dagegen. »Pym ist zu
weit gegangen«, meinte Henry.
Viele der Aldermen und der reicheren Londoner Familien
begannen ähnliche Zweifel zu hegen. »Die Stadtbezirke haben einen
neuen Gemeinsamen Rat aus Unruhestiftern und Radikalen gewählt.«
Als wollten sie alle ihre Befürchtungen bestätigen, rottete sich
ein paar Tage nach Weihnachten ein großer Haufen von Lehrlingen in
Westminster zusammen, der von Truppen auseinandergetrieben werden
mußte. Damals hörte Julius zum erstenmal das Wort, das er bald
fürchten lernen sollte. »Weißt du, wie die Truppen die Lehrlinge
genannt haben, die sie an Whitehall vorbeigetrieben haben?« fragte
Henry ihn. »Sie haben gesehen, daß die meisten dieser jungen Leute
kurzgeschnittenes Haar hatten, daher nannten sie sie
Rundköpfe.«
Innerhalb von ein paar Tagen boten fünfhundert junge Gentlemen
aus den Inns of Court König Karl ihre Dienste an, um die Ordnung
aufrechtzuerhalten, und selbst der neue Common Council stimmte zu,
die bewaffneten Männer der Stadt zusammenzurufen, um den Frieden zu
bewahren.
Doch gerade als verschiedenste einflußreiche Leute an der
Gegnerschaft zum Monarchen Zweifel zu hegen begannen, sah Julius,
der in seinem Arbeitszimmer in dem großen Haus hinter Mary-le-Bow
über seinen Abrechnungen saß, wie sein Bruder die schwere Eichentür
aufriß und ausrief: »Der König ist verrückt geworden!«
König Karls Handeln in der ersten Januarwoche 1642 zeigte
nicht, daß er verrückt war, sondern nur, daß er nicht das mindeste
von englischer Politik verstand. Am 3. Januar schickte er einen
Ordnungsbeamten, fünf Mitglieder des Unterhauses zu verhaften. Die
Commons verweigerten ihm den Eintritt. Am nächsten Tag tauchte der
König selbst gegen alle Etikette dort auf und stellte fest, daß die
fünf, darunter König Pym und der Puritaner Pennington, fort
waren.
Könige durften keine Parlamentsmitglieder verhaften, nur weil
sie im House of Parliament offen ihre Meinung darlegten. Das war
ein Bruch der Privilegien des Parlaments. Von diesem Tag an bis
heute wird dem Repräsentanten des Königs, wenn er kommt, um die
Commons zur jährlichen Eröffnungszeremonie zu beordern, symbolisch
die Tür vor der Nase zugeschlagen. Als Karl I. am nächsten Tag in
die Guildhall ging, konnten ihm nicht einmal der Mayor und die
Aldermen, die nichts für die Radikalen übrig hatten, helfen. »Das
Privileg des Parlaments«, erinnerten sie ihn.
Fünf Tage später zog sich König Karl I. in die Sicherheit von
Hampton Court zurück. König Pym blieb in London.
Während des Frühlings erhielt das Parlament zumindest den
Anschein von Königstreue aufrecht. Es berief Truppen ein, doch im
Namen des Königs, und erklärte, man brauche sie für Irland. Es war
klar, daß das Parlament es weit besser verstand, die Unterstützung
der Stadt zu erlangen, als König Karl I. Eine enorme Anleihe der
Stadt, zuvor verweigert, wurde nun unverzüglich bewilligt – als
Gegenleistung für weitere zweieinhalb Millionen Acres in
Irland.
Bis April stellte man eine Truppe von sechs Regimentern auf,
natürlich »für die Verteidigung des Königs«. Eines Tages sah Julius
Gideon, der feierlich eine Hellebarde trug und einen kleinen Trupp
Lehrlinge anführte, die die Cheapside hinuntermarschierten. »Wird
der König keinen Kompromiß suchen?« fragte Julius, als Henry, der
zusammen mit dem König die Stadt verlassen hatte, zurückkam. Doch
Henry schüttelte den Kopf. »Er kann nicht. Pym hat ihn zu weit
getrieben. Dem Parlament muß eine Lektion erteilt werden. Die
Königin ist mit den Kronjuwelen nach Frankreich gereist. Sie will
sie dort verpfänden, um das Geld aufzubringen.«
Nach nur drei Tagen brach er wieder auf, und als er zwei
Monate später für kurze Zeit zurückkam, teilte er Julius mit: »Der
König ist in York. Er ruft alle königstreuen Parlamentsmitglieder
auf, sich ihm anzuschließen. Aber die östlichen und südlichen Häfen
sind uns alle verschlossen. Auch die Flotte scheint nicht mehr
loyal zu sein.«
»Das Parlament hat um freiwillige Beiträge gebeten«, mußte
Julius ihm sagen. »Es ist so viel Silberzeug gespendet worden, daß
sie kaum wissen, was sie damit tun sollen.«
Im Sommer verfaßten einige der Unterstützer des Königs
vernünftige Flugschriften, die eine Tür zum Ausgleich zu öffnen
schienen. Doch im August wurde der Mayor abgesetzt und der
Puritaner Pennington an seiner Stelle gewählt. Als Julius in der
Watling Street eines Tages Gideon traf, erklärte der solide
Handwerker ihm fröhlich: »Wir sind jetzt alle Rundköpfe.« Eine
Woche später kam die Nachricht, daß der König seine Standarte in
Nottingham aufgepflanzt hatte. Das war die traditionelle
ritterliche Art eines Königs, den Krieg zu erklären.
Im September kam Henry noch einmal, diesmal mit einem
Brustharnisch über dem Rock. Nach einem kurzen Besuch in seinem
eigenen Haus in Covent Garden sprach er lange mit Julius. »Der
Norden und der größte Teil des Westens sind königstreu«, erklärte
er seinem Bruder. »Mehrere große Lords haben Truppen versprochen.
König Karl hat seinen Neffen Rupert von der Pfalz herbeordert. Die
ausgehobenen Truppen des Parlaments sind nicht ausgebildet. Gegen
Rupert werden sie keine fünf Minuten standhalten.« Henry lächelte.
»Wir werden wieder Ordnung schaffen.«
Kurz nach Morgengrauen brach Henry auf. Eingenäht in seine
Kleidung und sein Gepäck nahm er die stolze Summe von dreitausend
Pfund im Wert von Gold- und Silbermünzen mit. Als Julius angesichts
dieser Summe ein bedenkliches Gesicht zog, erklärte Henry: »Wir
sind Gentlemen, Bruder, und dem König treu.«
Am nächsten Tag wurden auf Befehl des Mayors und des Stadtrats
alle Theater in London geschlossen. Truppen marschierten aus der
Stadt hinaus, die Verteidigungen um das Tor wurden verstärkt.
Anfang Oktober wartete jedermann ängstlich auf die Nachricht von
einer Schlacht.
Am letzten Sonntag im Oktober geschah in St.
LawrenceSilversleeves etwas Außergewöhnliches. In dieser Woche
hatte im West Country eine Art Schlacht stattgefunden, die aber
nicht zu einer Entscheidung geführt hatte. Die ausgebildeten
Truppenmitglieder waren vereinzelt wieder zurück in die Stadt
gekommen, um sich neu zu formieren. König Karl I. und Prinz Rupert
rückten äußerst behutsam vor.
Julius und seine Familie waren an diesem Morgen im letzten
Moment in die Kirche gekommen, weil eines der Kinder krank war. Er
bemerkte, daß die kleine Kirche ungewöhnlich voll war, und der
Altar stand am falschen Platz. Er war zurück ins Hauptschiff
gestellt worden.
Meredith traf ein. Er trug nicht seinen üblichen
goldschimmernden Chormantel, sondern einen langen schwarzen Talar
und darunter ein einfaches weißes Hemd. Er setzte sich nicht wie
sonst auf seinen Platz im Altarraum, sondern stieg auf die Kanzel
und begann den Gottesdienst. Es war nicht die gewohnte Liturgie, es
war ein ganz anderer Text. Julius kannte das gesamte Gebetbuch
auswendig. Was zum Teufel rezitierte Meredith da? Plötzlich wurde
es Julius klar. Es war die Gottesdienstordnung der Presbyterianer.
Calvinismus – hier in seiner eigenen Kirche! Julius blickte zu
seiner Frau, die empört wirkte. Er stand auf. »Hört sofort auf
damit!« Seine Stimme hallte deutlich in der Kirche wider. »Mr.
Meredith, ich glaube, Ihr lest hier eine falsche Messe. Als
Oberhaupt der Kirchspielversammlung muß ich darauf bestehen…« Er
wurde unterbrochen, als sich die Tür der Kirche öffnete. Gideon
Carpenter, in der Uniform eines Offiziers, den Degen umgeschnallt,
kam herein, gefolgt von sechs bewaffneten Männern. Julius öffnete
den Mund, um auch sie zurechtzuweisen, doch Gideon kam ihm zuvor.
»Ihr seid nicht länger in der Kirchspielversammlung, Sir
Julius.«
Was meinte der Mann? Und warum nannte Gideon ihn »Sir
Julius«?
»Habt Ihr es noch nicht gewußt? Das tut mir leid. Euer Bruder
ist tot. Ihr seid nun Sir Julius Ducket. Und Ihr seid
verhaftet.«
1649
29. Januar, abends: Seit fünf Uhr nachmittags war es dunkel.
Eine lange, sternenklare Nacht stand bevor, in der viele feierlich
Wacht hielten. Im grauen Morgenlicht würde in Whitehall etwas
stattfinden, was in England nie zuvor geschehen war.
Edmund Meredith saß allein. Seine Frau und seine Kinder waren
oben, aber noch nicht im Bett. Auf dem Tisch neben ihm lag ein
steifer schwarzer Hut mit hoher Krone und breiter runder Krempe. Er
trug noch seine Tageskleidung – eine schwarze, ärmellose Weste, ein
schwarzweiß gestreiftes Hemd mit einem hohen weißen Leinenkragen
und Manschetten, schwarze Breeches und einfache Schuhe. Sein
silbergraues Haar war auf Kinnlänge geschnitten; diese absichtlich
unattraktive Frisur war nun bei den Puritanern Mode, und ohne
Zögern hatte er diesen Stil vor drei Jahren übernommen.
Er saß in einem schweren Polsterstuhl, die langen Finger vor
dem aristokratischen Gesicht gefaltet, als bete er. Aber Edmund
betete nicht, er dachte nach – er dachte ans Überleben. Obwohl er
nun Ende siebzig war, sah er zwanzig Jahre jünger aus. Das jüngste
seiner fünf Kinder war erst sechs, und es schien, als habe Edmund
vor, lange genug zu leben, um diesen Knaben ins Erwachsenenalter zu
begleiten. »Die Kunst des politischen Überlebens besteht vor allem
darin, daß man sich rechtzeitig einrichtet«, erklärte er Jane. Und
wenn er die letzten sieben konfliktreichen Jahren überblickte,
konnte er sicher behaupten, daß ihm das gelungen war. Er sprach
gerne mit Jane. Sie kannten einander zu lange, um Geheimnisse
voreinander zu haben. Sie war der einzige Mensch, mit dem er
vollkommen ehrlich sein konnte.
Der wichtigste Schritt war der erste gewesen, damals im Jahr
1642, als er Julius mit seinem Wechsel ins Lager der Presbyterianer
so entsetzt hatte. Damals war König Karl I. noch auf London
vorgerückt, und viele hatten seinen raschen Sieg erwartet. »Wie
konntest du wissen«, hatte Jane gefragt, »auf welche Seite du dich
schlagen mußtest? Der König hätte dem Parlament eine Niederlage
beibringen können.«
»Richtig«, stimmte er zu. »Aber ich war sicher, daß sich
langfristig das Parlament durchsetzen würde. Die Rundköpfe hatten
die Flotte und fast alle Häfen – wie sollte Karl I. da Verstärkung
bekommen? Die Häfen zahlten ihren Zoll ans Parlament, und die
Rundköpfe hatten London. Für lange Kriege braucht man Geld. Und das
Geld ist in London. Ich habe zwei zu eins auf die Rundköpfe
gewettet und bin Presbyterianer geworden.«
Und er hatte recht gehabt. Wenige Monate später hatte das
Parlament jeglichen Anschein königlicher Amtsgewalt fallengelassen,
Bischöfe abgesetzt und einen Handel mit den Schotten abgeschlossen.
Mit einem feierlichen Vertrag, dem Covenant, wurde
vereinbart, daß England, im Gegenzug für eine schottische Armee
gegen Karl, presbyterianisch werden sollte. Eine große Zahl
anglikanischer Geistlicher wurde aus dem Amt geworfen; die
Kirchspiele in London befanden sich in Aufruhr. Doch Meredith hatte
alles überstanden. Während die strengen Schotten und das englische
Parlament die Einzelheiten einer calvinistischen englischen Kirche
ausarbeiteten und der erste Londoner Ältestenrat einberufen wurde,
waren sich selbst die strengsten schottischen Besucher einig:
»Dieser Meredith hält gute Predigten. Sehr vernünftig.«
Doch das war vor einiger Zeit gewesen, als der Kampf zwischen
Karl I. und dem Parlament noch im Gange war. Seither hatte sich die
Lage geändert – seiner Ansicht nach sehr zum Schlechteren. Und nach
dem morgigen Tag konnte keiner wissen, was geschehen mochte. Edmund
war sicher, daß er einen Weg finden würde, um zu überleben. Er
sorgte sich nicht um sich selbst, sondern um Jane. Weiß Gott, er
hatte sie gewarnt.
Die Kerze in ihrem Zimmer brannte noch, und in ihrem
flackernden Licht blickte Jane auf die schlafende Gestalt neben
sich. Sie war froh, daß er so friedlich war.
Doch hatte Meredith recht? Waren sie in Gefahr? Dogget glaubte
es nicht, doch seine Einstellung zum Leben war immer schon fröhlich
gewesen, dachte Jane voller Zuneigung. Meredith hatte ein gutes
Urteilsvermögen. Waren sie also ein unglückliches Liebespaar –
Romeo und Julia? Der Gedanke belustigte sie. Dogget und Jane: ein
seltsames Paar für eine Tragödie, da sie sechzig war, als sie ein
Liebespaar wurden. Und sie hielt es sogar für wahrscheinlich, daß
es nur aufgrund des Krieges dazu gekommen war.
Es war seltsam, daß Jane und viele andere Londoner, wenn sie
an den Bürgerkrieg dachten, sich vor allem an die Stille
erinnerten. Denn in diesem ersten Frühjahr wurde das ganze Gebiet
hinter einem Wall abgeriegelt. Woche um Woche waren die Londoner
draußen und gruben. Jeder kräftige Mann, auch ältere Männer wie
Dogget, wurde einberufen und mit einer Schaufel ausgerüstet, und
selbst an Sonntagen hatten sie sich abgerackert. So wurde in diesem
Sommer ein großer Erdwall mit Graben, elf Meilen lang,
fertiggestellt, der die gesamte Stadt umschloß, alle Randbezirke zu
beiden Seiten des Flusses, bis hinter Westminster und Lambeth im
Westen und Wapping im Osten. Und nicht nur die Vorstädte, sondern
auch offenes Gelände, Gärten und Felder, selbst das Speicherbecken
für die von Myddelton gebaute Wasserversorgung – alles befand sich
hinter der riesigen Einfriedung. Die Wälle hatten Eingänge,
Festungswerke und Batterien von Kanonen, die von der
Ostindiengesellschaft zur Verfügung gestellt wurden. Sie waren
uneinnehmbar. Und hier hatte die Parlamentsopposition während des
Krieges ihr Hauptquartier.
Der Konflikt verlief langsam und stockend – ein Gefecht hier,
eine Stadt oder ein befestigtes Haus dort, die man belagerte, ein
paar offene Schlachten. Dabei hatten sich König Karl und Prinz
Rupert als gefährlich erwiesen, als sie vom königlichen
Hauptquartier in Oxford vorrückten. Sie hatten den großen Hafen
Newcastle im Norden, aus dem der größte Teil der Kohleversorgung
Londons kam, für den König gewonnen, zudem große Gebiete im Westen.
Selbst nachdem die schottischen Presbyterianer dabei geholfen
hatten, ihnen bei Marston Moor eine schwere Niederlage
beizubringen, war die Botschaft eingetroffen: »Die Royalisten sind
noch auf dem Feld.« Ein Teil der Schwierigkeit lag bei den Truppen
der Rundköpfe. Die ausgebildeten Abteilungen aus London waren in
der Regel überlegen, doch sobald der Sold nicht rechtzeitig
ausbezahlt wurde, machten sie sich davon.
Anderen Landesteilen brachte der Krieg gelegentliche
Kampfhandlungen, doch für Jane – innerhalb der riesigen Einfriedung
um London – brachte er nur eine große Stille. Gewiß, bevor Gideon
aufgebrochen war, hatte sie ihn und seine Männer einmal pro Woche
stolz zum Finsbury Field oder zur Artilleriestellung außerhalb
Moorgates ziehen sehen, wo sich die ausgebildeten Truppen der Stadt
sammelten. Manchmal marschierten große Kolonnen von Rundköpfen aus
der Stadt und kamen ein paar Wochen später zurück, schmutzig und
mit Verbänden, doch die meiste Zeit blieb das Leben der Stadt sehr
gedämpft. Die Hälfte der Stände auf dem Markt in Cheapside waren
verschwunden. Die Londoner Warenbörse war oft wie ausgestorben. Da
der Handel mit Tuch aus dem West Country von den Royalisten
abgeschnitten worden war und kaum ein Markt für Luxusimporte
bestand, verhielten sich die meisten Kaufleute abwartend. Sir
Julius Ducket sei völlig zugrunde gerichtet, hieß es. Zu essen gab
es zwar genug, doch die einfachen Leute hatten ein paar elend kalte
Monate durchstehen müssen, als die Royalisten die Kohleversorgung
aus Newcastle abgeschnitten hatten; und die monatlich eingezogenen
Steuern für die Truppen hatten ihr Einkommen sehr geschmälert. Doch
der angedrohte Angriff kam nie. Das Leben mochte zwar hart sein,
aber zumindest hatte Jane Dogget.
Warum war er nicht nach Massachusetts gegangen? Immer hatte es
eine Ausrede gegeben. In den ersten ein oder zwei Jahren war es das
Geschäft, dann waren zwei von Gideons Kindern krank geworden. Als
dann der Bürgerkrieg begann und Gideon Soldat wurde, mußte Dogget
erst recht die Werkstatt weiterführen und für Gideons Familie
sorgen.
Es geschah an einem sonnigen Nachmittag im September, Monate
nachdem der Wall fertig war. Dogget und Jane waren aus der Altstadt
zu den Moorfields spaziert. Fast eine Meile entfernt konnte sie die
Wachtposten auf dem Wall bei Shoreditch sehen, und sie dachte,
innerhalb dieser großen Einfriedung sei es, als lebten sie an einem
unwirklichen, zeitlosen Ort, der sich irgendwie von der übrigen
Welt losgelöst hatte. Als habe Dogget ihren Gedanken erfaßt, wandte
er sich ihr plötzlich halb zu und bemerkte: »Man fühlt sich jung
hier draußen.« Ja, dachte sie, sie fühlte sich jung. »Du hast dich
jedenfalls nicht sehr verändert«, meinte sie. Sein Haar war grau,
und sein Gesicht hatte Falten, aber ansonsten war er derselbe.
Lächelnd sah er sie an. Sie nahm seine Hand und drückte sie sanft.
Beide schwiegen, während sie zusammen zum Haus zurückgingen. Und so
hatte in diesem seltsamen, stillen Raum, den die Kriegswälle
geschaffen hatten, ihre Affäre begonnen: zwei Liebende über
sechzig, verbunden durch ihre Vergangenheit und lange Zuneigung,
die zusammen Trost, Gemeinschaft und sogar Erregung fanden; beide
ein wenig erstaunt, daß so etwas noch möglich war.
Sie waren diskret. Nur Meredith hatte es erraten, und ihm
konnte sie vertrauen. Aber das war vor fünf Jahren gewesen, vor dem
großen Umschwung, der England an die Schwelle der jetzigen
schrecklichen Krise gebracht hatte. Und als sie nun liebevoll auf
die schlafende Gestalt neben sich blickte, hörte sie Meredith'
drängende Worte, erst vor ein paar Tagen geäußert: »Ihr werdet bald
in Gefahr sein. Wer genau weiß Bescheid?« – »Du. Vielleicht
argwöhnen die Leute etwas. Aber warum ist das so wichtig?«
»Du verstehst nicht. Sag mir eines – weiß Gideon
Bescheid?«
Gideon nahm seinen Federkiel. Der Brief an
Martha lag vor ihm, aber zum hundertsten Male zögerte er. Er
blickte durch das Zimmer auf seine Familie. Seine Frau nähte, neben
ihr saßen Patience, die bald heiraten würde, und Perseverance, die
immer noch keinen Verehrer hatte. Und der Lichtschimmer seines
Lebens, O Be Joyful, mittlerweile ein kleiner, untersetzter
Jugendlicher, der in der Bibel las. Der Junge war so begabt, daß
Gideon ihn nicht in das eigene Geschäft genommen hatte, sondern ihn
zu dem besten Holzschnitzer in die Lehre gegeben hatte, den er
finden konnte. Aber noch dankbarer als für seine Begabung war
Gideon dafür, daß Gott seinem Sohn ein so sanftes, frommes Wesen
gegeben hatte. Wie stolz wäre Martha, wenn sie ihn jetzt sehen
könnte. Dieser Gedanke brachte ihn zurück zu dem Brief und der
quälenden Frage: Sollte er Martha von Dogget und Jane
schreiben?
Er hatte gesehen, wie sie sich küßten, wenn sie sich allein
glaubten, und er hatte Dogget in ihrem Haus verschwinden sehen.
Soweit er sagen konnte, war es nur wenigen anderen bekannt. Als ein
Nachbar einmal bemerkt hatte: »Dogget und Mrs. Wheeler sind Vetter
und Base, nicht wahr?«, hatte er genickt. Gott vergebe ihm die
Lüge. Dabei sollte er, Gideon Carpenter, im Kirchspiel von St.
Lawrence-Silversleeves das moralische Vorbild sein.
Denn das war nun seine Rolle, seit sie Sir Julius Ducket und
seine Freunde hinausgeworfen hatten. Dreimal hatte ihn die gesamte
Gemeinde als Mitglied der Kirchspielversammlung gewählt, und ihre
moralischen Maßstäbe waren hoch. Mehr als die Hälfte der Männer
trugen Wams und Hut der Puritaner; ihre Frauen trugen graue oder
braune lange Kleider und Häubchen, die unter dem Kinn gebunden
waren.
Warum also ließ er zu, daß der Betrug an der frommen Frau, die
er verehrte, fortgesetzt wurde? Zum Teil war es Angst vor einem
Familienstreit und einem möglichen Skandal. Aber noch wichtiger war
ihm, daß Dogget glücklich blieb. Ohne den alten Mann, der in der
Werkstatt arbeitete, hätte Gideon sich nicht frei gefühlt, der
größeren Sache zu dienen, deren Werk am nächsten Morgen vollendet
werden sollte: das Werk Cromwells und seiner »Heiligen«.
Oliver Cromwell hatte den Bürgerkrieg gewonnen. Nach den
ersten ergebnislosen Jahren hatte Cromwell seine eigene, gut
ausgebildete berittene Truppe aufgebaut, die Ironsides. »Laßt mich
nun die ganze Armee reorganisieren«, hatte er vom Parlament
gefordert.
Was waren das für aufregende Zeiten gewesen. Gideon hatte
Dogget und seine Familie in London gelassen und sich voll Eifer
Cromwells Streitmacht angeschlossen. Die Armee nach neuem Modell
wurde sie genannt. Diese ausgebildete, disziplinierte
Vollzeitarmee, deren Kern bereits kampferprobt war, befehligt von
Cromwell und General Fairfax, hatte Karl I. und Rupert bei Neaseby
eine vernichtende Niederlage bereitet und eine königliche Festung
nach der anderen erobert. Oxford fiel. Karl I. ergab sich den
Schotten. Diese lieferten ihn gegen Geld an die Engländer aus, die
ihn unter Hausarrest stellten.
Für Gideon war wichtig, daß diese Rundköpfe nach neuem Modell
nicht nur Soldaten waren, sondern »Heilige«, wie sie sich selbst
nannten. Manche waren natürlich nur Söldner; doch die meisten waren
Männer, die nach Gerechtigkeit strebten, Streiter für Christus,
Männer, die dafür kämpften, daß sie nun endlich in England die
leuchtende Stadt auf dem Hügel errichten konnten. Sie waren sicher,
daß Gott mit ihnen war; dieses Wissen verlieh ihnen Autorität, und
die wurde gebraucht. Denn wem könnten sie vertrauen, wenn nicht
sich selbst?
Sicher nicht dem Parlament. Die Hälfte der Zeit hatte die
Armee ihren Sold nicht bekommen. Die »Heiligen« wußten sehr gut,
daß die meisten Mitglieder des Parlaments zu den geringstmöglichen
Bedingungen ein Abkommen mit dem König treffen wollten. Der größte
Teil der Bevölkerung unterstützte die Sache der Rundköpfe, aber man
konnte nie wissen, wie viele heimliche Royalisten es gab. Die
Londoner waren nur an sich selbst und ihren Profiten interessiert.
Sobald einmal die Bedrohung durch die royalistische Armee nicht
mehr existierte, konnten sie es kaum erwarten, die »Heiligen«
aufzulösen und sich auch mit Karl I. zu einigen.
Am allerwenigsten konnten die Rundköpfe dem König trauen. Als
es Karl – der ständig versuchte, seine Feinde gegeneinander
auszuspielen, und alles versprach in der Hoffnung, er könne am Ende
wieder genauso regieren wie zuvor – schließlich gelungen war, einen
erneuten Aufstand anzufachen, hatten die Rundköpfe genug gehabt.
Trotz des Protestgeschreis der Londoner war Fairfax gekommen und
hatte seine Truppen in London einquartiert. Die Reichtümer mehrerer
Livreegesellschaften wurden eingezogen, um die Truppen zu bezahlen.
Und erst vor ein paar Wochen war Colonel Pride mit einer
Armeeabteilung nach Westminster gezogen und hatte alle
Parlamentsmitglieder hinausgeworfen, die nicht begeistert genug für
die große Sache – nämlich England neu aufzubauen – eintraten.
Cromwells Armee war nun die einzige wahre Macht im Lande.
Diszipliniert und einheitlich, wie sie war, konnte sie ihren Willen
durchsetzen. Ein gefangener König, ein schwaches Parlament: Den
»Heiligen« fielen die Gelegenheit und die Verantwortung zu, das
alte Land nach einem neuen Modell zu formen. Aber wie sollte das
neue Modell genau aussehen? Gideon war nicht ganz sicher.
Als der Bürgerkrieg begonnen hatte, war es ihm wie den meisten
Rundköpfen klar gewesen: Der König mußte vom Parlament gezügelt
werden; die Bischöfe und all ihre Ämter mußten verschwinden. Eine
Art presbyterianische Kirche, wenn auch nicht ganz so streng wie
die schottische Version, war ihm wünschenswert erschienen. Doch als
der Krieg sich hinzog und die Kameradschaft in Cromwells Armee
Gideon Auftrieb verlieh, hatte er zusammen mit den anderen
»Heiligen« begonnen, eine noch größere Hoffnung zu schöpfen. Eine
neue Welt, hier in der alten. Oft hatte er die Briefe gelesen, die
er von Martha bekam. Sie hatte ihn mit ihren Berichten aus
Massachusetts beflügelt; dort wählten Repräsentanten jeder Gemeinde
nicht nur ihre Pastoren, sondern auch ihre Gouverneure und Richter;
dort wurden Steuern nur entsprechend einem gemeinsamen Beschluß
erhoben, und alle Menschen lebten nach dem strengen Gebot der
Bibel.
Manche seiner Kameraden bei den »Heiligen«, Levellers genannt,
wollten noch weitergehen; sie wollten jedem Mann eine Wahlstimme
geben und sogar das Privateigentum abschaffen. Cromwell war
dagegen, und auch Martha, wie aus ihren Briefen hervorging. All
diese letzten Jahre war sie ihm wie ein Leuchtturm gewesen, der
unverwandt über den Ozean schien; wie sehr wünschte er, sie wäre an
seiner Seite. Wieviel sollte er ihr verraten? Mit bangem Gewissen
begann er schließlich zu schreiben.
Soweit war es also gekommen. Julius saß
allein in feierlicher Wache in seinem getäfelten Zimmer. Am Morgen
würden sie König Karl I. hinrichten. Nach der schändlichen Farce
einer Verhandlung würden die Rundköpfe ihren gesalbten König
umbringen. Wenn Sir Julius Ducket in dieser schrecklichen Nacht
überhaupt einen Trost finden konnte, so diesen: Er war königstreu
geblieben.
Und er hatte dafür gelitten. Nachdem Gideon ihn verhaftet
hatte, fand er sich zusammen mit drei Dutzend anderen prominenten
Royalisten unter Bewachung. »Ihr seid Malignants, arglistige
Royalisten«, antwortete man ihnen auf ihre Frage, warum sie
verhaftet worden seien. In der ersten Woche hatten sie nicht einmal
besucht werden dürfen. Als seine Frau endlich die Erlaubnis bekam,
ihn zu sehen, erlitt er einen weiteren Schock. Auf seinen
Vorschlag, sie und die Kinder sollten nach Bocton gehen, hatte sie
geantwortet: »Weißt du das nicht? Die Rundköpfe haben alle
Landsitze der Malignants übernommen.«
Wie bedrückend waren diese Zeiten gewesen. Man hatte ihn
festgehalten wie einen Verbrecher. Monate waren verstrichen, bis
man ihn endlich in die Guildhall gebracht und in einen Raum geführt
hatte, wo ein halbes Dutzend Offiziere der Rundköpfe an einem Tisch
saß.
»Sir Julius«, erklärten sie ihm. »Ihr könnt freikommen; doch
Ihr müßt dafür bezahlen. Zwanzigtausend Pfund.«
»Zwanzigtausend? Ich wäre zugrunde gerichtet«, protestierte
er. »Laßt mich im Gefängnis.«
»Wir könnten Euch trotzdem mit einer Geldstrafe belegen«,
erklärte einer der Männer.
Und so war Sir Julius Ducket Anfang 1644 traurig nach Hause
zurückgekehrt, um zu versuchen, wieder von vorne zu beginnen. Aber
wie? Die Geldstrafe hatte fast sein gesamtes Vermögen verschlungen.
Seine Frau hatte noch etwas Schmuck. Außerdem war das große Haus
da, aber es war sehr schwierig zu verkaufen, solange London immer
noch wie eine belagerte Stadt war. Er sah sich nach Geschäften um,
an denen er sich beteiligen könnte, aber der Handel war fast zum
Erliegen gekommen.
Eines Tages im März erinnerte er sich zufällig an den
Piratenschatz. Der Keller roch modrig, als er mit einer Lampe
hinunterstieg. Vor dreißig Jahren hatte er die alte Truhe zuletzt
gesehen. Eine Menge von Haushaltsgegenständen war nun davor
aufgestapelt, aber sie stand noch da, voller Staub.
Einen Augenblick lang zögerte er. Was hatte ihm sein Vater vor
all den Jahren gesagt? Daß er diese Truhe mit seinem Leben schützen
würde, weil er sein Wort gegeben hatte. Aber das war eben dreißig
Jahre her. Der Pirat war nie zurückgekehrt. Mittlerweile war es
äußerst unwahrscheinlich, daß der Kerl noch am Leben war oder daß
es eine Familie gab, die die Truhe zurückfordern könnte. Er fragte
sich, was wohl darin sein mochte. Er nahm Hammer und Meißel und
machte sich an die Arbeit. Die alten Schlösser waren solide, aber
schließlich gelang es ihm, sie aufzubrechen. Langsam hob er den
knarzenden Deckel und hielt den Atem an. Die Truhe war zum Bersten
voll mit Münzen aller Art – Gold und Silber, englische Shillings,
spanische Dublonen, schwere Taler aus den Niederlanden. Viele waren
fünfzig oder sechzig Jahre alt, aus den Tagen der spanischen
Armada, aber dennoch gutes Gold und Silber. Weiß Gott, was der
Schatz wert war. Ein Vermögen! Er war gerettet.
Von diesem Augenblick an begann die langsame Wiederherstellung
Sir Julius Duckets. Er war sehr vorsichtig. Nachdem er das Geld auf
zwanzig verschiedene Taschen verteilt hatte, versteckte er jede an
einem Ort, wo sie nicht gefunden werden konnte. Er sagte nichts von
dem Schatz, nicht einmal zu seinen Kindern, sondern bemerkte nur,
er habe noch ein wenig Bargeld gefunden, so daß er in bescheidenem
Maß beginnen könne, Waren zu kaufen und zu verkaufen. Die kleinen
Gewinne stockte er aus dem Schatz auf, so daß die Familie in Ruhe
leben konnte, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Doch er mußte weiterhin vorsichtig sein. Es gab zwar eine
Reihe bekannter Royalisten wie ihn in der Stadt, aber ihm war auch
bewußt, daß sie beobachtet wurden. Gideon, argwöhnte er, wußte über
jeden seiner Schritte Bescheid.
Aber er war immer noch fähig, die Rundköpfe zu überlisten. Im
späten Frühling war es ihm sogar einmal gelungen, sich zu einem
besonderen Auftrag aus der Stadt zu stehlen. Er ritt heimlich an
den Hof des Königs in Oxford. Zusammen mit zwei weiteren
vertrauenswürdigen Männern ritt er eines Morgens, als Rundkopf
verkleidet, aus der Stadt – eine Tarnung, die sie über zwanzig
Meilen weit beibehielten. Eingenäht in die Kleider der Männer war
eine Menge von Goldmünzen, die Julius dem Schatz entnommen hatte.
Am folgenden Abend waren sie an den Verteidigungswällen der alten
Universitätsstadt, und am nächsten Tag konnte Julius im Christ
Church College dem König persönlich das Geld überreichen.
»Getreuer Sir Julius.« Es war der stolzeste Augenblick seines
Lebens, als König Karl I. diese Worte sprach. »Wir zählen Euch zu
unseren loyalsten Freunden.«
»Ich würde freudig für Eure Majestät kämpfen«, erklärte
Julius. »Aber ich habe keine Erfahrung mit Waffen.«
»Wir ziehen es vor, daß Ihr in London bleibt«, erwiderte der
König. »Wir brauchen dort treue Freunde, auf die wir uns verlassen
können.« Eine halbe Stunde lang schritt der König mit ihm durch den
alten Viereckshof des Colleges und fragte nach der Lage der Stadt
und ihrer Verteidigung. »Viele der Uns Wohlgesonnenen hätten es
gerne, wenn Wir Unser Gewissen kompromittieren«, erklärte der
König, »aber das dürfen Wir nicht tun. Wir haben eine heilige
Pflicht zu erfüllen.« Seine letzten Worte beim Abschied gingen
Julius direkt zu Herzen. »Wir können nicht sagen, wie diese große
Sache ausgehen wird. Das liegt in Gottes Hand. Aber sollte Uns
etwas zustoßen, Sir Julius, Wir haben zwei Söhne, die Uns
nachfolgen können. Können Wir Euch bitten, daß Ihr ihnen die Treue
haltet, so wie Uns?«
»Ihre Majestät braucht nicht zu bitten«, antwortete Julius.
»Ihr habt mein Wort.«
Es gelang Julius nicht mehr, sich ein zweites Mal nach Oxford
zu stehlen; London wurde zu genau bewacht. Aber von diesem Tag an
hatte er an innerer Kraft gewonnen. Dennoch war es in den folgenden
Jahren nicht immer leicht, den Mut zu bewahren. Anfang 1645
richteten die Rundköpfe Erzbischof Laud hin; ein Zeichen, wie weit
sie zu gehen vorhatten. Als Cromwell und seine Armee den Krieg
gewannen und König Karl gefangengehalten wurde, hoffte Julius immer
noch, daß man eine Abmachung erreichen könnte.
Die Ereignisse der letzten beiden Monate konnte er kaum
glauben. Erst nachdem Pride das Parlament gesäubert hatte, war die
Macht der Armee offenkundig geworden. Der König wurde zum Prozeß in
die Westminster Hall gebracht. »Vielmehr zur Farce eines
Prozesses«, wie Julius meinte. König Karl I. weigerte sich, die
Befugnisse des Gerichts anzuerkennen. Als Reaktion darauf ließ ihn
das Militärgericht abführen, sowohl am ersten wie am zweiten
Prozeßtag. »Tatsächlich wurde die Verhandlung gegen ihn in seiner
Abwesenheit geführt«, vermerkte Julius. Am dritten Tag verurteilten
die Handlanger der Armee den Monarchen zum Tode.
Und so würden sie am Morgen, nach dieser kalten Nacht, ihren
König umbringen. Noch nie zuvor war so etwas geschehen. Doch wenn
sie meinten, damit die Welt zu ändern, so schwor sich Sir Julius
Ducket: »Das werden sie nicht.«
Schon vier Nächte lang wohnte dieser Kerl
nun im »George Inn«. Ein griesgrämiger alter Seebär, doch er machte
keinen Ärger und blieb für sich. Jeden Morgen verließ er das Haus
und kam erst in der Dunkelheit wieder, und niemand wußte, welchen
Geschäften er nachging. Als der Gastwirt fragte, ob er am nächsten
Morgen zur Hinrichtung des Königs gehen würde, hatte er den Kopf
geschüttelt. »Keine Zeit.« Er hatte nur noch drei Tage, bevor sein
Schiff wieder abfuhr.
Zwanzig Jahre waren vergangen, seit der Finstere Barnikel dem
ersten Maat seinen Auftrag gegeben hatte; zwanzig Jahre lang trug
dieser das Testament des Piraten mit sich. Vor drei Jahren hatte er
sich in Virginia eingehender nach Jane erkundigt, doch seine erste
Nachforschung brachte keinerlei Informationen über sie zutage. Ein
Jahr später verbrachte er noch einmal zehn Tage in Jamestown, und
diesmal hatte er mehr Glück. Jemand erinnerte sich an die Frau, die
er beschrieb, und sagte ihm, daß sie Wheeler geheiratet hatte, und
als er abfuhr, war er ziemlich sicher, daß Jane und die Witwe
Wheeler ein und dieselbe waren. Man sagte ihm, sie sei nach England
zurückgekehrt. »Sie hat gesagt, sie sei aus London«, erinnerte sich
ein Farmer. Er ging von Kirchspiel zu Kirchspiel und erkundigte
sich bei den Geistlichen nach der Witwe Wheeler. Bisher hatte er
kein Glück gehabt, aber vielleicht morgen. Er ging die Cheapside
entlang zu St. Mary-le-Bow und dem kleinen St.
Lawrence-Silversleeves.
Schon früh an diesem eisigen Morgen strömte eine Menschenmenge
in Whitehall zusammen. Vor dem Bankettsaal hatte man eine hölzerne
Plattform errichtet, und die Truppen der Rundköpfe bildeten eine
Wache.
Julius fragte sich, wie die Stimmung der Leute war. Waren alle
strenge Puritaner wie Gideon? Manche ja, aber die Mehrheit war ein
eher buntgemischtes Volk – von Gentlemen und Anwälten bis hin zu
Fischhändlerinnen und Lehrlingen. Waren sie nur zu einer
Belustigung gekommen? Während sie in der bitteren Kälte warteten,
wirkten sie seltsam gedämpft. Julius dachte an den Bankettsaal mit
seiner herrlichen Rubensdecke. Dargestellt auf ihr war Jakob, der
Vater des Königs, wie er in den Himmel auffuhr – nicht zum
erstenmal war aus einem ein wenig absurden Thema ein großes
Kunstwerk geschaffen worden. Es war eine allegorische Darstellung
des Hofes, der kultivierten europäischen Welt des Königs und seiner
Freunde, der prachtvollen Häuser, der großen Gemäldesammlung –
alles, was diese ungebildeten Puritaner mit ihrem brutalen Gott
zerstören wollten. Nun kamen berittene Soldaten und formierten sich
um das Schafott. Ein Trommelwirbel ertönte. Eines der oberen
Fenster des Bankettsaals ging auf, und einen Augenblick später
erschien König Karl I. von England, einfach, aber elegant in Umhang
und Wams. Julius hatte einen Aufschrei oder auch Hochrufe der Menge
erwartet, aber es blieb seltsam still. Ein Geistlicher in langem
Talar folgte, dann mehrere Minister und andere Mitglieder des
Hinrichtungskommandos, und zuletzt der Henker mit einer schwarzen
Maske über dem Gesicht und einem Beil.
Es war Brauch, daß ein Verurteilter sich an das Volk wenden
konnte, und das wurde auch Karl Stuart erlaubt. Der König, der ein
Stück Papier mit ein paar Aufzeichnungen in der Hand hielt, begann
zu sprechen, würdevoll, ruhig und höflich. Das Parlament, erklärte
er, habe die Auseinandersetzung über Privilegien begonnen, nicht
er. Monarchen, erinnerte er das Volk, seien da, um alte
Verfassungen zu erhalten, die die Freiheit des Volkes bedeuteten.
Nun hatten sie statt dessen nur die Willkürherrschaft des
Schwertes. »Ich bin ein Märtyrer des Volkes!« rief er, »und ein
Christ der Kirche Englands, wie ich sie von meinem Vater
vorgefunden habe.«
Damit endete er. Sie nahmen ihm Umhang und Wams ab, so daß er
nur noch ein weißes Hemd und seine Breeches trug. Sein Haar wurde
mit einer Kappe bedeckt, damit es dem Beil nicht im Weg war, und
man führte ihn zum Schafott. Doch bevor König Karl I. niederkniete,
sah er Julius Ducket, und ihre Blicke trafen sich. Seine Augen
waren traurig, doch schien eine Frage darin zu liegen. Wie könnte
er seinen Schwur in Oxford vergessen? Julius sah König Karl direkt
in die Augen und nickte rasch mit dem Kopf. »Ich habe es
versprochen«, sagte dieses kurze Nicken. Im Augenblick seines Todes
sollte König Karl wissen, daß Ducket seinen Söhnen die Treue halten
würde.
Nicht einmal die erbittertsten Feinde des Königs konnten
leugnen, daß König Karl I. von England mit außerordentlicher Würde
in den Tod ging. Als der Henker mit einem einzigen scharfen Hieb
zuschlug, stöhnte die Menschenmenge laut auf, als würde sie ihre
schreckliche Tat plötzlich begreifen. Und als der Henker den
abgetrennten Kopf hochhielt, war Sir Julius Ducket vielleicht nicht
der einzige, der für sich murmelte: »Der König ist tot. Es lebe der
König.«
Zwei Tage später wurde Sir Julius von Jane Wheeler aufgesucht.
Das Dokument, das sie ihm zeigte, erklärte unmißverständlich, daß
ein gewisser Kapitän namens Orlando Barnikel ihr seine Schatztruhe
hinterlassen hatte, die er seinem Vater, dem Alderman Ducket, zur
Verwahrung anvertraut hatte. Was um Himmels willen sollte Julius
tun, fragte er sich, als er Jane verblüfft anstarrte.
Lag die alte Truhe mit ihren aufgebrochenen Schlössern noch in
seinem Keller? Er konnte sich nicht erinnern. Etwa die Hälfte des
Schatzes war noch da, aber wer wußte, was er in den kommenden
unsicheren Jahren brauchen würde? Und wenn er ihr einen Teil gab
und ihr sagte, er habe die Münzen aus der Truhe genommen, um sie
besser verstecken zu können? Würde sie ihm glauben? Vermutlich
nicht. Und außerdem würde das die Leute veranlassen, seine eigenen
Angelegenheiten zu überprüfen – man würde sagen, die alten Münzen
stammten von dem Kapitän und nicht von seinem Vater. Man würde ihn
einen Dieb nennen.
Ein Kapitän! Er wußte sehr gut, was für eine Art Mann der
scheinbar respektablen Witwe diesen Schatz vermacht hatte. Ein
Mohr. Ein Pirat. Auf jeden Fall gestohlenes Geld. Und warum sollte
diese Frau, eine Freundin Doggets und der verfluchten Carpenters,
Geld bekommen, das doch für die Sache der Royalisten gebraucht
werden könnte? Das konnte nicht Gottes Absicht sein. Ernst
schüttelte er den Kopf.
»Ich fürchte, Mistress Wheeler, daß dieses Dokument eine
Fälschung ist. Ich werde die Aufzeichnungen meines Vaters
durchsehen. Wenn ich diese Truhe finde, gehört sie natürlich Euch.
Aber ich muß Euch sagen, daß ich sie nie gesehen habe. Es sei
denn«, fügte er hinzu, »sie ist in Bocton. Aber dann müßt Ihr Euch
an die Rundköpfe wenden.«
Jane starrte ihn an, dann bemerkte sie ruhig: »Ihr lügt.«
Empört forderte Julius sie auf zu gehen. »Niemand hat je so etwas
zu mir gesagt«, erklärte er. Aber spät an diesem Abend, als alles
bereits schlief, ging er hinunter in den Keller, zerschlug die alte
Truhe, verbrannte sie, nahm die Metallteile aus der Asche und
vergrub sie vor dem Morgengrauen.
Eine Woche später kam Jane wieder. »Gideon hat Bocton
durchsuchen lassen«, sagte sie. »Die Truhe war nie dort. Was habt
Ihr damit gemacht?« Sie schnaubte wütend, als er versicherte,
nichts darüber zu wissen. »Ihr werdet noch von mir hören«, drohte
sie. Sie hielt Wort; er bekam einen Brief von einem Anwalt. Sie
verlangte eine Hausdurchsuchung, was er entrüstet ablehnte. Ein
Jahr verging, und noch eines. Und sie war immer noch nicht
zufriedengestellt.
1652
Ja, dachte Martha, ihr war eine freudige
Heimkehr beschieden worden. Wie angenehm, wieder mit Gideon und
seiner Familie, mit der lieben Mrs. Wheeler und natürlich auch mit
ihrem Gatten vereint zu sein. Sie wünschte, sie hätte auf Gideons
drängende Briefe geachtet und wäre früher gekommen. Aber – am
wichtigsten war es, daß im alten England nun doch eine Möglichkeit
bestand, den Traum ihres Lebens zu verwirklichen.
Martha war allmählich etwas enttäuscht von Massachusetts. »In
Neu-England ist man ein wenig abtrünnig geworden«, vertraute sie
ihrer Freundin Mrs. Wheeler an. Sogar in Boston und Plymouth. »Der
Fisch hat die Menschen von Gott abfallen lassen.«
Der Fangertrag an der Küste Neu-Englands war phantastisch und
übertraf die kühnsten Träume der Siedler. Jedes Jahr schickten die
Fischer in Massachusetts bis zu einer halben Million Fässer voll
Fisch über den Ozean nach England. »Gott hat ihnen einen solchen
Überfluß gegeben, daß sie glauben, Ihn nicht mehr zu brauchen«,
klagte Martha. Tatsächlich hatten der wachsende Reichtum der Leute
an der Küste und die Verheißung von Wohlstand für die Farmer und
Trapper, die im Landesinneren große Gebiete absteckten und für sich
beanspruchten, sich auf den Glauben der Menschen ausgewirkt, so daß
es in der Kolonie kaum eine Kirche gab, die nicht davon betroffen
war. »Sie sprechen von Gott, aber sie denken an Geld«, gab Martha
traurig zu. Und manche der Fischer machten sich nicht einmal mehr
diese Mühe. Martha konnte es nie vergessen, wie sich der älteste
Sohn Doggets, nun ein wohlhabender Kapitän, gegen sie gewandt und
gerufen hatte: »Verdammt, Weib, ich bin hergekommen, um zu fischen,
nicht um zu beten!« Protestantismus und Geld gingen in Neu-England
von nun an Hand in Hand.
Martha war verunsichert, als sie vor drei Jahren Gideons
drängende Rufe erhalten hatte. Nach dem Tode des Königs, versprach
er, würden Cromwells »Heilige« eine neue Ordnung aufbauen, die
ihrer würdig war. »Wir brauchen Dich hier«, schrieb er. »Und auch
Dein Mann braucht dringend Deine moralische Führung.« Anderthalb
Jahre lang hatte sie gezögert, bevor sie sich schließlich zur
Rückkehr entschloß. Mit ihr kamen Doggets jüngerer Sohn, dem es
nicht gelungen war, in Massachusetts das Bürgerrecht zu erhalten,
und der in London sein Glück versuchen wollte, und ihre eigene
Tochter.
Das England, das sie erwartete, war ein ungewohntes Land. Nach
der Hinrichtung des Königs hatte sich die Verfassung abrupt
geändert. Das House of Lords wurde abgeschafft. England hieß nicht
länger Königreich, sondern das Commonwealth of England, regiert vom
House of Commons. Cromwell, der große General des neues Staates,
wurde jedes Jahr mächtiger. Als der älteste Sohn Karls I. Karl II.
versuchte, mit einer schottischen Armee in sein englisches
Königreich einzumarschieren, erlitt er eine vernichtende Niederlage
und lebte nun im Ausland. Auch die aufständischen Iren hatte
Cromwell niedergeworfen und vollkommen unterjocht. Sogar die
Levellers in seiner eigenen Armee waren gefügig gemacht worden. Im
Commonwealth of England herrschte Ordnung, das Land war bereit, das
Gesetz Gottes zu empfangen.
Natürlich gab es viel zu tun; die leuchtende Stadt konnte
nicht an einem Tag erbaut werden. In Marthas Augen hatte Cromwell
eine Schwäche: seine religiöse Toleranz. Daher blieb in den
Londoner Kirchen einiges an Durcheinander bestehen.
Die Herrschaft der »Heiligen« erstaunte sie; nie zuvor hatte
die alte Stadt so etwas gesehen. Die Veränderungen wurden von einer
tatkräftigen Minderheit durchgesetzt; diese wenigen
Gottesfürchtigen genossen jedoch breite Unterstützung. Der Sonntag
wurde strikt eingehalten; kein Sport war erlaubt, selbst ein
Spaziergang, es sei denn zur Kirche, wurde mißbilligt; Maibäume
waren verboten. Die Gerichte verschafften dem Moralkodex
nachdrücklich Geltung, indem sie strenge Strafen für grobe Unmoral
und Geldbußen für kleinere Übertretungen verhängten. Das Allerbeste
für Martha war, daß die Schauspielhäuser, die man zu Beginn des
Bürgerkrieges geschlossen hatte, nun vernagelt wurden und der
Befehl erging, sie nie wieder zu öffnen.
Und wie gesegnet war sie, dachte Martha, daß ihre eigene
Familie so gesund und gottesfürchtig war. Gideons Kinder waren nun
alle verheiratet, sogar Perseverance hatte einen würdigen, wenn
auch schweigsamen Gatten gefunden. O Be Joyful würde ein
vortrefflicher Holzschnitzer sein.
Was sie ein wenig verwirrte, war das Wohlergehen ihres Gatten.
Gideon hatte so eindringlich geschrieben, daß Dogget ihre
moralische Führung brauche, daß sie ihn am Tag nach ihrer Rückkehr
gefragt hatte, was er meine, doch Gideon war unwillig gewesen, sich
genauer zu äußern. »Trinkt er?« fragte sie, »oder flucht er?« Sie
wußte, daß Dogget kein so starker Charakter wie sie war, aber er
war kein schlechter Kerl, und sie erinnerte Gideon: »Wir müssen
unserem schwächsten Bruder Mitleid und Vergebung bekunden.«
Es war ihre Pflicht, Dogget zu lieben, aber auch, ihm zu
helfen, sagte sie sich. In der ersten Nacht, die sie zusammen
verbrachten, hatte er den Arm um sie gelegt, was sie für angemessen
hielt, doch als er seine Hände in der zweiten Nacht versuchsweise
ein wenig hatte wandern lassen, hatte sie ihm sanft Vorwürfe
gemacht. »Diese Dinge tut man, um Kinder zu zeugen«, sagte sie.
»Aber Gott gibt uns keinen Grund mehr für so etwas.« Und sie war
froh, daß er demütig gehorchte.
Sie gab auch zu, daß sie froh über Mrs. Wheeler war, die ihn
ihr manchmal für ein oder zwei Stunden abnahm. Sie konnte ihre
lange Fehde mit Sir Julius zwar nicht ganz billigen, aber sie hegte
keinen Zweifel, daß Sir Julius im Unrecht war und es verdiente, zur
Rechenschaft gezogen zu werden.
Hätte Jane auf Meredith' Rat gehört, so hätte sie die Sache
schon lange aufgegeben. »Früher oder später wird herauskommen, daß
Barnikel ein Mohr und ein Pirat war«, warnte er sie. »Dann wirst du
deinen Ruf verlieren, und selbst die Rundköpfe werden Sir Julius'
Wort höher bewerten als das eines Piraten.« Aber Jane wußte, daß
Sir Julius log, und wollte sich nicht zum Narren halten lassen. »Es
ist mir egal«, erwiderte sie Meredith. »Ich will mein Geld.« Ihre
Anwälte schrieben Julius weiterhin Briefe, aber es kam nichts dabei
heraus, und sie wurde von ihm höflich ignoriert. Im Dezember dieses
Jahres, als Jane die Frau des Baronets auf dem Markt Fleisch
einkaufen sah, hatte sie plötzlich eine Idee für eine neue
raffinierte Offensive. Sie ging zu Martha.
Es erstaunte Jane immer noch, daß die ernste Puritanerin
niemals bemerkt hatte, daß sie eine Affäre mit ihrem Mann hatte.
Obwohl diese Affäre aus ihrer Sicht auch ein Akt der Freundschaft
für einen einsamen Mann war. Nach Marthas Rückkehr hatte sie
angenommen, daß es aus sein würde, aber Dogget hatte ihr traurig
erzählt: »Sie sagt, wir sind zu alt dafür. Gott würde es nicht
billigen.« Martha selbst begehrt ihn offenkundig nicht, dachte
Jane, sie scheint ganz froh zu sein, wenn sie ihn los ist. Daher
ging die Affäre weiter.
Sie trafen sich meist am Samstagnachmittag. Martha und der
Rest der Familie besuchten den Nachmittagsgottesdienst in St.
Lawrence-Silversleeves oder gingen manchmal weiter hinaus, um eine
Predigt zu hören. Martha schien nichts dagegen zu haben, wenn ihr
Mann zu Hause blieb, und dann ging er zu Jane Wheeler und
verbrachte dort ein oder zwei Stunden. Selbst wenn er gelegentlich
erwähnte, daß er sie besucht hatte, dachte sich Martha nichts
dabei.
Daher war Martha empfänglich für Janes Plan. »Ihr habt recht«,
meinte sie. »Man sollte etwas tun. Ich werde mit Gideon
reden.«
Am 25. Dezember 1652 setzten sich Sir
Julius Ducket und seine Familie an den Tisch in dem großen,
vertäfelten Zimmer und lächelten einander verschwörerisch zu, denn
sie schickten sich an, ein Verbrechen zu begehen. Vor dem Mahl
jedoch holte Sir Julius wie gewohnt ein kleines Buch heraus. Kein
wichtiger Jahrestag verging, ohne daß er daraus vorlas und seine
Familie an ihre Pflichten erinnerte.
Es war ein erbauliches kleines Bändchen mit dem griechischen
Titel Eikon Basilike, »Das Bild des Königs«. Es hieß, der
Text bestehe aus den Gebeten und Reflexionen des gemarterten
Königs, und es hatte innerhalb von drei Monaten nach Karls Tod
dreißig Druckauflagen erreicht. Dann hatte man den großen
puritanischen Dichter John Milton aufgefordert, ein Pamphlet
dagegen zu schreiben, doch es nützte nichts. Selbst Menschen, die
das Parlament unterstützten, aber Zweifel an Cromwells neuer
Militärregierung hegten, lasen manchmal das Buch des Königs, und da
sie nur demütige Frömmigkeit darin fanden, begannen sie sich zu
fragen, ob seine Hinrichtung gerecht gewesen war.
Für die Familie Ducket war das Buch wie eine kleine Bibel und
der König ein heiliger Märtyrer. Nachdem Sir Julius ein paar Seiten
gelesen hatte, legte er es nieder und erinnerte sie: »Karl II. ist
unser wahrer König; sollte er sterben, folgt ihm sein Bruder Jakob
nach. Denkt daran, wir haben es gelobt.« Dann begannen sie mit
ihrem Weihnachtsessen.
Sie wurden vollkommen überrascht, als plötzlich mit einem
Knall die Tür aufflog und Gideon mit vier Soldaten hereinmarschiert
kam. »Sir Julius«, erklärte er. »Ihr werdet den Richtern hierfür
Rede und Antwort stehen.« Das Verbrechen des Baronets bestand nicht
im Lesen des Buches, das er gerade noch in die Tasche stecken
konnte, sondern darin, daß er mit seiner Familie beim
Weihnachtsessen saß.
Das war ein weiteres Gebot der »Heiligen«. »Die großen
Feiertage sollen wie der Sonntag gehalten werden«, erklärten sie.
»Eine Zeit für feierliches Gebet, nicht für heidnische Feste.«
Jedermann, der beim Weihnachtsmahl ertappt wurde, lief Gefahr, vor
Gericht angeklagt zu werden. »Ihr habt den heiligen Feiertag
entweiht«, sagte Gideon voller Abscheu. »Durchsucht das Haus nach
abergläubischen Bildern und Beweisen für Papisterei«, befahl er
seinen Soldaten.
Julius konnte nichts dagegen tun. Eine halbe Stunde lang
gingen die Rundköpfe von Zimmer zu Zimmer, öffneten Schränke,
Truhen, drehten Matratzen um und durchsuchten sogar den Keller,
aber sie fanden nichts. Julius hatte keine Angst. Die Strafe für
das Weihnachtsessen würde nur eine kleine Geldbuße sein. Wütend
über diese Entweihung seines Zuhauses folgte er ihnen jedoch
überallhin. Er war in einem der oberen Räume, als er aus dem
Fenster blickte und Martha und Jane wartend am Gartentor stehen
sah. Martha verstand er. Aber warum Jane? Dann begriff er plötzlich
und schrie Gideon an: »Ihr sucht nicht nach papistischen Bildern,
nicht wahr? Ihr sucht nach dem Geld der Witwe Wheeler.« Und Gideon
errötete.
Als Jane auf dem Markt gesehen hatte, wie Julius' Frau ein
großes Rinderbratenstück kaufte, war sie auf den Gedanken gekommen.
Sie mußten ein Weihnachtsessen planen. Was für ein perfekter
Vorwand; Martha hatte den Rest organisiert.
Als Gideon fertig war, hatte Jane sich davongestohlen, so daß
Julius, der Gideon und seinen Männern ans Tor folgte, nur noch
Martha vorfand. Über das erträgliche Maß erzürnt, platzte er
heraus: »Was für eine gute Freundin Ihr seid, Mistress Martha. Ihr
helft Eurer Freundin bei der Suche nach ihrem Schatz und laßt sie
mit Eurem Mann schlafen.«
Martha runzelte die Stirn und sah Gideon an. Er war
totenbleich.
Im puritanischen London des Commonwealth
gab es vieles zu sehen, das die Gläubigen erbaute und sogar
inspirierte. Aber nichts konnte der berühmten Predigt im Jahr 1653,
bekannt als Meredith' letzte Predigt, gleichkommen.
Edmund Meredith war über achtzig, und man sah es ihm nun an.
Seit einer schweren Krankheit im Jahr zuvor war er mager und
eingefallen. Vom Tod gezeichnet, zeigte er sich dieser Lage
gewachsen. Seine Methode war einfach. Nachdem die Herrschaft der
»Heiligen« genau die moralische Bigotterie hervorgerufen hatte, vor
der er Jane zu warnen versucht hatte, war eine so große religiöse
Verwirrung entstanden, daß nicht einmal er wußte, auf welche Seite
er sich schlagen sollte: Presbyterianer, Quäker oder eine andere
freie Gemeinde? So hatte er sich über sie gestellt. Je inspirierter
und die Seele versengender seine Predigten wurden, desto
unmöglicher konnte man sagen, wo er stand. Doch das störte auch
keinen. Selbst die strengsten puritanischen Frauen, ganz in Schwarz
gekleidet, fühlten sich geneigt, in Ohnmacht zu fallen.
Zu seiner letzten Predigt stieg Meredith nur mit Mühe auf die
Kanzel. Mit seinem weißen, schulterlangen Haar und seinen tief
eingesunkenen Augen sorgte bereits seine Erscheinung für
ehrfürchtiges Schweigen. Sein Thema war wie immer der Tod. Es gab
so viele Gelegenheiten dazu: in der Fastenzeit eine Meditation über
Christi Tod und Auferstehung; im Advent über den Tod der
heidnischen Welt und die Geburt des christlichen Zeitalters. Es gab
nichts, in dem man nicht die Saat des Todes entdecken konnte. Als
er über seine Gemeinde blickte, sah er die himmlischen Heerscharen
auf sich zukommen, und er rief aus: »Denn mein Auge hat Dein Heil
gesehen.«
Er war bereit; die Gemeinde konnte es sehen. Es war
offenkundig, daß er jeden Augenblick sterben konnte, und diese
Möglichkeit machte seine Predigten ungeheuer populär. Im Herbst
letzten Jahres hatte er in St. Bride's, St. ClementDanes, St.
Margaret's, Westminster und sogar in St. Paul's gepredigt. Er erhob
sich auf die Zehenspitzen, als wolle er wirklich fliegen, hob die
Arme, wandte sein hageres Gesicht himmelwärts und rief mit bebender
Stimme: »Ich sehe Ihn kommen mit all Seinen Engeln; Er ist über
uns. Er umklammert mein Herz und das eure. Er ist hier.
Jetzt!«
Bei diesen Worten ließ er sich zurückfallen, bevor er wieder
die Treppe hinuntertaumelte und sich von zwei Helfern zu seinem
Sitz führen ließ.
Meredith' letzte Predigt war die beste, die er je gehalten
hatte. Daher war er ein wenig überrascht, als er sah, daß zwei aus
der Gemeinde, Martha und Gideon, sich schon zu Beginn leise
davonstahlen.
Jane und Dogget lagen zusammen in ihrem
Bett, als plötzlich die Tür aufging und sie sich Martha
gegenübersahen.
Es hatte nicht lange gedauert, bis Martha aus Gideon die
Wahrheit herausbekam. Einmal direkt darauf angesprochen, hatte er
nicht lügen können. »Ich weiß es nicht«, hatte er sich verteidigt,
»aber ich glaube, es stimmt.«
Nun hatte sie Gideon und noch eine Nachbarin bei sich. »Ich
brauche einen Beweis«, hatte sie zu Gideon gesagt. Und hier war der
Beweis. Die Nachbarin sah schockiert aus, Gideon verlegen. Marthas
Gesicht war angespannt und weiß. Als sie es gesehen hatte, drehte
sie sich um und ging. Als Meredith eine Stunde später Janes Bericht
hörte, sah er grimmig drein. »Genau das habe ich immer befürchtet.
Verflucht sollen diese ›Heiligen‹ mit ihren Moralpredigten und
ihren Hexenjagden sein. Nun seid ihr des Ehebruchs überführt. Und
auf Ehebruch steht die Todesstrafe.«
Der Prozeß gegen Jane und Dogget fand in der Guildhall statt.
Der Gerichtssaal war zum Bersten voll, und selbst bei den braven
Puritanern spürten manche müde Belustigung über das Alter der
Beschuldigten. Doch wohl kaum einer begriff die tiefere Ironie der
Sache. Daß hier vor einem strengen Richter und einer Jury von zwölf
Bürgern eine Frau an der Schwelle zum Alter stand, die über ein
Jahrzehnt von ihrem Mann getrennt gewesen war und eine andere, noch
ältere Frau anklagte, weil sie etwas mit ihrem Mann getan hatte,
was sie selbst in Wahrheit gar nicht tun wollte. Warum? Weil man
sie zum Narren gemacht hatte; weil sie eifersüchtig war, daß die
beiden sich liebten; weil ihr Gott ein rachsüchtiger Gott
war.
Der Beweis war unwiderlegbar. Das Verbrechen war gesehen
worden; die Zeugen waren verläßlich. Auf den Rat eines Anwalts, den
Meredith gefunden hatte, plädierten die Angeklagten auf nicht
schuldig. Die Zeugen, sagten sie, hätten die Situation
mißverstanden; es habe keinen fleischlichen Akt gegeben. Aber nicht
eine Menschenseele im Gerichtssaal glaubte diese offenkundige Lüge.
Jedermann wußte, was die Strafe für ihr Vergehen sein mußte. Im
Gericht wurde es still, als der Richter die Jury belehrte. Nach nur
wenigen Minuten gaben die zwölf Männer zu verstehen, daß sie bereit
waren. Feierlich stand der Obmann vor dem Richter, um die Frage zu
beantworten. »Nicht schuldig, Mylord«, erklang dann deutlich die
Antwort.
Martha erhob sich bebend vor Wut. »Nicht schuldig? Natürlich
sind sie schuldig.«
»Ruhe!« donnerte der Richter. »Die Jury hat gesprochen.« Er
nickte Jane und Dogget zu. »Ihr seid frei zu gehen.«
»Das ist eine Ungeheuerlichkeit!« rief Martha. Aber niemand
hörte zu.
Der Urteilsspruch war genau so ausgefallen, wie der Richter
erwartet hatte. Die »Heiligen« hatten in ihrem Eifer zwar strenge,
alttestamentarische Gesetze verabschiedet, aber sie hatten eines
übersehen: Die Verfahren mußten immer noch vor englischen
Geschworenen abgehalten werden. Und die gewöhnlichen Bürger hatten
ihre Menschlichkeit nicht ganz verloren. Der Gedanke, einen Mann
und eine Frau wegen Ehebruchs zu hängen, wie sehr sie das Betragen
der Schuldigen auch mißbilligen mochten, verletzte ihren
Gerechtigkeitssinn, und daher weigerten sie sich, sie schuldig zu
sprechen. In den dreiundzwanzig bekannten Fällen in London, die vor
Gericht gebracht worden waren, wurde nur einmal eine Verurteilung
ausgesprochen. Doch die Schwäche der Geschworenen bedeutete nicht,
daß das schuldige Paar ganz straflos ausging, denn da war immer
noch die Gemeinde. »Ihr könnt nicht im Kirchspiel bleiben«,
erklärte Meredith den beiden. Und das bewahrheitete sich
rasch.
Dogget wurde das Leben unerträglich gemacht. Seine beiden
Kinder kannten ihn kaum und folgten Marthas Vorbild. Keiner sprach
mit ihm. Für Jane war es noch schlimmer. »Hure!« wurde gerufen,
sobald sie auf die Straße trat. Der Mann am Ende der Straße brachte
ihr kein Feuerholz mehr; der Wasserträger blieb nicht mehr für sie
stehen. Die Händler an den Ständen in Cheapside ignorierten sie,
wenn sie etwas zu kaufen versuchte. »Du hast recht, wir müssen
gehen«, sagte sie am Ende des Monats traurig zu Meredith.
Es schneite an dem Tag Ende Januar, als Dogget, der zuvor alle
ihre Habe auf einem Karren fortgebracht hatte, zusammen mit Jane in
eine Fähre stieg und flußabwärts gerudert wurde. Ihr Ziel war eine
kleine Siedlung neben Westminster. Vor einem Jahrhundert hatten
einige französische Kaufleute dort eine Enklave gebildet, von der
aus sie Handel mit den Palästen Westminster und Whitehall treiben
konnten. Seither waren diese Straßen als »Klein-Frankreich«
bekannt. Man betrachtete den Ort als Zuflucht für Außenseiter,
obwohl in jüngster Zeit ein paar Literaten, darunter John Milton,
dorthin gezogen waren. »Zumindest könnt ihr dort in Ruhe leben«,
hatte Meredith ihnen geraten.
1660
In den 1650er Jahren schien Cromwells
Herrschaft stabil zu sein. Er hatte den König hingerichtet und
seinen Sohn nach Frankreich verjagt. Die Schotten waren
eingeschüchtert, die Iren blutig niedergeworfen.
Aber die Frage der Religion war immer noch nicht entschieden.
Außer Bischöfen wurde anscheinend alles toleriert. In St.
Lawrence-Silversleeves hatte Meredith sich in der Regel an die
presbyterianische Gottesdienstordnung gehalten, war dann aber zu
einer Zeremonie mit protestantischen Gebeten und Hymnen
übergegangen, die Martha vollkommen billigte. Andere Kirchen
verhielten sich ähnlich. Cromwell war in diesen Dingen so tolerant,
daß er das Parlament sogar zu einem Gesetz zwang, wonach Juden
wieder nach England durften. Seit König Eduard I. sie 1290 verbannt
hatte, waren keine mehr im Königreich gewesen. Viele Puritaner,
angeführt von ihrem Helden William Prynne, die Juden haßten,
protestierten lautstark, doch vergebens. Und kurz darauf entdeckte
Julius eine kleine Judengemeinde nahe bei Aldgate. »Sie wollen
sogar eine Synagoge bauen«, erzählte er seiner Familie. Julius nahm
lediglich eine religiöse Härte wahr; das anglikanische Allgemeine
Gebetbuch, das als royalistisch galt, war verboten, und die
Londoner durften Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen nur von
Verwaltungsbeamten vornehmen lassen. Als Julius' Sohn heiratete,
fand sein Vater einen loyalen Geistlichen, der die Zeremonie in
seinem Haus zelebrierte.
Bedeutsamer als all diese Verwirrung war, daß niemand,
einschließlich Cromwell, sich entscheiden konnte, wie das
Commonwealth regiert werden sollte. Alles wurde ausprobiert. Zuerst
sollte das Parlament regieren, doch es war mit nichts
einverstanden, stritt sich mit der Armee und weigerte sich, sich
selbst aufzulösen. Cromwell warf es hinaus, ebenso wie mehrere
Nachfolger in verschiedenen konstitutionellen Experimenten.
Cromwell hatte sich bereits zum Protektor gemacht, und was vom
Parlament noch übrig war, war der Armee mittlerweile so
überdrüssig, daß es ihm vorschlug, unter der alten Verfassung König
zu werden. »Dafür haben wir nicht gekämpft!« rief die Armee der
»Heiligen«.
Meredith hielt noch häufig seine letzte Predigt, und als er
schließlich starb, tat er es stilvoll. Er hielt die Predigt auf der
überdachten Freiluftkanzel St. Paul's Cross, vor Hunderten von
Zuhörern; er hatte einen Text aus der Offenbarung des Johannes
gewählt und kam gerade zu seinem Crescendo, das hagere Gesicht nach
oben gewandt. »Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde«,
rief er. »Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, aus dem
Himmel herabkommen. Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her
rufen: Seht die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer
Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein!« Da stürzte er von der
Kanzel, und er erhob sich nie wieder.
Trotz seiner Differenzen mit Meredith hatte Julius ihn
schließlich toleriert, und nach seinem Tode freundete er sich mit
Richard, dem Sohn des Predigers, an. Er war ein kluger junger Mann,
hatte in Oxford studiert und wäre gerne Priester geworden, wie er
Julius anvertraute, doch als Anglikaner war dies nicht möglich.
Statt dessen hatte er Medizin studiert, um sich als Arzt
niederzulassen. Er hatte den geheimen Skeptizismus und den
wißbegierigen Geist seines Vaters.
Das einzige Thema, das Julius weiterhin peinlich berührte, war
Jane Wheeler. Er hörte, daß Dogget drei Jahre nach ihrem Fortgang
gestorben war; und er war sehr froh, daß sie in KleinFrankreich
blieb. Und wenn ihn manchmal seine Schuld an Jane quälte,
beschwichtigte der Gedanke an seine Treue zu den Söhnen des seligen
Königs sein Gewissen. Zusammen mit ein paar anderen Loyalen sandte
er weiterhin Briefe an den exilierten König, der in Frankreich
wartete. Und er war außer sich vor Freude, als Oliver Cromwell 1658
unerwartet starb.
Der Zusammenbruch des Commonwealth dauerte kaum mehr als ein
Jahr. Cromwells Sohn, der liebenswürdig, aber ohne Ehrgeiz war, gab
die Nachfolge fast sofort auf; Parlament und Armee zankten
weiterhin. Nachdem Julius alles neun Monate lang beobachtet hatte,
wagte er es, höchstpersönlich zu schreiben: »Wenn Eure Majestät
einen Kompromiß mit dem Parlament schließen will, was Euer Vater
nie getan hätte, und wenn Eure Majestät die Armee besoldet, was das
gegenwärtige Parlament nicht will, dann könnte dieses Königreich
das Eure sein.«
Eines Tages kam ein Bote mit Nachrichten, die Julius
erfreuten. »Der König dankt Euch für Eure standhafte Treue, die
weder Er noch sein Vater je vergessen haben.« Der Bote lächelte.
»Er ist ein weit fröhlicherer Mensch als sein Vater, wißt Ihr. Er
sagt, er würde eher Kompromisse mit einer Ladung Affen schließen,
als sein ganzes Leben lang im Exil zu bleiben. Übrigens, er weiß,
daß Ihr durch Eure Treue Bocton verloren habt. Es wird Euch
zurückgegeben, sobald er König ist.«
Und schließlich, im Frühjahr 1660, hörte Julius mit
unaussprechlicher Freude den Ruf: »Der König kommt. König Karl II.
regiert. Lang lebe der König!«