DIE FLAMME GOTTES

1603

ZWEI MÄNNER AUF der britischen Insel, mehrere hundert Meilen voneinander entfernt, ersehnten in den nassen, windigen Märztagen des Jahres 1603 ein persönliches Zeichen von Gott. Im Norden wartete Jakob Stuart, König von Schottland, auf einen Boten. Denn unten im Süden, in einem Palast an der Themse, lag die alte Königin Elisabeth im Sterben. Und wer sollte ihr Nachfolger werden?
Jakobs Großmutter stammte aus dem Hause Tudor, sie war König Heinrichs Schwester gewesen, so daß er der nächste Blutsverwandte war. Obwohl Sohn dieser heimtückischen Katholikin Maria, Königin der Schotten, war Jakob selbst makellos. Man hatte ihn auf den Thron seiner Mutter gesetzt, die er kaum kannte, und ihn dazu ausgebildet, als vorsichtiger Protestant zu regieren. Dafür hatte das strenge schottische Reformationsparlament gesorgt.
Dann, eines Morgens, kam Wind auf, und der Sturm der Zeit blies durch die Ahnengalerie der Tudors. Ein Bote ritt nach Norden. Das Zeitalter der Stuarts hatte begonnen.
Von St. Mary-le-Bow aus ein Stückchen die Gasse hinunter, dort wo früher einmal ein Gasthaus gewesen war und vor Jahrhunderten das Schild mit dem Bullen gehangen hatte, stand nun ein sehr schönes Wohngebäude. Gebaut aus Ziegeln mit Fachwerk, mit Mörtel verputzt, fünf Stockwerke hoch und umgeben von einem ummauerten Obstgarten, überragten seine drei Giebel das darunter gelegene kleine Kirchspiel St. Lawrence-Silversleeves.
Alderman Ducket mit seinem Abscheu davor, daß in Blackfriars wieder Schauspiele aufgeführt wurden, wohnte hier seit zwei Jahren, und als der Bote zu seinem Ritt nordwärts zu König Jakob aufbrach, ging es auch für Ducket um das Schicksal seiner Familie. Vorsichtig blickte er in die Wiege, in der das Neugeborene lag. Verstohlen steckte er die Hand hinein und fühlte nach den Fingern. Dann lächelte er erleichtert.
Dreimal hatte er geheiratet. Drei Kinder hatte er von seiner ersten Frau, drei von seiner zweiten, und nun, von seiner dritten Frau, lag da sein neuntes Kind. Und alle waren sie frei von dem Fluch der feinen Schwimmhäute an den Fingern. Er hatte nie den Tag vergessen, als er, noch ein kleiner Junge, die Hände seines Großvaters betrachtet hatte. »Mein Großvater hatte dieselben Hände«, hatte der alte Mann ihm erklärt. »Und der hatte sie ebenfalls von seinem Großvater – dem Ducket, der in den Fluß getaucht ist und die Erbin der Bulls geheiratet hat.«
Die Duckets waren reich. Als König Heinrich die Klöster aufgelöst und dabei einen großen Teil des riesigen Kirchenschatzes übernommen hatte, war der Großvater des Alderman als Silber-Ducket bekannt geworden, weil er davon soviel erworben hatte. Doch sie hatten nie versucht, ihre niedrige Herkunft zu verleugnen. Als Abkömmlinge auch der Bulls verachteten sie instinktiv jede Lüge, und außerdem wurden sie in jeder oder doch jeder zweiten Generation durch die feinen Schwimmhäute daran erinnert. Doch für Jakob Ducket war es so, als fließe in den großen Strom der patrizischen Bulls, zu dem er sich zugehörig fühlte, ein verschmutzter Bach. Schlimmer noch, in diesen zunehmend calvinistischen Zeiten konnte man darin das Mißfallen Gottes sehen, ein Zeichen, daß er und sein gesamtes Geschlecht womöglich nicht zu Gottes Auserwählten gehörten. Doch sein Vater war nicht verunstaltet gewesen, und auch er selbst nicht. Angstvoll hatte er jedes seiner neugeborenen Kinder, die dritte Generation, untersucht, und nun waren drei mal drei gekommen, allesamt unversehrt. Der Fluch war aufgehoben.
Als er auf sein neuntes Kind, seinen dritten Sohn, hinabblickte, lächelte er glücklich, und da er eine Neigung zur Geschichte der Antike hatte, verkündete er frohgemut: »Nennen wir ihn Julius. Wie Julius Cäsar, der Name eines Helden.«
Einen Monat später kam der Beweis der göttlichen Gunst, die der Familie nun anhaftete, als Ducket mit dem Lord-Mayor dem neuen König zur Begrüßung entgegenritt und zusammen mit den anderen Aldermen zum Ritter geschlagen wurde. Nun war er Sir Jakob Ducket, dem Monarchen durch heilige Lehnstreue verbunden. Und so konnte er seinen Kindern diese beiden wichtigen Lehren mitgeben: »Seid dem König treu. Es scheint, daß Gott uns auserwählt hat. Seid demütig.« Womit er natürlich eigentlich meinte: Seid stolz.
1605
Am Vorabend des 5. November, an dem Tag, an dem König Jakob – der erste dieses Namens in England, der sechste in Schottland – sein englisches Parlament eröffnen sollte, wurde entdeckt, daß unter dem Palast von Westminster eine große Menge von Pulver gelagert worden war und ein gewisser Guy Fawkes, zusammen mit anderen katholischen Verschwörern, die Absicht hatte, den König, das Oberhaus und das Unterhaus bei der Zeremonie in die Luft zu sprengen.
Dieses Komplott erregte riesiges Aufsehen. Sir Jakob Ducket nahm voller Grimm seine Familie mit zum Kirchhof der St.Paul's-Kathedrale, um den Hinrichtungen beizuwohnen. Der Säugling Julius war noch zu klein, doch als er vier Jahre alt war und die Kinder des Viertels gegenüber von St. Mary-leBow einen großen Scheiterhaufen errichteten und zum Gedenken an diesen Tag symbolisch eine Puppe als Guy Fawkes verbrannten, wußte er, was das bedeutete. Sein Vater hatte ihm eingeschärft: »Keine Papisterei, Julius. Die Papisten sind der innere Feind.«
1611
Es war unmöglich, Martha Carpenter nicht zu mögen. Niemand, der sie kannte, konnte sich vorstellen, daß sie jemals aus Bosheit handeln würde. Immer sanft, immer bescheiden, hatte sie in den siebenundzwanzig Jahren ihres Lebens niemals etwas für sich selbst verlangt. Als man ihr sagte, sie müsse zu Hause bleiben und für ihre Großmutter sorgen, nahm sie das als Pflicht der Liebe auf sich. Als Cuthbert auszog und das Globe baute, besuchte sie ihn weiterhin und betete für seine Seele, obwohl ihre Großmutter ihn verfluchte. Nun hielt sie ihrem Bruder die Bibel hin. »Schwöre«, sagte sie.
Mit vielen anderen Puritanern teilte Martha die Tugend der Hoffnung, eine wichtige Tugend, die die Welt verändern sollte. Die Reformation war nicht nur gekommen, um zu zerstören. Die wahre Lehre der Protestanten, wie sie es sahen, war eine Lehre der Liebe, und ihre besten Prediger vermittelten eine Botschaft außergewöhnlicher Freude.
Es gab viele solcher Männer in London. Als Kind war ihr Lieblingsprediger ein Schotte gewesen, ein alter Mann mit krausem weißem Haar und blauen Augen. »Nimm den Prunk, die Weltlichkeit und den Aberglauben der Kirche Roms fort«, hatte er ihr gesagt, »und was bleibt? Die Wahrheit. Denn wir haben das Wort Gottes in der Heiligen Schrift.« Wenn sie die Bibel las, sprach Gott unmittelbar zu ihr.
Mehrere ihrer Nachbarn im kleinen Kirchensprengel St. Lawrence-Silversleeves waren ebenfalls Puritaner. Wenn sie zusammenkamen, um eine Predigt zu hören oder gemeinsam in einem ihrer Häuser zu beten, geschah das im Geist der Nächstenliebe. Ermahnungen waren selten. Jede Gemeinde im presbyterianischen Schottland und in den calvinistischen Gebieten Europas war auf diese Art aufgebaut. Es gab keine Priester, jede Gemeinde wählte ihren eigenen Vorsteher. Es gab auch keine Bischöfe. Die Kirchspielversammlung wählte reihum regionale Ausschüsse, um ihre Tätigkeiten zu koordinieren. Und die Entwicklungen im Ausland hatten die Saat der größten aller Hoffnungen keimen lassen – daß Gottes Königreich vielleicht auf Erden kommen könne.
Natürlich konnte das wahre und vollkommene Königreich erst am Ende der Welt erwartet werden, das wußte man aus dem Buch der Offenbarung. Aber man konnte sich diesem Zustand immerhin nähern. War es nicht die klare Pflicht jedes frei geborenen Puritaners, zusammen mit seinen Brüdern zum Licht zu streben und Gottes Königreich – die strahlende Stadt auf einem Hügel – hier und jetzt aufzubauen? Letztendlich war das nicht mehr als der mittelalterliche Gedanke einer Gemeinde, doch diesmal eine Gemeinde für Gott.
Martha besaß auch die Tugend der Geduld, und Geduld war vonnöten. Als König Jakob aus dem presbyterianischen Schottland nach England gekommen war, hatten die Puritaner freudig erwartet, er würde den wahren Glauben mitbringen. Aber Jakob hatte es nicht gefallen, von den schottischen Presbyterianern gegängelt zu werden, und ihm war klar, daß die Autorität der Monarchie von der Oberhoheit über die anglikanische Kirche abhing. Die englische Staatskirche mit ihrem reformierten katholischen Glauben, ihren Bischöfen, Zeremonien und allem anderen mußte bleiben.
So hatte immer noch der Bischof von London die Herrschaft über die alte St.-Paul's-Kathedrale, und der Geistliche in dem kleinen Kirchspiel St. Lawrence-Silversleeves, unterstützt von Ducket und anderen Kirchenältesten, drang darauf, daß Martha und die puritanischen Gemeindemitglieder dreimal im Jahr zur Kommunion gingen und respektvoll ihren äußeren Konformismus zur Staatskirche zu Schau stellten.
Das Buch, das Martha nun ihrem Bruder hinschob, war die Genfer Bibel. Sie enthielt die gesamte Heilige Schrift, zur Zeit Heinrichs VIII. von Tyndale und Coverdale in einfaches Englisch übersetzt, und war seit einem halben Jahrhundert die geliebte Schrift jedes englischen Protestanten. Sogar illustriert war sie. Zwar war in diesem Jahr auf Geheiß des Königs eine neue Übersetzung entstanden, die weniger calvinistisch im Tonfall, aber auch weniger vertraut war. Obwohl sich diese neue King James Bible, die nun autorisierte Version, an der geliebten Genfer Bibel orientierte, enthielt sie viele klangvolle, vom Latein inspirierte Wendungen, die einfachen Puritanern nicht gefallen konnten, und wie die meisten wahren Protestanten hatte Martha nicht vor, sie zu benutzen.
Sie hatte Geduld mit Cuthbert gebraucht. Ihre Großmutter hatte gesagt, er sei verdammt, aber sie hatte die Hoffnung nie aufgegeben. Und allmählich schien es, als würden ihre Gebete erhört. Er hatte ein vernünftiges, durchaus nicht gottloses Mädchen geheiratet. Nach der Geburt einer Tochter überredete Martha die alte Frau sogar zu einem Besuch. Und nach der Geburt des ersten Sohnes hatten Cuthbert und seine Frau Martha gebeten, ihm einen Namen auszusuchen. Sie hatte einen Namen aus der Bibel gewählt. »Nennt ihn Gideon, denn er war ein Streiter des Herrn.« Aber dieses verfluchte Theater. Trotz ihrer Gebete geriet Cuthbert nach all diesen Jahren immer noch auf Abwege. Sie hatte immer seinem Freund Meredith, diesem Weiberhelden, die Schuld daran gegeben, aber schuld war teilweise auch der Bühnenautor Shakespeare, denn er schien die Bewohner Londons mit einem Zauberbann belegt zu haben. Macbeth, Othello, Hamlet – die Massen strömten zu Tausenden ins Globe, und der törichte Cuthbert lief ihnen nach. Shakespeare würde am Tag des Jüngsten Gerichts für einiges Rede und Antwort stehen müssen. Aber Cuthbert konnte gerettet werden, und heute hatte Martha ihre Chance.
Vor drei Wochen war ihre Großmutter gestorben, so daß sie allein in dem Haus zurückblieb, in dem sie und Cuthbert aufgewachsen waren. Cuthberts Wohnung war klein, seine Familie wurde jedes Jahr größer, und als er und seine Frau vor ein paar Tagen gekommen waren, um zu fragen, ob sie nicht diese größeren Räumlichkeiten teilen könnten, wußte Martha, was sie tun mußte. »Ich kann euch nicht in Großmutters Haus wohnen lassen, wenn ihr weiterhin ins Theater geht«, erklärte sie. »Es ist an der Zeit. Ich helfe euch, einen bösen Zauber zu brechen.«
Der arme Cuthbert dachte an seine Familie, und als ihm die Bibel hingeschoben wurde, schwor er. Dann ging er wieder, kummervoll, aber gerettet.
Sir Jakob war erstaunt, wie rasch Julius lernte. Vier seiner Kinder waren im Säuglingsalter gestorben, drei Mädchen und zwei Jungen hatten überlebt. Zwei der Mädchen waren verheiratet, der ältere Junge war mit sechzehn Jahren nach Oxford gegangen. Die Mädchen und der ältere Junge neigten zur Leichtfertigkeit und zur Faulheit, doch an Julius konnte Sir Jakob keinen Fehler finden. »Keine Papisterei!« oder »Gott schütze den König!« rief er mit vier Jahren so laut, daß selbst Sir Jakob belustigt war. Wenn er ausging, genoß er es, Julius dabeizuhaben. Diese Unternehmungen verliefen stets nach demselben Muster. Wenn sie die Gasse hinaufgingen, vorbei an Mary-le-Bow, bogen sie rechts ab nach Cheapside, wie Westcheap nun genannt wurde. Bekleidet mit einem dunklen Umhang und Rock, passenden Beinkleidern und Schuhen mit Silberschnallen, den exakt gestutzten grauen Bart über einer gestärkten weißen Halskrause, einen Stock mit Silberknauf in der Hand, erschien Sir Jakob Ducket stets als das, was er war, als protestantischer Gentleman. Und wie stolz war Julius, nun acht Jahre alt und in Breeches und Rock gekleidet, mit einem großen, weichen Spitzenkragen, wenn er an seiner Seite schritt und die höflichen Verbeugungen der vorbeigehenden Männer entgegennahm. Ihre erste Anlaufstelle war stets die Gildehalle der Seiden- und Textilhändler, der Mercer.
Die Welt der Londoner Gilden war prachtvoller denn je. Die größten, darunter die Mercer, hatten nicht nur eigene Wappen, sondern auch ihre offiziellen Livreen und waren als Livreegesellschaften bekannt. Wie andere Gilden während der Tudorzeit hatten die Mercer, immer noch an der alten Stelle, wo Thomas Beckets Haus gestanden hatte, einen luxuriösen Bankettsaal erbaut, mit riesigen Eichenbalken an der Decke und vielen Vergoldungen. »Wir waren immer Mercer«, wurde Julius von seinem Vater erinnert.
Doch ihr eigentliches Ziel, vorbei an Cheapside und der Poultry, ein Stückchen den Cornhill hinauf, war ein Ort, den Julius liebte. Er lag auf dem sanft abfallenden Hang des östlichen Stadthügels, gerade unterhalb der riesigen Stätte, wo vor zwölfhundert Jahren einmal das römische Forum gewesen war.
Ein großer, quadratischer, gepflasterter Hof, um den sich die Gebäude im Renaissancestil mit offenen Arkaden gruppierten, erbaut unter Elisabeths Herrschaft auf Initiative von Sir Thomas Gresham, einem Seiden- und Textilhändler. Es war die Königliche Warenbörse. Hier wagte Sir Jakob Ducket zu Beginn des Stuart-Zeitalters Spekulationen, von denen seine Vorfahren nicht einmal hätten träumen können.
Während des ganzen Mittelalters hatten die riesigen Flotten der deutschen Hansestädte die nördlichen Meere beherrscht, und die mächtige Börse von Antwerpen in Flandern war das Zentrum des gesamten nordeuropäischen Handels gewesen. Doch während der vergangenen sechzig Jahre hatten sich gewaltige Veränderungen vollzogen. Mit neuem Selbstbewußtsein hatte die englische Handelsschiffahrt dem Monopol der Hanse solche Einbußen zugefügt, daß der Stalhof der Hanse in London schließlich geschlossen worden war, und als die Reformation das protestantische Antwerpen in einen ruinösen Krieg mit seinem katholischen Oberherrscher, dem Haus Habsburg, führte, schnappte sich London einen dicken Brocken des flandrischen Handels. Die neue Königliche Warenbörse, in der sich die Londoner Kaufleute trafen, war eine Nachbildung der großen Börse in Antwerpen.
Doch die eigentliche Veränderung ging tiefer. Die Bulls, Sir Jakobs Vorfahren, stolze Mitglieder der Tuch- und Wollhändler, hatten Wolle und schließlich auch Tuch exportiert. Silber-Ducket hatte bereits mehr Tuch als Wolle ausgeführt. Doch diese alten Gilden waren allmählich reif für den Niedergang. »Das Wachstum muß anderswo herkommen«, hatte Silber-Ducket prophezeit. Eine Gruppe wagemutiger elisabethanischer Unternehmer, zumeist Seiden- und Textilhändler, standen im Zentrum dieser Entwicklung; »Kaufleute und Abenteurer« nannten sie sich selbst. Als Freibeuter wie Francis Drake neue Märkte erschlossen, wurden Reisen und Transporte finanziert; man strebte nach Handelsprivilegien und Verträgen. Einzelne Gruppen erschlossen jeden neuen Markt, doch da ihr Geschäft große Investitionen in der Schiffahrt erforderten, mußte das Risiko aufgeteilt werden. So wurde in London die Kapitalgesellschaft geboren. Die Levantinische Gesellschaft, die Moskauer Gesellschaft, die Guineagesellschaft, die Ostindiengesellschaft – an der Königlichen Warenbörse wurde Julius mit jeder vertraut. Sir Jakob hatte Anteile bei allen. Er erzählte Julius davon oder las dem Jungen manchmal aus den aufregenden Reiseberichten Richard Hakluyts vor. Eines Tages an der Warenbörse, als sein Vater ihn fragte, welches dieser großen Abenteuer er am liebsten mochte, rief Julius begeistert: »Die Virginiagesellschaft.«
Als Sir Walter Raleigh diesem großen amerikanischen Gebiet seinen Namen gegeben hatte, lebten dort lediglich einige Indianer; Versuche, eine Handelsniederlassung zu gründen, scheiterten. Doch in den letzten paar Jahren hatte die Virginiagesellschaft Siedler ausgeschickt, um es noch einmal in der riesigen amerikanischen Ödnis zu versuchen, und Captain John Smith hatte einen eher unsicheren Brückenkopf namens Jamestown gegründet. »Warum Virginia?« fragte Sir Jakob.
Wie konnte der Junge es erklären? War es die romantische Verlockung dieses riesigen unentdeckten Kontinents, die seine Begeisterung angefacht hatte? »Weil es wie Ulster sein wird«, antwortete er, in Erinnerung an einige Dinge, die er seinen Vater hatte sagen hören.
Sir Jakob blickte entzückt auf ihn nieder. Die Besiedlung von Ulster in Nordirland war für ihn eine Quelle des Stolzes. König Jakob hatte beschlossen, in diesem Land unzivilisierter Papisten eine große Kolonie englischer und schottischer Siedler zu gründen. Man hatte zu günstigen Bedingungen Land angeboten und eine Vereinbarung mit den Londoner Gilden getroffen, die in großem Stil investierten, um für spätere Renten und Profite Bauernhöfe auszustatten und die gesamte Stadt Derry neu aufzubauen. Was nun Virginia betraf – waren die unzivilisierten Papisten Irlands und die heidnischen Indianer Amerikas nicht ganz ähnlich? Der König und Sir Jakob drückten sich eindeutig aus: »Virginia soll das Ulster Amerikas sein.«
Einen Monat später fand Julius die Seemannstruhe. Sie stand in einer Ecke des großen Kellers im Haus seines Vaters hinter einigen Tuchballen – eine dunkle alte Truhe, beschlagen mit einem Gitterwerk von Messingbändern, die schon lange schwarz geworden waren, und gesichert mit drei Vorhängeschlössern. Julius vermutete, daß sie sehr alt war.
Die Londoner Warenbörse mochte das Abenteuer des Neuen repräsentieren, doch der Knabe war immer noch von der alten Welt umgeben. In seinem Zuhause gab es die schweren Himmelbetten aus der Zeit König Heinrichs, eine ChaucerAusgabe von Caxton, gedruckt kurz nach den Rosenkriegen, und das noch ältere Tafelsilber aus den Klöstern, das SilberDucket erworben hatte. Sogar die Eichenvertäfelungen und die Eichendecken mit ihren Streben und runden Zierknöpfen, die erst vor zehn Jahren eingebaut worden waren, schienen die Patina eines alten, rauchigen Zeitalters zu tragen. Ebenso war es in Bocton. Die Fassade des alten Sandsteinhauses war zwar in der Tudorzeit mit einer gleichmäßigeren Doppelreihe von Fenstern mit Mittelpfosten neu gestaltet worden, doch die Bauern des Landguts kamen immer noch in den alten Gerichtssaal, um ihre Pacht an den Grundbesitzer zu bezahlen, und die schwarzen alten Kessel in der Küche waren seit der Zeit der Plantagenets in Gebrauch.
Die alte Seemannstruhe sah so geheimnisvoll aus, daß Julius seinen Vater danach fragte und erstaunt die Antwort vernahm: »Das ist ein Piratenschatz.«
Ein richtiger Pirat, und, noch aufregender, ein Mohr. Gebannt hörte der Junge zu, als sein Vater ihm von dem fremdartigen Seefahrer erzählte, der ihm den Schatz zur Verwahrung gegeben hatte. »Es heißt, er habe ein Mädchen vom Globe entführt, aber niemand weiß etwas Genaues. Man hat ihn nie wieder gesehen. Die einen sagen, er sei nach Amerika gefahren, die anderen meinen, nach der Südsee. Wenn er je zurückkehrt, wird es für ihn wohl die drei Gezeiten geben.« Jedermann wußte, was die Strafe für Piraten war. Bei Ebbe band man sie in Wapping, vom Tower aus etwas flußabwärts, an einen Pfahl und ließ sie dort, bis sie dreimal von der Flut überströmt worden waren – ein passender Wassertod. Die alten Freibeuter hatten ihre Rolle ausgespielt. Da König Jakob nun mit Spanien Frieden geschlossen hatte, brauchte man sie nicht einmal mehr zu Englands Verteidigung. Zwar war den Puritanern jeder Hauch von Freundschaft mit dem katholischen Feind zuwider, aber es war nun einmal so, daß England sich kostspielige Kriege nicht leisten konnte. Daher brauchte man keine Piraten mehr, die feindliche Schiffe ausplünderten. Männer wie der Finstere Barnikel gehörten in Ketten.
Aber Julius war einfach fasziniert. In seiner Phantasie war der Finstere Barnikel bereits zu einem Riesen geworden, und er wäre wohl in einen Tagtraum versunken, wenn die Stimme seines Vaters ihn nicht aufgeschreckt hätte. »Ich will, daß diese Truhe dich etwas Wichtiges lehrt. Überleg einmal. Wenn dieser Schatz dem König gehörte, würde ich ihn dann mit meinem Leben bewachen?«
»Natürlich, Vater.«
»Aber er ist mir von einem Piraten anvertraut worden, der es verdient, gehängt zu werden. Sollte ich also dennoch auf den Schatz aufpassen?« Der Junge zögerte. »Ja, Julius«, mahnte der Vater, »weil ich mein Wort gegeben habe. Und dein Wort muß heilig sein, Julius. Vergiß das nie.«
Und Julius vergaß es nie, obwohl er sich insgeheim fragte, was aus dem Piraten geworden war.
1613
Ende Juni 1613 ereigneten sich zwei Wunder. Zuerst brannte das Globe Theatre völlig ab. Es geschah während einer Vorführung von Shakespeares Heinrich VIII.: Eine Kanone, die auf der Bühne abgefeuert wurde, sprühte Funken in das Reetdach, so daß das ganze Theater zu brennen begann. Cuthbert, der sein Wort gehalten und seit zwei Jahren kein Stück mehr gesehen hatte, blickte traurig drein, doch Martha, die darin ein deutliches Gottesurteil sah, wurde es leichter ums Herz.
Und zweitens heiratete Martha. John Dogget, Cuthberts Freund mit der Bootswerkstatt, hatte plötzlich seine Frau verloren und stand mit seinen fünf kleinen Kindern verzweifelt da. »Er braucht eine Frau«, sagte Cuthbert zu Martha, »eine gute Frau, die sich um die Kinder kümmert.« Sie besuchte die Familie und stellte fest, daß Dogget ein hart arbeitender und gutmütiger Mann war, aber von all seinen Pflichten überfordert, so daß seine Kinder keine rechte Ordnung kannten. »Sie kennen kaum die Bibel«, bemerkte sie zu Cuthbert. »Du könntest sie retten. Es wäre eine Christenpflicht«, drängte er sie.
Einige Tage zögerte sie. Southwark hatte keinen Reiz für sie, doch sie konnte nicht leugnen, daß die Not der Doggets groß war, und daher suchte sie den Schiffsbauer wieder auf.
»Ihr müßt mich lehren, Euch eine Frau zu sein«, sagte sie sanft, und Dogget versprach es. »Einige Veränderungen werden nötig sein«, meinte sie.
»Natürlich«, erwiderte der zermürbte Vater. »Alles, was Ihr wollt.«
1615
Eines frühen Nachmittags im Oktober 1615 sahen zwei Männer einer Zusammenkunft entgegen. Keiner der beiden wollte dem anderen gerne begegnen. Der eine war Sir Jakob Ducket. Sein Besucher, etwa vierzig Jahre alt, gehörte dem geistlichen Stand an und trug einen dunklen Talar mit schmaler weißer Halskrause, hatte aber dennoch einen Hauch von Eleganz an sich.
Edmund Meredith hatte sein bestes Alter hinter sich. Seit seinem katastrophal gescheiterten Stück waren fünfzehn Jahre seines Lebens vergangen, aber was hatte er vorzuweisen? Drei weitere Stücke, die niemand aufführen mochte. Um so ärgerlicher, da das Theater mehr in Mode war denn je. König Jakob selbst war Mäzen der Schauspieler am Globe, das nach dem Brand prachtvoll wiederaufgebaut worden war. Shakespeare, anstatt sich zurückzuziehen, eilte von Erfolg zu Erfolg. Als Edmund sich einmal bei den Burbages beschwert hatte, daß Shakespeare seine Idee des Mohren für den Othello gestohlen habe, hatten sie ihm erwidert: »Es hat auch schon ein Dutzend Macbeths gegeben, aber der von Shakespeare ist es, den die Leute sehen wollen.« Edmund ging immer noch häufig ins Theater, hatte aber nicht mehr so viele Freunde dort; selbst die Flemings waren nur noch entfernte Bekannte.
Ihre Eltern waren zu dem Schluß gekommen, daß man Jane ermordet haben mußte, doch irgendein Instinkt sagte Edmund, daß sie am Leben sei; und da ihr Verschwinden in seinen Gedanken mit dem Theaterbesuch des Finsteren Barnikel verbunden war, hatte er das Gerücht von ihrer Entführung ausgestreut, das immer noch in der Luft hing.
Wirklich bedeutsam war sie jedoch für seine eigene Reputation. Vielleicht hatte es begonnen, als eine elegante Lady bemerkte: »Ich glaube, Master Meredith, Ihr habt einen geheimen Kummer, zweifellos eine Dame.« Zwei Jahre nach Janes Verschwinden hatte er einen Ruf als Kavalier erworben, der seine große Liebe verloren hatte, und er verfaßte einige leidenschaftliche Verse, die in weiten Kreisen kursierten. Doch im Laufe der Jahre wurde am Hof eine neue, gewinnsüchtige Nüchternheit vorherrschend, und seine elisabethanische Galanterie genügte nicht mehr. Schließlich dachte er tatsächlich daran zu heiraten. »Aber ich habe kein ausreichendes Einkommen.« Er wußte nicht, was er mit sich anfangen sollte, und so war er in den geistlichen Stand getreten. Obwohl die Kirche normalerweise nicht die Laufbahn für einen Gentleman war, hatten einige vornehme Männer, vom Hof enttäuscht oder der Welt müde, sie in den letzten Jahren eingeschlagen, und einer dieser Männer hatte Meredith tief beeindruckt.
Niemand konnte leugnen, daß John Donne in der Welt etwas dargestellt hatte. Eine Gentleman durch Geburt, aus einer Familie, die mit dem großen Thomas Morus verwandt war. Seine brillante Dichtkunst und seine Liebesaffären machten ihn zu einem Kavalier ganz nach Meredith' Herzen, und beide waren in London oft zusammengekommen. Donne war außerdem ein Günstling des Königs geworden, doch hatte König Jakob gesagt, er würde Donne nur helfen, wenn er die Weihen empfangen habe. Nun war Donne eifrig darauf bedacht, daß andere ihm auf dem Weg folgten, den man ihm aufgezwungen hatte. »Ihr könntet es weit bringen, wenn Ihr eine gute Predigt halten könnt«, meinte Donne. Nicht nur dies, dachte Edmund, der eine verlockende Aussicht erkannte; er könnte auch ein vornehmes Publikum gewinnen. Fast wie beim Theater.
»Ich glaube, ich verspüre den Ruf«, entschied er nach ein oder zwei Wochen. Und so wurde er ordiniert.
Als nächstes mußte er Pfründe finden. Auch hierbei bot Donne seine Hilfe an. »Es gibt ein unbesetztes Kirchspiel. Ich habe mit dem König gesprochen, und dieser mit dem Bischof von London. Ihr braucht Euch nur bei den Honoratioren der Kirchspielversammlung anzuempfehlen. Wenn Sie Euch billigen, gehören Euch die Pfründe. Ihr werdet kaum eine bessere Stellung finden. Der Tonangebende ist ein großer Aktionär der Virginiagesellschaft.« Es gab nur ein Problem. Der fragliche Honoratior war Sir Jakob Ducket.
Julius sah neugierig zu, wie Meredith nervös in das große, holzvertäfelte Empfangszimmer trat, in dem die Mitglieder der Kirchspielversammlung saßen. Sein Vater hatte ihm erlaubt zu bleiben, damit er die Pflichten seiner Familie kennenlernen konnte.
Wie die Stadt selbst hatte auch die überkommene mittelalterliche Ordnung in London ihre Form bewahrt. Unter dem gewählten Mayor regierten immer noch die Aldermen, jeweils einer in den vierundzwanzig Stadtbezirken. Jeder dieser Bezirke hatte seinen eigenen Rat, und, diesem unterstellt, hatte jedes Kirchspiel seine Versammlung, gebildet aus den wichtigsten Mitgliedern der Pfarrei – die sich faktisch selbst wählten –, die verantwortlich für Ordnung und Wohlergehen der Gemeinde waren. In diesem Kirchspiel war es zudem üblich, daß die Versammlung dem Bischof von London mitteilte, wer ihrer Meinung nach Vikar werden sollte. Die Kirchspielversammlung von St. Lawrence-Silversleeves bestand nur aus drei Männern: Sir Jakob, Alderman; ein Tuchhändler, der im Rat des Stadtbezirks war; und ein älterer Gentleman, der sich seit drei Jahren nicht geäußert hatte.
Das Kirchspiel mochte klein sein, aber dank einer Stiftung, die Silber-Ducket vor fünfzig Jahren eingerichtet hatte, waren es nun reiche Pfründe, die man nicht leichtfertig vergab. Nur auf Geheiß des Bischofs und aufgrund einer Nachricht vom Hof empfing Sir Jakob Meredith, den er heftig mißbilligte. Daher begann er ohne alle Höflichkeitsfloskeln:
»Schreibt Ihr immer noch Theaterstücke, Master Meredith?«
»Nein, Sir Jakob. Seit vielen Jahren nicht mehr. Nur einige religiöse, besinnliche Gedichte, allein für mich bestimmt.«
»Aber zweifellos habt Ihr eine Mätresse.«
»Nein, Sir Jakob.« Edmund war blaß geworden.
»Was hat Euch bewogen, in den geistlichen Stand zu treten?«
Edmund, aus der Fassung gebracht, weil er sah, wie ihm seine einzige Chance auf ein Amt durch die Finger glitt, platzte mit der Wahrheit heraus: »Weil ich keine andere Möglichkeit gesehen habe.«
Ein leises, unerwartetes Murmeln kam von dem Gentleman rechts von Sir Jakob. »Reue.« Auch der Tuchhändler nickte billigend. Ducket erkannte, daß er zu weit gegangen war. »Unsere Frage ist«, fuhr er milder fort, »ob diese Besserung ehrlich ist.«
Meredith hatte sich wieder gefaßt. Ernst blickte er die drei Männer an und erklärte ruhig: »Mein Großvater, Sir Jakob, war ein Gentleman am Hof König Heinrichs. Mein Vater folgte ihm nach, und ich habe nie jemanden sagen hören, daß mein Stand nicht ebenfalls adlig sei. Aus welchen Gründen sollte ich dann die heiligen Weihen empfangen, wenn nicht aus Überzeugung?« Das war gelungen. Eine unwiderlegbare Antwort. Denn in der Tat, warum sollte irgendein vornehmer Gentleman eine so bescheidene Beschäftigung suchen? Sir Jakob zögerte. Während dieser kurzen Unterbrechung fragte Julius, der am Kamin saß, unschuldig: »Ist es wahr, Sir, daß der König persönlich für Euch gesprochen hat?«
Edmund, von dieser Einmischung ebenso überrascht wie alle anderen, wandte sich an den Jungen. »Ich glaube, ja«, erwiderte er mit einem charmanten Lächeln.
Damit war die Sache erledigt; der Tuchhändler und der alte Gentleman strahlten freundlich. Sir Jakob war geschlagen und klug genug, es sofort zu erkennen. »Es scheint, Master Meredith, daß Ihr uns überzeugt habt«, erklärte er mit so guter Miene wie möglich. »Aber vergeßt nicht«, fügte er hinzu, »daß wir gute Predigten erwarten.«
Edmund, der seine Haut gerettet hatte, konnte nun darüber nachdenken, daß er womöglich für den Rest seines Lebens jeden Sonntag vor Sir Jakob predigen mußte und daß sein einziger wahrer Freund ein zwölfjähriger Junge Im kommenden Frühling summte und brummte es in der Gildehalle der Mercer geradezu vor Menschen. Julius, den sein Vater mitgenommen hatte, blickte sich wißbegierig um. Die neueste Sensation sollte hier zum ersten Mal in der Öffentlichkeit erscheinen. Draußen in Cheapside hatte sich eine große Menschenmenge zusammengefunden, denn alle hofften, vielleicht einen Blick zu erhaschen.
Das Stimmengewirr wurde lauter. Ein Mann, gediegen und gutaussehend, war von der anderen Seite her in die Halle getreten. »Rolfe«, flüsterte Sir Jakob, doch dann verstummte sofort alles im Saal, als sie eintrat.
Sie war fast wie ein Junge gekleidet: Samtrock mit einem großen Spitzenkragen und Manschetten, schlichter Hut mit steifer Krempe, unter dem sich ihr dunkles Haar hervorringelte. In der Hand hielt sie einen Fächer aus Straußenfedern. Sie ging sehr aufrecht, in kleinen Schritten. Abgesehen von der bräunlich-gelben Farbe ihrer Gesichtshaut hätte man nie vermutet, daß sie Indianerin war. Sie hieß Pocahontas.
Zumindest war das der Name ihres Stammes in Virginia, den die Geschichtsschreibung ihr zu geben beschlossen hat. Bei ihrem eigenen Volk war sie als Mataoka bekannt. Als sie zur Christin getauft wurde, nahm sie den Namen Rebecca an, und da sie eine indianische Prinzessin war, nannten die Londoner sie Lady Rebecca. König Jakob persönlich – so sehr achtete er auf königlichen Rang – hatte sogar Bedenken geäußert, daß eine Prinzessin, selbst von einem wilden Stamm, einen Bürgerlichen aus England geheiratet hatte. Die indianische Prinzessin, die mit den Siedlern Freundschaft geschlossen hatte, war seit drei Jahren mit Captain Rolfe verheiratet, und daher war es im Grunde genommen eine einfache Mrs. Rolfe, die als erste Amerikanerin England besuchte.
Ganz London hatte mittlerweile die romantische Geschichte gehört, wie Captain Smith aus Jamestown von ihrem Stamm gefangengenommen worden war und man ihm beinahe den Schädel eingeschlagen hätte. Dieses Indianermädchen, noch ein Kind, hatte den eigenen Kopf angeboten, um ihm das Leben zu retten. Mit Smith hatte es keine Romanze gegeben; sie war noch zu jung gewesen. Doch die auf diese Episode folgende Freundschaft mit den Siedlern hatte sie mit Rolfe zusammengebracht, und nun wurde sie in England als Heldin willkommen geheißen.
Für Julius sah sie jedoch kaum wie eine Heldin aus. Während sie im Saal umherging und hier und da ein paar Worte sprach, konnte man schwer entscheiden, ob ihre stille Anmut auf Scheu oder Hochmut zurückzuführen war. Einen Augenblick später sah Julius eine ausgestreckte Hand und ein Paar mandelförmiger brauner Augen, die ihn anstarrten. Er wußte, daß sie über zwanzig war, doch sie hätte fünfzehn sein können. Ihr Erscheinen war so sorgfältig inszeniert wie ein Theaterstück. Nachdem sie die Runde im Saal gemacht hatte, wurde sie hinausgeführt, gefolgt von der gesamten Gesellschaft. Ein Aufgebot von Dienern, alle in der Livree der Seiden- und Textilhändler, hob sie draußen auf der Straße auf eine offene Sänfte, die sie auf den Schultern trugen, so daß die Menschenmenge sie sehen konnte. Der Zug bewegte sich westwärts durch Cheapside, während die Indianerin den Menschen zuwinkte. Dann war sie plötzlich fort. Die Sänfte wurde abrupt gesenkt, Pocahontas stieg in die geschlossene Kutsche, die an der Honey Lane wartete, das Gefährt rumpelte davon und verschwand in der Milk Street. Alles war so geschickt gemacht, daß die Aufmerksamkeit der Menschenmassen noch nicht nachgelassen hatte, sondern nach einem neuen Ziel suchte. Wie auf ein Stichwort hörte man von einem Podium vor St. Mary-le-Bow eine tragende, aber einschmeichelnde Stimme, zu der sich die Leute nun umwandten. »Seht die Magd des Herrn! Heute, geliebte Brüder, haben wir ein Zeichen erblickt.« Es war Meredith, der zu predigen begann.
Tatsächlich befand sich die Virginiagesellschaft in Nöten. Nur ein paar Schiffe mit Siedlern waren ausgelaufen; es gab Gerüchte über harte Bedingungen, Indianerüberfälle, Hungersnöte, und die Gesellschaft machte Verluste. Sie brauchte Schützenhilfe. Ob die Geschichte mit Pocahontas und Captain Smith also nun strikt der Wahrheit entsprach oder ob die Virginiagesellschaft sie geschickt erfunden hatte – der Besuch der zum Christentum bekehrten Indianerprinzessin und ihres englischen Gatten war ein Geschenk des Himmels, das Sir Jakob und seine Freunde zur größtmöglichen Wirkung ausnützten.
Es war üblich, daß man einen Prediger bezahlte, der für eine gute Sache werben sollte; die Virginiagesellschaft beschäftigte oft Kaplane. Doch heute, mit einer Menschenmenge von fünfhundert Leuten vor sich, hatte Meredith eine große Chance, und er vertat sie nicht. Es war eine zweifache Botschaft, die er vorbereitet hatte. Der erste Teil bezog sich auf Pocahontas; damit sollte die Neugier der Menge geweckt werden. Die zweite Botschaft, der wahre Zweck der Predigt, war eine Ermunterung, sich in Virginia anzusiedeln. Edmund steigerte sich zu einem leidenschaftlichen rhetorischen Höhepunkt und schloß: »Komm nun und ergreife Besitz von deiner Braut, Virginia, deinem neu entdeckten Land.« Das war genau die Art von Predigt, die der Virginiagesellschaft gefiel. In dem Augenblick, als die Rede endete, mischten sich Angestellte der Gesellschaft rasch unter die Leute und verteilten Stapel von Handzetteln, die potentielle Siedler oder Investoren informierten, wie man sich an die Zentrale der Gesellschaft in der Philpot Lane wenden konnte.
Julius, der bei seinem Vater stand, konnte sehen, daß Sir Jakob hochzufrieden war, und freute sich, denn er mochte Meredith. Nachdem sie ihm gratuliert hatten und Sir Jakob geschäftlich anderswohin gehen mußte, war Julius zu aufgeregt, um direkt nach Hause zu gehen.
Als er schließlich heimkam, hatte er eine Neuigkeit für Sir Jakob. »Weißt du, Vater, ich habe etwas ganz Seltsames gesehen.«
Julius war nicht mehr oft mit Martha Carpenter zusammengekommen, seit sie das Kirchspiel verlassen hatte, um Dogget zu heiraten. Hin und wieder besuchte sie ihren Bruder und seine Familie, doch das war alles, und über ihre neue Familie in Southwark wußte Julius nichts. Daher war er neugierig gewesen, als er die kleine Gruppe in der Watling Street sah.
Auch sie waren gekommen, um Pocahontas zu sehen, und waren noch bei der Predigt geblieben: Dogget, fünf Kinder, davon das älteste ein oder zwei Jahre älter als Julius, und ein Säugling, der offenkundig von Martha war. Da Julius sah, daß Martha ihn erkannte, ging er höflich hinüber und sprach mit ihr.
»Der Bootsbauer und zwei von seinen Kindern haben eine weiße Strähne im Haar, Vater, genau wie wir. Aber am seltsamsten sind ihre Hände. Dogget und eins seiner Kinder haben eine Art feiner Schwimmhäute zwischen den Fingern.«
Eine Sekunde lang sah Sir Jakob aus, als habe man ihn geschlagen. »Wie war der Name? Dogget?« Sir Jakob wußte nichts von den Doggets in Southwark, noch konnte er sich vorstellen, daß solche Leute irgendwie mit ihm verwandt sein könnten. Außer natürlich im Zusammenhang mit dem Findling. Eine kalte Welle der Furcht durchzuckte Sir Jakob. Der Waisenknabe, das Gossenkind. »Der Fluch«, murmelte er. »Geh nicht zu diesen Leuten. Sie sind alle verflucht.«
»Meinst du die Doggets, Vater, oder auch Martha Carpenters Familie?«
»Alle.« Sir Jakob sagte das so entschieden, daß Julius es nicht wagte, weitere Fragen zu stellen. Gleich am nächsten Tag begann Sir Jakob insgeheim Erkundigungen über die Familie in Southwark einzuholen.
Obwohl dieser Vorfall Julius verwirrte, wurde jeder Gedanke daran verscheucht, als er in den folgenden Wochen mit seinem Vater aus der Stadt ritt, um eine Investition zu besichtigen, auf die Sir Jakob sehr stolz war.
Im alten London herrschte stets Mangel an anständigem Trinkwasser. Natürlich gab es die Themse. Aber wenn die Metzger ihre Abfälle hineingeworfen, die Gerber ihre Häute gewaschen, die Brauer, Färber und andere ihre Abwässer eingeleitet hatten und dazu dann noch die natürlichen Ausscheidungen einer Stadt von zweihunderttausend Menschen kamen, schmeckte das Wasser aus dem Gezeitenfluß alles andere als lieblich. Der Walbrook war unter Häusern verschwunden; der Fleet stank. Zwar funktionierten die alten Rohrleitungen aus Whittingstons Zeit noch und waren ausgebaut worden, doch die Versorgung war unzureichend, und selbst dieses Wasser mußte von Trägern, die jeweils zwei Eimer an einer Schultertrage hängen hatten, von Haus zu Haus geschleppt werden. »Wasser, kauft frisches Wasser!« hallten ihre Rufe jeden Tag in den Straßen wider.
Nun sollte das alles geändert werden, dank Sir Hugh Myddelton. Myddelton, ein Adliger aus einer führenden walisischen Familie, hatte in der Gilde der Goldschmiede ein großes Vermögen erworben; zudem war er ein Mann von großem Mut und Weitblick. Als er angeboten hatte, der Stadt ein neues Wasserleitungssystem zu bauen, waren der Mayor und die Aldermen mehr als dankbar gewesen, und Sir Jakob Ducket hatte begeistert einen Anteil an dem Unternehmen erworben.
Diese New River Company wurde von Myddelton selbst sachkundig geleitet. Ein Kanal wurde gebaut, in dem man Wasser aus frischen Quellen etwa zwanzig Meilen weiter nördlich heranführte. Oberhalb der Stadt war ein Speicherbecken, und innerhalb der Stadtmauern konnte das frische Wasser direkt in die einzelnen Häuser gepumpt werden. Dieses Unternehmen war so kostspielig und kompliziert, daß der König persönlich die Hälfte der Anteile gekauft und der Gesellschaft ein Monopol zugestanden hatte.
Nichts bereitete Sir Jakob mehr Vergnügen, als zusammen mit Julius aus London hinaus zureiten und dem Verlauf des Kanals bis zu dem Speicherbecken zu folgen, von wo aus man einen Blick auf die ferne Stadt hatte. Sie waren gerade aufgebrochen, als ein fröhlicher Ruf sie aufhielt. »Vater! Man hat mir gesagt, daß ich dich auf dieser Strecke finden würde.« Julius drehte sich um und sah eine hochgewachsene dunkle Gestalt mit stolzer, fast verachtungsvoll eleganter Haltung auf sie zureiten: sein älterer Bruder Henry.
Drei Jahre war es her, daß sie ihn gesehen hatten. Von Oxford aus war er mit einem Freund nach Italien gereist, hatte dort ein Jahr studiert und dann ein Jahr in Paris verbracht. Mittlerweile war aus einem blassen Studenten ein Mann geworden. In Schwarz gekleidet, dieselbe Silbersträhne im Haar, sah man sofort, daß er der Sohn seines Vaters war. Doch als er nun zu ihnen kam und die beiden Männer am Kanal entlangritten und Neuigkeiten aus London, Paris und vom französischen und englischen Hof austauschten, wurde sofort ein subtiler Unterschied zwischen ihnen deutlich. Sir Jakob war ein Gentleman, Henry ein Aristokrat; der puritanische Alderman war streng, der elegante Weitgereiste hart; der Vater glaubte an Ordnung, der Sohn an Herrschaft. Julius konnte kaum die Augen von ihnen wenden; sein Herz schwoll an vor Stolz. »Bist du nun für immer zurückgekommen?« wagte er schließlich zu fragen. Zu seiner großen Freude schenkte ihm Henry sein seltsames sardonisches Lächeln. »Ja, kleiner Bruder«, versprach er. »Nun bleibe ich.«
1620
In einer sternenhellen Nacht im Juli 1620 standen etwa siebzig Leute in einem Halbkreis am Themseufer und warteten auf die Morgendämmerung. Manche waren nervös, manche aufgeregt, doch Martha fühlte nur großen Jubel über den Ruhm des Herrn.
Seit Jahren hatten gottesfürchtige Menschen in London von dieser Unternehmung gesprochen. Aber wer hätte sich je träumen lassen, daß sie dabeisein würde? Wer hätte die außergewöhnliche Veränderung in der Familie Dogget vorhersehen können? Oder die unerwartete Haltung des Jungen. Oder die verwirrenden Umstände, die dazu geführt hatten, daß die Familie an diesem Morgen am Ufer stand. Martha sah zu ihrem Mann auf und lächelte. John Dogget jedoch lächelte nicht.
John Dogget liebte seine Frau. Als Jane Fleming vor zwanzig Jahren verschwand, war Dogget zutiefst bestürzt, doch die Zeit verging, und zwei Jahre später hatte er ein lebhaftes Mädchen geheiratet, Tochter eines Fährmanns, und war bis zu ihrem plötzlichen Tod sehr glücklich mit ihr gewesen. Die Monate, die dann folgten, waren so jammervoll gewesen, daß er kaum gewußt hatte, was er tat, als er Martha geheiratet hatte.
Bevor er sie an ihrem Hochzeitstag heimbrachte, hatte er versucht, das Haus neben der Bootswerkstatt für sie herzurichten, doch die Familie hatte immer in einem fröhlichen Durcheinander gelebt, und Gott allein wußte, was Martha wohl empfunden hatte. Noch brachte ihr die Hochzeitsnacht, obwohl alles Wesentliche gebührend vollzogen wurde, viel Freude, argwöhnte er. Er fühlte sich unsicher, als er am nächsten Morgen zur Arbeit ging. Am Abend kehrte er in verwandelte Verhältnisse zurück. Das Haus war sauber. Die Kleider der Kinder waren gewaschen. Auf dem Tisch standen eine große Pastete und eine Schüssel voll Äpfel, die mit Gewürznelken gespickt waren, und vom Ofen her kam ein Duft von frischen Haferküchlein. Seit einem Jahr hatte die Familie nicht mehr so gut gegessen. Überwältigt von Dankbarkeit, hatte er sie in dieser Nacht zärtlich und leidenschaftlich geliebt.
Auf ruhige Art hatte sie die Kinder für sich gewonnen. Martha zwang sie nie dazu, sie anzuerkennen, aber die Kinder stellten rasch fest, daß ihr Zuhause frisch roch, daß ihre Kleider geflickt wurden und die Speisekammer aufgefüllt. Eine Atmosphäre freundlicher Ruhe lag über dem Haus. Doch sie verwirrte ihn immer noch. Die Doggets waren von Natur aus eine fröhliche Familie; aber wenn sie lachten, saß Martha still lächelnd dabei, weil sie sah, daß sie glücklich waren; sie selbst jedoch lachte nicht. Und lag ihr wirklich etwas an ihrem Sexualleben? Sie wurde erregt, ja, aber sie ergriff nie selbst die Initiative. Doch als sie ihn nach drei Monaten gefragt hatte: »Bin ich eine gute Frau?«, schien sie erfreut über seine Antwort: »Keine könnte besser sein.« Und zur gegebenen Zeit hatten sie ein Kind bekommen.
Die Veränderung war so langsam vor sich gegangen, daß er nur allmählich begriff, daß etwas mit seiner Familie geschehen war. Selbst im rüpelhaften Southwark lächelten die besseren Ladeninhaber ihm und seinen Kindern nun höflich zu – was sie zuvor nie getan hatten. Noch überraschender war der Tag, als der Büttel des Kirchspiels, der von ein paar lauten Trunkenbolden sprach, sich bei ihm für diese Störung »gottesfürchtiger Leute wie Euch« entschuldigte.
»Ich habe keine Frau geheiratet«, sagte Dogget manchmal bitter. »Ich habe eine Kirchengemeinde geheiratet.« Es waren nicht nur die Gebetsversammlungen, sondern es gab anscheinend ein ganzes Netz ähnlich gesinnter Leute, das sich über sämtliche Stadtbezirke erstreckte, fast wie eine riesige Gilde, an die sich Martha um Hilfe wenden konnte. Dieses Netz kam höchst eindrucksvoll ins Spiel, als John und Martha Streit hatten.
Es ging um den ältesten Jungen. Obwohl dazu erzogen, in der Bootswerkstatt zu helfen, zeigte er keinen Wunsch, seinem Vater in seinem Gewerbe nachzufolgen, sondern erklärte, er wolle als Fischer zur See gehen. Dogget, der wußte, daß die Bootswerkstatt ein solides kleines Unternehmen war, erwartete, daß Martha ihn unterstützte, doch sie erklärte: »Du solltest ihn gehen lassen. Unsere Arbeit ist Gottesdienst. Wie kann ein Mann Gott dienen, wenn er seine Arbeit nicht liebt?«
»Er sollte seinem Vater gehorchen«, protestierte Dogget.
»Gott ist sein Vater«, verbesserte sie ihn sanft. »Nicht du.«
Er war so zornig, daß er tagelang nicht mit ihr sprach. Doch eine Woche später fand er sich mit Martha in Billingsgate, wo sie von dem großen, rotbärtigen Oberhaupt der Familie Barnikel empfangen wurden, einem der bekanntesten Männer in der Fischhändlergilde, der ihm mitteilte: »Ich habe einen guten Schiffsplatz für Euren Jungen gefunden. Kenne den Kapitän gut.« Und bevor Dogget eine Antwort stammeln konnte, fügte er hinzu: »Freue mich, Euch zu helfen. Der gute Name Eurer Frau eilt ihr voraus.«
Während nun der Himmel heller wurde, schienen diese Worte in seinem Kopf widerzuhallen. Der gute Name seiner Frau. Ohne diesen verfluchten guten Namen wäre das alles nicht geschehen. Aber was konnte er tun? Die Fähre kam, um sie zu holen. Und über dem Wasser, gerade unterhalb von Wapping vertäut, konnte er die Falle sehen, in die er geführt werden sollte. In diesen stabilen Dreimaster namens Mayflower.
Gegen Mittag hatten sie den Medway überquert. Die Mayflower war ein gutes kleines Schiff; hundertundachtzig Tonnen, und zu einem Viertel gehörte sie Kapitän Jones, der sie steuerte – ebenfalls ein Zeichen, daß sie solide war. Sie wurde oft von Londoner Kaufleuten gemietet und hatte schon häufig Wein im Mittelmeer transportiert. Seetüchtig, gut ausgestattet und geräumig, war sie bestens ausgerüstet, um ihre Passagiere in die Neue Welt zu bringen.
Martha war in der Vergangenheit öfter von Vertretern der Virginiagesellschaft angesprochen worden, ob sie und ihre Familie sich nicht dort ansiedeln wollten, doch das galt für halb London. Sie hatte freundlich darauf hingewiesen, daß es wenig Sinn hatte, den Atlantik zu überqueren, nur um auf der anderen Seite ebenfalls König Jakobs Kirche zu finden. Aber dieses Unternehmen war anders. Als sie von der kleinen Gruppe Puritaner gehört hatte, die vorhatten, ihre eigene Gemeinde zu gründen, nicht in Virginia, sondern in der Wildnis von Amerikas Nordküste, war sie fasziniert. Sie hatte Dogget von ihrer Sehnsucht erzählt, doch er hatte nur gelacht. Aber dann hatte der älteste Sohn, als er von einem Fischzug zurückkehrte, verkündet: »Vater, es gibt eine neue Gesellschaft, die eine Ansiedlung weit nördlich von Virginia plant, in der Kolonie Massachusetts. Die Kaufleutegruppe ›Merchant Adventurers‹ organisiert es. Wir könnten gut verdienen; Barnikel, der Fischhändler, meint das auch. Es gibt dort Kabeljau.«
Das machte das ganze Unternehmen möglich. Auch König Jakob wußte, daß dieses Siedlungsgebiet in der Nähe einiger der reichsten Fischgründe in der Neuen Welt lag. »Natürlich ist es ein Risiko«, räumte der Junge ein. »Aber du kannst Boote bauen, und ich fische.« Trotzdem war Dogget nicht begeistert.
Das geheimnisvolle Angebot kam am nächsten Tag. Martha tappte ebenso im dunkeln wie Dogget, obwohl es klar war, daß das Angebot von einer oder mehreren Personen aus der puritanischen Gemeinde kommen mußte. Eine Botschaft wurde überbracht, die besagte, wenn sie an der Expedition teilnehmen wollten, sei ein Gönner bereit, Dogget eine hübsche Summe für die Bootswerkstatt zu zahlen – weit mehr, als sie wert war – und ihnen zudem Aktien der Gesellschaft zu kaufen. Als dann sein Sohn zu ihm sagte: »Wo sonst könntest du soviel Geld für die Familie bekommen, Vater?«, hatte er widerwillig nachgegeben.
Die Reise der Mayflower ist gut dokumentiert. Das Schiff fuhr die breite Themsemündung hinunter und weiter nach Osten, dann bog es nach Süden ab, um die Spitze von Kent herum und durch die Straße von Dover in den Ärmelkanal. Bei Southampton sollte sie ein Schwesterschiff mit Pilgern treffen, die Speedwell. Kurz vor Ende des Monats erreichte die Mayflower Southampton.
Die Speedwell war ein sehr kleines Schiff, nur sechzig Tonnen. Als sie Richtung Southampton kam, bewegte sie sich auf eine seltsame, plumpe Art. Dogget starrte sie an und brummte: »Sie hat zu schwere Masten. Dieses Schiff ist nicht seetauglich.«
Sie war es nicht. Nach einer Stunde hörten sie: »Sie muß überholt werden, bevor sie weiterfahren kann.« Es war schon mitten im August, als sie endlich aus Southampton ausliefen. Sie fuhren an der sandigen Küste des New Forest vorbei, dann entlang den Klippen und Buchten von Dorset. Im Morgengrauen des nächsten Tages waren sie an der Küste Devons vorbei, als sie einen Schrei hörten. »Sie holen ein.« Die Speedwell hatte ein Leck.
Endlich wurde die Speedwell wieder für seetüchtig erklärt, und die beiden Schiffe setzten die Segel. Fünf Tage lang pflügten sie sich in maßvollem Tempo westwärts. Am sechsten Tag fiel die Speedwell zurück; eine Stunde später drehten die beiden Schiffe um.
»Die Speedwell kann nicht weiterfahren; sie ist morsch«, teilte Kapitän Jones den versammelten Passagieren mit, als sie in den Hafen von Plymouth zurückgekehrt waren. »Die Mayflower kann nur etwa hundert von euch aufnehmen, zwanzig müssen also zurückbleiben.«
»Wir bleiben«, erklärte Dogget. Seine Kinder nickten, sogar der älteste Sohn, und Martha konnte sie nicht tadeln. Auch andere gaben nun zu, daß sie lieber nicht weiterfahren wollten. Und so setzten die Pilgrim Fathers im September vom Hafen von Plymouth aus endlich die Segel, jedoch ohne die Familie Dogget, die nach London zurückkehrte.
Eines strahlenden Vormittags Anfang Oktober kehrte Sir Jakob Ducket gerade in sein Haus zurück, als Julius ihm mitteilte: »Erinnerst du dich an diese Leute, Vater, mit den seltsamen Händen? Ich habe sie gerade wiedergesehen, zusammen mit Carpenter. Ich glaube, sie wohnen bei ihm.«
Das war ein schwerer Schlag für Sir Jakob, denn er war es, der ihnen anonym und über einen Mittelsmann eine ansehnliche Geldsumme bezahlt hatte, damit sie abreisten. An diesem Abend, nachdem er allein ein paar Stunden vor einem Krug Wein gesessen hatte, erlitt Sir Jakob einen Schlaganfall. Zwei Tage später wurde klar, daß seine beiden Söhne Henry und Julius seine Geschäfte übernehmen mußten.
Jeden Abend, kurz vor Sonnenuntergang, stand sie auf dem niedrigen Hügel, der Wheelers Hill genannt wurde, und blickte nach Osten. Was betrachtete sie? Die ausgedehnten Felder unter ihr? Den gewundenen Fluß? Suchte sie das Meer? Niemand fragte. Die Witwe Wheeler behielt ihre Gedanken für sich.
Das Land der Wheelers war damals typisch für Virginia – ein paar hundert Morgen, der Größe nach ein Gutshof. Wheeler selbst hatte nie viel daraus gemacht, aber seine Witwe. Sie leitete alles selbst und arbeitete hart. Sie hatte zwei Sklaven; aber die Sklavenarbeit in Virginia begann damals erst. Die meisten Arbeiter waren zwangsverpflichtete Engländer – manche waren arm oder hatten Schulden, ein paar kleine Gauner mußten zehn Jahre lang arbeiten, um ihre Freiheit zu erlangen. Die Witwe hatte den Ruf, gerecht, aber hart zu sein. Wie viele andere Farmen in Virginia war jeder Meter Boden mit einer einzigen Pflanzensorte bebaut, durch deren riesige grüne Blätter der Wind blies: Tabak. Seit John Rolfe, Pocahontas' Ehemann, sie eingeführt hatte, hatte der Tabakertrag in Virginia einen erstaunlichen Aufschwung genommen. Vor ein paar Jahren hatte man zwanzigtausend Pfund verschifft; dieses Jahr vielleicht eine halbe Million.
Die Kolonie Virginia wuchs rasch. Es gab nun mehrere tausend Siedler, die jedes Jahr mehr Land beanspruchten. Manche der großen Farmen verdienten so gut, daß sie angefangen hatten, ein paar Luxusgüter aus England einzuführen. Die Witwe Wheeler kaufte fast nichts. Vielleicht war sie puritanisch, vielleicht einfach nur geizig. Es war schwer zu sagen, da kaum einer ihrer Nachbarn etwas über sie wußte. Sie wären sicherlich erstaunt gewesen zu erfahren, daß sie fünfzehn Jahre lang mit dem schwarzen Piraten Barnikel zusammengelebt hatte.
Auf der ersten Reise war sie seine Frau geworden; sie hatte keine Wahl gehabt. Sie war seine Frau gewesen, als er sie, die bereits schwanger war, in einem afrikanischen Hafen ließ, damit sie dort ihr Kind gebar. Nach ein paar Monaten war er zurückgekehrt, entzückt, einen Sohn vorzufinden, und hatte sie mit Geschenken überschüttet. Fünf weitere Reisen, ein Dutzend Hafen, drei weitere Kinder. Viele Jahre hatte sie an fremdartigen, exotischen Orten verbracht, von der Karibik bis zur Levante. Zuerst war es seltsam gewesen, in seiner Macht zu sein, zu wissen, daß er sie wahrscheinlich töten konnte. Doch er war erstaunlich zärtlich. Ob sie es wollte oder nicht, er verstand es, sie körperlich in Ekstase zu versetzen. Und er war zu gerissen, um ihr je eine Chance zum Entkommen zu geben. Nie fuhr er in die Nähe Londons. Was sollte sie tun – ihre Kinder im Stich lassen? Das konnte sie nicht. Sie mit nach London nehmen? Wie würde es ihnen dort mit ihrer dunklen Hautfarbe ergehen? Wenn sie daran dachte, erriet sie Orlando Barnikels insgeheime Wut, und schließlich erkannte sie, daß sie ihn in gewisser Weise liebte.
Das Ende kam ganz plötzlich. Nach dem dritten Kind, einem Jungen, hatte sie zwei Babys verloren. Orlando war viel unterwegs. Nachdem der kleinere Junge mit zwölf Jahren seine erste Reise mit dem Vater gemacht hatte, kündigte Orlando an: »Ich fahre nach Amerika; komm mit.« Als sie Virginia erreichten und er sie in Jamestown vom Schiff geleitete, hatte er ihr eine Tasche voller Geld in die Hand gedrückt. »Es ist Zeit für dich, daß du mich verläßt.«
Sie war fast dreißig. Jung genug, um in einer Kolonie, in der oft Frauenmangel herrschte, zu heiraten und eine Familie zu haben. Ein halbes Jahr später hatte sie Wheeler gefunden und geheiratet. Doch er war krank geworden, und Kinder waren nicht gekommen. Von Orlando hatte sie nie wieder etwas gehört. Doch in der letzten Zeit, wenn sie auf dem Wheeler Hill stand und über die Pflanzung blickte, stellte sie an klaren Tagen manchmal fest, daß ihr Blick zum blau glitzernden Ozean schweifte.
Eine Neuigkeit, die sie von einem ihrer Zwangsarbeiter erfahren hatte, hatte diese Veränderung bewirkt. Der Mann stammte aus Southwark und kannte das Globe gut. Er hatte zwar keine Ahnung, wer sie war, hatte ihr aber erzählt, daß ihre Eltern beide vor kurzem gestorben waren und ihr Bruder ins West Country gegangen war. Diese Neuigkeit hatte sie mit einem seltsamen Gefühl der Freiheit erfüllt. Sie erkannte, daß es nun für niemanden von Bedeutung war, was sie tat; sie würde keine peinlichen Fragen beantworten müssen.
Tabakpflanzen laugten den Boden aus; nach sieben Jahren waren damals die meisten Plantagen erschöpft. Das war kein sehr großes Problem, da der ganze Kontinent Amerika vor den Siedlern lag; sie legten einfach weiter im Landesinneren eine neue Pflanzung an. In drei Jahren würde Wheelers Farm verbraucht sein, wußte Jane, und sie würde fortgehen müssen. Doch bis dahin würde sie eine ausreichende Summe Geld gespart haben. Genug vielleicht, um etwas anderes zu tun, dachte sie, als sie Richtung Meer blickte.
Manche Leute mochten Henry hochmütig finden, doch Julius bewunderte ihn dafür, wie beherzt er die Führung der Familie übernommen hatte. Sir Jakob war rechtsseitig gelähmt und konnte nicht mehr sprechen. Er war ein trauriger Anblick, und manche Kinder hätten ihn vielleicht verstecken wollen. Nicht so Henry. Auf seine Anweisung hin wurde Sir Jakob einmal wöchentlich, tadellos gekleidet und begleitet von seinen beiden Söhnen, in einer Sänfte in die Londoner Warenbörse getragen, damit die Leute ihm ihre Aufwartung machen konnten. »Und damit unserer ganzen Familie«, sagte Henry zu Julius. »Was auch geschieht, halte deinen Kopf hoch.«
Julius hätte in diesem Jahr nach Oxford gehen sollen, doch Henry teilte ihm mit: »Bruder, ich brauche dich. Ich kann nicht alles allein machen.« Bald überließ er die tägliche Buchhaltung und die Verschiffungspläne Julius. »Du hast einen Kopf für Zahlen«, meinte er. Henry gelang dafür ein sehr kluger Schachzug. »Ich kaufe ein Stück Land, direkt am Hügel von Bocton«, verkündete er eines Tages, »um Hopfen für Bier anzubauen. Jeder macht das jetzt.« Und es stellte sich heraus, daß er recht hatte. Für die englischen Brauer, die mit importiertem Hopfen ein dunkleres Bier entwickelt hatten, war es billiger, Hopfen im eigenen Land zu kaufen. Bald wurde ein guter Vertrag mit der Brauerei Bull in Southwark geschlossen, und in den folgenden Jahren brachten die Hopfengärten in Bocton ein regelmäßig fließendes Einkommen.
Henrys größtes Geschick war, mit mächtigen Leuten Freundschaft zu schließen. Ein paar Wochen nach seiner Rückkehr schien er jedermann zu kennen, nicht nur in der Stadt, sondern auch am Hof. Oft war er auf der Jagd oder speiste mit einem hohen Lord oder war bei einer Hofgesellschaft in Whitehall. Und eines Nachmittags, als Henry in seiner Jagdkleidung ankam, ließ er nonchalant ein Dokument auf den Tisch fallen. Es war ein Vertrag für eine riesige Fracht Seide, unterschrieben von Buckingham, dem mächtigsten Günstling am Königshof.
Monopole waren heiß begehrt. Strenggenommen waren natürlich die großen Handelsgesellschaften Monopole; ihre Konzessionen, die ihnen die alleinigen Handelsrechte in fernen Regionen verliehen, waren sicher zu solch großen Investitionen nötig. Doch die, von denen Henry sprach, betrafen kleine Angelegenheiten: »Du willst eine Bierschenke eröffnen? Du brauchst eine Konzession? Wende dich an einen Günstling. Du brauchst Goldfaden? Ein Freund von mir hat das Monopol. Ein winziges Monopol, Julius, ist immer noch ein Vermögen wert. Und das gibt es an allen Höfen.«
Doch als Julius erwachsen wurde, gab ihm der Königshof Grund zur Besorgnis; zwischen dem Haus Stuart und dem englischen Volk stand nicht alles zum besten. König Jakob verhielt sich in seinem hohen Alter peinlich. Ob er tatsächlich homosexuell war oder ob es sich nur um eine senile Zuneigung zu jungen Männern handelte, wußte niemand so recht. Glücklicherweise hatte sein Erbe Karl sowohl Würde als auch einen untadeligen Lebenswandel, so daß die puritanischen Engländer beim Vater ein Auge zudrückten und auf den Sohn hofften. Natürlich gab es die Günstlinge des Königs. Der mächtigste, der bald alles bestimmte, war Buckingham, ein junger Mann von enormem Charme, seichter Intelligenz und so gutem Aussehen, daß König Jakob ihn zum Herzog ernannte. Viele hatten das Gefühl, daß Buckingham und seine Freunde zu viele Monopole besaßen.
Das eigentliche Problem zeigte sich kaum ein Jahr nach Sir Jakobs Schlaganfall. Das Parlament von 1621 begann nicht gerade in bester Stimmung. König Jakob hatte es einige Jahre lang nicht einberufen, obwohl diese Institution seit Jahrhunderten daran gewöhnt war, regelmäßig konsultiert zu werden. Es fühlte sich vernachlässigt. Falls einige der Lords die habgierigen Favoriten des Hofes angreifen wollten, konnten sie mit der Unterstützung der Commons rechnen. Kaum war das Parlament in Westminster versammelt, fand es einen Weg, den König daran zu erinnern, wer es war.
»Impeachment«, berichtete Henry. Das Verfahren, bei dem das House of Commons als Ankläger und das House of Lords als Richter fungierte. »Seit den Plantagenets hat das kein Parlament mehr versucht.«
Tatsächlich gingen die Commons sehr raffiniert vor. Sie klagten nicht Buckingham selbst an, sondern zwei weniger mächtige korrupte Günstlinge; und das Schöne am Impeachment war, daß Commons und Lords ohne die Zustimmung des Königs eine Anklage durchsetzen konnten. Die Botschaft war klar: Es war Zeit, dem Parlament freundlich entgegenzukommen. Doch der gebildete, aber exzentrische König Jakob glaubte, daß Monarchen, da von Gott gesalbt, auch von Gottes Gnaden regierten – was hieß, daß seine Untertanen ihm gehorchen mußten, weil er kein Unrecht tun konnte. Das war Gottes Gebot, erklärte er, und sei immer so gewesen – eine Behauptung, die jeden Monarchen aus dem Hause Plantagenet hätte schallend lachen lassen. Die Tudorkönige hatten immer darauf geachtet, daß sie im Parlament ihre Berater bei sich hatten, die die Debatten steuerten, und Elisabeth I. war eine Meisterin des Kompromisses gewesen. König Jakob jedoch erwartete nur Gehorsam. Das House of Commons verfaßte ein Protestschreiben. »Und er hat es zerrissen«, berichtete Henry.
»Was wird nun geschehen?« fragte Julius ängstlich.
»Nichts. Das Parlament ist verärgert, aber es weiß, daß der König alt wird.«



Als Martha und Dogget wieder nach London kamen, warteten sie ängstlich, ob ihr unbekannter Wohltäter, wenn er von ihrer Rückkehr erfuhr, sein Geld einfordern würde. Aber er gab kein Zeichen von sich, geheimnisvoll wie eh und je. Die nächste Frage war, was sie nun tun sollten. Gideon Carpenter löste das Problem schließlich. Sein Vater Cuthbert war plötzlich gestorben, daher schlug er vor, er und Dogget sollten sich zusammentun. Sie fanden eine Wohnung in der Nähe und einen kleinen Hof mit Werkstatt auf dem Garlic Hill, und hier begannen sie, alles zu reparieren, was gebracht wurde.
So kam es, daß Sir Jakob an kirchlichen Feiertagen, wenn er sie zum Gottesdienst nach St. Lawrence-Silversleeves gehen sah, voll ohnmächtigen Abscheus auf die verfluchte Familie starrte. Julius, der sah, wie sein Vater vor Wut zitterte, wenn er sie sah, konnte daraus nur schließen, daß Martha und ihre Familie wahrhaftig sehr gottlos sein mußten. Dennoch hatte er an dem Tag, als er aus der Stadt heraus über den Holborn zur Kirche St. Etheldreda ging, nichts Böses gegen sie im Sinn.
In den letzten Jahrzehnten hatte sich hier einiges verändert. Der alte Bischofssitz war nun die Residenz des spanischen Botschafters, die Kirche seine Privatkapelle, und der Garten daneben, der einem Günstling Königin Elisabeths namens Hatton gehört hatte, trug nun diesen Namen. Gerade als Julius den Hatton Garden erreichte, sah er die Kutsche des spanischen Botschafters kommen, nahm höflich seinen Hut ab und verbeugte sich.
England in der Zeit der Stuarts nahm in Europa dieselbe Position ein wie unter Elisabeth. Der Kontinent war immer noch in ein katholisches und ein protestantisches Lager gespalten. Das katholische Frankreich war mächtig, die Habsburger in Spanien und Österreich waren immer noch entschlossen, die universale Kirche Roms wieder einzusetzen; das protestantische England war eine kleine Insel, die sich keinen Krieg leisten konnte. Jakob mußte vorsichtig lavieren; doch anders als Elisabeth hatte er Kinder. Als das katholische Österreich seinen deutschen Schwiegersohn aus seinem Land geworfen hatte, überlegte Jakob: »Wenn wir Freundschaft mit Spanien schließen, können wir sie vielleicht überreden, dem Jungen seine Gebiete wieder zurückzugeben.« Daher gab es vorsichtige Annäherungsversuche beim Botschafter des streng katholischen Spanien. Den Londonern gefiel das nicht; das Gleichgewicht der Macht bedeutete ihnen nichts. Sie hielten nichts von katholischen Freunden.
Die kleine Gruppe von Lehrlingen, die im Hatton Garden herumlungerte, war in ausgelassener Stimmung und deutete mit den Fingern auf die spanische Kutsche. »Spanischer Hund!«
»Papist!« schrien sie. »Wir wollen hier keine Papisten!«
Julius dachte nicht weiter darüber nach, bis am nächsten Tag Henry aus Whitehall kam und erklärte: »Der spanische Botschafter ist beschimpft worden. Der König ist wütend.«
»Ich habe es gesehen«, erzählte Julius. »Es war gar nichts dran.«
»Du hast es gesehen?« Henry griff ihn am Arm. »Hast du sie gekannt? Du mußt es sagen. Die Schuldigen müssen gefunden und schwer bestraft werden.«
Doch Julius zögerte, denn einer der jungen Männer war Gideon Carpenter. Henry ermahnte Julius, es sei seine Pflicht, und wies darauf hin, daß die Aussichten der Familie am Hof für immer dahin seien, wenn jemand herausfand, daß Julius sein Wissen nicht preisgegeben hatte.
Henry teilte alles dem Mayor und dem König mit, der ihm herzlich dankte. Die betreffenden Lehrlinge wurden mit der neunschwänzigen Katze ausgepeitscht. Einer von ihnen starb; Gideon überlebte. Aber von diesem Tag an fühlte Julius Gideons Blick unversöhnlich auf sich gerichtet. Martha beschränkte sich auf eine einzige kummervolle Bemerkung, als sie ihm einen Tag nach der Auspeitschung begegnete: »Das war nicht recht.« Und wie sein Vater konnte Julius nur wünschen, all diese Carpenters und Doggets würden das Kirchspiel und selbst das Land für immer verlassen.
Englische Monarchen hatten ihre Freunde immer mit Titeln belohnt, die Stuarts jedoch verkauften sie. Das konnte lukrativ sein. Doch anstatt die Lords mit zu vielen Neulingen zu behelligen, verfielen die Stuarts auf eine brillante Idee: die Baronetswürde. Ein Baronet saß nicht im House of Lords, erhielt aber den erblichen Titel »Sir«. Nur wohletablierte Gentlemen mit hohem Einkommen wurden akzeptiert, und Henry Ducket erwarb einen solchen Titel für seinen Vater. Er kostete zwölfhundert Pfund. Ein Jahr später starb König Jakob, und Sir Jakob folgte ihm bald darauf – mit einem erblichen Adelstitel. Henry war nun Sir Henry.
In den folgenden Jahren stieg er beständig weiter auf. Karl I. der neue König, heiratete schließlich eine katholische Prinzessin, eine Französin, was weniger bedrohlich schien. Sie war noch sehr jung, haßte Buckingham und fühlte sich zutiefst einsam, doch Henry freundete sich mit ihr an. Das erwies sich als hervorragender Schachzug. 1628 brachte ein ehemaliger Soldat Buckingham auf der Straße um. Da der Günstling nun tot war, kamen sich Karl I. und seine Königin so nahe wie nie zuvor. Und wie herzlich erzählte sie ihm von »diesem liebenswürdigen Sir Henry«. Wenn der König nur nicht mit seinen Parlamenten streiten würde. Doch Karl I. glaubte wie sein Vater an sein Gottesgnadentum. Als er Geld verlangte, wurde ihm fast nichts bewilligt, und der junge König wandte sich um eine Anleihe an den Landadel. »Sie haben sogar einige Leute eingesperrt, die sich geweigert haben, etwas zu leihen«, berichtete Henry. Bald legte das Parlament eine Schrift vor, in der es den König daran erinnerte, daß er seit der Magna Charta niemanden illegal einsperren durfte und auch nicht das Recht hatte, Steuern ohne Zustimmung des Parlaments zu erheben. Die nächste Zusammenkunft Anfang 1629 führte zu einer Krise. Einige jüngere und verwegenere Mitglieder des Unterhauses erklärten die Protestation of the Commons gegen den König. »Eines kann ich dir sagen«, informierte Henry Julius, »das Parlament wird nicht mehr einberufen werden. Der König wird ohne es regieren.«
Im Jahre 1630 hatte Edmund Meredith bedeutendere Dinge im Kopf als das Parlament. Mit ihm in seinem Haus in der Watling Street lebten eine Haushälterin, ein Stubenmädchen und ein Junge. Sein Einkommen war ausreichend; seine Predigten außerhalb des Kirchspiels brachten ansehnliche Zusatzvergütungen. Sir Henry, erfreut darüber, daß er einen Gentleman als Vikar hatte, lud ihn einmal im Monat zum Dinner ein, was Edmund sehr genoß. Dennoch wollte er fort.
Meredith wurde es ein wenig langweilig. Er hatte schließlich Erfolg gehabt, doch nun fühlte er sich bereit zu Höherem. Er konnte, wie er meinte, immer noch mehr in der Gesellschaft darstellen; und er hatte sein Auge auf eine hohe Stelle geworfen. John Donne lag im Sterben, und wenn er nicht mehr lebte, würde eine Stelle frei – als Dekan der St.-Paul'sKathedrale. Wichtig war nicht der alte Steinkoloß, sondern der Name und die Predigten.
Man predigte in der Kathedrale, aber aufgrund einer eigentümlichen Tradition, die auf die frühen sächsischen Zeiten zurückging, wurden die größten Predigten im Freien abgehalten, auf der Kanzel im Kirchhof, die St. Paul's Cross genannt wurde. Für den Mayor und die Aldermen wurden Holztribünen aufgestellt, und riesige Menschenmengen versammelten sich. Es war die bedeutendste Kanzel Englands. Aber wie konnte er diese Stelle bekommen? Sir Henry hatte mit dem König gesprochen, aber die Person, auf die Meredith wirklich Eindruck machen mußte, war der neue Bischof von London. Und das war nicht leicht.
William Laud war ein kleiner Mann mit rotem Gesicht, einem adretten grauen Geißbärtchen und einem eisernen Willen. Im Hinblick auf die Kirche stimmte er vollkommen mit seinem König überein. »Es gibt in London zu viele Presbyterianer und Puritaner; sogar der halbe Klerus ist davon angesteckt.« Bald war Edmund klar, was er tun mußte, wenn er Lauds Billigung erreichen wollte.
Der erste Schritt war, die Kirchspielversammlung zu überzeugen. Darin sah er keine allzu große Schwierigkeit. Sir Henry und Julius gehörten ihr nun beide an und leiteten das Kirchspiel in vollkommener Harmonie, aber zu seinem Erstaunen schien Julius beunruhigt. »Ist das nicht Papisterei?« fragte er.
»Überhaupt nicht«, versicherte ihm Meredith. »Der König wünscht es, und der König ist kein Papist.«
England war protestantisch, doch was bedeutete das? Auf europäischer Ebene, daß das Inselkönigreich zum protestantischen Lager gehörte, damit es nicht von den katholischen Mächten verschlungen wurde. Im Lande selbst, daß viele Engländer, vor allem Londoner, Puritaner waren. Aber es blieb die Tatsache, daß die nationale Kirche, wenn auch ein wenig modifiziert durch Königin Elisabeth, in ihren Lehren immer noch diejenige war, die der katholische Renegat Heinrich VIII. errichtet hatte.
Gute Mitglieder der anglikanischen Kirche konnten sagen, sie seien protestantisch, und auch daran glauben; doch die Kirche König Heinrichs und Königin Elisabeths war eine reformierte katholische Kirche. Losgesagt vom Papst, abtrünnig, laut Rom sogar häretisch – aber katholisch.
König Karl I. von England glaubte an den Kompromiß, der unter Königin Elisabeth erarbeitet worden war – daß die englische Staatskirche einen gereinigten Katholizismus darstellte und nun die anglikanischen Bischöfe die wahren Nachfolger der Apostel waren. Das Gesetz besagte, daß jedes Mitglied eines Kirchspiels am Sonntag zur Messe gehen oder Bußgeld zahlen mußte. Nur wenige Kirchspielversammlungen im pragmatischen England erzwangen dies wirklich; in St. Lawrence-Silversleeves verschloß man die Augen. König Karl I. jedoch erwartete Gehorsam, und auch Bischof Laud legte Wert auf Zeremonien.
Eines Sonntags, drei Wochen später, waren Martha und ihr Neffe Gideon überrascht, als sie vom Büttel des Stadtbezirks aufgesucht wurden. Sie hätten morgen in der Kirche zu erscheinen, wurde ihnen mitgeteilt, auf Geheiß Sir Henrys und der Kirchspielversammlung. »Wir bezahlen die Buße«, bot Martha an.
»Bußgelder werden nicht akzeptiert«, erwiderte der Büttel.
Das Kirchspiel St. Lawrence-Silversleeves umfaßte nicht einmal hundert Haushalte, dennoch herrschte in der kleinen Kirche am nächsten Tag ein solches Gedränge, daß die meisten Leute stehen mußten. Gespannte Erwartung lag in der Luft. Martha bemerkte den Unterschied sofort. »Der Altar«, flüsterte sie Gideon entsetzt zu. »Schau!«
Seit mittlerweile Jahrzehnten stand der Altar in St. Lawrence nach protestantischer Art vor dem kleinen Kirchenschiff. Heute jedoch hatte man ihn in die Kanzel gestellt, die frühere Domäne des Priesters, entfernt vom Kirchenvolk. Doch das war nichts im Vergleich zu dem, was anschließend kam: die Ankunft von Reverend Edmund Meredith.
Der Vikar von St. Lawrence-Silversleeves hatte bisher aus Ehrerbietung vor König Jakob den traditionellen Chorrock oder Vespermantel des Priesters getragen, aber stets so einfach und nüchtern, daß sich Sir Jakob nie beschwert hatte. Nicht so heute. Es sah aus, als sei ein plötzlicher Regen aus Gold über Edmund gekommen. Die Kurzwarenhändler Fleming hatten ihm für nicht weniger als vierzig Pfund Goldfaden und Ziermünzen für sein Gewand verkauft. Die Gemeinde hielt den Atem an. Meredith, in diese papistische Erscheinung verwandelt, hielt den Gottesdienst ab. Dann stand er auf, um zu predigen.
»Ich will euch von zwei Schwestern erzählen«, verkündete er, »ihre Namen sind Demut und Gehorsam.« Dann setzte er voller Gift zum Angriff an. Mit jeder Seite des Puritanismus, die Martha lieb war, setzte er sich unbarmherzig auseinander. Bischöfe, erinnerte er sie, waren ihre geistlichen Oberhäupter, wie Könige regierten sie von Gottes Gnaden. »Es ist der Wille des Bischofs, daß in Zukunft alle Gemeinden an jedem Sonntag ihre Staatskirche besuchen. In diesem Kirchspiel wird diese Regel durchgesetzt.« Streng funkelte er sie an und befahl: »Hört also das Wort Gottes! Seid demütig und gehorcht!«
Normalerweise stand Edmund an der Kirchtür, um sich von seinen Gemeindemitgliedern zu verabschieden. Heute stand die Kirchspielversammlung an seiner Seite. Julius sah sie alle herauskommen und wollte gerade seinem Bruder nach Hause folgen, als er sich Gideon gegenübersah, in dessen Gegenwart er sich stets unbehaglich fühlte. Der junge Mann war streng religiös geworden, und im letzten Jahr hatte er geheiratet. Aber die schreckliche Auspeitschung konnte nie vergessen werden.
»Eure Kirchspielversammlung duldet solche Papisterei«, meinte Gideon ruhig. »Aber sagt mir, Julius Ducket: Durch wessen Befugnis tagt die Kirchspielversammlung?« Julius wußte kaum, was er sagen sollte. »Wenn die Gemeinde die Kirchspielversammlung gewählt hat«, fuhr Gideon fort, »sollten wir dort gottesfürchtige Männer und einen gottesfürchtigen Pfarrer haben. Ihr sitzt in der Kirchspielversammlung, als sei es von Gottes Gnaden. Ihr habt kein Recht dazu. Ihr seid uns aufgezwungen.« Er drehte sich um und ging.
Als Julius später Henry davon erzählte, reagierte dieser verächtlich. »Vielleicht sollte dieser Bursche noch einmal ausgepeitscht werden.« Aber Julius war verunsichert.
Meredith erhielt drei Tage später ein Ersuchen vom Sekretariat Bischof Lauds: Der Bischof sei interessiert, seine Predigt zu lesen. Ob er vielleicht eine saubere Abschrift habe?
Als er zwei Wochen später eines Abends ein Klopfen an seiner Tür hörte, dachte er, es könnte ein Bote dieser erlauchten Persönlichkeit sein, und war daher gelinde überrascht, als seine Haushälterin ihm statt dessen ankündigte, eine Lady wünsche ihn zu sprechen. »Eine Mrs. Wheeler.«
Einen Augenblick später stand er Jane gegenüber. Es war unverkennbar sie. Die immer noch gutaussehende Frau vor ihm wirkte jugendlich wie das Mädchen, das er gekannt hatte, obwohl ihre Gestalt fälliger war. Ihr Seidenkleid ließ darauf schließen, daß sie eine wohlhabende Frau war. Als er sie anblickte, schien es ihm, als stehe vor ihm die lange verlorene Liebe seines Lebens. Und Jane, die Meredith' immer noch attraktives Gesicht betrachtete, fragte sich im stillen, ob sie ihn heiraten sollte.
Sie war nicht mit dieser Absicht nach London gekommen. Ihre Ersparnisse aus Virginia reichten aus, daß sie angenehm leben konnte, und nur wenn sie einen respektablen Mann finden konnte, würde sie vielleicht noch einmal heiraten. Sie wußte, daß sie vor allem eines wollte: Frieden.
Sie hatte angenommen, Meredith habe sich entweder eine reiche Frau gesucht oder irgendeine Beschäftigung am Theater angenommen, aber hier stand er, ein Geistlicher, einer der bekanntesten Prediger der Stadt – attraktiv, respektabel und erstaunlicherweise unverheiratet. Sie spürte eine Welle des alten Gefühls, doch die Zeit hatte einen Panzer um ihr Herz gelegt.
»Du bist am Leben.« Er starrte sie immer noch verwundert an. »Ich habe es immer geglaubt. Du bist verheiratet?«
»Ich bin Witwe. Gut versorgt. Mein Gatte Wheeler hatte eine Pflanzung in Virginia, und wir hatten keine Kinder.«
»Ach ja.« Er lächelte. Sie sah, daß er denselben Gedanken gehabt hatte wie sie.
»Eines würde ich gerne wissen«, meinte er nach langem Schweigen. »Als du verschwunden bist, konntest du nicht unmittelbar nach Virginia gegangen sein, da es die Kolonie damals noch nicht gab.« Er sah ein wenig verlegen drein. »Ich hatte mich gefragt… Da war ein Pirat… Ein Mohr…«
Jane hatte nicht beabsichtigt, Orlando zu erwähnen. Sie hätte nur zu lügen brauchen. Doch sie wollte ihn ein wenig auf die Probe stellen.
»Ich bitte dich, daß dies ein Geheimnis zwischen uns bleibt«, sagte sie. »Aber wenn du es wissen willst, es stimmt. Er hat mich entführt. Ich hatte keine Wahl. Niemand weiß es, und es ist lange her.«
»Niemand«, murmelte er, »braucht es je zu wissen.« Jane fragte sich, ob es der Gedanke war, daß ein Mohr sie körperlich besessen hatte, der Edmund zurückzucken ließ?
Doch was in Edmunds Kopf vorging, war weit ausgewogener. Sicherlich war ihm der Gedanke an den Mohren abscheulich, doch da dies lang vorbei war, auch seltsam erregend. Aber konnte der Dekan von St. Paul's eine Frau haben, die ein Mohr berührt hatte? Die Vorstellung erfüllte ihn mit Entsetzen. Und als er an John Dogget dachte, der peinlicherweise gerade in seinem Kirchspiel lebte, schloß er traurig: »Aber man könnte es argwöhnen.«
Sie erriet, daß es vorbei war; ein paar Minuten später trennten sie sich mit Beteuerungen der Hochachtung. In der Watling Street traf sie zu ihrem Erstaunen John Dogget.
Während der langen ruhigen Jahre nach 1630 hatte Julius Ducket eine brillante Idee. Sie könnte den König für immer vom Parlament befreien.
Das Ende der Parlamente? Für jeden frei geborenen Engländer war ein solcher Gedanke zwar ein Greuel, aber einer Reihe von Leuten am Hof Karls I. vor allem seiner französischen Gattin Henrietta Maria, erschien das wünschenswert und ganz natürlich. Europas katholische Monarchien begannen zentralisierte absolutistische Staaten zu errichten, ohne Demütigungen durch emporgekommene Parlamente. »Auch wir wollen eine solche Monarchie errichten«, beschlossen Karl I. der an das Gottesgnadentum glaubte, und Henrietta Maria von Frankreich.
Soweit funktionierte alles. In England herrschte Frieden; König Karl gelang es einigermaßen, mit seinem Einkommen hauszuhalten; das Parlament hatte nichts zu sagen. 1633 wurde Bischof Laud Erzbischof von Canterbury und begann mit einer landesweiten strengen Durchsetzung der anglikanischen Episkopalkirche, die »gründlich« sein würde, wie er versprach. »Gründlich« wurde bald zur Parole für die gesamte Herrschaft des Königs. »Die Puritaner hassen ihn, aber sie können ja immer noch nach Amerika auswandern«, bemerkte Henry. »Laud ist der beste Freund, den die Massachusetts Company je hatte.« Seit 1630, als ein energischer Gentleman namens Winthrop dorthin ausgewandert war, hatte die kleine puritanische Kolonie in Amerika rasch expandiert.
Für Julius waren es glückliche Jahre. Er hatte ein fröhliches blondes Mädchen aus einer ebenbürtigen Familie geheiratet, und bald kamen Kinder. Henry, der bisher keinen Wunsch gezeigt hatte zu heiraten und oft in Bocton war, hatte vorgeschlagen, sie sollten das große Haus hinter Mary-le-Bow nehmen. Das Leben in London war angenehm. Daß kein Parlament einberufen wurde, bedeutete zumindest, daß es keine neuen Steuerforderungen gab. Eine Atmosphäre von Wohlstand und Fortschritt herrschte in der Stadt, und außerhalb der Mauern hatten zwei Adlige, Lord Leicester und Lord Bedford, begonnen, auf einem Teil ihres Landsitzes große, um viereckige offene Plätze gruppierte Häuser mit klassischen Fassaden errichten zu lassen. Eines dieser Projekte – Covent Garden – kam sofort in Mode, und Henry zog dort in ein schönes Haus.
Nach Henrys Auszug wurde Julius Vorsitzender der Kirchspielversammlung, und auch hier versuchte er, ein fröhlicheres Regime zu errichten. Meredith war es nicht gelungen, Dekan von St. Paul's zu werden, und damit schien auch sein Reformeifer etwas erlahmt zu sein. Die Messen in St. Lawrence-Silversleeves wurden immer noch auf Lauds hochkirchliche Art zelebriert, doch Julius erklärte Martha und ihrer Familie insgeheim, es würde genügen, wenn sie einmal im Monat teilnahmen.
Eine Überraschung war es, als Edmund im Alter von fast sechzig Jahren Matilda heiratete, eine respektable, dreißigjährige Jungfer, Tochter eines Rechtsanwalts, die sich – selbst religiös – in seine Predigten verliebt hatte. Ein Jahr später bekamen sie ein Kind.
König Karls Herrschaft brachte den Duckets materiellen Gewinn ein. Sie hatten dem König mehrmals persönliche Anleihen zu zehn Prozent gewährt, die stets zurückgezahlt wurden. Noch besser, Karl I. verpachtete die Abgaben. Für eine pauschale Summe hatte Henry das Recht erworben, die Steuern für mehrere Luxusgüter einzutreiben. »Wir machen sechsundzwanzig Prozent Profit«, prahlte er vor Julius. »Anstatt die Parlamentssteuern zu bezahlen, machen wir Profite, indem wir Geld beschaffen.«
Tatsächlich hatte dieses System nur eine Schwäche; es funktionierte nur, solange kein nationaler Notstand eintrat. Bei einem bewaffneten Konflikt würde der König Steuern fordern. »Und das würde heißen, ein Parlament einzuberufen«, sorgte sich Henry manchmal. »Was können wir tun, damit es nie dazu kommt?«
Dieses Problem löste Julius Ducket. Er stand auf der London Bridge. Es war ein Sommerabend, und als er stromaufwärts auf die sinkende Sonne über Westminster blickte, fiel ihm auf, daß die Strahlen die gesamte Wasseroberfläche glitzern ließen, wie einen riesigen Strom aus Gold. Gerade als er dachte, wie sehr das zu einer so geschäftigen Handelsstadt paßte, kam ihm die Idee.
Natürlich: ein Strom aus Gold. Wenn man den Finanzbedarf des Königs im Laufe der letzten zwölf Jahre betrachtete, fiel zuerst die Höhe auf. Einhundert- oder zweihunderttausend Pfund – solche Summen konnten einen Zusammenstoß mit dem Parlament auslösen. Aber waren sie wirklich so riesig für das mächtige, handeltreibende London? Eigentlich nicht. Zusammengenommen belief sich das verfügbare Vermögen der Stadt auf zahllose Millionen. Selbst des Königs Bedarf im Notfall konnte von London leicht aufgebracht werden ohne Rückgriff auf das Parlament. London war ein Strom aus Gold. Doch warum war London so zögerlich, Anleihen zu geben? Es war nicht so, daß der König keine Zinsen zahlte. Das wahre Problem lag in der Art der Anleihen und ihrer Rückzahlung.
Anleihen an die Krone waren fast immer für ein bestimmtes Projekt, das den Londonern nicht immer gefiel. Zudem waren die Anleihen normalerweise kurzfristig und mußten innerhalb eines halben Jahres aus den Kroneinnahmen zurückgezahlt werden – die Zinsen konnten also nie sehr hoch werden. Aber warum sollte man das so machen? Geld war Geld; ob man es in eine Anleihe an den König oder in einen Anteil an einer der großen Aktiengesellschaften investierte, war dasselbe. Ihm kam ein weiterer Gedanke: Wenn ich Anteile einer Kapitalgesellschaft kaufen kann, verspricht mir das ein regelmäßiges Einkommen, warum dann nicht auf ähnliche Art Anteile an den Schulden des Königs kaufen? Wenn man sein Geld zurückwill, könnte man die Anteile an einen anderen verkaufen, der dann künftig die Zinsen bekäme. Es gab keinen Grund, warum der König das Kapital vor einem Zeitraum von etwa zwanzig Jahren zurückzahlen sollte, solange er die Zinszahlungen leisten konnte. Der Fluß des Geldes, wie ein goldener Strom durch die Stadt. Julius Ducket hatte soeben die Staatsschulden erfunden.
Es war ein strahlender Tag, als Sir Henry Ducket seinen Bruder zum König mitnahm. »Du mußt der Familie Ehre machen, wenn du dem König vorgestellt wirst«, hatte Henry gemahnt. Daher prangte Julius nun statt seiner üblichen eher einfachen Kleidung in einem hellroten Rock mit roter Taille und einem Umhang. Anstelle einer einfachen Halskrause trug er einen riesigen weichen Spitzenkragen, der bis über die Schultern hing; seine weichen Lederstiefel hatten Stulpen am Knie, und an seinem Hut mit riesiger Krempe steckte eine große, gebogene Straußenfeder. »Kavalierstil« wurde diese Mode in England genannt, und als zwei Kavaliere fuhren die Duckets die Themse hinunter nach Greenwich.
»Du hast nichts zu fürchten«, beruhigte Henry ihn, als sie um den alten Palast am Ufer gingen, aber Julius konnte nicht umhin zu stöhnen: »O Bruder, ich bin so ein einfacher Kerl.«
Kein englischer Hof, nicht einmal unter König Heinrich, hatte je eine solche Schar von großen Künstlern angezogen. Die Hofmasken waren Meisterwerke. Große europäische Künstler wie Rubens und van Dyck kamen und beschlossen zu bleiben. Trotz seiner bescheidenen Mittel sammelte der König Gemälde – Tizian, Raffael, die flämischen Meister. Der Hof war kosmopolitisch. Als sie den Grashang hinter dem Palast hinaufschritten und sich umdrehten, lag vor Julius ein so schöner Anblick, daß er nur hervorstoßen konnte: »Lieber Gott, war jemals etwas vollkommener?«
Das Queen's House in Greenwich war gerade fertiggestellt worden. Da es von den Tudorgebäuden vom Fluß abgeschirmt wurde, hatte Julius es zuvor kaum bemerkt. Sein Architekt, der große Inigo Jones, hatte bereits ein anderes klassisches Meisterwerk vollendet, das Banqueting House in Whitehall, dessen Decke in diesem Jahr von Rubens bemalt worden war.
Das Queen's House war vollkommen. Es stand allein am äußeren Wall des alten Palastgartens und blickte auf den Park. Diese leuchtendweiße Villa im italienischen Stil, nur zwei Stockwerke hoch, mit drei übereinanderliegenden Fensterpaaren in der Mitte und zwei an jeder Seite, bot einen klassisch perfekten Anblick.
König Karl I. kam auf sie zu. Gekleidet in einen Rock aus gelber Seide, trug er ebenfalls einen breitkrempigen Hut, den er in Antwort auf ihre hastigen Verbeugungen höflich lüftete. Er wurde von einer Gruppe Gentlemen und einigen Ladys in langen schweren Seidenkleidern begleitet. Er ging graziös, einen Stock mit goldenem Knauf in der Hand. Doch als er sie erreicht hatte, stellte Julius fest, daß er klein war; er reichte Julius kaum bis zur Schulter. Dennoch war er die aristokratischste Persönlichkeit, der Julius je in seinem Leben begegnet war. »Wir wollen hier sprechen«, meinte er freundlich und führte die beiden Männer zu einem Rasenhügel, wo eine Eiche Schatten bot und er höflich stehenblieb, um sie anzuhören.
Zuerst verhaspelte sich Julius ein wenig, als er seine Idee für die königlichen Anleihen erläuterte. Doch allmählich gewann er mit Hilfe des Königs Selbstvertrauen. Wenn es Julius aus Nervosität nicht gelang, einen Punkt klar darzustellen, bat König Karl I. liebenswürdig: »Vergebt mir, Master Ducket, ich habe nicht ganz verstanden…« Dieser kleine, höfliche, fast schüchterne Mann hatte etwas fast Magisches an sich, das ihn von allen anderen abhob – den königlichen Charme der Stuarts. Als Julius schließlich geendet hatte, ertappte er sich bei dem Gedanken: Dieser Mann ist wirklich nicht wie andere Menschen; er ist von Gott mit Königswürde ausgezeichnet. Selbst wenn er unrecht hätte, er ist unbestreitbar mein gesalbter König, und ich werde ihm folgen.
König Karl I. der aufmerksam bis zum Ende zugehört hatte, stimmte zu, daß er gute Beziehungen zur Stadt aufrechterhalten sollte, und diese neue Art, die Londoner zu Anleihen zu bewegen, machte ihn neugierig. »Es wird weiter darüber gesprochen werden«, versprach er Julius. »Wir fürchten Uns nicht vor Neuerungen. Obwohl Wir natürlich auch bedenken müssen, was bereits innerhalb Unserer Hoheitsrechte liegt.« Beide Brüder hatten das Gefühl, es sei ein sehr zufriedenstellender Tag gewesen.
Daher war Julius ein wenig überrascht, als er im Herbst, ohne noch einmal etwas über seine Vorschläge gehört zu haben, erfuhr, daß der König von London und von den größeren Häfen Schiffsgeld verlangte. Dieser Beitrag der Küstenstädte zu den Kosten der Flotte war eine alte und legale Steuer, aber unpopulär. Vor Weihnachten erhob König Karl I. sie auch von allen Inlandsstädten. »Das ist unerhört«, bemerkte Henry. »Auch wenn der König behauptet, das liege innerhalb seines Hoheitsrechts.« Anfang 1635 belangte König Karl I. durch den königlichen Gerichtshof der Sternkammer die Stadt London wegen Mißwirtschaft in ihrer Ansiedlung in Ulster. »Er hat alles konfisziert und der Stadt siebzigtausend Pfund Bußgeld auferlegt. Das ist auch eine Art, Geld aufzubringen«, stellte Henry bitter fest. Ein paar Wochen später fragten die beiden Beauftragten des Königs, wieviel die Stadt bezahlen würde, um sich eine Begnadigung zu sichern. Die Stadt tobte vor Wut. »Es ist auf jeden Fall raffiniert«, meinte Henry. »Der König bewegt sich immer innerhalb seiner Hoheitsrechte.«
Aber Julius blieb es ein Rätsel. Wie war es möglich, daß dieser sanfte König, nachdem er seinen Vorschlag angehört und zugestimmt hatte, daß es wichtig sei, Londons Wohlwollen zu erhalten, so etwas tat? Die Hälfte der Kaufleute in der Stadt schwor nun, daß sie ihm nie wieder etwas leihen würden.
Was für ein Glück, dachte Martha, daß diese respektable Mrs. Wheeler ein Auge auf ihren Gatten haben würde, während sie getrennt waren. Dogget hatte sie vor Jahren miteinander bekannt gemacht, als sie sich in Cheapside getroffen hatten. »Diese Lady kommt aus Virginia, Martha«, hatte er erklärt. Sie hatte erfahren, daß Mrs. Wheeler sich in Blackfriars niedergelassen hatte, und ein paar Tage später hatte sie bemerkt, wie Meredith sich höflich verbeugte, als sie vorbeiging. Die Lady mußte also achtbar sein, so wenig Martha Meredith auch mochte.
Mrs. Wheeler war eine gute Zuhörerin. Wenn sie sprach, so immer vernünftig und zur Sache. Sie war eine Freundin der ganzen Familie geworden. Als Doggets kleinerer Sohn krank wurde, unterstützte sie Martha bei den Nachtwachen an seinem Bett. Als Marthas Tochter Schneiderin werden wollte, brachte ihr Mrs. Wheeler mit unerwartetem Geschick fast alles bei, was sie brauchte. Einmal, als Martha sie gefragt hatte, ob sie daran denke, wieder zu heiraten, hatte Mrs. Wheeler nur gelacht: »Ich komme gut ohne einen Mann aus.« – »Ein Ehemann bedeutet Pflichten«, stimmte Martha zu.
Aber vor allem liebte sie es, mit Mrs. Wheeler über Amerika zu sprechen, denn dieses Thema konnte sie stundenlang beschäftigen. Immer wenn sie sich höflich einige Details aus Virginia angehört hatte, fragte sie: »Und was habt Ihr über Massachusetts gehört?« Das märchenhafte, gelobte Land. Der Traum von der gottesfürchtigen Gemeinde, der leuchtenden Stadt, war ihr nie aus dem Sinn gegangen. Und in den letzten Jahren sahen viele Engländer in diesem Traum nicht mehr nur eine Hoffnung, sondern eine erfreuliche Realität. Die Gründe dafür waren Laud und Winthrop.
Erzbischof Laud hatte London mit jedem Jahr stärker unter seine Herrschaft gezwungen. Ein Kirchspiel nach dem anderen wurde auf Linie gebracht; viele Geistliche resignierten. Nicht nur das: Er war weltlich. Wenn er nach London gefahren kam, so zusammen mit einem Gefolge vornehmer Gentlemen, Lakaien ritten ihnen voraus. Er saß im Kronrat des Königs; er hatte die eigentliche Macht über die Schatzkammer. Doch selbst dieser weltliche Prunk schockierte Martha nicht so sehr wie sein Sakrileg.
»Heiligt den Sabbat.« Jeder gute Puritaner tat das. Doch der König und sein Bischof erlaubten Sport und Spiele, die Ladys durften elegante Kleider tragen; einmal hatte Martha sogar junge Leute gesehen, die um einen Maibaum tanzten, und sich bei den Kirchenoberen beschwert. Niemand hatte sich darum gekümmert.
Kein Wunder, daß sie und zahllose andere Puritaner sich nach einer Möglichkeit des Entkommens sehnten, wenn sie solche Frevel mit ansehen mußten, und Winthrop bot ihnen eine. Die Kolonie in Massachusetts wuchs stetig und noch schneller als die in Virginia. Mit jedem zurückkehrenden Schiff kam die Nachricht: »Es ist wirklich eine gottesfürchtige Gemeinde.«
Martha sehnte sich danach zu gehen; 1634 waren bereits viele ihrer Freunde fort. 1636 sah sie in Wapping eine kleine Flottille, die nach Amerika aufbrach. Die tröpfelnde Emigration war zu einer Flut geworden. Laud und der König mochten denken, daß sie nur ein paar Unruhestifter verloren, aber tatsächlich brachten die Schiffe der Puritaner nicht weniger als zwei Prozent von Englands gesamter Bevölkerung an die Ostküste Amerikas.
Manchmal sprach Martha ihre Familie darauf an, doch Dogget brummte, sie seien zu alt, obwohl sie beide erst in den Fünfzigern waren und wesentlich ältere Leute die Reise unternahmen. Doggets älterer Sohn, der die Berichte über den erstaunlich ertragreichen Kabeljaufang hörte, erklärte: »Wenn ihr geht, komme ich mit.« Die Person, die Martha zurückhielt, war Gideons Frau.
Martha hatte immer versucht, das Mädchen zu lieben, konnte aber ein gewisses Gefühl der Enttäuschung nicht ganz überwinden. Gideons Frau hatte ihm nur Mädchen geschenkt. Mit monotoner Regelmäßigkeit kamen sie alle zwei Jahre. Getauft wurden sie auf die frommen Namen, die den Puritanern so gefielen. Zuerst Charity, dann Hope, dann Faith, dann Patience und schließlich Perseverance. Am schwierigsten zu ertragen war ihre Krankheit. Damit verhielt es sich seltsam. Sie schien immer dann auszubrechen, wenn Martha und Gideon das Thema Amerika ansprachen. Eines Tages bemerkte Mrs. Wheeler zu Martha: »Sie ist genau krank genug, um nicht zu reisen.«
Dann gebar Gideons Frau zu jedermanns Überraschung Ende 1636 einen Jungen. Die Freude der Familie war so groß, daß sie nach einem Namen suchten, der ihre Dankbarkeit gegenüber dem Herrn ausdrücken sollte. Martha fand schließlich eine verblüffende Lösung. Eines Wintermorgens hielt Meredith das Kind über das Taufbecken und verkündete: »Ich taufe dich auf den Namen O Be Joyful.«
Statt eines Namens wählten die Puritaner manchmal einen ganzen Satz aus ihrer geliebten Bibel; ein deutlicher Ausdruck der Treue zum Puritanertum. Und so wurde Gideons Sohn für die Welt O Be Joyful. Gideons Frau konnte sich nun entspannen. Die ersten vier Jahre im Leben des Säuglings waren bei weitem die gefährlichsten, und sie wußte sehr gut, daß zumindest ein paar Jahre lang nicht einmal Martha davon reden würde, O Be Joyful den Gefahren einer langen Seereise auszusetzen. Gideons Frau wurde ganz gesund.
Es war eine große Überraschung für die Familie, als Martha im Sommer 1637 eine kriminelle Handlung beging.
Master William Prynne, ein Gentleman und Gelehrter, war ein streitbarer Mann. Vor drei Jahren hatte er ein Pamphlet gegen das Theater geschrieben, das König Karl I. als Beleidigung seiner Frau auffaßte, die damals in einigen Hoftheaterstücken mitspielte. Prynne wurde verurteilt: Am Pranger spaltete man ihm die Nase und schnitt ihm die Ohren ab.
1637 geriet Prynne erneut in Schwierigkeiten, diesmal, weil er gegen die Entweihung des Sonntags durch Sportveranstaltungen schrieb und darauf drängte, die Bischöfe abzuschaffen. »Er soll wieder an den Pranger«, erklärte das Gericht des Königs, »und dann wird er auf immer ins Gefängnis geworfen.«
»Ist denn jetzt alle freie Rede verboten?« fragten die Londoner. Am 30. Juni war der Tag der Bestrafung, ein sonniger Sommertag. Prynnes hochgewachsene Gestalt, bereits schrecklich entstellt, obwohl er offensichtlich einmal ein gutaussehender Mann gewesen war, stand stolz und ungebeugt auf dem Karren, auf dem man ihn nach Cheapside zog. Eine riesige Menge jubelte ihm zu und warf Blumen auf seinen Karren. Und als der abscheuliche Urteilsspruch ausgeführt wurde, erhob sich Wutgeschrei. Martha kehrte zitternd zurück.
Aber erst als Meredith am nächsten Sonntag in seiner Predigt von der Schlechtigkeit solcher Leute wie Prynne sprach, die Gottes Bischöfe ablehnten, konnte Martha nicht mehr an sich halten. Sie stand auf und erklärte ruhig und mit fester Stimme: »Dies ist kein Haus Gottes.« Als Dogget sie am Ärmel zog, fuhr sie fort: »Ich muß es aussprechen.« Und das tat sie. Ihre kurze Rede in St. Lawrence-Silversleeves blieb noch Jahre in Erinnerung, obwohl es keine Minute gedauert haben konnte, bis der Büttel sie davonzerrte. Es ging um Papisterei, Sakrileg, um das wahre Reich Gottes. Sie sprach in einfachen Worten, die jeder Protestant der Gemeinde verstand. Es war vor allem ein Satz, an den man sich erinnerte: »In diesem Land gibt es zwei große Übel«, sagte sie. »Das eine nennt man Bischof, das andere König.«
Es bedurfte aller Überredungskunst von Julius, sie zu retten. Der Bischof von London wollte sie in den Kerker werfen, doch Julius konnte nie seine Schuld gegenüber Gideon vergessen, und so erklärte er ihr an dem Donnerstag nach ihrem Ausbruch: »Ihr müßt das Land verlassen.«
»Dann gehe ich nach Massachusetts«, erwiderte sie. Und so schickten sich Martha, ihre junge Tochter und Doggets beide Söhne im Sommer 1637 an, aus London fortzugehen. Gideon und seine Familie konnten noch nicht reisen, und da Gideon Doggets Hilfe in der Werkstatt brauchte, kam man überein, daß auch er noch für ein oder zwei Jahre bleiben sollte.
Es war eine sehr gemischte Gruppe, die sich in Wapping versammelte, um an Bord zu gehen. Eine Reihe von Handwerkern, ein Anwalt, ein Prediger, zwei Fischer, aber auch ein junger Absolvent aus Cambridge, der vor kurzem geerbt hatte. Sein Name war John Harvard.
Marthas letzte Worte, bevor das Schiff auslief, waren an Mrs. Wheeler gerichtet. »Versprecht mir, daß Ihr ein Auge auf meinen Mann haben werdet.« Und Mrs. Wheeler versprach es.
Viele Schiffen kamen im Herbst 1637 an der Küste von Massachusetts an, auf einem davon Martha und John Harvard.
Kaum jemand beachtete den langsamen alten Kahn, der sich mit einer Ladung Melasse durch die Karibik gepflügt hatte. Selbst der Beamte, der seine Ankunft in Plymouth notierte, hätte seine Existenz wohl vergessen, wenn der Kapitän des Schiffes nicht bei seinem kurzen Zwischenaufenthalt im Hafen gestorben wäre. Das prägte sich ein, denn obwohl das Haar des alten Seefahrers weiß war, war seine Haut schwarz.
Orlando Barnikel starb friedlich. Die Jahre nach seiner Seeräuberzeit hatten ihm keine große Befriedigung gebracht. Er hatte sich nach und nach in eine ruhigere Rolle als Kapitän, den man anheuern konnte, eingelebt. Man kannte ihn als schlauen alten Seemann, dessen Schiffe durch jedes Wetter kamen. Wo waren seine Söhne? Zwei waren tot, das wußte er. Einer war Korsar, Pirat im Mittelmeer. Ein vierter – wer wußte es schon? Sie waren von ihm fortgegangen.
Bevor er starb, wollte er noch eine letzte Schuld zurückzahlen. Er bat um einen Anwalt und diktierte ihm unter vier Augen ein kurzes Dokument, das er dem Maat, dem er vertraute, mit der Anweisung übergab, er solle es Jane bringen, die er sorgfältig beschrieb. »Gott allein weiß, ob sie noch lebt oder wie sie heute heißt«, sagte er. »Aber ich habe sie in Virginia zurückgelassen.«
1642
Im Glauben, die englischen Puritaner eingeschüchtert zu haben, wandten König Karl I. und Erzbischof Laud ihre Aufmerksamkeit nordwärts und befahlen, den strengen Presbyterianern in Schottland das anglikanische Gebetbuch und die anglikanische Messe aufzuzwingen. Innerhalb weniger Wochen war ganz Schottland in Aufruhr. Und im folgenden Jahr bildeten die Schotten eine riesige Organisation, die gewillt war, ihre protestantische Sache zu verteidigen.
Sie waren bewaffnet und bereit, in England einzumarschieren. Der Name dieses Bundes sollte in der schottischen Geschichte widerhallen: der Covenant.
Karl I. rief seinen stärksten Gefolgsmann, den Earl of Strafford, der seit einigen Jahren die unglücklichen Iren mit eiserner Faust regierte, an seine Seite. Eine Art Streitmacht wurde aufgeboten, aber die halbe Truppe schien auf der Seite der Covenanter zu stehen. Nach über einem Jahr nutzloser Verhandlungen berief Karl widerwillig ein Parlament ein. Es verlangte, prinzipiell über Karls Regierung zu diskutieren, und so löste er dieses sogenannte kurze Parlament nach ein paar Tagen ungeduldig wieder auf. »Dann müssen wir Söldner anheuern«, beschloß Karl. Doch hier begann sein größtes Problem: Geld. Er ersuchte die Stadt London um eine Anleihe, aber niemand wollte leihen. »Wenn wir müssen, beschaffen wir uns Einnahmen durch Münzverschlechterung«, erklärte Strafford den Kaufleuten. Und was die Weigerung der Stadt betraf, so schlug er dem König in Hörweite der Londoner vor: »Verdoppelt die Forderung, Sire, und hängt ein paar Aldermen. Dann wird es schon gehen.«
»Hätte der König nur auf mich gehört«, jammerte Julius seinem Bruder vor, »wie er Schuldenanteile vergeben soll, dann wäre er jetzt nicht in dieser Lage.« Aber nun war es so. Die Schotten, die Karls Schwäche sahen, besetzten den Norden Englands und wollten nicht weichen, bevor er nicht eine enorme Abfindung bezahlte. Karl I. mußte daher wieder das Parlament einberufen, und im Herbst 1640 war es bereit, ihm entgegenzutreten.
»Diese Männer im Parlament«, erklärte Henry verärgert, »sind nicht besser als Verräter. Sie machen gemeinsame Sache mit den Schotten.« Natürlich taten sie das, doch sie waren keine Verräter, sondern hauptsächlich Landadlige, die über Karls Regierung entsetzt waren. Ein Unterhausabgeordneter namens Hampden hatte die Absicht, einen Kreuzzug gegen das Schiffsgeld zu führen. Ein anderer, ein Squire aus Ostanglien namens Oliver Cromwell – zufällig ein entfernter Verwandter des Ministers Thomas Cromwell, der ein Jahrhundert zuvor die Klöster aufgelöst hatte –, der zum erstenmal im Parlament saß, war empört über den seiner Meinung nach gottlosen Hof. Doch am bedeutsamsten von allen war ihr Anführer, ein meisterhafter Taktiker namens John Pym.
»Pyms Überlegungen sind ganz einfach«, erklärte ein untersetzter Gentleman Julius eines Tages in der Londoner Warenbörse. »Solange die Schotten im Norden sitzen – und sie haben uns versprochen, daß sie bleiben – und wir ihm hier alle Gelder verweigern, ist König Karl in einem Schraubstock gefangen. Ihr seht also, jetzt ist es Zeit, ihn unter Druck zu setzen.«
Und sie setzten ihn unter Druck. Das Recht des Königs auf Zoll wurde abgeschafft; alle drei Jahre mußte das Parlament einberufen werden; das jetzige Parlament tagte so lange, wie die Mitglieder es für richtig hielten; die Siedlung in Ulster wurde an die Londoner zurückgegeben. Im November wurde Strafford in den Tower gebracht, einen Monat später folgte ihm Erzbischof Laud.
Dennoch war Julius nicht beunruhigt. Seit Jahrhunderten hatte es immer wieder Widerstand der Parlamente gegen den König gegeben. Die Lage war schlecht, aber nicht hoffnungslos. Die Besorgnis, die er verspürte, wurde nicht vom Parlament verursacht, sondern von seinem eigenen Kirchspiel St. Lawrence-Silversleeves. Es geschah, kurz nachdem das Parlament zu tagen begonnen hatte. William Prynne war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden, und eine riesige Menge hatte ihn im Triumphzug durch die Straßen geführt. Die Rufe hallten noch in Julius' Ohren wider, als man ihm sagte, Gideon Carpenter sei an der Tür. Gideon zeigte ihm eine lange Schriftrolle und fragte ihn: »Wollt Ihr unterzeichnen? Es ist eine Petition; wir haben schon fast fünfzehntausend Unterschriften für die völlige Abschaffung der Bischofskirche, ›mit Stumpf und Stiel‹.«
Julius hatte von dieser sogenannten Root and Branch Petition gehört. Initiiert von Pennington, einem energischen Puritaner im Gemeinsamen Rat, und unterstützt von den Gesandten der schottischen Presbyterianer, die vor kurzem in London angekommen waren, hatte viele, die Laud und seine Kirche haßten, unterzeichnet. Julius konnte sich nicht vorstellen, daß König Karl I. überhaupt geruhen würde, einen Blick auf ein solches Dokument zu werfen. »Warum bringt Ihr das mir?« fragte er. »Als Ihr mich habt auspeitschen lassen«, erwiderte Gideon, »habt Ihr mir keine Chance gegeben. Aber ich gebe Euch eine.«
Wovon redete Gideon da? »Bringt es woandershin«, antwortete Julius kurz angebunden. Ihm eine Chance geben – welch seltsame Formulierung. Bald sollte er eine weitere kennenlernen.
Das Parlament erhob nun ein Impeachment gegen Strafford, doch die rechtliche Begründung dieser Anklage war nicht ganz klar. »Wir beschuldigen ihn verschiedenster Verbrechen, der König muß sein Todesurteil unterzeichnen.«
»Wir leihen kein Geld, ehe nicht sein Kopf ab ist«, fügte die Stadt London hinzu.
König Karl widersetzte sich. Eines Apriltages, als eine große Menge sich versammelt hatte, um in Westminster ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen, traf Julius zufällig Gideon und meinte zu ihm, gleichgültig, was man von Strafford halte, es sei wohl kaum möglich, daß die Sache bis zur Exekution gehen werde. Der König werde es einfach nicht zulassen.
»Welcher König?« lächelte Gideon.
»Welcher König? Es gibt nur einen König, Gideon.«
Doch dieser schüttelte den Kopf. »Es gibt jetzt zwei Könige«, erklärte er. »König Karl in seinem Palast, und König Pym im House of Commons. Und ich glaube, König Pym wird es so haben wollen.«
König Pym? Der Anführer des Parlaments. Julius hatte diesen Ausdruck noch nie zuvor gehört. »Ihr solltet vorsichtiger sein, was Ihr sagt«, warnte er. Doch gleich am nächsten Tag kam er an einer großen gedruckten Flugschrift vorbei, die an der Kreuzung von Cheapside hing und deren Überschrift in kühnen Lettern verkündete: »König Pym sagt…« Nach einer Woche hatte er es dutzendemal gehört. Und nach einem Monat, drangsaliert vom Parlament und ohne jegliche Mittel, war König Karl I. gezwungen nachzugeben. Strafford wurde auf dem Tower Hill hingerichtet.
Doch es gab noch ein drittes schreckliches Wort, das Julius lernen mußte. Den Sommer über veränderte sich wenig. König Pym thronte sicher in seinem Parlament. König Karl I. unternahm eine zwecklose Reise nach Norden, um einen Handel mit den Schotten zu schließen, aber die Presbyterianer rührten sich nicht von der Stelle. Julius und seine kleine Familie gingen im Sommer zu Henry nach Bocton und brachten ein paar Familien mit Kindern aus dem Kirchspiel mit – darunter Gideons Frau und Kinder –, die beim Hopfenzupfen halfen. Sobald sie wieder in London waren, traf die Nachricht von Unruhen in Irland ein. Menschen waren umgebracht, Besitz niedergebrannt worden. König Pym und König Karl stimmten überein, daß man Truppen senden müsse, um die aufsässige Provinz zu unterwerfen. Aber damit endete die Übereinstimmung. »Ich werde die Truppen befehligen«, erklärte König Karl I. »Unter keinen Umständen«, antwortete das Parlament, »werden wir für Truppen bezahlen, die der König dann gegen uns einsetzen wird.«
»Es genügt nicht, die Macht des Königs einzuschränken«, argumentierte das Parlament weiter, »wir müssen ihn kontrollieren.« Jede Woche wurde ein neuer und noch radikalerer Vorschlag erhoben. »Die Armee muß sich dem Parlament allein verantworten«, erklärte man. »Und wir sollten ein Vetorecht gegen die Minister des Königs haben.« Und: »Keine Bischöfe mehr.« Im November sammelte Gideon Unterschriften für eine weitere Petition.
»Ich war heute mit einigen der besonneneren Parlamentsmitglieder zusammen«, erzählte Henry Julius eines Abends. »Sie wollen den König kontrollieren, aber sie befürchten, daß Pym sie zur Herrschaft des Pöbels führt.« Am Ende des Monats, als Pym und seine Anhänger dem Parlament ihre sogenannte Grand Remonstrance, die eine parlamentarische Kontrolle von Kirche und Staat forderte, vorlegten, brachten sie diesen Einspruch gerade noch durch, eine starke Minderheit stimmte dagegen. »Pym ist zu weit gegangen«, meinte Henry.
Viele der Aldermen und der reicheren Londoner Familien begannen ähnliche Zweifel zu hegen. »Die Stadtbezirke haben einen neuen Gemeinsamen Rat aus Unruhestiftern und Radikalen gewählt.« Als wollten sie alle ihre Befürchtungen bestätigen, rottete sich ein paar Tage nach Weihnachten ein großer Haufen von Lehrlingen in Westminster zusammen, der von Truppen auseinandergetrieben werden mußte. Damals hörte Julius zum erstenmal das Wort, das er bald fürchten lernen sollte. »Weißt du, wie die Truppen die Lehrlinge genannt haben, die sie an Whitehall vorbeigetrieben haben?« fragte Henry ihn. »Sie haben gesehen, daß die meisten dieser jungen Leute kurzgeschnittenes Haar hatten, daher nannten sie sie Rundköpfe.«
Innerhalb von ein paar Tagen boten fünfhundert junge Gentlemen aus den Inns of Court König Karl ihre Dienste an, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, und selbst der neue Common Council stimmte zu, die bewaffneten Männer der Stadt zusammenzurufen, um den Frieden zu bewahren.
Doch gerade als verschiedenste einflußreiche Leute an der Gegnerschaft zum Monarchen Zweifel zu hegen begannen, sah Julius, der in seinem Arbeitszimmer in dem großen Haus hinter Mary-le-Bow über seinen Abrechnungen saß, wie sein Bruder die schwere Eichentür aufriß und ausrief: »Der König ist verrückt geworden!«
König Karls Handeln in der ersten Januarwoche 1642 zeigte nicht, daß er verrückt war, sondern nur, daß er nicht das mindeste von englischer Politik verstand. Am 3. Januar schickte er einen Ordnungsbeamten, fünf Mitglieder des Unterhauses zu verhaften. Die Commons verweigerten ihm den Eintritt. Am nächsten Tag tauchte der König selbst gegen alle Etikette dort auf und stellte fest, daß die fünf, darunter König Pym und der Puritaner Pennington, fort waren.
Könige durften keine Parlamentsmitglieder verhaften, nur weil sie im House of Parliament offen ihre Meinung darlegten. Das war ein Bruch der Privilegien des Parlaments. Von diesem Tag an bis heute wird dem Repräsentanten des Königs, wenn er kommt, um die Commons zur jährlichen Eröffnungszeremonie zu beordern, symbolisch die Tür vor der Nase zugeschlagen. Als Karl I. am nächsten Tag in die Guildhall ging, konnten ihm nicht einmal der Mayor und die Aldermen, die nichts für die Radikalen übrig hatten, helfen. »Das Privileg des Parlaments«, erinnerten sie ihn.
Fünf Tage später zog sich König Karl I. in die Sicherheit von Hampton Court zurück. König Pym blieb in London.
Während des Frühlings erhielt das Parlament zumindest den Anschein von Königstreue aufrecht. Es berief Truppen ein, doch im Namen des Königs, und erklärte, man brauche sie für Irland. Es war klar, daß das Parlament es weit besser verstand, die Unterstützung der Stadt zu erlangen, als König Karl I. Eine enorme Anleihe der Stadt, zuvor verweigert, wurde nun unverzüglich bewilligt – als Gegenleistung für weitere zweieinhalb Millionen Acres in Irland.
Bis April stellte man eine Truppe von sechs Regimentern auf, natürlich »für die Verteidigung des Königs«. Eines Tages sah Julius Gideon, der feierlich eine Hellebarde trug und einen kleinen Trupp Lehrlinge anführte, die die Cheapside hinuntermarschierten. »Wird der König keinen Kompromiß suchen?« fragte Julius, als Henry, der zusammen mit dem König die Stadt verlassen hatte, zurückkam. Doch Henry schüttelte den Kopf. »Er kann nicht. Pym hat ihn zu weit getrieben. Dem Parlament muß eine Lektion erteilt werden. Die Königin ist mit den Kronjuwelen nach Frankreich gereist. Sie will sie dort verpfänden, um das Geld aufzubringen.«
Nach nur drei Tagen brach er wieder auf, und als er zwei Monate später für kurze Zeit zurückkam, teilte er Julius mit: »Der König ist in York. Er ruft alle königstreuen Parlamentsmitglieder auf, sich ihm anzuschließen. Aber die östlichen und südlichen Häfen sind uns alle verschlossen. Auch die Flotte scheint nicht mehr loyal zu sein.«
»Das Parlament hat um freiwillige Beiträge gebeten«, mußte Julius ihm sagen. »Es ist so viel Silberzeug gespendet worden, daß sie kaum wissen, was sie damit tun sollen.«
Im Sommer verfaßten einige der Unterstützer des Königs vernünftige Flugschriften, die eine Tür zum Ausgleich zu öffnen schienen. Doch im August wurde der Mayor abgesetzt und der Puritaner Pennington an seiner Stelle gewählt. Als Julius in der Watling Street eines Tages Gideon traf, erklärte der solide Handwerker ihm fröhlich: »Wir sind jetzt alle Rundköpfe.« Eine Woche später kam die Nachricht, daß der König seine Standarte in Nottingham aufgepflanzt hatte. Das war die traditionelle ritterliche Art eines Königs, den Krieg zu erklären.
Im September kam Henry noch einmal, diesmal mit einem Brustharnisch über dem Rock. Nach einem kurzen Besuch in seinem eigenen Haus in Covent Garden sprach er lange mit Julius. »Der Norden und der größte Teil des Westens sind königstreu«, erklärte er seinem Bruder. »Mehrere große Lords haben Truppen versprochen. König Karl hat seinen Neffen Rupert von der Pfalz herbeordert. Die ausgehobenen Truppen des Parlaments sind nicht ausgebildet. Gegen Rupert werden sie keine fünf Minuten standhalten.« Henry lächelte. »Wir werden wieder Ordnung schaffen.«
Kurz nach Morgengrauen brach Henry auf. Eingenäht in seine Kleidung und sein Gepäck nahm er die stolze Summe von dreitausend Pfund im Wert von Gold- und Silbermünzen mit. Als Julius angesichts dieser Summe ein bedenkliches Gesicht zog, erklärte Henry: »Wir sind Gentlemen, Bruder, und dem König treu.«
Am nächsten Tag wurden auf Befehl des Mayors und des Stadtrats alle Theater in London geschlossen. Truppen marschierten aus der Stadt hinaus, die Verteidigungen um das Tor wurden verstärkt. Anfang Oktober wartete jedermann ängstlich auf die Nachricht von einer Schlacht.
Am letzten Sonntag im Oktober geschah in St. LawrenceSilversleeves etwas Außergewöhnliches. In dieser Woche hatte im West Country eine Art Schlacht stattgefunden, die aber nicht zu einer Entscheidung geführt hatte. Die ausgebildeten Truppenmitglieder waren vereinzelt wieder zurück in die Stadt gekommen, um sich neu zu formieren. König Karl I. und Prinz Rupert rückten äußerst behutsam vor.
Julius und seine Familie waren an diesem Morgen im letzten Moment in die Kirche gekommen, weil eines der Kinder krank war. Er bemerkte, daß die kleine Kirche ungewöhnlich voll war, und der Altar stand am falschen Platz. Er war zurück ins Hauptschiff gestellt worden.
Meredith traf ein. Er trug nicht seinen üblichen goldschimmernden Chormantel, sondern einen langen schwarzen Talar und darunter ein einfaches weißes Hemd. Er setzte sich nicht wie sonst auf seinen Platz im Altarraum, sondern stieg auf die Kanzel und begann den Gottesdienst. Es war nicht die gewohnte Liturgie, es war ein ganz anderer Text. Julius kannte das gesamte Gebetbuch auswendig. Was zum Teufel rezitierte Meredith da? Plötzlich wurde es Julius klar. Es war die Gottesdienstordnung der Presbyterianer. Calvinismus – hier in seiner eigenen Kirche! Julius blickte zu seiner Frau, die empört wirkte. Er stand auf. »Hört sofort auf damit!« Seine Stimme hallte deutlich in der Kirche wider. »Mr. Meredith, ich glaube, Ihr lest hier eine falsche Messe. Als Oberhaupt der Kirchspielversammlung muß ich darauf bestehen…« Er wurde unterbrochen, als sich die Tür der Kirche öffnete. Gideon Carpenter, in der Uniform eines Offiziers, den Degen umgeschnallt, kam herein, gefolgt von sechs bewaffneten Männern. Julius öffnete den Mund, um auch sie zurechtzuweisen, doch Gideon kam ihm zuvor. »Ihr seid nicht länger in der Kirchspielversammlung, Sir Julius.«
Was meinte der Mann? Und warum nannte Gideon ihn »Sir Julius«?
»Habt Ihr es noch nicht gewußt? Das tut mir leid. Euer Bruder ist tot. Ihr seid nun Sir Julius Ducket. Und Ihr seid verhaftet.«

1649

29. Januar, abends: Seit fünf Uhr nachmittags war es dunkel. Eine lange, sternenklare Nacht stand bevor, in der viele feierlich Wacht hielten. Im grauen Morgenlicht würde in Whitehall etwas stattfinden, was in England nie zuvor geschehen war.
Edmund Meredith saß allein. Seine Frau und seine Kinder waren oben, aber noch nicht im Bett. Auf dem Tisch neben ihm lag ein steifer schwarzer Hut mit hoher Krone und breiter runder Krempe. Er trug noch seine Tageskleidung – eine schwarze, ärmellose Weste, ein schwarzweiß gestreiftes Hemd mit einem hohen weißen Leinenkragen und Manschetten, schwarze Breeches und einfache Schuhe. Sein silbergraues Haar war auf Kinnlänge geschnitten; diese absichtlich unattraktive Frisur war nun bei den Puritanern Mode, und ohne Zögern hatte er diesen Stil vor drei Jahren übernommen.
Er saß in einem schweren Polsterstuhl, die langen Finger vor dem aristokratischen Gesicht gefaltet, als bete er. Aber Edmund betete nicht, er dachte nach – er dachte ans Überleben. Obwohl er nun Ende siebzig war, sah er zwanzig Jahre jünger aus. Das jüngste seiner fünf Kinder war erst sechs, und es schien, als habe Edmund vor, lange genug zu leben, um diesen Knaben ins Erwachsenenalter zu begleiten. »Die Kunst des politischen Überlebens besteht vor allem darin, daß man sich rechtzeitig einrichtet«, erklärte er Jane. Und wenn er die letzten sieben konfliktreichen Jahren überblickte, konnte er sicher behaupten, daß ihm das gelungen war. Er sprach gerne mit Jane. Sie kannten einander zu lange, um Geheimnisse voreinander zu haben. Sie war der einzige Mensch, mit dem er vollkommen ehrlich sein konnte.
Der wichtigste Schritt war der erste gewesen, damals im Jahr 1642, als er Julius mit seinem Wechsel ins Lager der Presbyterianer so entsetzt hatte. Damals war König Karl I. noch auf London vorgerückt, und viele hatten seinen raschen Sieg erwartet. »Wie konntest du wissen«, hatte Jane gefragt, »auf welche Seite du dich schlagen mußtest? Der König hätte dem Parlament eine Niederlage beibringen können.«
»Richtig«, stimmte er zu. »Aber ich war sicher, daß sich langfristig das Parlament durchsetzen würde. Die Rundköpfe hatten die Flotte und fast alle Häfen – wie sollte Karl I. da Verstärkung bekommen? Die Häfen zahlten ihren Zoll ans Parlament, und die Rundköpfe hatten London. Für lange Kriege braucht man Geld. Und das Geld ist in London. Ich habe zwei zu eins auf die Rundköpfe gewettet und bin Presbyterianer geworden.«
Und er hatte recht gehabt. Wenige Monate später hatte das Parlament jeglichen Anschein königlicher Amtsgewalt fallengelassen, Bischöfe abgesetzt und einen Handel mit den Schotten abgeschlossen. Mit einem feierlichen Vertrag, dem Covenant, wurde vereinbart, daß England, im Gegenzug für eine schottische Armee gegen Karl, presbyterianisch werden sollte. Eine große Zahl anglikanischer Geistlicher wurde aus dem Amt geworfen; die Kirchspiele in London befanden sich in Aufruhr. Doch Meredith hatte alles überstanden. Während die strengen Schotten und das englische Parlament die Einzelheiten einer calvinistischen englischen Kirche ausarbeiteten und der erste Londoner Ältestenrat einberufen wurde, waren sich selbst die strengsten schottischen Besucher einig: »Dieser Meredith hält gute Predigten. Sehr vernünftig.«
Doch das war vor einiger Zeit gewesen, als der Kampf zwischen Karl I. und dem Parlament noch im Gange war. Seither hatte sich die Lage geändert – seiner Ansicht nach sehr zum Schlechteren. Und nach dem morgigen Tag konnte keiner wissen, was geschehen mochte. Edmund war sicher, daß er einen Weg finden würde, um zu überleben. Er sorgte sich nicht um sich selbst, sondern um Jane. Weiß Gott, er hatte sie gewarnt.
Die Kerze in ihrem Zimmer brannte noch, und in ihrem flackernden Licht blickte Jane auf die schlafende Gestalt neben sich. Sie war froh, daß er so friedlich war.
Doch hatte Meredith recht? Waren sie in Gefahr? Dogget glaubte es nicht, doch seine Einstellung zum Leben war immer schon fröhlich gewesen, dachte Jane voller Zuneigung. Meredith hatte ein gutes Urteilsvermögen. Waren sie also ein unglückliches Liebespaar – Romeo und Julia? Der Gedanke belustigte sie. Dogget und Jane: ein seltsames Paar für eine Tragödie, da sie sechzig war, als sie ein Liebespaar wurden. Und sie hielt es sogar für wahrscheinlich, daß es nur aufgrund des Krieges dazu gekommen war.
Es war seltsam, daß Jane und viele andere Londoner, wenn sie an den Bürgerkrieg dachten, sich vor allem an die Stille erinnerten. Denn in diesem ersten Frühjahr wurde das ganze Gebiet hinter einem Wall abgeriegelt. Woche um Woche waren die Londoner draußen und gruben. Jeder kräftige Mann, auch ältere Männer wie Dogget, wurde einberufen und mit einer Schaufel ausgerüstet, und selbst an Sonntagen hatten sie sich abgerackert. So wurde in diesem Sommer ein großer Erdwall mit Graben, elf Meilen lang, fertiggestellt, der die gesamte Stadt umschloß, alle Randbezirke zu beiden Seiten des Flusses, bis hinter Westminster und Lambeth im Westen und Wapping im Osten. Und nicht nur die Vorstädte, sondern auch offenes Gelände, Gärten und Felder, selbst das Speicherbecken für die von Myddelton gebaute Wasserversorgung – alles befand sich hinter der riesigen Einfriedung. Die Wälle hatten Eingänge, Festungswerke und Batterien von Kanonen, die von der Ostindiengesellschaft zur Verfügung gestellt wurden. Sie waren uneinnehmbar. Und hier hatte die Parlamentsopposition während des Krieges ihr Hauptquartier.
Der Konflikt verlief langsam und stockend – ein Gefecht hier, eine Stadt oder ein befestigtes Haus dort, die man belagerte, ein paar offene Schlachten. Dabei hatten sich König Karl und Prinz Rupert als gefährlich erwiesen, als sie vom königlichen Hauptquartier in Oxford vorrückten. Sie hatten den großen Hafen Newcastle im Norden, aus dem der größte Teil der Kohleversorgung Londons kam, für den König gewonnen, zudem große Gebiete im Westen. Selbst nachdem die schottischen Presbyterianer dabei geholfen hatten, ihnen bei Marston Moor eine schwere Niederlage beizubringen, war die Botschaft eingetroffen: »Die Royalisten sind noch auf dem Feld.« Ein Teil der Schwierigkeit lag bei den Truppen der Rundköpfe. Die ausgebildeten Abteilungen aus London waren in der Regel überlegen, doch sobald der Sold nicht rechtzeitig ausbezahlt wurde, machten sie sich davon.
Anderen Landesteilen brachte der Krieg gelegentliche Kampfhandlungen, doch für Jane – innerhalb der riesigen Einfriedung um London – brachte er nur eine große Stille. Gewiß, bevor Gideon aufgebrochen war, hatte sie ihn und seine Männer einmal pro Woche stolz zum Finsbury Field oder zur Artilleriestellung außerhalb Moorgates ziehen sehen, wo sich die ausgebildeten Truppen der Stadt sammelten. Manchmal marschierten große Kolonnen von Rundköpfen aus der Stadt und kamen ein paar Wochen später zurück, schmutzig und mit Verbänden, doch die meiste Zeit blieb das Leben der Stadt sehr gedämpft. Die Hälfte der Stände auf dem Markt in Cheapside waren verschwunden. Die Londoner Warenbörse war oft wie ausgestorben. Da der Handel mit Tuch aus dem West Country von den Royalisten abgeschnitten worden war und kaum ein Markt für Luxusimporte bestand, verhielten sich die meisten Kaufleute abwartend. Sir Julius Ducket sei völlig zugrunde gerichtet, hieß es. Zu essen gab es zwar genug, doch die einfachen Leute hatten ein paar elend kalte Monate durchstehen müssen, als die Royalisten die Kohleversorgung aus Newcastle abgeschnitten hatten; und die monatlich eingezogenen Steuern für die Truppen hatten ihr Einkommen sehr geschmälert. Doch der angedrohte Angriff kam nie. Das Leben mochte zwar hart sein, aber zumindest hatte Jane Dogget.
Warum war er nicht nach Massachusetts gegangen? Immer hatte es eine Ausrede gegeben. In den ersten ein oder zwei Jahren war es das Geschäft, dann waren zwei von Gideons Kindern krank geworden. Als dann der Bürgerkrieg begann und Gideon Soldat wurde, mußte Dogget erst recht die Werkstatt weiterführen und für Gideons Familie sorgen.
Es geschah an einem sonnigen Nachmittag im September, Monate nachdem der Wall fertig war. Dogget und Jane waren aus der Altstadt zu den Moorfields spaziert. Fast eine Meile entfernt konnte sie die Wachtposten auf dem Wall bei Shoreditch sehen, und sie dachte, innerhalb dieser großen Einfriedung sei es, als lebten sie an einem unwirklichen, zeitlosen Ort, der sich irgendwie von der übrigen Welt losgelöst hatte. Als habe Dogget ihren Gedanken erfaßt, wandte er sich ihr plötzlich halb zu und bemerkte: »Man fühlt sich jung hier draußen.« Ja, dachte sie, sie fühlte sich jung. »Du hast dich jedenfalls nicht sehr verändert«, meinte sie. Sein Haar war grau, und sein Gesicht hatte Falten, aber ansonsten war er derselbe. Lächelnd sah er sie an. Sie nahm seine Hand und drückte sie sanft. Beide schwiegen, während sie zusammen zum Haus zurückgingen. Und so hatte in diesem seltsamen, stillen Raum, den die Kriegswälle geschaffen hatten, ihre Affäre begonnen: zwei Liebende über sechzig, verbunden durch ihre Vergangenheit und lange Zuneigung, die zusammen Trost, Gemeinschaft und sogar Erregung fanden; beide ein wenig erstaunt, daß so etwas noch möglich war.
Sie waren diskret. Nur Meredith hatte es erraten, und ihm konnte sie vertrauen. Aber das war vor fünf Jahren gewesen, vor dem großen Umschwung, der England an die Schwelle der jetzigen schrecklichen Krise gebracht hatte. Und als sie nun liebevoll auf die schlafende Gestalt neben sich blickte, hörte sie Meredith' drängende Worte, erst vor ein paar Tagen geäußert: »Ihr werdet bald in Gefahr sein. Wer genau weiß Bescheid?« – »Du. Vielleicht argwöhnen die Leute etwas. Aber warum ist das so wichtig?«
»Du verstehst nicht. Sag mir eines – weiß Gideon Bescheid?«
Gideon nahm seinen Federkiel. Der Brief an Martha lag vor ihm, aber zum hundertsten Male zögerte er. Er blickte durch das Zimmer auf seine Familie. Seine Frau nähte, neben ihr saßen Patience, die bald heiraten würde, und Perseverance, die immer noch keinen Verehrer hatte. Und der Lichtschimmer seines Lebens, O Be Joyful, mittlerweile ein kleiner, untersetzter Jugendlicher, der in der Bibel las. Der Junge war so begabt, daß Gideon ihn nicht in das eigene Geschäft genommen hatte, sondern ihn zu dem besten Holzschnitzer in die Lehre gegeben hatte, den er finden konnte. Aber noch dankbarer als für seine Begabung war Gideon dafür, daß Gott seinem Sohn ein so sanftes, frommes Wesen gegeben hatte. Wie stolz wäre Martha, wenn sie ihn jetzt sehen könnte. Dieser Gedanke brachte ihn zurück zu dem Brief und der quälenden Frage: Sollte er Martha von Dogget und Jane schreiben?
Er hatte gesehen, wie sie sich küßten, wenn sie sich allein glaubten, und er hatte Dogget in ihrem Haus verschwinden sehen. Soweit er sagen konnte, war es nur wenigen anderen bekannt. Als ein Nachbar einmal bemerkt hatte: »Dogget und Mrs. Wheeler sind Vetter und Base, nicht wahr?«, hatte er genickt. Gott vergebe ihm die Lüge. Dabei sollte er, Gideon Carpenter, im Kirchspiel von St. Lawrence-Silversleeves das moralische Vorbild sein.
Denn das war nun seine Rolle, seit sie Sir Julius Ducket und seine Freunde hinausgeworfen hatten. Dreimal hatte ihn die gesamte Gemeinde als Mitglied der Kirchspielversammlung gewählt, und ihre moralischen Maßstäbe waren hoch. Mehr als die Hälfte der Männer trugen Wams und Hut der Puritaner; ihre Frauen trugen graue oder braune lange Kleider und Häubchen, die unter dem Kinn gebunden waren.
Warum also ließ er zu, daß der Betrug an der frommen Frau, die er verehrte, fortgesetzt wurde? Zum Teil war es Angst vor einem Familienstreit und einem möglichen Skandal. Aber noch wichtiger war ihm, daß Dogget glücklich blieb. Ohne den alten Mann, der in der Werkstatt arbeitete, hätte Gideon sich nicht frei gefühlt, der größeren Sache zu dienen, deren Werk am nächsten Morgen vollendet werden sollte: das Werk Cromwells und seiner »Heiligen«.
Oliver Cromwell hatte den Bürgerkrieg gewonnen. Nach den ersten ergebnislosen Jahren hatte Cromwell seine eigene, gut ausgebildete berittene Truppe aufgebaut, die Ironsides. »Laßt mich nun die ganze Armee reorganisieren«, hatte er vom Parlament gefordert.
Was waren das für aufregende Zeiten gewesen. Gideon hatte Dogget und seine Familie in London gelassen und sich voll Eifer Cromwells Streitmacht angeschlossen. Die Armee nach neuem Modell wurde sie genannt. Diese ausgebildete, disziplinierte Vollzeitarmee, deren Kern bereits kampferprobt war, befehligt von Cromwell und General Fairfax, hatte Karl I. und Rupert bei Neaseby eine vernichtende Niederlage bereitet und eine königliche Festung nach der anderen erobert. Oxford fiel. Karl I. ergab sich den Schotten. Diese lieferten ihn gegen Geld an die Engländer aus, die ihn unter Hausarrest stellten.
Für Gideon war wichtig, daß diese Rundköpfe nach neuem Modell nicht nur Soldaten waren, sondern »Heilige«, wie sie sich selbst nannten. Manche waren natürlich nur Söldner; doch die meisten waren Männer, die nach Gerechtigkeit strebten, Streiter für Christus, Männer, die dafür kämpften, daß sie nun endlich in England die leuchtende Stadt auf dem Hügel errichten konnten. Sie waren sicher, daß Gott mit ihnen war; dieses Wissen verlieh ihnen Autorität, und die wurde gebraucht. Denn wem könnten sie vertrauen, wenn nicht sich selbst?
Sicher nicht dem Parlament. Die Hälfte der Zeit hatte die Armee ihren Sold nicht bekommen. Die »Heiligen« wußten sehr gut, daß die meisten Mitglieder des Parlaments zu den geringstmöglichen Bedingungen ein Abkommen mit dem König treffen wollten. Der größte Teil der Bevölkerung unterstützte die Sache der Rundköpfe, aber man konnte nie wissen, wie viele heimliche Royalisten es gab. Die Londoner waren nur an sich selbst und ihren Profiten interessiert. Sobald einmal die Bedrohung durch die royalistische Armee nicht mehr existierte, konnten sie es kaum erwarten, die »Heiligen« aufzulösen und sich auch mit Karl I. zu einigen.
Am allerwenigsten konnten die Rundköpfe dem König trauen. Als es Karl – der ständig versuchte, seine Feinde gegeneinander auszuspielen, und alles versprach in der Hoffnung, er könne am Ende wieder genauso regieren wie zuvor – schließlich gelungen war, einen erneuten Aufstand anzufachen, hatten die Rundköpfe genug gehabt. Trotz des Protestgeschreis der Londoner war Fairfax gekommen und hatte seine Truppen in London einquartiert. Die Reichtümer mehrerer Livreegesellschaften wurden eingezogen, um die Truppen zu bezahlen. Und erst vor ein paar Wochen war Colonel Pride mit einer Armeeabteilung nach Westminster gezogen und hatte alle Parlamentsmitglieder hinausgeworfen, die nicht begeistert genug für die große Sache – nämlich England neu aufzubauen – eintraten. Cromwells Armee war nun die einzige wahre Macht im Lande. Diszipliniert und einheitlich, wie sie war, konnte sie ihren Willen durchsetzen. Ein gefangener König, ein schwaches Parlament: Den »Heiligen« fielen die Gelegenheit und die Verantwortung zu, das alte Land nach einem neuen Modell zu formen. Aber wie sollte das neue Modell genau aussehen? Gideon war nicht ganz sicher.
Als der Bürgerkrieg begonnen hatte, war es ihm wie den meisten Rundköpfen klar gewesen: Der König mußte vom Parlament gezügelt werden; die Bischöfe und all ihre Ämter mußten verschwinden. Eine Art presbyterianische Kirche, wenn auch nicht ganz so streng wie die schottische Version, war ihm wünschenswert erschienen. Doch als der Krieg sich hinzog und die Kameradschaft in Cromwells Armee Gideon Auftrieb verlieh, hatte er zusammen mit den anderen »Heiligen« begonnen, eine noch größere Hoffnung zu schöpfen. Eine neue Welt, hier in der alten. Oft hatte er die Briefe gelesen, die er von Martha bekam. Sie hatte ihn mit ihren Berichten aus Massachusetts beflügelt; dort wählten Repräsentanten jeder Gemeinde nicht nur ihre Pastoren, sondern auch ihre Gouverneure und Richter; dort wurden Steuern nur entsprechend einem gemeinsamen Beschluß erhoben, und alle Menschen lebten nach dem strengen Gebot der Bibel.
Manche seiner Kameraden bei den »Heiligen«, Levellers genannt, wollten noch weitergehen; sie wollten jedem Mann eine Wahlstimme geben und sogar das Privateigentum abschaffen. Cromwell war dagegen, und auch Martha, wie aus ihren Briefen hervorging. All diese letzten Jahre war sie ihm wie ein Leuchtturm gewesen, der unverwandt über den Ozean schien; wie sehr wünschte er, sie wäre an seiner Seite. Wieviel sollte er ihr verraten? Mit bangem Gewissen begann er schließlich zu schreiben.
Soweit war es also gekommen. Julius saß allein in feierlicher Wache in seinem getäfelten Zimmer. Am Morgen würden sie König Karl I. hinrichten. Nach der schändlichen Farce einer Verhandlung würden die Rundköpfe ihren gesalbten König umbringen. Wenn Sir Julius Ducket in dieser schrecklichen Nacht überhaupt einen Trost finden konnte, so diesen: Er war königstreu geblieben.
Und er hatte dafür gelitten. Nachdem Gideon ihn verhaftet hatte, fand er sich zusammen mit drei Dutzend anderen prominenten Royalisten unter Bewachung. »Ihr seid Malignants, arglistige Royalisten«, antwortete man ihnen auf ihre Frage, warum sie verhaftet worden seien. In der ersten Woche hatten sie nicht einmal besucht werden dürfen. Als seine Frau endlich die Erlaubnis bekam, ihn zu sehen, erlitt er einen weiteren Schock. Auf seinen Vorschlag, sie und die Kinder sollten nach Bocton gehen, hatte sie geantwortet: »Weißt du das nicht? Die Rundköpfe haben alle Landsitze der Malignants übernommen.«
Wie bedrückend waren diese Zeiten gewesen. Man hatte ihn festgehalten wie einen Verbrecher. Monate waren verstrichen, bis man ihn endlich in die Guildhall gebracht und in einen Raum geführt hatte, wo ein halbes Dutzend Offiziere der Rundköpfe an einem Tisch saß.
»Sir Julius«, erklärten sie ihm. »Ihr könnt freikommen; doch Ihr müßt dafür bezahlen. Zwanzigtausend Pfund.«
»Zwanzigtausend? Ich wäre zugrunde gerichtet«, protestierte er. »Laßt mich im Gefängnis.«
»Wir könnten Euch trotzdem mit einer Geldstrafe belegen«, erklärte einer der Männer.
Und so war Sir Julius Ducket Anfang 1644 traurig nach Hause zurückgekehrt, um zu versuchen, wieder von vorne zu beginnen. Aber wie? Die Geldstrafe hatte fast sein gesamtes Vermögen verschlungen. Seine Frau hatte noch etwas Schmuck. Außerdem war das große Haus da, aber es war sehr schwierig zu verkaufen, solange London immer noch wie eine belagerte Stadt war. Er sah sich nach Geschäften um, an denen er sich beteiligen könnte, aber der Handel war fast zum Erliegen gekommen.
Eines Tages im März erinnerte er sich zufällig an den Piratenschatz. Der Keller roch modrig, als er mit einer Lampe hinunterstieg. Vor dreißig Jahren hatte er die alte Truhe zuletzt gesehen. Eine Menge von Haushaltsgegenständen war nun davor aufgestapelt, aber sie stand noch da, voller Staub.
Einen Augenblick lang zögerte er. Was hatte ihm sein Vater vor all den Jahren gesagt? Daß er diese Truhe mit seinem Leben schützen würde, weil er sein Wort gegeben hatte. Aber das war eben dreißig Jahre her. Der Pirat war nie zurückgekehrt. Mittlerweile war es äußerst unwahrscheinlich, daß der Kerl noch am Leben war oder daß es eine Familie gab, die die Truhe zurückfordern könnte. Er fragte sich, was wohl darin sein mochte. Er nahm Hammer und Meißel und machte sich an die Arbeit. Die alten Schlösser waren solide, aber schließlich gelang es ihm, sie aufzubrechen. Langsam hob er den knarzenden Deckel und hielt den Atem an. Die Truhe war zum Bersten voll mit Münzen aller Art – Gold und Silber, englische Shillings, spanische Dublonen, schwere Taler aus den Niederlanden. Viele waren fünfzig oder sechzig Jahre alt, aus den Tagen der spanischen Armada, aber dennoch gutes Gold und Silber. Weiß Gott, was der Schatz wert war. Ein Vermögen! Er war gerettet.
Von diesem Augenblick an begann die langsame Wiederherstellung Sir Julius Duckets. Er war sehr vorsichtig. Nachdem er das Geld auf zwanzig verschiedene Taschen verteilt hatte, versteckte er jede an einem Ort, wo sie nicht gefunden werden konnte. Er sagte nichts von dem Schatz, nicht einmal zu seinen Kindern, sondern bemerkte nur, er habe noch ein wenig Bargeld gefunden, so daß er in bescheidenem Maß beginnen könne, Waren zu kaufen und zu verkaufen. Die kleinen Gewinne stockte er aus dem Schatz auf, so daß die Familie in Ruhe leben konnte, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Doch er mußte weiterhin vorsichtig sein. Es gab zwar eine Reihe bekannter Royalisten wie ihn in der Stadt, aber ihm war auch bewußt, daß sie beobachtet wurden. Gideon, argwöhnte er, wußte über jeden seiner Schritte Bescheid.
Aber er war immer noch fähig, die Rundköpfe zu überlisten. Im späten Frühling war es ihm sogar einmal gelungen, sich zu einem besonderen Auftrag aus der Stadt zu stehlen. Er ritt heimlich an den Hof des Königs in Oxford. Zusammen mit zwei weiteren vertrauenswürdigen Männern ritt er eines Morgens, als Rundkopf verkleidet, aus der Stadt – eine Tarnung, die sie über zwanzig Meilen weit beibehielten. Eingenäht in die Kleider der Männer war eine Menge von Goldmünzen, die Julius dem Schatz entnommen hatte. Am folgenden Abend waren sie an den Verteidigungswällen der alten Universitätsstadt, und am nächsten Tag konnte Julius im Christ Church College dem König persönlich das Geld überreichen.
»Getreuer Sir Julius.« Es war der stolzeste Augenblick seines Lebens, als König Karl I. diese Worte sprach. »Wir zählen Euch zu unseren loyalsten Freunden.«
»Ich würde freudig für Eure Majestät kämpfen«, erklärte Julius. »Aber ich habe keine Erfahrung mit Waffen.«
»Wir ziehen es vor, daß Ihr in London bleibt«, erwiderte der König. »Wir brauchen dort treue Freunde, auf die wir uns verlassen können.« Eine halbe Stunde lang schritt der König mit ihm durch den alten Viereckshof des Colleges und fragte nach der Lage der Stadt und ihrer Verteidigung. »Viele der Uns Wohlgesonnenen hätten es gerne, wenn Wir Unser Gewissen kompromittieren«, erklärte der König, »aber das dürfen Wir nicht tun. Wir haben eine heilige Pflicht zu erfüllen.« Seine letzten Worte beim Abschied gingen Julius direkt zu Herzen. »Wir können nicht sagen, wie diese große Sache ausgehen wird. Das liegt in Gottes Hand. Aber sollte Uns etwas zustoßen, Sir Julius, Wir haben zwei Söhne, die Uns nachfolgen können. Können Wir Euch bitten, daß Ihr ihnen die Treue haltet, so wie Uns?«
»Ihre Majestät braucht nicht zu bitten«, antwortete Julius. »Ihr habt mein Wort.«
Es gelang Julius nicht mehr, sich ein zweites Mal nach Oxford zu stehlen; London wurde zu genau bewacht. Aber von diesem Tag an hatte er an innerer Kraft gewonnen. Dennoch war es in den folgenden Jahren nicht immer leicht, den Mut zu bewahren. Anfang 1645 richteten die Rundköpfe Erzbischof Laud hin; ein Zeichen, wie weit sie zu gehen vorhatten. Als Cromwell und seine Armee den Krieg gewannen und König Karl gefangengehalten wurde, hoffte Julius immer noch, daß man eine Abmachung erreichen könnte.
Die Ereignisse der letzten beiden Monate konnte er kaum glauben. Erst nachdem Pride das Parlament gesäubert hatte, war die Macht der Armee offenkundig geworden. Der König wurde zum Prozeß in die Westminster Hall gebracht. »Vielmehr zur Farce eines Prozesses«, wie Julius meinte. König Karl I. weigerte sich, die Befugnisse des Gerichts anzuerkennen. Als Reaktion darauf ließ ihn das Militärgericht abführen, sowohl am ersten wie am zweiten Prozeßtag. »Tatsächlich wurde die Verhandlung gegen ihn in seiner Abwesenheit geführt«, vermerkte Julius. Am dritten Tag verurteilten die Handlanger der Armee den Monarchen zum Tode.
Und so würden sie am Morgen, nach dieser kalten Nacht, ihren König umbringen. Noch nie zuvor war so etwas geschehen. Doch wenn sie meinten, damit die Welt zu ändern, so schwor sich Sir Julius Ducket: »Das werden sie nicht.«
Schon vier Nächte lang wohnte dieser Kerl nun im »George Inn«. Ein griesgrämiger alter Seebär, doch er machte keinen Ärger und blieb für sich. Jeden Morgen verließ er das Haus und kam erst in der Dunkelheit wieder, und niemand wußte, welchen Geschäften er nachging. Als der Gastwirt fragte, ob er am nächsten Morgen zur Hinrichtung des Königs gehen würde, hatte er den Kopf geschüttelt. »Keine Zeit.« Er hatte nur noch drei Tage, bevor sein Schiff wieder abfuhr.
Zwanzig Jahre waren vergangen, seit der Finstere Barnikel dem ersten Maat seinen Auftrag gegeben hatte; zwanzig Jahre lang trug dieser das Testament des Piraten mit sich. Vor drei Jahren hatte er sich in Virginia eingehender nach Jane erkundigt, doch seine erste Nachforschung brachte keinerlei Informationen über sie zutage. Ein Jahr später verbrachte er noch einmal zehn Tage in Jamestown, und diesmal hatte er mehr Glück. Jemand erinnerte sich an die Frau, die er beschrieb, und sagte ihm, daß sie Wheeler geheiratet hatte, und als er abfuhr, war er ziemlich sicher, daß Jane und die Witwe Wheeler ein und dieselbe waren. Man sagte ihm, sie sei nach England zurückgekehrt. »Sie hat gesagt, sie sei aus London«, erinnerte sich ein Farmer. Er ging von Kirchspiel zu Kirchspiel und erkundigte sich bei den Geistlichen nach der Witwe Wheeler. Bisher hatte er kein Glück gehabt, aber vielleicht morgen. Er ging die Cheapside entlang zu St. Mary-le-Bow und dem kleinen St. Lawrence-Silversleeves.
Schon früh an diesem eisigen Morgen strömte eine Menschenmenge in Whitehall zusammen. Vor dem Bankettsaal hatte man eine hölzerne Plattform errichtet, und die Truppen der Rundköpfe bildeten eine Wache.
Julius fragte sich, wie die Stimmung der Leute war. Waren alle strenge Puritaner wie Gideon? Manche ja, aber die Mehrheit war ein eher buntgemischtes Volk – von Gentlemen und Anwälten bis hin zu Fischhändlerinnen und Lehrlingen. Waren sie nur zu einer Belustigung gekommen? Während sie in der bitteren Kälte warteten, wirkten sie seltsam gedämpft. Julius dachte an den Bankettsaal mit seiner herrlichen Rubensdecke. Dargestellt auf ihr war Jakob, der Vater des Königs, wie er in den Himmel auffuhr – nicht zum erstenmal war aus einem ein wenig absurden Thema ein großes Kunstwerk geschaffen worden. Es war eine allegorische Darstellung des Hofes, der kultivierten europäischen Welt des Königs und seiner Freunde, der prachtvollen Häuser, der großen Gemäldesammlung – alles, was diese ungebildeten Puritaner mit ihrem brutalen Gott zerstören wollten. Nun kamen berittene Soldaten und formierten sich um das Schafott. Ein Trommelwirbel ertönte. Eines der oberen Fenster des Bankettsaals ging auf, und einen Augenblick später erschien König Karl I. von England, einfach, aber elegant in Umhang und Wams. Julius hatte einen Aufschrei oder auch Hochrufe der Menge erwartet, aber es blieb seltsam still. Ein Geistlicher in langem Talar folgte, dann mehrere Minister und andere Mitglieder des Hinrichtungskommandos, und zuletzt der Henker mit einer schwarzen Maske über dem Gesicht und einem Beil.
Es war Brauch, daß ein Verurteilter sich an das Volk wenden konnte, und das wurde auch Karl Stuart erlaubt. Der König, der ein Stück Papier mit ein paar Aufzeichnungen in der Hand hielt, begann zu sprechen, würdevoll, ruhig und höflich. Das Parlament, erklärte er, habe die Auseinandersetzung über Privilegien begonnen, nicht er. Monarchen, erinnerte er das Volk, seien da, um alte Verfassungen zu erhalten, die die Freiheit des Volkes bedeuteten. Nun hatten sie statt dessen nur die Willkürherrschaft des Schwertes. »Ich bin ein Märtyrer des Volkes!« rief er, »und ein Christ der Kirche Englands, wie ich sie von meinem Vater vorgefunden habe.«
Damit endete er. Sie nahmen ihm Umhang und Wams ab, so daß er nur noch ein weißes Hemd und seine Breeches trug. Sein Haar wurde mit einer Kappe bedeckt, damit es dem Beil nicht im Weg war, und man führte ihn zum Schafott. Doch bevor König Karl I. niederkniete, sah er Julius Ducket, und ihre Blicke trafen sich. Seine Augen waren traurig, doch schien eine Frage darin zu liegen. Wie könnte er seinen Schwur in Oxford vergessen? Julius sah König Karl direkt in die Augen und nickte rasch mit dem Kopf. »Ich habe es versprochen«, sagte dieses kurze Nicken. Im Augenblick seines Todes sollte König Karl wissen, daß Ducket seinen Söhnen die Treue halten würde.
Nicht einmal die erbittertsten Feinde des Königs konnten leugnen, daß König Karl I. von England mit außerordentlicher Würde in den Tod ging. Als der Henker mit einem einzigen scharfen Hieb zuschlug, stöhnte die Menschenmenge laut auf, als würde sie ihre schreckliche Tat plötzlich begreifen. Und als der Henker den abgetrennten Kopf hochhielt, war Sir Julius Ducket vielleicht nicht der einzige, der für sich murmelte: »Der König ist tot. Es lebe der König.«
Zwei Tage später wurde Sir Julius von Jane Wheeler aufgesucht. Das Dokument, das sie ihm zeigte, erklärte unmißverständlich, daß ein gewisser Kapitän namens Orlando Barnikel ihr seine Schatztruhe hinterlassen hatte, die er seinem Vater, dem Alderman Ducket, zur Verwahrung anvertraut hatte. Was um Himmels willen sollte Julius tun, fragte er sich, als er Jane verblüfft anstarrte.
Lag die alte Truhe mit ihren aufgebrochenen Schlössern noch in seinem Keller? Er konnte sich nicht erinnern. Etwa die Hälfte des Schatzes war noch da, aber wer wußte, was er in den kommenden unsicheren Jahren brauchen würde? Und wenn er ihr einen Teil gab und ihr sagte, er habe die Münzen aus der Truhe genommen, um sie besser verstecken zu können? Würde sie ihm glauben? Vermutlich nicht. Und außerdem würde das die Leute veranlassen, seine eigenen Angelegenheiten zu überprüfen – man würde sagen, die alten Münzen stammten von dem Kapitän und nicht von seinem Vater. Man würde ihn einen Dieb nennen.
Ein Kapitän! Er wußte sehr gut, was für eine Art Mann der scheinbar respektablen Witwe diesen Schatz vermacht hatte. Ein Mohr. Ein Pirat. Auf jeden Fall gestohlenes Geld. Und warum sollte diese Frau, eine Freundin Doggets und der verfluchten Carpenters, Geld bekommen, das doch für die Sache der Royalisten gebraucht werden könnte? Das konnte nicht Gottes Absicht sein. Ernst schüttelte er den Kopf.
»Ich fürchte, Mistress Wheeler, daß dieses Dokument eine Fälschung ist. Ich werde die Aufzeichnungen meines Vaters durchsehen. Wenn ich diese Truhe finde, gehört sie natürlich Euch. Aber ich muß Euch sagen, daß ich sie nie gesehen habe. Es sei denn«, fügte er hinzu, »sie ist in Bocton. Aber dann müßt Ihr Euch an die Rundköpfe wenden.«
Jane starrte ihn an, dann bemerkte sie ruhig: »Ihr lügt.« Empört forderte Julius sie auf zu gehen. »Niemand hat je so etwas zu mir gesagt«, erklärte er. Aber spät an diesem Abend, als alles bereits schlief, ging er hinunter in den Keller, zerschlug die alte Truhe, verbrannte sie, nahm die Metallteile aus der Asche und vergrub sie vor dem Morgengrauen.
Eine Woche später kam Jane wieder. »Gideon hat Bocton durchsuchen lassen«, sagte sie. »Die Truhe war nie dort. Was habt Ihr damit gemacht?« Sie schnaubte wütend, als er versicherte, nichts darüber zu wissen. »Ihr werdet noch von mir hören«, drohte sie. Sie hielt Wort; er bekam einen Brief von einem Anwalt. Sie verlangte eine Hausdurchsuchung, was er entrüstet ablehnte. Ein Jahr verging, und noch eines. Und sie war immer noch nicht zufriedengestellt.
1652
Ja, dachte Martha, ihr war eine freudige Heimkehr beschieden worden. Wie angenehm, wieder mit Gideon und seiner Familie, mit der lieben Mrs. Wheeler und natürlich auch mit ihrem Gatten vereint zu sein. Sie wünschte, sie hätte auf Gideons drängende Briefe geachtet und wäre früher gekommen. Aber – am wichtigsten war es, daß im alten England nun doch eine Möglichkeit bestand, den Traum ihres Lebens zu verwirklichen.
Martha war allmählich etwas enttäuscht von Massachusetts. »In Neu-England ist man ein wenig abtrünnig geworden«, vertraute sie ihrer Freundin Mrs. Wheeler an. Sogar in Boston und Plymouth. »Der Fisch hat die Menschen von Gott abfallen lassen.«
Der Fangertrag an der Küste Neu-Englands war phantastisch und übertraf die kühnsten Träume der Siedler. Jedes Jahr schickten die Fischer in Massachusetts bis zu einer halben Million Fässer voll Fisch über den Ozean nach England. »Gott hat ihnen einen solchen Überfluß gegeben, daß sie glauben, Ihn nicht mehr zu brauchen«, klagte Martha. Tatsächlich hatten der wachsende Reichtum der Leute an der Küste und die Verheißung von Wohlstand für die Farmer und Trapper, die im Landesinneren große Gebiete absteckten und für sich beanspruchten, sich auf den Glauben der Menschen ausgewirkt, so daß es in der Kolonie kaum eine Kirche gab, die nicht davon betroffen war. »Sie sprechen von Gott, aber sie denken an Geld«, gab Martha traurig zu. Und manche der Fischer machten sich nicht einmal mehr diese Mühe. Martha konnte es nie vergessen, wie sich der älteste Sohn Doggets, nun ein wohlhabender Kapitän, gegen sie gewandt und gerufen hatte: »Verdammt, Weib, ich bin hergekommen, um zu fischen, nicht um zu beten!« Protestantismus und Geld gingen in Neu-England von nun an Hand in Hand.
Martha war verunsichert, als sie vor drei Jahren Gideons drängende Rufe erhalten hatte. Nach dem Tode des Königs, versprach er, würden Cromwells »Heilige« eine neue Ordnung aufbauen, die ihrer würdig war. »Wir brauchen Dich hier«, schrieb er. »Und auch Dein Mann braucht dringend Deine moralische Führung.« Anderthalb Jahre lang hatte sie gezögert, bevor sie sich schließlich zur Rückkehr entschloß. Mit ihr kamen Doggets jüngerer Sohn, dem es nicht gelungen war, in Massachusetts das Bürgerrecht zu erhalten, und der in London sein Glück versuchen wollte, und ihre eigene Tochter.
Das England, das sie erwartete, war ein ungewohntes Land. Nach der Hinrichtung des Königs hatte sich die Verfassung abrupt geändert. Das House of Lords wurde abgeschafft. England hieß nicht länger Königreich, sondern das Commonwealth of England, regiert vom House of Commons. Cromwell, der große General des neues Staates, wurde jedes Jahr mächtiger. Als der älteste Sohn Karls I. Karl II. versuchte, mit einer schottischen Armee in sein englisches Königreich einzumarschieren, erlitt er eine vernichtende Niederlage und lebte nun im Ausland. Auch die aufständischen Iren hatte Cromwell niedergeworfen und vollkommen unterjocht. Sogar die Levellers in seiner eigenen Armee waren gefügig gemacht worden. Im Commonwealth of England herrschte Ordnung, das Land war bereit, das Gesetz Gottes zu empfangen.
Natürlich gab es viel zu tun; die leuchtende Stadt konnte nicht an einem Tag erbaut werden. In Marthas Augen hatte Cromwell eine Schwäche: seine religiöse Toleranz. Daher blieb in den Londoner Kirchen einiges an Durcheinander bestehen.
Die Herrschaft der »Heiligen« erstaunte sie; nie zuvor hatte die alte Stadt so etwas gesehen. Die Veränderungen wurden von einer tatkräftigen Minderheit durchgesetzt; diese wenigen Gottesfürchtigen genossen jedoch breite Unterstützung. Der Sonntag wurde strikt eingehalten; kein Sport war erlaubt, selbst ein Spaziergang, es sei denn zur Kirche, wurde mißbilligt; Maibäume waren verboten. Die Gerichte verschafften dem Moralkodex nachdrücklich Geltung, indem sie strenge Strafen für grobe Unmoral und Geldbußen für kleinere Übertretungen verhängten. Das Allerbeste für Martha war, daß die Schauspielhäuser, die man zu Beginn des Bürgerkrieges geschlossen hatte, nun vernagelt wurden und der Befehl erging, sie nie wieder zu öffnen.
Und wie gesegnet war sie, dachte Martha, daß ihre eigene Familie so gesund und gottesfürchtig war. Gideons Kinder waren nun alle verheiratet, sogar Perseverance hatte einen würdigen, wenn auch schweigsamen Gatten gefunden. O Be Joyful würde ein vortrefflicher Holzschnitzer sein.
Was sie ein wenig verwirrte, war das Wohlergehen ihres Gatten. Gideon hatte so eindringlich geschrieben, daß Dogget ihre moralische Führung brauche, daß sie ihn am Tag nach ihrer Rückkehr gefragt hatte, was er meine, doch Gideon war unwillig gewesen, sich genauer zu äußern. »Trinkt er?« fragte sie, »oder flucht er?« Sie wußte, daß Dogget kein so starker Charakter wie sie war, aber er war kein schlechter Kerl, und sie erinnerte Gideon: »Wir müssen unserem schwächsten Bruder Mitleid und Vergebung bekunden.«
Es war ihre Pflicht, Dogget zu lieben, aber auch, ihm zu helfen, sagte sie sich. In der ersten Nacht, die sie zusammen verbrachten, hatte er den Arm um sie gelegt, was sie für angemessen hielt, doch als er seine Hände in der zweiten Nacht versuchsweise ein wenig hatte wandern lassen, hatte sie ihm sanft Vorwürfe gemacht. »Diese Dinge tut man, um Kinder zu zeugen«, sagte sie. »Aber Gott gibt uns keinen Grund mehr für so etwas.« Und sie war froh, daß er demütig gehorchte.
Sie gab auch zu, daß sie froh über Mrs. Wheeler war, die ihn ihr manchmal für ein oder zwei Stunden abnahm. Sie konnte ihre lange Fehde mit Sir Julius zwar nicht ganz billigen, aber sie hegte keinen Zweifel, daß Sir Julius im Unrecht war und es verdiente, zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Hätte Jane auf Meredith' Rat gehört, so hätte sie die Sache schon lange aufgegeben. »Früher oder später wird herauskommen, daß Barnikel ein Mohr und ein Pirat war«, warnte er sie. »Dann wirst du deinen Ruf verlieren, und selbst die Rundköpfe werden Sir Julius' Wort höher bewerten als das eines Piraten.« Aber Jane wußte, daß Sir Julius log, und wollte sich nicht zum Narren halten lassen. »Es ist mir egal«, erwiderte sie Meredith. »Ich will mein Geld.« Ihre Anwälte schrieben Julius weiterhin Briefe, aber es kam nichts dabei heraus, und sie wurde von ihm höflich ignoriert. Im Dezember dieses Jahres, als Jane die Frau des Baronets auf dem Markt Fleisch einkaufen sah, hatte sie plötzlich eine Idee für eine neue raffinierte Offensive. Sie ging zu Martha.
Es erstaunte Jane immer noch, daß die ernste Puritanerin niemals bemerkt hatte, daß sie eine Affäre mit ihrem Mann hatte. Obwohl diese Affäre aus ihrer Sicht auch ein Akt der Freundschaft für einen einsamen Mann war. Nach Marthas Rückkehr hatte sie angenommen, daß es aus sein würde, aber Dogget hatte ihr traurig erzählt: »Sie sagt, wir sind zu alt dafür. Gott würde es nicht billigen.« Martha selbst begehrt ihn offenkundig nicht, dachte Jane, sie scheint ganz froh zu sein, wenn sie ihn los ist. Daher ging die Affäre weiter.
Sie trafen sich meist am Samstagnachmittag. Martha und der Rest der Familie besuchten den Nachmittagsgottesdienst in St. Lawrence-Silversleeves oder gingen manchmal weiter hinaus, um eine Predigt zu hören. Martha schien nichts dagegen zu haben, wenn ihr Mann zu Hause blieb, und dann ging er zu Jane Wheeler und verbrachte dort ein oder zwei Stunden. Selbst wenn er gelegentlich erwähnte, daß er sie besucht hatte, dachte sich Martha nichts dabei.
Daher war Martha empfänglich für Janes Plan. »Ihr habt recht«, meinte sie. »Man sollte etwas tun. Ich werde mit Gideon reden.«
Am 25. Dezember 1652 setzten sich Sir Julius Ducket und seine Familie an den Tisch in dem großen, vertäfelten Zimmer und lächelten einander verschwörerisch zu, denn sie schickten sich an, ein Verbrechen zu begehen. Vor dem Mahl jedoch holte Sir Julius wie gewohnt ein kleines Buch heraus. Kein wichtiger Jahrestag verging, ohne daß er daraus vorlas und seine Familie an ihre Pflichten erinnerte.
Es war ein erbauliches kleines Bändchen mit dem griechischen Titel Eikon Basilike, »Das Bild des Königs«. Es hieß, der Text bestehe aus den Gebeten und Reflexionen des gemarterten Königs, und es hatte innerhalb von drei Monaten nach Karls Tod dreißig Druckauflagen erreicht. Dann hatte man den großen puritanischen Dichter John Milton aufgefordert, ein Pamphlet dagegen zu schreiben, doch es nützte nichts. Selbst Menschen, die das Parlament unterstützten, aber Zweifel an Cromwells neuer Militärregierung hegten, lasen manchmal das Buch des Königs, und da sie nur demütige Frömmigkeit darin fanden, begannen sie sich zu fragen, ob seine Hinrichtung gerecht gewesen war.
Für die Familie Ducket war das Buch wie eine kleine Bibel und der König ein heiliger Märtyrer. Nachdem Sir Julius ein paar Seiten gelesen hatte, legte er es nieder und erinnerte sie: »Karl II. ist unser wahrer König; sollte er sterben, folgt ihm sein Bruder Jakob nach. Denkt daran, wir haben es gelobt.« Dann begannen sie mit ihrem Weihnachtsessen.
Sie wurden vollkommen überrascht, als plötzlich mit einem Knall die Tür aufflog und Gideon mit vier Soldaten hereinmarschiert kam. »Sir Julius«, erklärte er. »Ihr werdet den Richtern hierfür Rede und Antwort stehen.« Das Verbrechen des Baronets bestand nicht im Lesen des Buches, das er gerade noch in die Tasche stecken konnte, sondern darin, daß er mit seiner Familie beim Weihnachtsessen saß.
Das war ein weiteres Gebot der »Heiligen«. »Die großen Feiertage sollen wie der Sonntag gehalten werden«, erklärten sie. »Eine Zeit für feierliches Gebet, nicht für heidnische Feste.« Jedermann, der beim Weihnachtsmahl ertappt wurde, lief Gefahr, vor Gericht angeklagt zu werden. »Ihr habt den heiligen Feiertag entweiht«, sagte Gideon voller Abscheu. »Durchsucht das Haus nach abergläubischen Bildern und Beweisen für Papisterei«, befahl er seinen Soldaten.
Julius konnte nichts dagegen tun. Eine halbe Stunde lang gingen die Rundköpfe von Zimmer zu Zimmer, öffneten Schränke, Truhen, drehten Matratzen um und durchsuchten sogar den Keller, aber sie fanden nichts. Julius hatte keine Angst. Die Strafe für das Weihnachtsessen würde nur eine kleine Geldbuße sein. Wütend über diese Entweihung seines Zuhauses folgte er ihnen jedoch überallhin. Er war in einem der oberen Räume, als er aus dem Fenster blickte und Martha und Jane wartend am Gartentor stehen sah. Martha verstand er. Aber warum Jane? Dann begriff er plötzlich und schrie Gideon an: »Ihr sucht nicht nach papistischen Bildern, nicht wahr? Ihr sucht nach dem Geld der Witwe Wheeler.« Und Gideon errötete.
Als Jane auf dem Markt gesehen hatte, wie Julius' Frau ein großes Rinderbratenstück kaufte, war sie auf den Gedanken gekommen. Sie mußten ein Weihnachtsessen planen. Was für ein perfekter Vorwand; Martha hatte den Rest organisiert.
Als Gideon fertig war, hatte Jane sich davongestohlen, so daß Julius, der Gideon und seinen Männern ans Tor folgte, nur noch Martha vorfand. Über das erträgliche Maß erzürnt, platzte er heraus: »Was für eine gute Freundin Ihr seid, Mistress Martha. Ihr helft Eurer Freundin bei der Suche nach ihrem Schatz und laßt sie mit Eurem Mann schlafen.«
Martha runzelte die Stirn und sah Gideon an. Er war totenbleich.
Im puritanischen London des Commonwealth gab es vieles zu sehen, das die Gläubigen erbaute und sogar inspirierte. Aber nichts konnte der berühmten Predigt im Jahr 1653, bekannt als Meredith' letzte Predigt, gleichkommen.
Edmund Meredith war über achtzig, und man sah es ihm nun an. Seit einer schweren Krankheit im Jahr zuvor war er mager und eingefallen. Vom Tod gezeichnet, zeigte er sich dieser Lage gewachsen. Seine Methode war einfach. Nachdem die Herrschaft der »Heiligen« genau die moralische Bigotterie hervorgerufen hatte, vor der er Jane zu warnen versucht hatte, war eine so große religiöse Verwirrung entstanden, daß nicht einmal er wußte, auf welche Seite er sich schlagen sollte: Presbyterianer, Quäker oder eine andere freie Gemeinde? So hatte er sich über sie gestellt. Je inspirierter und die Seele versengender seine Predigten wurden, desto unmöglicher konnte man sagen, wo er stand. Doch das störte auch keinen. Selbst die strengsten puritanischen Frauen, ganz in Schwarz gekleidet, fühlten sich geneigt, in Ohnmacht zu fallen.
Zu seiner letzten Predigt stieg Meredith nur mit Mühe auf die Kanzel. Mit seinem weißen, schulterlangen Haar und seinen tief eingesunkenen Augen sorgte bereits seine Erscheinung für ehrfürchtiges Schweigen. Sein Thema war wie immer der Tod. Es gab so viele Gelegenheiten dazu: in der Fastenzeit eine Meditation über Christi Tod und Auferstehung; im Advent über den Tod der heidnischen Welt und die Geburt des christlichen Zeitalters. Es gab nichts, in dem man nicht die Saat des Todes entdecken konnte. Als er über seine Gemeinde blickte, sah er die himmlischen Heerscharen auf sich zukommen, und er rief aus: »Denn mein Auge hat Dein Heil gesehen.«
Er war bereit; die Gemeinde konnte es sehen. Es war offenkundig, daß er jeden Augenblick sterben konnte, und diese Möglichkeit machte seine Predigten ungeheuer populär. Im Herbst letzten Jahres hatte er in St. Bride's, St. ClementDanes, St. Margaret's, Westminster und sogar in St. Paul's gepredigt. Er erhob sich auf die Zehenspitzen, als wolle er wirklich fliegen, hob die Arme, wandte sein hageres Gesicht himmelwärts und rief mit bebender Stimme: »Ich sehe Ihn kommen mit all Seinen Engeln; Er ist über uns. Er umklammert mein Herz und das eure. Er ist hier. Jetzt!«
Bei diesen Worten ließ er sich zurückfallen, bevor er wieder die Treppe hinuntertaumelte und sich von zwei Helfern zu seinem Sitz führen ließ.
Meredith' letzte Predigt war die beste, die er je gehalten hatte. Daher war er ein wenig überrascht, als er sah, daß zwei aus der Gemeinde, Martha und Gideon, sich schon zu Beginn leise davonstahlen.
Jane und Dogget lagen zusammen in ihrem Bett, als plötzlich die Tür aufging und sie sich Martha gegenübersahen.
Es hatte nicht lange gedauert, bis Martha aus Gideon die Wahrheit herausbekam. Einmal direkt darauf angesprochen, hatte er nicht lügen können. »Ich weiß es nicht«, hatte er sich verteidigt, »aber ich glaube, es stimmt.«
Nun hatte sie Gideon und noch eine Nachbarin bei sich. »Ich brauche einen Beweis«, hatte sie zu Gideon gesagt. Und hier war der Beweis. Die Nachbarin sah schockiert aus, Gideon verlegen. Marthas Gesicht war angespannt und weiß. Als sie es gesehen hatte, drehte sie sich um und ging. Als Meredith eine Stunde später Janes Bericht hörte, sah er grimmig drein. »Genau das habe ich immer befürchtet. Verflucht sollen diese ›Heiligen‹ mit ihren Moralpredigten und ihren Hexenjagden sein. Nun seid ihr des Ehebruchs überführt. Und auf Ehebruch steht die Todesstrafe.«
Der Prozeß gegen Jane und Dogget fand in der Guildhall statt. Der Gerichtssaal war zum Bersten voll, und selbst bei den braven Puritanern spürten manche müde Belustigung über das Alter der Beschuldigten. Doch wohl kaum einer begriff die tiefere Ironie der Sache. Daß hier vor einem strengen Richter und einer Jury von zwölf Bürgern eine Frau an der Schwelle zum Alter stand, die über ein Jahrzehnt von ihrem Mann getrennt gewesen war und eine andere, noch ältere Frau anklagte, weil sie etwas mit ihrem Mann getan hatte, was sie selbst in Wahrheit gar nicht tun wollte. Warum? Weil man sie zum Narren gemacht hatte; weil sie eifersüchtig war, daß die beiden sich liebten; weil ihr Gott ein rachsüchtiger Gott war.
Der Beweis war unwiderlegbar. Das Verbrechen war gesehen worden; die Zeugen waren verläßlich. Auf den Rat eines Anwalts, den Meredith gefunden hatte, plädierten die Angeklagten auf nicht schuldig. Die Zeugen, sagten sie, hätten die Situation mißverstanden; es habe keinen fleischlichen Akt gegeben. Aber nicht eine Menschenseele im Gerichtssaal glaubte diese offenkundige Lüge. Jedermann wußte, was die Strafe für ihr Vergehen sein mußte. Im Gericht wurde es still, als der Richter die Jury belehrte. Nach nur wenigen Minuten gaben die zwölf Männer zu verstehen, daß sie bereit waren. Feierlich stand der Obmann vor dem Richter, um die Frage zu beantworten. »Nicht schuldig, Mylord«, erklang dann deutlich die Antwort.
Martha erhob sich bebend vor Wut. »Nicht schuldig? Natürlich sind sie schuldig.«
»Ruhe!« donnerte der Richter. »Die Jury hat gesprochen.« Er nickte Jane und Dogget zu. »Ihr seid frei zu gehen.«
»Das ist eine Ungeheuerlichkeit!« rief Martha. Aber niemand hörte zu.
Der Urteilsspruch war genau so ausgefallen, wie der Richter erwartet hatte. Die »Heiligen« hatten in ihrem Eifer zwar strenge, alttestamentarische Gesetze verabschiedet, aber sie hatten eines übersehen: Die Verfahren mußten immer noch vor englischen Geschworenen abgehalten werden. Und die gewöhnlichen Bürger hatten ihre Menschlichkeit nicht ganz verloren. Der Gedanke, einen Mann und eine Frau wegen Ehebruchs zu hängen, wie sehr sie das Betragen der Schuldigen auch mißbilligen mochten, verletzte ihren Gerechtigkeitssinn, und daher weigerten sie sich, sie schuldig zu sprechen. In den dreiundzwanzig bekannten Fällen in London, die vor Gericht gebracht worden waren, wurde nur einmal eine Verurteilung ausgesprochen. Doch die Schwäche der Geschworenen bedeutete nicht, daß das schuldige Paar ganz straflos ausging, denn da war immer noch die Gemeinde. »Ihr könnt nicht im Kirchspiel bleiben«, erklärte Meredith den beiden. Und das bewahrheitete sich rasch.
Dogget wurde das Leben unerträglich gemacht. Seine beiden Kinder kannten ihn kaum und folgten Marthas Vorbild. Keiner sprach mit ihm. Für Jane war es noch schlimmer. »Hure!« wurde gerufen, sobald sie auf die Straße trat. Der Mann am Ende der Straße brachte ihr kein Feuerholz mehr; der Wasserträger blieb nicht mehr für sie stehen. Die Händler an den Ständen in Cheapside ignorierten sie, wenn sie etwas zu kaufen versuchte. »Du hast recht, wir müssen gehen«, sagte sie am Ende des Monats traurig zu Meredith.
Es schneite an dem Tag Ende Januar, als Dogget, der zuvor alle ihre Habe auf einem Karren fortgebracht hatte, zusammen mit Jane in eine Fähre stieg und flußabwärts gerudert wurde. Ihr Ziel war eine kleine Siedlung neben Westminster. Vor einem Jahrhundert hatten einige französische Kaufleute dort eine Enklave gebildet, von der aus sie Handel mit den Palästen Westminster und Whitehall treiben konnten. Seither waren diese Straßen als »Klein-Frankreich« bekannt. Man betrachtete den Ort als Zuflucht für Außenseiter, obwohl in jüngster Zeit ein paar Literaten, darunter John Milton, dorthin gezogen waren. »Zumindest könnt ihr dort in Ruhe leben«, hatte Meredith ihnen geraten.
1660
In den 1650er Jahren schien Cromwells Herrschaft stabil zu sein. Er hatte den König hingerichtet und seinen Sohn nach Frankreich verjagt. Die Schotten waren eingeschüchtert, die Iren blutig niedergeworfen.
Aber die Frage der Religion war immer noch nicht entschieden. Außer Bischöfen wurde anscheinend alles toleriert. In St. Lawrence-Silversleeves hatte Meredith sich in der Regel an die presbyterianische Gottesdienstordnung gehalten, war dann aber zu einer Zeremonie mit protestantischen Gebeten und Hymnen übergegangen, die Martha vollkommen billigte. Andere Kirchen verhielten sich ähnlich. Cromwell war in diesen Dingen so tolerant, daß er das Parlament sogar zu einem Gesetz zwang, wonach Juden wieder nach England durften. Seit König Eduard I. sie 1290 verbannt hatte, waren keine mehr im Königreich gewesen. Viele Puritaner, angeführt von ihrem Helden William Prynne, die Juden haßten, protestierten lautstark, doch vergebens. Und kurz darauf entdeckte Julius eine kleine Judengemeinde nahe bei Aldgate. »Sie wollen sogar eine Synagoge bauen«, erzählte er seiner Familie. Julius nahm lediglich eine religiöse Härte wahr; das anglikanische Allgemeine Gebetbuch, das als royalistisch galt, war verboten, und die Londoner durften Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen nur von Verwaltungsbeamten vornehmen lassen. Als Julius' Sohn heiratete, fand sein Vater einen loyalen Geistlichen, der die Zeremonie in seinem Haus zelebrierte.
Bedeutsamer als all diese Verwirrung war, daß niemand, einschließlich Cromwell, sich entscheiden konnte, wie das Commonwealth regiert werden sollte. Alles wurde ausprobiert. Zuerst sollte das Parlament regieren, doch es war mit nichts einverstanden, stritt sich mit der Armee und weigerte sich, sich selbst aufzulösen. Cromwell warf es hinaus, ebenso wie mehrere Nachfolger in verschiedenen konstitutionellen Experimenten. Cromwell hatte sich bereits zum Protektor gemacht, und was vom Parlament noch übrig war, war der Armee mittlerweile so überdrüssig, daß es ihm vorschlug, unter der alten Verfassung König zu werden. »Dafür haben wir nicht gekämpft!« rief die Armee der »Heiligen«.
Meredith hielt noch häufig seine letzte Predigt, und als er schließlich starb, tat er es stilvoll. Er hielt die Predigt auf der überdachten Freiluftkanzel St. Paul's Cross, vor Hunderten von Zuhörern; er hatte einen Text aus der Offenbarung des Johannes gewählt und kam gerade zu seinem Crescendo, das hagere Gesicht nach oben gewandt. »Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde«, rief er. »Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, aus dem Himmel herabkommen. Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein!« Da stürzte er von der Kanzel, und er erhob sich nie wieder.
Trotz seiner Differenzen mit Meredith hatte Julius ihn schließlich toleriert, und nach seinem Tode freundete er sich mit Richard, dem Sohn des Predigers, an. Er war ein kluger junger Mann, hatte in Oxford studiert und wäre gerne Priester geworden, wie er Julius anvertraute, doch als Anglikaner war dies nicht möglich. Statt dessen hatte er Medizin studiert, um sich als Arzt niederzulassen. Er hatte den geheimen Skeptizismus und den wißbegierigen Geist seines Vaters.
Das einzige Thema, das Julius weiterhin peinlich berührte, war Jane Wheeler. Er hörte, daß Dogget drei Jahre nach ihrem Fortgang gestorben war; und er war sehr froh, daß sie in KleinFrankreich blieb. Und wenn ihn manchmal seine Schuld an Jane quälte, beschwichtigte der Gedanke an seine Treue zu den Söhnen des seligen Königs sein Gewissen. Zusammen mit ein paar anderen Loyalen sandte er weiterhin Briefe an den exilierten König, der in Frankreich wartete. Und er war außer sich vor Freude, als Oliver Cromwell 1658 unerwartet starb.
Der Zusammenbruch des Commonwealth dauerte kaum mehr als ein Jahr. Cromwells Sohn, der liebenswürdig, aber ohne Ehrgeiz war, gab die Nachfolge fast sofort auf; Parlament und Armee zankten weiterhin. Nachdem Julius alles neun Monate lang beobachtet hatte, wagte er es, höchstpersönlich zu schreiben: »Wenn Eure Majestät einen Kompromiß mit dem Parlament schließen will, was Euer Vater nie getan hätte, und wenn Eure Majestät die Armee besoldet, was das gegenwärtige Parlament nicht will, dann könnte dieses Königreich das Eure sein.«
Eines Tages kam ein Bote mit Nachrichten, die Julius erfreuten. »Der König dankt Euch für Eure standhafte Treue, die weder Er noch sein Vater je vergessen haben.« Der Bote lächelte. »Er ist ein weit fröhlicherer Mensch als sein Vater, wißt Ihr. Er sagt, er würde eher Kompromisse mit einer Ladung Affen schließen, als sein ganzes Leben lang im Exil zu bleiben. Übrigens, er weiß, daß Ihr durch Eure Treue Bocton verloren habt. Es wird Euch zurückgegeben, sobald er König ist.«
Und schließlich, im Frühjahr 1660, hörte Julius mit unaussprechlicher Freude den Ruf: »Der König kommt. König Karl II. regiert. Lang lebe der König!«