LONDON IN FLAMMEN

1665

NED WAR EIN GUTER HUND, mittelgroß, mit einem weichen braunweißen Fell und klugen Augen und war seinem Herrn ganz ergeben. Er konnte jeden Ball fangen, den sein Herr in die Luft warf; er konnte sich herumwälzen und sich totstellen. Aber vor allem war er ein guter Rattenfänger; im Haus seines Herrn gab es nicht eine einzige Ratte.
Es war ein heißer Sommertag. Sein Herr war zeitig ausgegangen, und so bewachte er das Haus in der Watling Street. Wie üblich waren einige Leute unterwegs, aber vor einem Haus weiter unter in der Straße stand ein Fremder. Als Ned ihn prüfend beschnüffeln wollte, hatte der Fremde versucht, ihn mit dem langen Spieß, den er in der Hand hielt, zu stoßen. Danach hatte Ned sich von ihm ferngehalten. Vor etwa einer Stunde war eine Frau zu dem Haus gekommen, und Ned hatte einen schlechten Geruch gewittert, der von ihr ausging. Und vor kurzem hatte er gehört, wie in demselben Haus jemand weinte. Kein Zweifel, die Menschen benahmen sich seltsam. Und dann sah er das Ungeheuer.
Familie Ducket war bereit zum Aufbruch. Zwei Kutschen und ein Karren warteten am Tor, und Sir Julius blickte zufrieden auf seine Frau, seinen Sohn, seine Schwiegertochter und die beiden Kinder. Ein Diener und zwei Hausmädchen begleiteten sie.
Sir Julius Ducket, nun dreiundsechzig, war ein sehr zufriedener Mann, wohlhabend und geehrt, ein Freund des Königs. Und es war eine Freude, ein Freund von König Karl II. zu sein. Sein Vater war klein, reserviert, ernst und keusch gewesen, er dagegen war hochgewachsen, zwanglos, humorvoll und ein großer Frauenheld.
Der Hof König Karls II. in Whitehall war ein fröhlicher Ort. Der Bankettsaal, Schauplatz der Hinrichtung seines Vaters, wurde nun seiner eigentlichen Bestimmung gemäß genutzt, und seine Untertanen konnten ihren König beim Dinner zusehen. Westlich von Whitehall ließ er den St. James' Park anlegen, wo man ihn oft mit seinen reizenden kleinen Spaniels Spazierengehen oder in der langen Allee an der Nordseite des Parks mit seinen Hofkavalieren beim Schlagballspiel Pallmall sehen konnte – einer eigenartigen Mischung aus Krocket und einer primitiven Form von Golf. Ganz London genoß diese heitere Stimmung. Es gab allerlei Spiel und Zeitvertreib; auch Maibäume wurden aufgestellt. Die Theater wurden wieder geöffnet, darunter ein neues in der Drury Lane, wo eine vom König protegierte Truppe auftrat und eine attraktiv gerundete junge Schauspielerin namens Nell Gwynne gerade ihr Debüt gegeben hatte. Wenn die eher puritanischen Untertanen Seiner Majestät über die Unmoral und Extravaganz seines Hofes auch etwas entrüstet sein mochten, wünschte sich doch niemand die Trübsal des Commonwealth zurück.
Karl II. machte sich keine Illusionen. Er wußte, daß er nicht König von Gottes Gnaden war, sondern weil das englische Parlament es so beschlossen hatte. Es gab wieder das House of Commons und das House of Lords, und Karl II. versuchte bei beiden soviel zu erreichen, wie ihm möglich war, ohne sie jedoch zu weit zu drängen. Ebenso hielt er es mit der Religion. Seine junge Frau aus Portugal war katholisch, ebenso seine Schwester, die ins französische Königshaus geheiratet hatte, aber Karl wußte sehr gut, daß viele seiner Untertanen Puritaner waren. Man kam schließlich zu einer ähnlichen Regelung wie unter Königin Elisabeth – jeder mußte zur anglikanischen Kirche mit ihren Zeremonien und ihren Bischöfen konform sein. Andernfalls hatte man gewisse Einschränkungen zu ertragen und wurde von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, aber das war alles. Die Botschaft des Königs war klar: »Seid königstreu. Alles andere – Kanzel oder Kurzweil – ist eure Sache.« So sahen der königliche Hof und die Regeln jenes Zeitalters aus, das man Restauration nannte.
Dem König, der als der »heitere Herrscher« in die Geschichte eingehen sollte, stand der Sinn nicht nach Rache. Ein oder zwei Mörder seines Vaters mußten hingerichtet werden. Oliver Cromwells Leichnam wurde ausgegraben und in Tyburn am Galgen aufgehängt. Ansonsten machte Karl keinen Versuch, seine Feinde zu verfolgen; seiner Freunde gedachte er jedoch nachdrücklich – nicht zuletzt Sir Julius Ducket.
»Das Parlament gestattet mir nicht, Euch Bocton zurückzukaufen«, entschuldigte er sich. »Aber ich kann Euch eine lebenslange Staatsrente geben.« Die Rente war großzügig. Julius konnte nun zudem den Rest des Schatzes ausgeben und in großem Umfang an der Börse handeln. Schließlich konnte er Bocton zurückkaufen, zu einem geringen Preis, da das Haus in einem traurigen Zustand war. Innerhalb weniger Monate brachte er den Besitz wieder in Ordnung.
Ganz England schien in zuversichtlicher Aufbruchsstimmung. Der Handel nahm zu, aus den Kolonien kamen reiche Gewinne. Selbst die Heirat des Königs mit einer Katholikin wurde recht nachsichtig gebilligt, da sie als Mitgift den reichen indischen Handelshafen Bombay mitbrachte. Englands Vorherrschaft auf dem Meer wurde immer stärker. Im vorigen Jahr waren seine Handelskonkurrenten, die Holländer, aus mehreren Kolonien vertrieben worden, auch aus einer vielversprechenden Ansiedlung in Amerika. NeuAmsterdam hatte sie geheißen, das englische Flottengeschwader nannte sie New York. Nach Sir Julius Duckets Meinung war es England nie besser gegangen.
Ned stand auf und knurrte. Das Ungeheuer kam weiter die Straße herunter. Eine solche Kreatur hatte Ned noch nie in seinem Leben gesehen. Das Ungeheuer war groß wie ein Mann und bestand aus gewachstem Leder. Sein Körper war wie ein riesiger Kegel geformt, der unten den Boden berührte; in der Hand hielt es einen kurzen Stock. Am furchteinflößendsten war der Kopf der Kreatur. Zwischen zwei riesigen Glasaugen saß ein großer Lederschnabel. Auf dem Kopf trug das Ungeheuer einen schwarzen, breitkrempigen Lederhut. Ned knurrte und wich zurück. Doch das Ungeheuer hatte ihn gesehen und kam geradewegs auf ihn zu.
Doktor Richard Meredith war bis vor einer Stunde der glücklichste Mann in ganz London gewesen. Es war eine große Ehre, die man ihm am Tag zuvor erwiesen hatte, vor allem wenn man seine Jugend in Betracht zog, und daher hatte er am Morgen mit schwungvollem Schritt das Haus verlassen. Bis man ihm in der Guildhall das Dokument gezeigt hatte.
Hätte die Restaurationszeit ein paar Jahre früher begonnen, wäre er vielleicht Geistlicher gewesen. Doch ein Puritanerprediger wollte er nicht sein, und sein Vater hatte ihn gewarnt: »Sieh dir an, was ich tun muß, um zu überleben.« Daher wurde er Arzt, eine andere Art, seinen Mitmenschen zu dienen.
Und es kam seinem Intellekt entgegen, denn sein Geist war wißbegierig und analytisch.
Die damalige Medizin war noch sehr primitiv – eine Mischung aus antikem Wissen und mittelalterlichem Aberglauben. Die Ärzte glaubten an die vier Körpersäfte; sie setzten Blutegel an und ließen ihre Patienten zur Ader, weil sie meinten, ihr Blut müsse verdünnt werden. Außerdem benutzten sie traditionelle Heilkräuter – manche davon wirksam – und hielten sich an den gesunden Menschenverstand und an das Gebet. In manchen Fällen sah man das Übernatürliche als normale Kur an; kein Arzt mißbilligte die Schlangen von Skrofulosekranken, die geduldig am König vorbeimarschierten, dessen Berührung diese Krankheit heilen konnte, wie man glaubte. Die Naturwissenschaften waren auf einem ähnlichen Stand. Gebildete Männer disputierten immer noch, ob das Horn von Einhörnern magische Eigenschaften habe. Erst in den letzten Jahrzehnten hatte sich immer stärker ein neuer Sinn für rationale Untersuchungen herausgebildet. Der geniale Forscher William Harvey hatte gezeigt, daß Blut im Körper zirkulierte; außerdem begann er zu untersuchen, wie sich der menschliche Fötus entwickelt. Durch sorgfältige Experimente hatte Robert Boyle Gesetze für das Verhalten von Gasen formuliert. Von allen Orten, wo Meredith hätte leben können, konnte keiner besser als London sein, denn hier war der Sitz der Royal Society, der Königlichen Akademie der Naturwissenschaften.
Die Royal Society in London hatte ihren Ursprung in einem inoffiziellen Diskussionsclub, der sich vor zwanzig Jahren gebildet hatte. Meredith wurde dort zum ersten Mal im Jahr der Restauration eingeführt, als man ihm erlaubte, die Vorlesung eines führenden jungen Astronomen namens Christopher Wren – Sohn eines Geistlichen wie er – zu besuchen. Die Zahl der Mitglieder in diesem Club war begrenzt, doch als Arzt durfte er sich alle Vorlesungen anhören, die an jedem Mittwochnachmittag stattfanden. Auch König Karl wurde Mitglied, daher wurde der Club als Royal Society bekannt.
Vor ein paar Monaten hatte Richard Meredith sogar selbst einen kurzen Vortrag gehalten, der ihm anerkennende Worte von Wren und anderen einbrachte. Dennoch hatte er nie die wundervolle Neuigkeit erwartet, die man ihm am Tag zuvor mitteilte: »Dr. Meredith, man hat Euch zum Vollmitglied der Society gewählt.« Das Maß seiner Freuden war voll. Zumindest bis vor einer Stunde.
Als im Mai ein paar Fälle auftraten, hatte Meredith ihnen wenig Beachtung geschenkt. Ein solches sporadisches Auftreten hatte es in London während der Sommerzeit seit Jahrhunderten gegeben. Er war auch nicht beunruhigt, als es im Juni mehr Fälle wurden. In den Kirchspielen entlang Cheapside gab es keine, auch die Watling Street war verschont. Seit fast zwanzig Jahren hatte es keinen merklichen Ausbruch gegeben, und seit König Jakob I. nichts wirklich Gravierendes. Wenn die Leute ihn fragten, ob es Grund zur Sorge gebe, hatte er ihnen daher versichert: »Vermeidet das Gebiet im Westen um Drury Lane und Holborn. Die Stadt selbst ist kaum betroffen.« Diesen Monat war es außerordentlich warm. »Diese trockene Hitze«, schlossen die meisten Arzte, »steigert das Element Feuer im Blut der Menschen. Das produziert gelbe Galle und macht sie cholerisch.« Vielleicht vermehrte das die Krankheit, dachte er. Im Juli hörte er von einer steigenden Zahl Kranker in Southwark und auf der Straße nach Osten, außerhalb Aldgate. Als man ihm heute das Dokument zeigte, war er äußerst bestürzt.
Die Sterbeliste war ein Dokument, das jede Woche erstellt wurde. In zwei langen Reihen wurden die Sterbefälle und jeweiligen Todesursachen, insgesamt etwa fünfzig, in der Stadt und den umliegenden Kirchspielen aufgezählt. Die meisten Zahlen waren niedrig. »Schlaganfall: 1. Wassersucht: 40. Säuglinge: 21.« Aber an der Spitze der zweiten Reihe hatte der Schreiber auf eine schreckenerregende Zahl gezeigt: 1843. Daneben das furchtbare Wort: Pest.
Pest, Seuche, Schwarzer Tod – alles Namen für dieselbe Krankheit. »Habt Ihr vor, London zu verlassen?« hatte der Schreiber gefragt.
»Nein. Ich bin Arzt.«
»Alle Ärzte, die ich heute morgen bisher gesehen habe, wollen aufs Land. Sie sagen, daß sie sich um ihre reichen Patienten kümmern müssen, und da die Reichen die Stadt verlassen werden, müssen sie es auch«, erklärte der Schreiber. »Doch wenn Ihr wirklich bleiben wollt, sollten wir Euch etwas zum Anziehen holen.«
Das Ungeheuer kam direkt auf Ned zu. Wo konnte er die Kreatur angreifen? Sie hatte keine Beine, und die Arme waren zu dick, um sie zu fassen. Doch dann nahm das Ungeheuer seinen Kopf ab, zog sich einen der großen Lederhandschuhe aus, hielt ihm die Hand zum Schnuppern hin und rief seinen Namen. Es war sein Herr.
Die gewaltige Lederausrüstung, die der Beamte in der Guildhall Meredith gegeben hatte, war furchtbar heiß. Der große Schnabel war mit aromatischen Kräutern gefüllt, da viele glaubten, die Ansteckung werde durch verpestete Luft verursacht. »Armer Ned«, sagte er. »Habe ich dich erschreckt?« Liebevoll tätschelte er den Hund. Er öffnete die Tür, da kam Sir Julius.
Sir Julius mochte den jungen Mann. »Was gibt es Neues über die Pest?« fragte er. Meredith erzählte ihm von der Liste der Sterbefälle. »Wie ich befürchtet habe«, meinte Sir Julius. »Meredith, ich bitte Euch, kommt mit uns. Wir fahren nach Bocton. Die Pest kommt selten bis aufs Land.«
»Ich danke Euch«, sagte Meredith herzlich. »Aber ich glaube, meine Pflicht ist hier.«
Seufzend verließ Sir Julius ihn. Er ging zurück zu seinem Haus, nahm seine Pistolen und befahl seiner Familie, in die Kutschen zu steigen. Ein paar Minuten später fuhren sie die Watling Street in Richtung der London Bridge hinunter. Erst dann befahl er, daß seine Kutsche einen Augenblick anhalten sollte, denn es gab zumindest einen kleinen Dienst, den er seinem jungen Freund erweisen konnte.
Ned wedelte mit dem Schwanz, als er sah, wie Sir Julius erneut auf das Haus zukam, denn er wußte, das war ein Freund. Sir Julius streckte die Hand aus und zielte auf ihn. Ein lauter Knall, ein gewaltiger Schmerz in seiner Brust. Etwas Warmes in seinem Maul. Dann wußte Ned von nichts mehr. Nachdem Sir Julius Ned erschossen hatte, band er den Hund mit einem Stück Schnur an den Wagen und ließ ihn bis zum Fluß mitschleifen, wo er ihn dann hineinwarf. Sir Julius hatte keinen Zweifel, daß er richtig gehandelt hatte, obwohl er darüber traurig war. Die meisten vernünftigen Leute wußten, daß Hunde und Katzen die Ansteckung verbreiteten. Da Julius Meredith' Zuneigung zu dem Hund kannte, wußte er, daß er es nie übers Herz bringen würde, das Notwendige selbst zu tun. Zumindest konnte Ned seinen Herrn nun nicht anstecken. »Es war das mindeste, was ich tun konnte, um diesen tapferen jungen Mann zu retten«, sagte er.
»Der Hund war ein guter Rattenfänger«, bemerkte sein Sohn. »Meredith hatte keine einzige Ratte im Haus.«
»Richtig«, erwiderte Julius. »Aber nicht von Bedeutung.«
Mitte August lag die Sterbezahl bei viertausend pro Woche, Ende August bei sechstausend. Jeden Tag legte Richard Meredith seine große Lederuniform an und ging hinaus. Manchmal dachte er fast, er müsse in einer anderen Stadt sein. Die Straßen waren wie ausgestorben, alle Stände in Cheapside waren fort, die Häuser verschlossen. Der Hof war nach Salisbury im West Country gegangen. Ende Juli war ein Strom von Kutschen und Wagen aus der Stadt hinaus gerumpelt: Gentlemen, Kaufleute, selbst die wohlhabenderen Handwerker, alle wollten sich in Sicherheit bringen. Abgesehen von ein paar Ausnahmen blieben nur die Armen zurück.
Als Meredith von Kirchspiel zu Kirchspiel ging, sah er, daß die Vorschriften des Mayors verschärft worden waren. In dem Moment, da die Prüfer der Stadt die Pest in einem Haus bestätigten, wurde es verschlossen. Eine Wache hinderte jeden daran, das Haus zu betreten oder zu verlassen, ein schreckliches rotes Kreuz wurde auf die Tür gemalt, in der Regel mit den Worten: »Herr, erbarme Dich.« Nur ein Arzt, gekleidet wie er, konnte den Patienten dann besuchen. Wenn ein Haushalt meldete, er habe einen Leichnam, wurde die Todesursache geprüft, und bald kamen die Pestknechte mit ihren Karren, läuteten mit einer Glocke und riefen den alptraumhaften Satz: »Bringt Eure Toten heraus!«
Einige Kirchspiele, insgesamt fast ein Viertel, blieben verschont. Am letzten Augusttag traf Meredith bei St. Paul's einen Mann namens Pepys, den er schon einige Male bei Versammlungen der Royal Society gesehen hatte. Pepys war Sekretär der Admiralität und hatte Zugang zu Informationen aller Art. »Die wahre Zahl der Todesfälle ist höher, als die Sterbeliste zeigt«, erklärte ihm Pepys. »Die Schreiber fälschen die Berichte, manche der Armen werden nicht gezählt. Die Liste hat letzte Woche siebeneinhalbtausend gemeldet. Die wirkliche Zahl liegt eher bei zehntausend. Aber wenn Gott uns beide verschont, Dr. Meredith«, fügte Pepys hinzu, »werde ich vielleicht das Vergnügen haben, Euch eines Tages in der Royal Society einen Vortrag über die wahre Ursache der Pest halten zu hören.«
Tatsächlich hätte Meredith kein Thema mehr am Herzen liegen können. Während er von Haus zu Haus ging und ganze Familien im Fieberdelirium sah und in Todesqualen schreien hörte, empfand er ein schreckliches Gefühl der Hilflosigkeit. Er war Arzt, doch in Wahrheit konnte er nichts gegen die Pest tun. Wie konnte er ein Heilmittel empfehlen und seine Patienten schützen, wenn er nicht einmal wußte, wie die Krankheit übertragen wurde?
Man nahm an, daß die Menschen sich gegenseitig mit der Pest ansteckten; daher die Versuche, eine Quarantäne durchzusetzen. Sicher, wenn er in manche der meistbetroffenen Gegenden kam – Southwark, Whitechapel außerhalb Aldgates, die Straße hinauf nach Shoreditch, Holborn – und ganze Straßenzüge sah, in denen fast jedes Haus das gefürchtete Kreuz trug, schien das eine berechtigte Vermutung. Aber warum war die Pest an diesen Orten so konzentriert? Viele Menschen rauchten Pfeife, weil man glaubte, der Rauch reinige die Luft. Doch wenn die Krankheit durch die Luft verbreitet wurde, warum fand er dann in einem Kirchspiel der Stadt die Pest, aber nicht in dem Kirchspiel eine Straße weiter? Er konnte auch nichts Gemeinsames zwischen den meistbetroffenen Gebieten entdecken – das eine war sumpfig, das andere trocken und luftig. Es kann nicht die Luft sein, folgerte Meredith. Die Pest wird anders übertragen. Aber wie? Durch Hunde und Katzen? Er hatte von einem Nachbarn gehört, daß es Sir Julius gewesen war, der Ned erschossen hatte. Eine Woche lang war er wütend gewesen, doch nun nicht mehr. Weiß Gott, wie viele Hunde und Katzen mittlerweile auf Befehl des Mayors getötet worden waren. Zwanzig- oder dreißigtausend, schätzte er. Aber selbst wenn es Hunde und Katzen waren, wie übertrugen sie die Krankheit?
Eine mögliche Lösung fiel ihm Anfang September ein, als er einen sterbenden Mann versorgte. Die Pest trat hauptsächlich in zwei Formen auf. Bei der Beulenpest überlebte etwa einer von drei Befallenen; die Lungenpest überstand kaum jemand. Die Lunge des Patienten füllte sich, er nieste häufig, hustete Blut, hatte plötzlich schreckliche Anfälle von Fieber oder Schüttelfrost und fiel dann in einen tiefen Schlaf, bis er tot war. Der arme Kerl vor Meredith war Wasserträger gewesen und hatte sechs Kinder. Eines der kleinen Kinder kam, um ihn zu trösten, als der Mann gerade niesen mußte – dem Kind direkt ins Gesicht. Das Kind zuckte zusammen. Instinktiv eilte Meredith zu dem Kind, packte einen Lappen und wischte ihm das Gesicht ab. »Haltet die Kinder von ihm fern«, rief er der Mutter zu. »Verbrennt dieses Tuch.« Denn so mußte es sein, dachte er. Der Schleim und der Speichel einer infizierten Person mußte die Ansteckung übertragen, da sie aus dem meistbetroffenen Körperteil kamen. Eine Woche später starb das Kind.
Martha zögerte immer noch, obwohl ihr Stiefsohn Dogget beharrlich war. »Ich bin sicher, wo ich bin«, erklärte sie. Obwohl sie zusammen aus Massachusetts zurückgekommen waren, hatte sie sich dem jüngeren Sohn Doggets lange Zeit nicht nahe gefühlt. Es mangelte ihm an spiritueller Unterweisung. Anstatt ein Handwerk zu erlernen, hatte er geheiratet und war Fährmann geworden. Aber er besuchte sie jede Woche, und sie rief sich ins Gedächtnis, daß in fast jedem etwas Gutes steckte.
»Du denkst, daß du sicher bist, altes Mädchen, weil Gott auf deiner Seite ist.« Liebevoll legte Dogget den Arm um sie. »Du glaubst, es sind nur wir Sünder, die sterben.« Und obwohl Martha seinen Tonfall mißbilligte, war es genau das, was sie dachte. Denn Martha wußte, was die Ursache der Pest war: Gottlosigkeit.
Allgemein formuliert hätten die meisten Menschen das bestätigt. Heimsuchungen und Katastrophen lagen in der Hand Gottes und waren der sündigen Menschheit gesandt worden, seit Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben worden waren. Und Martha wies noch auf etwas hin: »Wo hat die Pest begonnen? In der Drury Lane. Und warum?« Darauf wußte jeder Puritaner die Antwort. Dort stand das neue Theater, gefördert vom König mit seinen Mätressen und seinem lüsternen, extravaganten Hof. War London nicht vor einem halben Jahrhundert gewarnt worden, als Shakespeares Globe niederbrannte? Im moralischen Verfall der Stadt konnte Martha deutlich die Wahrheit sehen. Daher glaubte sie nicht, daß die Pest sie heimsuchen würde.
Doch von Vintry herauf hatte sich die Pest seit letzter Woche stetig über den Garlic Hill zur Watling Street vorgearbeitet. Es war nicht erstaunlich, daß ihre Familie sich Sorgen um Martha machte. Wenn nur Gideon noch hier wäre, aber er war vor drei Jahren gestorben. O Be Joyful hatte seinen Platz eingenommen, doch obwohl der Holzschnitzer nun fast dreißig Jahre zählte und die Freude ihres Alters war, besaß er nicht die Autorität seines Vaters. Er war immer noch Geselle, nicht Meister. Dennoch war es nun O Be Joyful, der die Frage entschied.
»Wir gehen jetzt«, erklärte er und deutete auf seine Frau und zwei kleine Kinder. »Bitte komm mit uns, Tante Martha, und sei unsere spirituelle Führerin.« Widerwillig stimmte sie zu, und eine halbe Stunde später gingen sie und die beiden Familien ernst den Hügel hinunter, wo Dogget sie alle auf seine Fähre steigen ließ und zu rudern begann. Als sie hinaus auf den Fluß fuhren, starrte Martha nach vorn und fragte entsetzt: »Dort wollen wir hin?«
Ihr Ziel lag mitten im Fluß, und obwohl es groß war, konnte man kaum erkennen, was es war. »Gildehaus der Fährmänner nenne ich es«, erklärte Dogget, denn den Fährmännern war das eingefallen. Aus einer Reihe von Flößen, Fähren und anderen kleinen Booten, die man zusammengebunden hatte, war eine große schwimmende Insel entstanden. Die Männer waren noch an der Arbeit und bauten kleine Schutzhütten darauf. Die Überlegung war logisch genug. Wenn sie draußen auf dem Fluß blieben, isoliert von der Ansteckung, konnten sie hoffen zu überleben.
Mitte September wurde es immer schwieriger, mit der Pest fertig zu werden. Die Leute beachteten die Quarantäne nicht mehr. Pestopfer wurden verheimlicht, die Leute weigerten sich, in infizierten Häusern eingesperrt zu bleiben, oder versuchten ihre Kinder hinauszuschmuggeln, wo sie sicher waren. Die begrenzte Zahl der Wachen machte es unmöglich, sie zu kontrollieren. In einem Versuch, die Kranken von den Gesunden zu trennen, hatte der Mayor angeordnet, daß zahlreiche arme Opfer in den Spitälern der Stadt untergebracht werden sollten. Aber es gab nur so wenige: das alte St. Bartholomew's, ein dem heiligen Thomas geweihtes Spital in Southwark und St. Mary's bei Moorfields. Sie waren zum Bersten voll. Die Stadt hatte zusätzliche Häuser, die sogenannten Pesthäuser, eingerichtet, aber auch sie waren überfüllt. Und für die Toten hatten die Friedhöfe nicht genügend Raum. Große Pestgruben wurden ausgehoben, zumeist außerhalb der Stadtmauern, in die man die Toten zu Dutzenden warf. Aber immer noch stapelten Totengräber die Leichen auf den Friedhöfen, bis die obersten schließlich mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt wurden. Auf dem Friedhof hatte Meredith gesehen, wie Arme und Beine aus dem Boden hervorsahen.
Häufig ging er in die Pesthäuser in Westminster, und eines Tages wurde er von einem Wächter angesprochen, er solle zu einem Haus in der Nähe kommen, wo ein Arzt benötigt wurde. Ein paar Minuten später betrat er ein kleines, aber hübsches Haus in Klein-Frankreich.
Sechs Tage waren vergangen, seit Jane Wheeler sich fiebrig fühlte. Zuerst hatte sie versucht, es zu ignorieren. Immerhin, rief sie sich ins Gedächtnis, bin ich über achtzig. Bis zum Abend fühlte sie sich schwach; am nächsten Tag war ihr schwindlig. Mittags beschloß sie auszugehen, aber sie war nur ein paar Meter weit gekommen, als sie zu taumeln begann. Eine Nachbarin half ihr. Von den nächsten Stunden wußte sie nur noch wenig. Dann kam eine fremde Frau, eine Art Krankenschwester. Aber da konnte sie nur noch an eines denken. Sie waren an ihrem Hals, in den Achselhöhlen und zwischen den Beinen – große Klumpen, sie konnte sie fühlen. Und der Schmerz, den schrecklichen Schmerz.
Meredith seufzte. Die Lungenpest ließ einen rasch sterben, doch die andere Form, die Beulenpest, war noch grausamer anzusehen. Die alte Frau vor ihm befand sich im letzten Stadium. Bei der Beulenpest entzündeten sich die Lymphdrüsen und schwollen zu Klumpen an – den Beulen, wie man sagte. Unter der Haut traten Blutungen auf, die dunkle Punkte und rote Flecken verursachten. Die Patienten befanden sich oft im Delirium. Am Ende erschienen häufig rote Punkte auf dem Körper. Aber während dieser letzten Krise war die alte Frau bei klarem Verstand, und sie hatte ein Anliegen.
»Ich möchte, daß Ihr mir mein Testament schreibt; ich bin zu schwach.« Sie fröstelte. »Im Eck dort sind Tinte und Feder.« Er holte beides, setzte sich, nahm einen seiner Handschuhe ab und schickte sich zu schreiben an, als sie begann: »Ich, Jane Wheeler, bei klarem Verstand…«
Sie war also diese Frau. Sie hatte keine Ahnung, wer er war; obwohl er sie nicht mehr gesehen hatte, seit er ein Junge war, erinnerte er sich an den Skandal um sie. Das Testament war kurz und prägnant. Sie hinterließ ihr kleines Vermögen zu gleichen Teilen den überlebenden Kindern des seligen John Dogget, ausgenommen das Kind von Martha. »Doch da ist noch eine Sache.«
Richard Meredith wußte nicht, daß unter der Bodendiele des Raumes gerade eine schwarze Ratte verendet war. Noch konnte er den Floh sehen, der gerade durch den Spalt zwischen den Dielenbrettern gekommen war. Mehrere Tage lang hatte er sich mit dem Blut der schwarzen Ratte vollgesaugt, die die Pest hatte. Im Blut der Ratte waren Hunderttausende von Pestbazillen, ein paar zehntausend waren nun auf den Floh übertragen. Im Magen des Flohs hatten sich die Pestbazillen vermehrt und den Mageneingang blockiert. Der Floh war daher sehr hungrig und suchte nach einem anderen Körper, an dem er saugen konnte. Sobald er die Haut des nächsten Geschöpfes durchbohrte, würden Tausende von Bazillen in den neuen Wirt eindringen, während der Floh starb. Er hüpfte auf Meredith' Mantel, als dieser den letzten Absatz von Jane Wheelers Testament schrieb.
»Zu guter Letzt spreche ich mit diesem meinem letzten Willen und auf dem Sterbebett über Sir Julius Ducket, diesen Dieb und Lügner, der mein rechtmäßiges Vermögen gestohlen und mich zugrunde gerichtet hat, meinen Fluch. Möge Gott der Gerechte ihn für seine Sünden zur Hölle fahren lassen, und möge seine Familie hinfort verflucht sein und sein Erbe gestohlen werden so wie das meine. Amen.«
»Seid Ihr sicher, daß Ihr das schreiben wollt?« fragte Meredith.
»Ja. Gebt mir die Feder.« Mühevoll unterzeichnete sie. »Ihr und die Krankenschwester unterschreibt als Zeugen.«
Der Floh hüpfte auf Meredith' Ärmel. »Ich muß nun fort«, erklärte Meredith und zog seinen Handschuh wieder an.
Er beschloß, Sir Julius nichts von dem Fluch zu sagen. Der Floh wollte Meredith gerade auf die bloße Hand hüpfen, doch sie verschwand in dem langen Lederhandschuh. Als Meredith zur Tür ging, hüpfte der Floh auf die Krankenschwester.
Im Oktober schien die Pest ihren Höhepunkt überschritten zu haben. In den ersten zwei Wochen lagen die Sterbelisten bei etwa viertausend, in der vierten Woche unter fünfzehnhundert, drei Wochen lang bei etwa tausend, um dann weiter zu fallen. Obwohl bis Februar noch einzelne Fälle auftraten, begann sich London ab November vorsichtig wieder zu öffnen. Ende November wagten sich Dogget und seine Familie zurück in ihre Behausung und stellten fest, daß ein kleines Erbe auf sie wartete. Ende Januar rollten die Kutschen selbst der reichsten Bürger und ihrer Arzte zurück in die Stadt.
Die offizielle Zahl der Todesopfer der Großen Pest lag bei über fünfundsechzigtausend. Bemerkenswert war die Kolonie auf den schwimmenden Inseln in der Themse. Insgesamt lebten mehrere zehntausend Menschen einige Wochen lang auf dem Fluß, und soweit bekannt ist, infizierte sich kaum einer an der Krankheit. Doktor Richard Meredith registrierte diese Tatsache, konnte sie jedoch zu seinem Kummer immer noch nicht erklären.
1666
Es war still in der Nacht zum 1. September. Sir Julius lag friedlich in dem großen Haus hinter St. Mary-le-Bow. Es war ein langer, schöner Sommer gewesen, und erst in der letzten Woche war die Familie aus Bocton zurückgekehrt. Morgen war Sonntag. Gegen ein Uhr morgens wachte er auf. Hatte er etwas gehört? Er sah aus dem Fenster. Kam da vielleicht ein schwaches Geräusch aus der Richtung der London Bridge? Die Sterne beschienen die steilen Dächer um sein Haus herum mit ihrem schwachen Licht. Er horchte, aber nach ein oder zwei Minuten ging er wieder zu Bett. Es war fast vier Uhr morgens, als seine Frau ihn weckte. Diesmal gab es keinen Zweifel. Über den Dächern zu seiner Linken sah er einen schwachen Schein; Flammen mußten irgendwo bei der Brücke zum Himmel aufsteigen, aber wahrscheinlich nicht in ihrer Nähe. »Ich gehe und sehe nach«, erklärte er, zog sich etwas an und verließ das Haus.
Der Brand hatte kurz nach Mitternacht im Haus eines Bäckers in einer schmalen Straße etwas abseits von East Cheap, in der Pudding Lane, begonnen. Er hatte sich nun auf etwa ein Dutzend der zusammengedrängten kleinen Häuser ausgedehnt, aber Julius hatte schon oft ein schlimmeres Flammenmeer gesehen. Die Männer löschten mit Wassereimern. Als Julius sich umdrehte, um nach Hause zu gehen, begegnete er dem Mayor. »Es scheint keine große Sache zu sein«, meinte Julius.
»Eine Frau könnte es auspissen«, knurrte der Mayor und stampfte davon.
Dieser unfeine und berühmte Spruch wäre nicht in die Geschichte eingegangen, wäre nicht Wind aufgekommen. Als Julius wieder wohlbehalten in seinem Bett lag, wehte eine lebhafte Brise, die Funken und Glutasche in die nächste Straße wehte, die direkt zur London Bridge führte. Bei Morgengrauen stürzte die Kirche St. Magnus-the-Martyr ein, und bald darauf erreichte das Feuer die Brücke. Am Vormittag bedrohte es die Lagerhäuser entlang des Flusses.
Als Julius erneut ausging und sich auf den Weg zu einem Aussichtspunkt an der Spitze des Cornhill machte, sah er einen gewaltigen Großbrand, der sich um den ganzen Brückenkopf herum ausbreitete. Zwei-, vielleicht dreihundert der eng zusammengedrängten Häuser mochten in Flammen stehen. Das Prasseln und Krachen hallte nun in der ganzen Stadt wider. Er ging so nahe an den Rand des Feuers heran, wie er es wagte, dann die Watling Street hinauf, wo er Richard Meredith traf, der mit einem Gentleman sprach, den er als Mr. Pepys vorstellte.
»Ich habe den König und seinen Bruder in Whitehall gesehen«, erzählte Pepys. »Sie haben Befehl gegeben, Häuser abzureißen, um Feuerschneisen zu bilden, aber weil die Stadtbehörden Angst haben, die Besitzer könnten eine Entschädigung fordern, rühren sie die Häuser nicht an!«
»Was wird also geschehen?«
»Der Brand wird wüten«, meinte Pepys.



Im Laufe des Nachmittags sagte O Be Joyful seiner Familie, sie solle sich bereitmachen, das Haus zu räumen. Der Brand hatte sich stetig ausgebreitet. Ein Strom von Karren mit den aufgetürmten Habseligkeiten der Leute kämpfte sich mühsam von der Brücke her die Watling Street hinauf.
In den letzten Monaten war sich O Be Joyful zunehmend seiner Verantwortung bewußt geworden. Die Zeit auf dem Fluß und die allgemeine Zerrüttung nach der Pest hatte Martha etwas geschwächt, und in diesem Frühling hatte er sie überredet, bei ihnen zu wohnen. Als Vater von mittlerweile vier Kindern wußte er, daß es seine Pflicht war, die Führung zu übernehmen. Wenn ihm das nur alles leichter fiele. Nichtsdestoweniger handelte er nun entschlossen. Ein Freund, der in Shoreditch wohnte, hatte eingewilligt, sie aufzunehmen. Doch dann erklärte Martha plötzlich: »Ich will nachsehen, ob meine alte Freundin Mrs. Bundy in Sicherheit ist.«
Er kannte diese gottesfürchtige Frau flüchtig und bot an, Martha zu begleiten. Als sie die Walbrook-Brücke überquerten, stiegen die Rauchschwaden schon über hundert Meter hoch in die Luft. Nach dem London Stone zeigte Martha auf eine schmale Straße, die nach rechts ging, und schritt mit resoluter Miene direkt auf das Feuer zu.
Eine Erklärung für die unaufhaltsame Ausbreitung des Feuers fand man in dem Anblick, der sich ihnen bot. Die schmale Straße, die Häuser aus Holz und Mörtel (die Anordnungen, mit Ziegel und Stein zu bauen, blieben immer wieder unbeachtet), die oberen Stockwerke, die weiter in die Straße ragten, jedes ein Stückchen weiter als das untere, bis sie schließlich fast das gegenüberliegende Haus berührten – diese eng zusammengedrängten Holzgebäude waren mehr oder weniger eine riesige Zunderbüchse. Und noch schlimmer: Bei dem Versuch, das Feuer rasch zu löschen, hatte man die hölzernen Wasserrohre in der Straße aufgebrochen, um Eimer zu füllen, und das Wasser dann weiter herausschießen lassen; folglich waren nun alle Zisternen ausgetrocknet.
Am seltsamsten fand O Be Joyful das Verhalten der Leute. Während die reicheren Bürger mit ihren Wertsachen aus der Stadt flohen, blieben die Armen, die nichts als das Dach über ihrem Kopf hatten, oft zusammengekauert in ihren Häusern sitzen.
Das Mietshaus, das Martha suchte, lag auf halber Höhe der Straße, nur wenig vom Rand des Brandes entfernt. »Ich weiß, wo sie ist«, sagte Martha. »Halte du draußen Wache.« Sie trat in den Flur und verschwand die Treppe hinauf.
Es war erschreckend, wie das Feuer sich weiterfraß, aber zugleich auch faszinierend. Der braungraue Rauch stieg nun wie eine große Mauer vor O Be Joyful auf; die Hitze war so groß, daß er die Hände vors Gesicht pressen mußte, und das furchtbare Prasseln und Tosen schlug an seine Ohren. Wo blieb Martha?
Er rannte in den Hauseingang und rief Marthas Namen. Immer noch schreiend lief er die Treppe hinauf. Über ihm ein lautes Krachen. Weiß Gott, was dort oben passierte. Er rannte wieder die Treppe hinunter und zurück auf die Straße. »Martha!« schrie er. »Martha!«
Dann sah er sie. Sie stand an einem kleinen Fenster unter dem Dach. Verzweifelt winkte er ihr zu, sie solle herunterkommen, und sie antwortete mit einem Zeichen, das er nicht verstand. War ihr der Weg abgeschnitten? Einen Augenblick später war er wieder auf der Treppe.
Ein erneuter Krach. Oben stürzte ein Balkon herunter. Eine Rauchwolke hing vor ihm. Im obersten Geschoß explodierten Flammen. Keuchend blieb er stehen, dann verließ ihn der Mut. Er drehte sich um und floh. Von unten sah er wieder zu Martha hinauf. Ihr bleiches rundes Gesicht blickte zu ihm herab. Zum Herunterspringen war das Fenster zu klein. Rauch quoll unter den Dachtraufen hervor. Das Dach verwandelte sich in eine Fackel. Martha war nicht mehr da.
Am Montag morgen wurde der Mayor von seiner Verantwortung für die Brandkontrolle entbunden. Der Wind war stark, der Brand hatte nun ein solches Ausmaß, daß er selbst Wind zu erzeugen schien. Das Feuer wurde nicht nur am Fluß entlang westwärts nach Blackfriars geblasen, sondern wälzte sich auch nach Norden und den östlichen Hügel hinauf. Früh am Morgen, kurz nachdem Julius überwacht hatte, wie die dritte Wagenladung mit Besitztümern das Haus verließ, und seine Familie angewiesen hatte, sich für die Rückkehr nach Bocton fertigzumachen, hörte er die gute Nachricht, daß Jakob, Herzog von York, der Bruder des Königs, mit einer Truppenabteilung in der Stadt angekommen war. Jakob war ein verläßlicher Kerl, ein Marineoffizier.
Vielleicht konnte er die Ordnung wiederherstellen. Sobald Julius hinausging, sah er den Herzog, der seine Männer zum Ende der Watling Street führte. Sie waren dabei, ein halbes Dutzend Häuser mit Pulver zu sprengen. Julius ging hin, um dem Herzog seine Ehrerbietung zu erweisen.
»Wenn wir diese Straße erweitern«, erklärte Jakob, »können wir vielleicht eine Feuerschneise bilden.« Sie wichen zurück und gingen in Deckung. Ein lautes Donnern. »Helft Ihr uns, Sir Julius?« fragte der Herzog. Und so fand sich Julius mit einem Lederhelm auf dem Kopf und einer Feueraxt in der Hand und riß zusammen mit dem Herzog und einem Dutzend ähnlich Gekleideter Mauern und Fachwerk ein. Als er auf einen arbeitenden Mann neben sich blickte, erkannte er plötzlich seinen König: »Sollte Eure Majestät so etwas tun?« fragte er.
»Ich schütze mein Königreich, Sir Julius!« Der Monarch lächelte.
Trotzdem hielt die Feuerschneise nicht stand. Der Brand hatte mittlerweile eine solche Gewalt, daß er eine Stunde später die Lücke überwand.
Am Dienstag morgen ereignete sich das Schrecklichste. O Be Joyful beobachtete es vom Ludgate Hill aus. Sein eigenes Haus war am Montag nachmittag abgebrannt. Seine Familie war in Shoreditch. Abends stand die Londoner Warenbörse in Flammen; in der Morgendämmerung erfuhr man, daß St. Mary-le-Bow zerstört war. Er beschloß, sich die Sache selbst anzusehen, doch als er an die Stadttore kam, wurde er aufgehalten. Die Truppen ließen niemanden hinein. »Die Stadt ist ein Backofen«, erklärten sie. Das offene Gelände bei Moorfields diente als riesiges Feldlager für die ihrer Häuser beraubten Menschen. So war er an Smithfield vorbeigelaufen, wo an den Toren des St. Bartholomew Hospital ein weiteres kleines Lager aufgebaut war, und war schließlich nach Ludgate gekommen. Eine Menschenmenge war hier versammelt. O Be Joyful sah Doktor Meredith. Von angstvoller Ehrfurcht ergriffen starrten alle auf den Hügel.
St. Paul's brannte nieder. Das riesige graue Gebäude, dessen langgestreckte Silhouette fast sechs Jahrhunderte über der Stadt aufgeragt war, das dunkle alte Gotteshaus, das seit den Tagen der Normannen auf dem westlichen Hügel Wache gestanden hatte und Sturm, Blitzen und den Verheerungen der Zeit getrotzt hatte – die alte Kirche St. Paul's stürzte langsam vor ihren Augen zusammen. O Be Joyful sah über eine Stunde lang zu. Dann ging er die Fleet Street entlang. Als er sich dem Temple näherte, sah er eine Gruppe Jugendliche, die einen jungen Burschen gegen eine Mauer drückten. »Knüpft ihn auf!« schrie einer von ihnen.
Einen Augenblick lang zögerte O Be Joyful. Es waren nur Jugendliche, aber sie waren ein Dutzend und sahen kräftig aus. Er überquerte die Straße, um ihnen aus dem Weg zu gehen, als er den jungen Burschen aufschreien hörte. Beschämt blieb er stehen. Er hatte seiner Familie immer noch nicht erzählt, was Martha geschehen war. Von dem Augenblick an, als er aus der brennenden Straße zurückgelaufen war, hatte er sich gesagt, daß man nichts hätte tun können. Doch in Ludgate hatte er Meredith gesehen. Doktor Meredith, Sohn des Predigers; Meredith, der, anders als die meisten seines Berufes, während der Pest in London geblieben war und sein Leben riskiert hatte. Meredith, der sich, ohne irgendeine religiöse Berufung geltend zu machen, unerschrocken gezeigt hatte.
Und was war er? Furchtsam. Selbst wenn Martha nicht hätte gerettet werden können – hatte er es denn wirklich versucht? Hatte er nicht den Mut verloren, als er diese Treppe hinuntergerannt war? Wenn er nun auf die andere Straßenseite ging, bewies er seine Schuld, kam es ihm plötzlich in den Sinn. Er drehte sich um, und einen Augenblick später trat er den Jugendlichen entgegen. »Was hat er getan?« fragte er.
»Er hat den Brand gelegt, Sir«, riefen sie.
Schon am Tag zuvor hatten die Gerüchte begonnen. Eine solche Feuersbrunst konnte nicht das Werk des Zufalls sein. Manche sagten, es müßten die Holländer sein, doch die meisten hatten einen weit folgerichtigeren Verdacht. »Es sind die Katholiken«, sagten sie. »Wer sonst würde so etwas tun?«
»Aber ich bin kein Katholik!« rief der Junge in gebrochenem Englisch. »Ich bin Protestant. Hugenotte.«
Die Hugenotten, 1572 von einem frommen französischen König zu Tausenden hingemetzelt, waren eine Generation lang durch das Edikt von Nantes geschützt gewesen. Doch immer noch waren diese frommen französischen Calvinisten ständigen Einschränkungen unterworfen, und ein nicht sehr starker, aber stetiger Strom von Hugenotten war nach England gekommen, wo es ihnen erlaubt war, diskret ihre Religion auszuüben.
Der junge Bursche war nicht älter als siebzehn; ein schlanker, intelligent aussehender Junge, dessen auffälligster Zug seine Brille war, durch die er kurzsichtig auf seine Angreifer spähte.
»Du bist Protestant?« fragte Carpenter.
»Ja, ich schwöre es«, antwortete der Junge.
O Be Joyful faßte Mut. Er stellte sich vor den Jungen und erklärte den Angreifern: »Ich bin O Be Joyful Carpenter. Mein Vater Gideon hat mit Cromwell gekämpft, und dieser Junge teilt unseren Glauben. Laßt ihn in Ruhe, oder ihr müßt erst gegen mich kämpfen.« Er war sich nicht sicher, was passiert wäre, wenn nicht eine Patrouille von Yorks Männern in Sicht gekommen wäre. Widerstrebend zogen die Jugendlichen ab.
»Wo wohnst du?« fragte O Be Joyful.
»Unten beim Savoy-Palast, Sir«, antwortete der junge Hugenotte. Es gab dort eine kleine Gemeinde französischer Protestanten. Carpenter bot ihm an, ihn zurückzubegleiten. »Du bist noch nicht lange hier?« fragte er.
»Ich bin gestern gekommen, um hier bei meinem Onkel zu wohnen. Ich bin Uhrmacher.«
»Aha. Wie heißt du?«
»Eugene, Sir. Eugene de la Penissiere.«
»De la was?« O Be Joyful schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nie merken«, gestand er. »Ich glaube, du fährst besser, wenn du dich Penny nennst.«
»Eugene Penny?« Der junge Bursche überlegte zweifelnd. »Ihr habt mir das Leben gerettet, Sir; Ihr seid ein sehr mutiger Mann. Wenn Ihr sagt, ich soll ›Penny‹ heißen, alors, Penny. Und wo kann ich Euch finden, Sir, damit ich Euch meinen Dank demnächst angemessen ausdrücken kann?«
»Nicht nötig. Mein Haus ist ohnehin abgebrannt. Aber ich heiße O Be Joyful Carpenter; ich bin Holzschnitzer.«
Beim Savoy-Palast trennten sich die beiden Männer. »Wir werden uns wieder begegnen«, versprach Eugene.
Immer noch wütete die Feuersbrunst. St. Paul's war nur noch eine riesige schwarze Ruine; ebenso die Guildhall, Blackfriars, Ludgate. Am Dienstag abend und Mittwoch breitete sich der Brand sogar noch außerhalb der Stadtmauer aus, Holborn und Fleet Street entlang. St. Bride's brannte nieder. Erst am offenen, grasbewachsenen Gelände um den Temple stießen die Flammen auf eine Feuerschneise, die sie nicht überwinden konnten. Im Osten rettete eine riesige Schneise, die der Herzog von York gehauen hatte, den Tower von London. Abgesehen davon und einer kleinen Zahl anderer Ausnahmen war die mittelalterliche Stadt innerhalb ihrer Mauern völlig zerstört.
Für zwei Menschen hatten Pest und Feuersbrunst zudem zu einer inneren Krise geführt. Doktor Meredith war nach der Pestepidemie von einem tiefen Gefühl des Versagens erfüllt. Seine einzige Rolle, gestand er offen ein, war es gewesen, den Sterbenden Trost zu spenden. Seine Arzneien waren nutzlos, das wußte er. »Ich könnte ebensogut versuchen, ihre Seelen zu retten«, folgerte er. »Ich werde die Weihen empfangen und Geistlicher werden, so wie es ursprünglich meine Absicht war.« Dabei hielt ihn nichts davon ab, zugleich seine medizinischen Studien fortzusetzen. Gott sei Dank gab es immer noch die Royal Society.
O Be Joyful war nach der Feuersbrunst verzweifelt. Nachdem er sich von Eugene getrennt hatte, war er weiter herumgelaufen und hatte den Brand betrachtet, und die Worte des Jungen hallten wie Spott in seinen Ohren wider. »Ein mutiger Mann«, in der Tat. Es hatte keinen Sinn, sich vorzumachen, daß Marthas Tod unvermeidbar gewesen war, sagte er sich. »Ich hatte sie herunterholen und retten können. Aber aus Furcht und Feigheit habe ich sie verbrennen lassen.« War er der Sohn Gideons, Marthas spiritueller Erbe? Nein. Er war unwürdig.
Und was war aus ihrer Vision von der leuchtenden Stadt geworden? Alles war zerstört!
Die Mediziner sind immer noch geteilter Meinung, warum die Pest nach der großen Feuersbrunst kaum mehr nach London zurückkam. Auch die Ursachen des Brandes blieben umstritten. Die meisten Londoner hielten die Katholiken für die Schuldigen. Maßvoller war die Ansicht des Parlamentsausschusses, der bald danach aufgefordert wurde, Bericht über den Großbrand zu erstatten. Die Schuld, schlußfolgerte der Ausschuß, könne nicht irgendwelchen Ausländern oder den Katholiken zugeschoben werden. Die Feuersbrunst von London, hieß es unmißverständlich, sei höhere Gewalt gewesen. Die Flamme Gottes.