LONDON IN FLAMMEN
1665
NED WAR EIN GUTER HUND, mittelgroß, mit einem weichen
braunweißen Fell und klugen Augen und war seinem Herrn ganz
ergeben. Er konnte jeden Ball fangen, den sein Herr in die Luft
warf; er konnte sich herumwälzen und sich totstellen. Aber vor
allem war er ein guter Rattenfänger; im Haus seines Herrn gab es
nicht eine einzige Ratte.
Es war ein heißer Sommertag. Sein Herr war zeitig ausgegangen,
und so bewachte er das Haus in der Watling Street. Wie üblich waren
einige Leute unterwegs, aber vor einem Haus weiter unter in der
Straße stand ein Fremder. Als Ned ihn prüfend beschnüffeln wollte,
hatte der Fremde versucht, ihn mit dem langen Spieß, den er in der
Hand hielt, zu stoßen. Danach hatte Ned sich von ihm ferngehalten.
Vor etwa einer Stunde war eine Frau zu dem Haus gekommen, und Ned
hatte einen schlechten Geruch gewittert, der von ihr ausging. Und
vor kurzem hatte er gehört, wie in demselben Haus jemand weinte.
Kein Zweifel, die Menschen benahmen sich seltsam. Und dann sah er
das Ungeheuer.
Familie Ducket war bereit zum Aufbruch.
Zwei Kutschen und ein Karren warteten am Tor, und Sir Julius
blickte zufrieden auf seine Frau, seinen Sohn, seine
Schwiegertochter und die beiden Kinder. Ein Diener und zwei
Hausmädchen begleiteten sie.
Sir Julius Ducket, nun dreiundsechzig, war ein sehr
zufriedener Mann, wohlhabend und geehrt, ein Freund des Königs. Und
es war eine Freude, ein Freund von König Karl II. zu sein. Sein
Vater war klein, reserviert, ernst und keusch gewesen, er dagegen
war hochgewachsen, zwanglos, humorvoll und ein großer
Frauenheld.
Der Hof König Karls II. in Whitehall war ein fröhlicher Ort.
Der Bankettsaal, Schauplatz der Hinrichtung seines Vaters, wurde
nun seiner eigentlichen Bestimmung gemäß genutzt, und seine
Untertanen konnten ihren König beim Dinner zusehen. Westlich von
Whitehall ließ er den St. James' Park anlegen, wo man ihn oft mit
seinen reizenden kleinen Spaniels Spazierengehen oder in der langen
Allee an der Nordseite des Parks mit seinen Hofkavalieren beim
Schlagballspiel Pallmall sehen konnte – einer eigenartigen Mischung
aus Krocket und einer primitiven Form von Golf. Ganz London genoß
diese heitere Stimmung. Es gab allerlei Spiel und Zeitvertreib;
auch Maibäume wurden aufgestellt. Die Theater wurden wieder
geöffnet, darunter ein neues in der Drury Lane, wo eine vom König
protegierte Truppe auftrat und eine attraktiv gerundete junge
Schauspielerin namens Nell Gwynne gerade ihr Debüt gegeben hatte.
Wenn die eher puritanischen Untertanen Seiner Majestät über die
Unmoral und Extravaganz seines Hofes auch etwas entrüstet sein
mochten, wünschte sich doch niemand die Trübsal des Commonwealth
zurück.
Karl II. machte sich keine Illusionen. Er wußte, daß er nicht
König von Gottes Gnaden war, sondern weil das englische Parlament
es so beschlossen hatte. Es gab wieder das House of Commons und das
House of Lords, und Karl II. versuchte bei beiden soviel zu
erreichen, wie ihm möglich war, ohne sie jedoch zu weit zu drängen.
Ebenso hielt er es mit der Religion. Seine junge Frau aus Portugal
war katholisch, ebenso seine Schwester, die ins französische
Königshaus geheiratet hatte, aber Karl wußte sehr gut, daß viele
seiner Untertanen Puritaner waren. Man kam schließlich zu einer
ähnlichen Regelung wie unter Königin Elisabeth – jeder mußte zur
anglikanischen Kirche mit ihren Zeremonien und ihren Bischöfen
konform sein. Andernfalls hatte man gewisse Einschränkungen zu
ertragen und wurde von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, aber das
war alles. Die Botschaft des Königs war klar: »Seid königstreu.
Alles andere – Kanzel oder Kurzweil – ist eure Sache.« So sahen der
königliche Hof und die Regeln jenes Zeitalters aus, das man
Restauration nannte.
Dem König, der als der »heitere Herrscher« in die Geschichte
eingehen sollte, stand der Sinn nicht nach Rache. Ein oder zwei
Mörder seines Vaters mußten hingerichtet werden. Oliver Cromwells
Leichnam wurde ausgegraben und in Tyburn am Galgen aufgehängt.
Ansonsten machte Karl keinen Versuch, seine Feinde zu verfolgen;
seiner Freunde gedachte er jedoch nachdrücklich – nicht zuletzt Sir
Julius Ducket.
»Das Parlament gestattet mir nicht, Euch Bocton
zurückzukaufen«, entschuldigte er sich. »Aber ich kann Euch eine
lebenslange Staatsrente geben.« Die Rente war großzügig. Julius
konnte nun zudem den Rest des Schatzes ausgeben und in großem
Umfang an der Börse handeln. Schließlich konnte er Bocton
zurückkaufen, zu einem geringen Preis, da das Haus in einem
traurigen Zustand war. Innerhalb weniger Monate brachte er den
Besitz wieder in Ordnung.
Ganz England schien in zuversichtlicher Aufbruchsstimmung. Der
Handel nahm zu, aus den Kolonien kamen reiche Gewinne. Selbst die
Heirat des Königs mit einer Katholikin wurde recht nachsichtig
gebilligt, da sie als Mitgift den reichen indischen Handelshafen
Bombay mitbrachte. Englands Vorherrschaft auf dem Meer wurde immer
stärker. Im vorigen Jahr waren seine Handelskonkurrenten, die
Holländer, aus mehreren Kolonien vertrieben worden, auch aus einer
vielversprechenden Ansiedlung in Amerika. NeuAmsterdam hatte sie
geheißen, das englische Flottengeschwader nannte sie New York. Nach
Sir Julius Duckets Meinung war es England nie besser
gegangen.
Ned stand auf und knurrte. Das Ungeheuer
kam weiter die Straße herunter. Eine solche Kreatur hatte Ned noch
nie in seinem Leben gesehen. Das Ungeheuer war groß wie ein Mann
und bestand aus gewachstem Leder. Sein Körper war wie ein riesiger
Kegel geformt, der unten den Boden berührte; in der Hand hielt es
einen kurzen Stock. Am furchteinflößendsten war der Kopf der
Kreatur. Zwischen zwei riesigen Glasaugen saß ein großer
Lederschnabel. Auf dem Kopf trug das Ungeheuer einen schwarzen,
breitkrempigen Lederhut. Ned knurrte und wich zurück. Doch das
Ungeheuer hatte ihn gesehen und kam geradewegs auf ihn zu.
Doktor Richard Meredith war bis vor einer Stunde der
glücklichste Mann in ganz London gewesen. Es war eine große Ehre,
die man ihm am Tag zuvor erwiesen hatte, vor allem wenn man seine
Jugend in Betracht zog, und daher hatte er am Morgen mit
schwungvollem Schritt das Haus verlassen. Bis man ihm in der
Guildhall das Dokument gezeigt hatte.
Hätte die Restaurationszeit ein paar Jahre früher begonnen,
wäre er vielleicht Geistlicher gewesen. Doch ein Puritanerprediger
wollte er nicht sein, und sein Vater hatte ihn gewarnt: »Sieh dir
an, was ich tun muß, um zu überleben.« Daher wurde er Arzt, eine
andere Art, seinen Mitmenschen zu dienen.
Und es kam seinem Intellekt entgegen, denn sein Geist war
wißbegierig und analytisch.
Die damalige Medizin war noch sehr primitiv – eine Mischung
aus antikem Wissen und mittelalterlichem Aberglauben. Die Ärzte
glaubten an die vier Körpersäfte; sie setzten Blutegel an und
ließen ihre Patienten zur Ader, weil sie meinten, ihr Blut müsse
verdünnt werden. Außerdem benutzten sie traditionelle Heilkräuter –
manche davon wirksam – und hielten sich an den gesunden
Menschenverstand und an das Gebet. In manchen Fällen sah man das
Übernatürliche als normale Kur an; kein Arzt mißbilligte die
Schlangen von Skrofulosekranken, die geduldig am König
vorbeimarschierten, dessen Berührung diese Krankheit heilen konnte,
wie man glaubte. Die Naturwissenschaften waren auf einem ähnlichen
Stand. Gebildete Männer disputierten immer noch, ob das Horn von
Einhörnern magische Eigenschaften habe. Erst in den letzten
Jahrzehnten hatte sich immer stärker ein neuer Sinn für rationale
Untersuchungen herausgebildet. Der geniale Forscher William Harvey
hatte gezeigt, daß Blut im Körper zirkulierte; außerdem begann er
zu untersuchen, wie sich der menschliche Fötus entwickelt. Durch
sorgfältige Experimente hatte Robert Boyle Gesetze für das
Verhalten von Gasen formuliert. Von allen Orten, wo Meredith hätte
leben können, konnte keiner besser als London sein, denn hier war
der Sitz der Royal Society, der Königlichen Akademie der
Naturwissenschaften.
Die Royal Society in London hatte ihren Ursprung in einem
inoffiziellen Diskussionsclub, der sich vor zwanzig Jahren gebildet
hatte. Meredith wurde dort zum ersten Mal im Jahr der Restauration
eingeführt, als man ihm erlaubte, die Vorlesung eines führenden
jungen Astronomen namens Christopher Wren – Sohn eines Geistlichen
wie er – zu besuchen. Die Zahl der Mitglieder in diesem Club war
begrenzt, doch als Arzt durfte er sich alle Vorlesungen anhören,
die an jedem Mittwochnachmittag stattfanden. Auch König Karl wurde
Mitglied, daher wurde der Club als Royal Society bekannt.
Vor ein paar Monaten hatte Richard Meredith sogar selbst einen
kurzen Vortrag gehalten, der ihm anerkennende Worte von Wren und
anderen einbrachte. Dennoch hatte er nie die wundervolle Neuigkeit
erwartet, die man ihm am Tag zuvor mitteilte: »Dr. Meredith, man
hat Euch zum Vollmitglied der Society gewählt.« Das Maß seiner
Freuden war voll. Zumindest bis vor einer Stunde.
Als im Mai ein paar Fälle auftraten, hatte Meredith ihnen
wenig Beachtung geschenkt. Ein solches sporadisches Auftreten hatte
es in London während der Sommerzeit seit Jahrhunderten gegeben. Er
war auch nicht beunruhigt, als es im Juni mehr Fälle wurden. In den
Kirchspielen entlang Cheapside gab es keine, auch die Watling
Street war verschont. Seit fast zwanzig Jahren hatte es keinen
merklichen Ausbruch gegeben, und seit König Jakob I. nichts
wirklich Gravierendes. Wenn die Leute ihn fragten, ob es Grund zur
Sorge gebe, hatte er ihnen daher versichert: »Vermeidet das Gebiet
im Westen um Drury Lane und Holborn. Die Stadt selbst ist kaum
betroffen.« Diesen Monat war es außerordentlich warm. »Diese
trockene Hitze«, schlossen die meisten Arzte, »steigert das Element
Feuer im Blut der Menschen. Das produziert gelbe Galle und macht
sie cholerisch.« Vielleicht vermehrte das die Krankheit, dachte er.
Im Juli hörte er von einer steigenden Zahl Kranker in Southwark und
auf der Straße nach Osten, außerhalb Aldgate. Als man ihm heute das
Dokument zeigte, war er äußerst bestürzt.
Die Sterbeliste war ein Dokument, das jede Woche erstellt
wurde. In zwei langen Reihen wurden die Sterbefälle und jeweiligen
Todesursachen, insgesamt etwa fünfzig, in der Stadt und den
umliegenden Kirchspielen aufgezählt. Die meisten Zahlen waren
niedrig. »Schlaganfall: 1. Wassersucht: 40. Säuglinge: 21.« Aber an
der Spitze der zweiten Reihe hatte der Schreiber auf eine
schreckenerregende Zahl gezeigt: 1843. Daneben das furchtbare Wort:
Pest.
Pest, Seuche, Schwarzer Tod – alles Namen für dieselbe
Krankheit. »Habt Ihr vor, London zu verlassen?« hatte der Schreiber
gefragt.
»Nein. Ich bin Arzt.«
»Alle Ärzte, die ich heute morgen bisher gesehen habe, wollen
aufs Land. Sie sagen, daß sie sich um ihre reichen Patienten
kümmern müssen, und da die Reichen die Stadt verlassen werden,
müssen sie es auch«, erklärte der Schreiber. »Doch wenn Ihr
wirklich bleiben wollt, sollten wir Euch etwas zum Anziehen
holen.«
Das Ungeheuer kam direkt auf Ned zu. Wo konnte er die Kreatur
angreifen? Sie hatte keine Beine, und die Arme waren zu dick, um
sie zu fassen. Doch dann nahm das Ungeheuer seinen Kopf ab, zog
sich einen der großen Lederhandschuhe aus, hielt ihm die Hand zum
Schnuppern hin und rief seinen Namen. Es war sein Herr.
Die gewaltige Lederausrüstung, die der Beamte in der Guildhall
Meredith gegeben hatte, war furchtbar heiß. Der große Schnabel war
mit aromatischen Kräutern gefüllt, da viele glaubten, die
Ansteckung werde durch verpestete Luft verursacht. »Armer Ned«,
sagte er. »Habe ich dich erschreckt?« Liebevoll tätschelte er den
Hund. Er öffnete die Tür, da kam Sir Julius.
Sir Julius mochte den jungen Mann. »Was gibt es Neues über die
Pest?« fragte er. Meredith erzählte ihm von der Liste der
Sterbefälle. »Wie ich befürchtet habe«, meinte Sir Julius.
»Meredith, ich bitte Euch, kommt mit uns. Wir fahren nach Bocton.
Die Pest kommt selten bis aufs Land.«
»Ich danke Euch«, sagte Meredith herzlich. »Aber ich glaube,
meine Pflicht ist hier.«
Seufzend verließ Sir Julius ihn. Er ging zurück zu seinem
Haus, nahm seine Pistolen und befahl seiner Familie, in die
Kutschen zu steigen. Ein paar Minuten später fuhren sie die Watling
Street in Richtung der London Bridge hinunter. Erst dann befahl er,
daß seine Kutsche einen Augenblick anhalten sollte, denn es gab
zumindest einen kleinen Dienst, den er seinem jungen Freund
erweisen konnte.
Ned wedelte mit dem Schwanz, als er sah, wie Sir Julius erneut
auf das Haus zukam, denn er wußte, das war ein Freund. Sir Julius
streckte die Hand aus und zielte auf ihn. Ein lauter Knall, ein
gewaltiger Schmerz in seiner Brust. Etwas Warmes in seinem Maul.
Dann wußte Ned von nichts mehr. Nachdem Sir Julius Ned erschossen
hatte, band er den Hund mit einem Stück Schnur an den Wagen und
ließ ihn bis zum Fluß mitschleifen, wo er ihn dann hineinwarf. Sir
Julius hatte keinen Zweifel, daß er richtig gehandelt hatte, obwohl
er darüber traurig war. Die meisten vernünftigen Leute wußten, daß
Hunde und Katzen die Ansteckung verbreiteten. Da Julius Meredith'
Zuneigung zu dem Hund kannte, wußte er, daß er es nie übers Herz
bringen würde, das Notwendige selbst zu tun. Zumindest konnte Ned
seinen Herrn nun nicht anstecken. »Es war das mindeste, was ich tun
konnte, um diesen tapferen jungen Mann zu retten«, sagte er.
»Der Hund war ein guter Rattenfänger«, bemerkte sein Sohn.
»Meredith hatte keine einzige Ratte im Haus.«
»Richtig«, erwiderte Julius. »Aber nicht von Bedeutung.«
Mitte August lag die Sterbezahl bei viertausend pro Woche,
Ende August bei sechstausend. Jeden Tag legte Richard Meredith
seine große Lederuniform an und ging hinaus. Manchmal dachte er
fast, er müsse in einer anderen Stadt sein. Die Straßen waren wie
ausgestorben, alle Stände in Cheapside waren fort, die Häuser
verschlossen. Der Hof war nach Salisbury im West Country gegangen.
Ende Juli war ein Strom von Kutschen und Wagen aus der Stadt hinaus
gerumpelt: Gentlemen, Kaufleute, selbst die wohlhabenderen
Handwerker, alle wollten sich in Sicherheit bringen. Abgesehen von
ein paar Ausnahmen blieben nur die Armen zurück.
Als Meredith von Kirchspiel zu Kirchspiel ging, sah er, daß
die Vorschriften des Mayors verschärft worden waren. In dem Moment,
da die Prüfer der Stadt die Pest in einem Haus bestätigten, wurde
es verschlossen. Eine Wache hinderte jeden daran, das Haus zu
betreten oder zu verlassen, ein schreckliches rotes Kreuz wurde auf
die Tür gemalt, in der Regel mit den Worten: »Herr, erbarme Dich.«
Nur ein Arzt, gekleidet wie er, konnte den Patienten dann besuchen.
Wenn ein Haushalt meldete, er habe einen Leichnam, wurde die
Todesursache geprüft, und bald kamen die Pestknechte mit ihren
Karren, läuteten mit einer Glocke und riefen den alptraumhaften
Satz: »Bringt Eure Toten heraus!«
Einige Kirchspiele, insgesamt fast ein Viertel, blieben
verschont. Am letzten Augusttag traf Meredith bei St. Paul's einen
Mann namens Pepys, den er schon einige Male bei Versammlungen der
Royal Society gesehen hatte. Pepys war Sekretär der Admiralität und
hatte Zugang zu Informationen aller Art. »Die wahre Zahl der
Todesfälle ist höher, als die Sterbeliste zeigt«, erklärte ihm
Pepys. »Die Schreiber fälschen die Berichte, manche der Armen
werden nicht gezählt. Die Liste hat letzte Woche
siebeneinhalbtausend gemeldet. Die wirkliche Zahl liegt eher bei
zehntausend. Aber wenn Gott uns beide verschont, Dr. Meredith«,
fügte Pepys hinzu, »werde ich vielleicht das Vergnügen haben, Euch
eines Tages in der Royal Society einen Vortrag über die wahre
Ursache der Pest halten zu hören.«
Tatsächlich hätte Meredith kein Thema mehr am Herzen liegen
können. Während er von Haus zu Haus ging und ganze Familien im
Fieberdelirium sah und in Todesqualen schreien hörte, empfand er
ein schreckliches Gefühl der Hilflosigkeit. Er war Arzt, doch in
Wahrheit konnte er nichts gegen die Pest tun. Wie konnte er ein
Heilmittel empfehlen und seine Patienten schützen, wenn er nicht
einmal wußte, wie die Krankheit übertragen wurde?
Man nahm an, daß die Menschen sich gegenseitig mit der Pest
ansteckten; daher die Versuche, eine Quarantäne durchzusetzen.
Sicher, wenn er in manche der meistbetroffenen Gegenden kam –
Southwark, Whitechapel außerhalb Aldgates, die Straße hinauf nach
Shoreditch, Holborn – und ganze Straßenzüge sah, in denen fast
jedes Haus das gefürchtete Kreuz trug, schien das eine berechtigte
Vermutung. Aber warum war die Pest an diesen Orten so konzentriert?
Viele Menschen rauchten Pfeife, weil man glaubte, der Rauch reinige
die Luft. Doch wenn die Krankheit durch die Luft verbreitet wurde,
warum fand er dann in einem Kirchspiel der Stadt die Pest, aber
nicht in dem Kirchspiel eine Straße weiter? Er konnte auch nichts
Gemeinsames zwischen den meistbetroffenen Gebieten entdecken – das
eine war sumpfig, das andere trocken und luftig. Es kann nicht die
Luft sein, folgerte Meredith. Die Pest wird anders übertragen. Aber
wie? Durch Hunde und Katzen? Er hatte von einem Nachbarn gehört,
daß es Sir Julius gewesen war, der Ned erschossen hatte. Eine Woche
lang war er wütend gewesen, doch nun nicht mehr. Weiß Gott, wie
viele Hunde und Katzen mittlerweile auf Befehl des Mayors getötet
worden waren. Zwanzig- oder dreißigtausend, schätzte er. Aber
selbst wenn es Hunde und Katzen waren, wie übertrugen sie die
Krankheit?
Eine mögliche Lösung fiel ihm Anfang September ein, als er
einen sterbenden Mann versorgte. Die Pest trat hauptsächlich in
zwei Formen auf. Bei der Beulenpest überlebte etwa einer von drei
Befallenen; die Lungenpest überstand kaum jemand. Die Lunge des
Patienten füllte sich, er nieste häufig, hustete Blut, hatte
plötzlich schreckliche Anfälle von Fieber oder Schüttelfrost und
fiel dann in einen tiefen Schlaf, bis er tot war. Der arme Kerl vor
Meredith war Wasserträger gewesen und hatte sechs Kinder. Eines der
kleinen Kinder kam, um ihn zu trösten, als der Mann gerade niesen
mußte – dem Kind direkt ins Gesicht. Das Kind zuckte zusammen.
Instinktiv eilte Meredith zu dem Kind, packte einen Lappen und
wischte ihm das Gesicht ab. »Haltet die Kinder von ihm fern«, rief
er der Mutter zu. »Verbrennt dieses Tuch.« Denn so mußte es sein,
dachte er. Der Schleim und der Speichel einer infizierten Person
mußte die Ansteckung übertragen, da sie aus dem meistbetroffenen
Körperteil kamen. Eine Woche später starb das Kind.
Martha zögerte immer noch, obwohl ihr Stiefsohn Dogget
beharrlich war. »Ich bin sicher, wo ich bin«, erklärte sie. Obwohl
sie zusammen aus Massachusetts zurückgekommen waren, hatte sie sich
dem jüngeren Sohn Doggets lange Zeit nicht nahe gefühlt. Es
mangelte ihm an spiritueller Unterweisung. Anstatt ein Handwerk zu
erlernen, hatte er geheiratet und war Fährmann geworden. Aber er
besuchte sie jede Woche, und sie rief sich ins Gedächtnis, daß in
fast jedem etwas Gutes steckte.
»Du denkst, daß du sicher bist, altes Mädchen, weil Gott auf
deiner Seite ist.« Liebevoll legte Dogget den Arm um sie. »Du
glaubst, es sind nur wir Sünder, die sterben.« Und obwohl Martha
seinen Tonfall mißbilligte, war es genau das, was sie dachte. Denn
Martha wußte, was die Ursache der Pest war: Gottlosigkeit.
Allgemein formuliert hätten die meisten Menschen das
bestätigt. Heimsuchungen und Katastrophen lagen in der Hand Gottes
und waren der sündigen Menschheit gesandt worden, seit Adam und Eva
aus dem Paradies vertrieben worden waren. Und Martha wies noch auf
etwas hin: »Wo hat die Pest begonnen? In der Drury Lane. Und
warum?« Darauf wußte jeder Puritaner die Antwort. Dort stand das
neue Theater, gefördert vom König mit seinen Mätressen und seinem
lüsternen, extravaganten Hof. War London nicht vor einem halben
Jahrhundert gewarnt worden, als Shakespeares Globe niederbrannte?
Im moralischen Verfall der Stadt konnte Martha deutlich die
Wahrheit sehen. Daher glaubte sie nicht, daß die Pest sie
heimsuchen würde.
Doch von Vintry herauf hatte sich die Pest seit letzter Woche
stetig über den Garlic Hill zur Watling Street vorgearbeitet. Es
war nicht erstaunlich, daß ihre Familie sich Sorgen um Martha
machte. Wenn nur Gideon noch hier wäre, aber er war vor drei Jahren
gestorben. O Be Joyful hatte seinen Platz eingenommen, doch obwohl
der Holzschnitzer nun fast dreißig Jahre zählte und die Freude
ihres Alters war, besaß er nicht die Autorität seines Vaters. Er
war immer noch Geselle, nicht Meister. Dennoch war es nun O Be
Joyful, der die Frage entschied.
»Wir gehen jetzt«, erklärte er und deutete auf seine Frau und
zwei kleine Kinder. »Bitte komm mit uns, Tante Martha, und sei
unsere spirituelle Führerin.« Widerwillig stimmte sie zu, und eine
halbe Stunde später gingen sie und die beiden Familien ernst den
Hügel hinunter, wo Dogget sie alle auf seine Fähre steigen ließ und
zu rudern begann. Als sie hinaus auf den Fluß fuhren, starrte
Martha nach vorn und fragte entsetzt: »Dort wollen wir hin?«
Ihr Ziel lag mitten im Fluß, und obwohl es groß war, konnte
man kaum erkennen, was es war. »Gildehaus der Fährmänner nenne ich
es«, erklärte Dogget, denn den Fährmännern war das eingefallen. Aus
einer Reihe von Flößen, Fähren und anderen kleinen Booten, die man
zusammengebunden hatte, war eine große schwimmende Insel
entstanden. Die Männer waren noch an der Arbeit und bauten kleine
Schutzhütten darauf. Die Überlegung war logisch genug. Wenn sie
draußen auf dem Fluß blieben, isoliert von der Ansteckung, konnten
sie hoffen zu überleben.
Mitte September wurde es immer schwieriger,
mit der Pest fertig zu werden. Die Leute beachteten die Quarantäne
nicht mehr. Pestopfer wurden verheimlicht, die Leute weigerten
sich, in infizierten Häusern eingesperrt zu bleiben, oder
versuchten ihre Kinder hinauszuschmuggeln, wo sie sicher waren. Die
begrenzte Zahl der Wachen machte es unmöglich, sie zu
kontrollieren. In einem Versuch, die Kranken von den Gesunden zu
trennen, hatte der Mayor angeordnet, daß zahlreiche arme Opfer in
den Spitälern der Stadt untergebracht werden sollten. Aber es gab
nur so wenige: das alte St. Bartholomew's, ein dem heiligen Thomas
geweihtes Spital in Southwark und St. Mary's bei Moorfields. Sie
waren zum Bersten voll. Die Stadt hatte zusätzliche Häuser, die
sogenannten Pesthäuser, eingerichtet, aber auch sie waren
überfüllt. Und für die Toten hatten die Friedhöfe nicht genügend
Raum. Große Pestgruben wurden ausgehoben, zumeist außerhalb der
Stadtmauern, in die man die Toten zu Dutzenden warf. Aber immer
noch stapelten Totengräber die Leichen auf den Friedhöfen, bis die
obersten schließlich mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt wurden.
Auf dem Friedhof hatte Meredith gesehen, wie Arme und Beine aus dem
Boden hervorsahen.
Häufig ging er in die Pesthäuser in Westminster, und eines
Tages wurde er von einem Wächter angesprochen, er solle zu einem
Haus in der Nähe kommen, wo ein Arzt benötigt wurde. Ein paar
Minuten später betrat er ein kleines, aber hübsches Haus in
Klein-Frankreich.
Sechs Tage waren vergangen, seit Jane Wheeler sich fiebrig
fühlte. Zuerst hatte sie versucht, es zu ignorieren. Immerhin, rief
sie sich ins Gedächtnis, bin ich über achtzig. Bis zum Abend fühlte
sie sich schwach; am nächsten Tag war ihr schwindlig. Mittags
beschloß sie auszugehen, aber sie war nur ein paar Meter weit
gekommen, als sie zu taumeln begann. Eine Nachbarin half ihr. Von
den nächsten Stunden wußte sie nur noch wenig. Dann kam eine fremde
Frau, eine Art Krankenschwester. Aber da konnte sie nur noch an
eines denken. Sie waren an ihrem Hals, in den Achselhöhlen und
zwischen den Beinen – große Klumpen, sie konnte sie fühlen. Und der
Schmerz, den schrecklichen Schmerz.
Meredith seufzte. Die Lungenpest ließ einen rasch sterben,
doch die andere Form, die Beulenpest, war noch grausamer anzusehen.
Die alte Frau vor ihm befand sich im letzten Stadium. Bei der
Beulenpest entzündeten sich die Lymphdrüsen und schwollen zu
Klumpen an – den Beulen, wie man sagte. Unter der Haut traten
Blutungen auf, die dunkle Punkte und rote Flecken verursachten. Die
Patienten befanden sich oft im Delirium. Am Ende erschienen häufig
rote Punkte auf dem Körper. Aber während dieser letzten Krise war
die alte Frau bei klarem Verstand, und sie hatte ein
Anliegen.
»Ich möchte, daß Ihr mir mein Testament schreibt; ich bin zu
schwach.« Sie fröstelte. »Im Eck dort sind Tinte und Feder.« Er
holte beides, setzte sich, nahm einen seiner Handschuhe ab und
schickte sich zu schreiben an, als sie begann: »Ich, Jane Wheeler,
bei klarem Verstand…«
Sie war also diese Frau. Sie hatte keine Ahnung, wer er war;
obwohl er sie nicht mehr gesehen hatte, seit er ein Junge war,
erinnerte er sich an den Skandal um sie. Das Testament war kurz und
prägnant. Sie hinterließ ihr kleines Vermögen zu gleichen Teilen
den überlebenden Kindern des seligen John Dogget, ausgenommen das
Kind von Martha. »Doch da ist noch eine Sache.«
Richard Meredith wußte nicht, daß unter der Bodendiele des
Raumes gerade eine schwarze Ratte verendet war. Noch konnte er den
Floh sehen, der gerade durch den Spalt zwischen den Dielenbrettern
gekommen war. Mehrere Tage lang hatte er sich mit dem Blut der
schwarzen Ratte vollgesaugt, die die Pest hatte. Im Blut der Ratte
waren Hunderttausende von Pestbazillen, ein paar zehntausend waren
nun auf den Floh übertragen. Im Magen des Flohs hatten sich die
Pestbazillen vermehrt und den Mageneingang blockiert. Der Floh war
daher sehr hungrig und suchte nach einem anderen Körper, an dem er
saugen konnte. Sobald er die Haut des nächsten Geschöpfes
durchbohrte, würden Tausende von Bazillen in den neuen Wirt
eindringen, während der Floh starb. Er hüpfte auf Meredith' Mantel,
als dieser den letzten Absatz von Jane Wheelers Testament
schrieb.
»Zu guter Letzt spreche ich mit diesem meinem letzten Willen
und auf dem Sterbebett über Sir Julius Ducket, diesen Dieb und
Lügner, der mein rechtmäßiges Vermögen gestohlen und mich zugrunde
gerichtet hat, meinen Fluch. Möge Gott der Gerechte ihn für seine
Sünden zur Hölle fahren lassen, und möge seine Familie hinfort
verflucht sein und sein Erbe gestohlen werden so wie das meine.
Amen.«
»Seid Ihr sicher, daß Ihr das schreiben wollt?« fragte
Meredith.
»Ja. Gebt mir die Feder.« Mühevoll unterzeichnete sie. »Ihr
und die Krankenschwester unterschreibt als Zeugen.«
Der Floh hüpfte auf Meredith' Ärmel. »Ich muß nun fort«,
erklärte Meredith und zog seinen Handschuh wieder an.
Er beschloß, Sir Julius nichts von dem Fluch zu sagen. Der
Floh wollte Meredith gerade auf die bloße Hand hüpfen, doch sie
verschwand in dem langen Lederhandschuh. Als Meredith zur Tür ging,
hüpfte der Floh auf die Krankenschwester.
Im Oktober schien die Pest ihren Höhepunkt
überschritten zu haben. In den ersten zwei Wochen lagen die
Sterbelisten bei etwa viertausend, in der vierten Woche unter
fünfzehnhundert, drei Wochen lang bei etwa tausend, um dann weiter
zu fallen. Obwohl bis Februar noch einzelne Fälle auftraten, begann
sich London ab November vorsichtig wieder zu öffnen. Ende November
wagten sich Dogget und seine Familie zurück in ihre Behausung und
stellten fest, daß ein kleines Erbe auf sie wartete. Ende Januar
rollten die Kutschen selbst der reichsten Bürger und ihrer Arzte
zurück in die Stadt.
Die offizielle Zahl der Todesopfer der Großen Pest lag bei
über fünfundsechzigtausend. Bemerkenswert war die Kolonie auf den
schwimmenden Inseln in der Themse. Insgesamt lebten mehrere
zehntausend Menschen einige Wochen lang auf dem Fluß, und soweit
bekannt ist, infizierte sich kaum einer an der Krankheit. Doktor
Richard Meredith registrierte diese Tatsache, konnte sie jedoch zu
seinem Kummer immer noch nicht erklären.
1666
Es war still in der Nacht zum 1. September.
Sir Julius lag friedlich in dem großen Haus hinter St. Mary-le-Bow.
Es war ein langer, schöner Sommer gewesen, und erst in der letzten
Woche war die Familie aus Bocton zurückgekehrt. Morgen war Sonntag.
Gegen ein Uhr morgens wachte er auf. Hatte er etwas gehört? Er sah
aus dem Fenster. Kam da vielleicht ein schwaches Geräusch aus der
Richtung der London Bridge? Die Sterne beschienen die steilen
Dächer um sein Haus herum mit ihrem schwachen Licht. Er horchte,
aber nach ein oder zwei Minuten ging er wieder zu Bett. Es war fast
vier Uhr morgens, als seine Frau ihn weckte. Diesmal gab es keinen
Zweifel. Über den Dächern zu seiner Linken sah er einen schwachen
Schein; Flammen mußten irgendwo bei der Brücke zum Himmel
aufsteigen, aber wahrscheinlich nicht in ihrer Nähe. »Ich gehe und
sehe nach«, erklärte er, zog sich etwas an und verließ das
Haus.
Der Brand hatte kurz nach Mitternacht im Haus eines Bäckers in
einer schmalen Straße etwas abseits von East Cheap, in der Pudding
Lane, begonnen. Er hatte sich nun auf etwa ein Dutzend der
zusammengedrängten kleinen Häuser ausgedehnt, aber Julius hatte
schon oft ein schlimmeres Flammenmeer gesehen. Die Männer löschten
mit Wassereimern. Als Julius sich umdrehte, um nach Hause zu gehen,
begegnete er dem Mayor. »Es scheint keine große Sache zu sein«,
meinte Julius.
»Eine Frau könnte es auspissen«, knurrte der Mayor und
stampfte davon.
Dieser unfeine und berühmte Spruch wäre nicht in die
Geschichte eingegangen, wäre nicht Wind aufgekommen. Als Julius
wieder wohlbehalten in seinem Bett lag, wehte eine lebhafte Brise,
die Funken und Glutasche in die nächste Straße wehte, die direkt
zur London Bridge führte. Bei Morgengrauen stürzte die Kirche St.
Magnus-the-Martyr ein, und bald darauf erreichte das Feuer die
Brücke. Am Vormittag bedrohte es die Lagerhäuser entlang des
Flusses.
Als Julius erneut ausging und sich auf den Weg zu einem
Aussichtspunkt an der Spitze des Cornhill machte, sah er einen
gewaltigen Großbrand, der sich um den ganzen Brückenkopf herum
ausbreitete. Zwei-, vielleicht dreihundert der eng
zusammengedrängten Häuser mochten in Flammen stehen. Das Prasseln
und Krachen hallte nun in der ganzen Stadt wider. Er ging so nahe
an den Rand des Feuers heran, wie er es wagte, dann die Watling
Street hinauf, wo er Richard Meredith traf, der mit einem Gentleman
sprach, den er als Mr. Pepys vorstellte.
»Ich habe den König und seinen Bruder in Whitehall gesehen«,
erzählte Pepys. »Sie haben Befehl gegeben, Häuser abzureißen, um
Feuerschneisen zu bilden, aber weil die Stadtbehörden Angst haben,
die Besitzer könnten eine Entschädigung fordern, rühren sie die
Häuser nicht an!«
»Was wird also geschehen?«
»Der Brand wird wüten«, meinte Pepys.
Im Laufe des Nachmittags sagte O Be Joyful seiner Familie, sie
solle sich bereitmachen, das Haus zu räumen. Der Brand hatte sich
stetig ausgebreitet. Ein Strom von Karren mit den aufgetürmten
Habseligkeiten der Leute kämpfte sich mühsam von der Brücke her die
Watling Street hinauf.
In den letzten Monaten war sich O Be Joyful zunehmend seiner
Verantwortung bewußt geworden. Die Zeit auf dem Fluß und die
allgemeine Zerrüttung nach der Pest hatte Martha etwas geschwächt,
und in diesem Frühling hatte er sie überredet, bei ihnen zu wohnen.
Als Vater von mittlerweile vier Kindern wußte er, daß es seine
Pflicht war, die Führung zu übernehmen. Wenn ihm das nur alles
leichter fiele. Nichtsdestoweniger handelte er nun entschlossen.
Ein Freund, der in Shoreditch wohnte, hatte eingewilligt, sie
aufzunehmen. Doch dann erklärte Martha plötzlich: »Ich will
nachsehen, ob meine alte Freundin Mrs. Bundy in Sicherheit
ist.«
Er kannte diese gottesfürchtige Frau flüchtig und bot an,
Martha zu begleiten. Als sie die Walbrook-Brücke überquerten,
stiegen die Rauchschwaden schon über hundert Meter hoch in die
Luft. Nach dem London Stone zeigte Martha auf eine schmale Straße,
die nach rechts ging, und schritt mit resoluter Miene direkt auf
das Feuer zu.
Eine Erklärung für die unaufhaltsame Ausbreitung des Feuers
fand man in dem Anblick, der sich ihnen bot. Die schmale Straße,
die Häuser aus Holz und Mörtel (die Anordnungen, mit Ziegel und
Stein zu bauen, blieben immer wieder unbeachtet), die oberen
Stockwerke, die weiter in die Straße ragten, jedes ein Stückchen
weiter als das untere, bis sie schließlich fast das
gegenüberliegende Haus berührten – diese eng zusammengedrängten
Holzgebäude waren mehr oder weniger eine riesige Zunderbüchse. Und
noch schlimmer: Bei dem Versuch, das Feuer rasch zu löschen, hatte
man die hölzernen Wasserrohre in der Straße aufgebrochen, um Eimer
zu füllen, und das Wasser dann weiter herausschießen lassen;
folglich waren nun alle Zisternen ausgetrocknet.
Am seltsamsten fand O Be Joyful das Verhalten der Leute.
Während die reicheren Bürger mit ihren Wertsachen aus der Stadt
flohen, blieben die Armen, die nichts als das Dach über ihrem Kopf
hatten, oft zusammengekauert in ihren Häusern sitzen.
Das Mietshaus, das Martha suchte, lag auf halber Höhe der
Straße, nur wenig vom Rand des Brandes entfernt. »Ich weiß, wo sie
ist«, sagte Martha. »Halte du draußen Wache.« Sie trat in den Flur
und verschwand die Treppe hinauf.
Es war erschreckend, wie das Feuer sich weiterfraß, aber
zugleich auch faszinierend. Der braungraue Rauch stieg nun wie eine
große Mauer vor O Be Joyful auf; die Hitze war so groß, daß er die
Hände vors Gesicht pressen mußte, und das furchtbare Prasseln und
Tosen schlug an seine Ohren. Wo blieb Martha?
Er rannte in den Hauseingang und rief Marthas Namen. Immer
noch schreiend lief er die Treppe hinauf. Über ihm ein lautes
Krachen. Weiß Gott, was dort oben passierte. Er rannte wieder die
Treppe hinunter und zurück auf die Straße. »Martha!« schrie er.
»Martha!«
Dann sah er sie. Sie stand an einem kleinen Fenster unter dem
Dach. Verzweifelt winkte er ihr zu, sie solle herunterkommen, und
sie antwortete mit einem Zeichen, das er nicht verstand. War ihr
der Weg abgeschnitten? Einen Augenblick später war er wieder auf
der Treppe.
Ein erneuter Krach. Oben stürzte ein Balkon herunter. Eine
Rauchwolke hing vor ihm. Im obersten Geschoß explodierten Flammen.
Keuchend blieb er stehen, dann verließ ihn der Mut. Er drehte sich
um und floh. Von unten sah er wieder zu Martha hinauf. Ihr bleiches
rundes Gesicht blickte zu ihm herab. Zum Herunterspringen war das
Fenster zu klein. Rauch quoll unter den Dachtraufen hervor. Das
Dach verwandelte sich in eine Fackel. Martha war nicht mehr
da.
Am Montag morgen wurde der Mayor von seiner
Verantwortung für die Brandkontrolle entbunden. Der Wind war stark,
der Brand hatte nun ein solches Ausmaß, daß er selbst Wind zu
erzeugen schien. Das Feuer wurde nicht nur am Fluß entlang
westwärts nach Blackfriars geblasen, sondern wälzte sich auch nach
Norden und den östlichen Hügel hinauf. Früh am Morgen, kurz nachdem
Julius überwacht hatte, wie die dritte Wagenladung mit Besitztümern
das Haus verließ, und seine Familie angewiesen hatte, sich für die
Rückkehr nach Bocton fertigzumachen, hörte er die gute Nachricht,
daß Jakob, Herzog von York, der Bruder des Königs, mit einer
Truppenabteilung in der Stadt angekommen war. Jakob war ein
verläßlicher Kerl, ein Marineoffizier.
Vielleicht konnte er die Ordnung wiederherstellen. Sobald
Julius hinausging, sah er den Herzog, der seine Männer zum Ende der
Watling Street führte. Sie waren dabei, ein halbes Dutzend Häuser
mit Pulver zu sprengen. Julius ging hin, um dem Herzog seine
Ehrerbietung zu erweisen.
»Wenn wir diese Straße erweitern«, erklärte Jakob, »können wir
vielleicht eine Feuerschneise bilden.« Sie wichen zurück und gingen
in Deckung. Ein lautes Donnern. »Helft Ihr uns, Sir Julius?« fragte
der Herzog. Und so fand sich Julius mit einem Lederhelm auf dem
Kopf und einer Feueraxt in der Hand und riß zusammen mit dem Herzog
und einem Dutzend ähnlich Gekleideter Mauern und Fachwerk ein. Als
er auf einen arbeitenden Mann neben sich blickte, erkannte er
plötzlich seinen König: »Sollte Eure Majestät so etwas tun?« fragte
er.
»Ich schütze mein Königreich, Sir Julius!« Der Monarch
lächelte.
Trotzdem hielt die Feuerschneise nicht stand. Der Brand hatte
mittlerweile eine solche Gewalt, daß er eine Stunde später die
Lücke überwand.
Am Dienstag morgen ereignete sich das Schrecklichste. O Be
Joyful beobachtete es vom Ludgate Hill aus. Sein eigenes Haus war
am Montag nachmittag abgebrannt. Seine Familie war in Shoreditch.
Abends stand die Londoner Warenbörse in Flammen; in der
Morgendämmerung erfuhr man, daß St. Mary-le-Bow zerstört war. Er
beschloß, sich die Sache selbst anzusehen, doch als er an die
Stadttore kam, wurde er aufgehalten. Die Truppen ließen niemanden
hinein. »Die Stadt ist ein Backofen«, erklärten sie. Das offene
Gelände bei Moorfields diente als riesiges Feldlager für die ihrer
Häuser beraubten Menschen. So war er an Smithfield vorbeigelaufen,
wo an den Toren des St. Bartholomew Hospital ein weiteres kleines
Lager aufgebaut war, und war schließlich nach Ludgate gekommen.
Eine Menschenmenge war hier versammelt. O Be Joyful sah Doktor
Meredith. Von angstvoller Ehrfurcht ergriffen starrten alle auf den
Hügel.
St. Paul's brannte nieder. Das riesige graue Gebäude, dessen
langgestreckte Silhouette fast sechs Jahrhunderte über der Stadt
aufgeragt war, das dunkle alte Gotteshaus, das seit den Tagen der
Normannen auf dem westlichen Hügel Wache gestanden hatte und Sturm,
Blitzen und den Verheerungen der Zeit getrotzt hatte – die alte
Kirche St. Paul's stürzte langsam vor ihren Augen zusammen. O Be
Joyful sah über eine Stunde lang zu. Dann ging er die Fleet Street
entlang. Als er sich dem Temple näherte, sah er eine Gruppe
Jugendliche, die einen jungen Burschen gegen eine Mauer drückten.
»Knüpft ihn auf!« schrie einer von ihnen.
Einen Augenblick lang zögerte O Be Joyful. Es waren nur
Jugendliche, aber sie waren ein Dutzend und sahen kräftig aus. Er
überquerte die Straße, um ihnen aus dem Weg zu gehen, als er den
jungen Burschen aufschreien hörte. Beschämt blieb er stehen. Er
hatte seiner Familie immer noch nicht erzählt, was Martha geschehen
war. Von dem Augenblick an, als er aus der brennenden Straße
zurückgelaufen war, hatte er sich gesagt, daß man nichts hätte tun
können. Doch in Ludgate hatte er Meredith gesehen. Doktor Meredith,
Sohn des Predigers; Meredith, der, anders als die meisten seines
Berufes, während der Pest in London geblieben war und sein Leben
riskiert hatte. Meredith, der sich, ohne irgendeine religiöse
Berufung geltend zu machen, unerschrocken gezeigt hatte.
Und was war er? Furchtsam. Selbst wenn Martha nicht hätte
gerettet werden können – hatte er es denn wirklich versucht? Hatte
er nicht den Mut verloren, als er diese Treppe hinuntergerannt war?
Wenn er nun auf die andere Straßenseite ging, bewies er seine
Schuld, kam es ihm plötzlich in den Sinn. Er drehte sich um, und
einen Augenblick später trat er den Jugendlichen entgegen. »Was hat
er getan?« fragte er.
»Er hat den Brand gelegt, Sir«, riefen sie.
Schon am Tag zuvor hatten die Gerüchte begonnen. Eine solche
Feuersbrunst konnte nicht das Werk des Zufalls sein. Manche sagten,
es müßten die Holländer sein, doch die meisten hatten einen weit
folgerichtigeren Verdacht. »Es sind die Katholiken«, sagten sie.
»Wer sonst würde so etwas tun?«
»Aber ich bin kein Katholik!« rief der Junge in gebrochenem
Englisch. »Ich bin Protestant. Hugenotte.«
Die Hugenotten, 1572 von einem frommen französischen König zu
Tausenden hingemetzelt, waren eine Generation lang durch das Edikt
von Nantes geschützt gewesen. Doch immer noch waren diese frommen
französischen Calvinisten ständigen Einschränkungen unterworfen,
und ein nicht sehr starker, aber stetiger Strom von Hugenotten war
nach England gekommen, wo es ihnen erlaubt war, diskret ihre
Religion auszuüben.
Der junge Bursche war nicht älter als siebzehn; ein schlanker,
intelligent aussehender Junge, dessen auffälligster Zug seine
Brille war, durch die er kurzsichtig auf seine Angreifer
spähte.
»Du bist Protestant?« fragte Carpenter.
»Ja, ich schwöre es«, antwortete der Junge.
O Be Joyful faßte Mut. Er stellte sich vor den Jungen und
erklärte den Angreifern: »Ich bin O Be Joyful Carpenter. Mein Vater
Gideon hat mit Cromwell gekämpft, und dieser Junge teilt unseren
Glauben. Laßt ihn in Ruhe, oder ihr müßt erst gegen mich kämpfen.«
Er war sich nicht sicher, was passiert wäre, wenn nicht eine
Patrouille von Yorks Männern in Sicht gekommen wäre. Widerstrebend
zogen die Jugendlichen ab.
»Wo wohnst du?« fragte O Be Joyful.
»Unten beim Savoy-Palast, Sir«, antwortete der junge
Hugenotte. Es gab dort eine kleine Gemeinde französischer
Protestanten. Carpenter bot ihm an, ihn zurückzubegleiten. »Du bist
noch nicht lange hier?« fragte er.
»Ich bin gestern gekommen, um hier bei meinem Onkel zu wohnen.
Ich bin Uhrmacher.«
»Aha. Wie heißt du?«
»Eugene, Sir. Eugene de la Penissiere.«
»De la was?« O Be Joyful schüttelte den Kopf. »Das kann ich
mir nie merken«, gestand er. »Ich glaube, du fährst besser, wenn du
dich Penny nennst.«
»Eugene Penny?« Der junge Bursche überlegte zweifelnd. »Ihr
habt mir das Leben gerettet, Sir; Ihr seid ein sehr mutiger Mann.
Wenn Ihr sagt, ich soll ›Penny‹ heißen, alors, Penny. Und wo
kann ich Euch finden, Sir, damit ich Euch meinen Dank demnächst
angemessen ausdrücken kann?«
»Nicht nötig. Mein Haus ist ohnehin abgebrannt. Aber ich heiße
O Be Joyful Carpenter; ich bin Holzschnitzer.«
Beim Savoy-Palast trennten sich die beiden Männer. »Wir werden
uns wieder begegnen«, versprach Eugene.
Immer noch wütete die Feuersbrunst. St. Paul's war nur noch
eine riesige schwarze Ruine; ebenso die Guildhall, Blackfriars,
Ludgate. Am Dienstag abend und Mittwoch breitete sich der Brand
sogar noch außerhalb der Stadtmauer aus, Holborn und Fleet Street
entlang. St. Bride's brannte nieder. Erst am offenen,
grasbewachsenen Gelände um den Temple stießen die Flammen auf eine
Feuerschneise, die sie nicht überwinden konnten. Im Osten rettete
eine riesige Schneise, die der Herzog von York gehauen hatte, den
Tower von London. Abgesehen davon und einer kleinen Zahl anderer
Ausnahmen war die mittelalterliche Stadt innerhalb ihrer Mauern
völlig zerstört.
Für zwei Menschen hatten Pest und Feuersbrunst zudem zu einer
inneren Krise geführt. Doktor Meredith war nach der Pestepidemie
von einem tiefen Gefühl des Versagens erfüllt. Seine einzige Rolle,
gestand er offen ein, war es gewesen, den Sterbenden Trost zu
spenden. Seine Arzneien waren nutzlos, das wußte er. »Ich könnte
ebensogut versuchen, ihre Seelen zu retten«, folgerte er. »Ich
werde die Weihen empfangen und Geistlicher werden, so wie es
ursprünglich meine Absicht war.« Dabei hielt ihn nichts davon ab,
zugleich seine medizinischen Studien fortzusetzen. Gott sei Dank
gab es immer noch die Royal Society.
O Be Joyful war nach der Feuersbrunst verzweifelt. Nachdem er
sich von Eugene getrennt hatte, war er weiter herumgelaufen und
hatte den Brand betrachtet, und die Worte des Jungen hallten wie
Spott in seinen Ohren wider. »Ein mutiger Mann«, in der Tat. Es
hatte keinen Sinn, sich vorzumachen, daß Marthas Tod unvermeidbar
gewesen war, sagte er sich. »Ich hatte sie herunterholen und retten
können. Aber aus Furcht und Feigheit habe ich sie verbrennen
lassen.« War er der Sohn Gideons, Marthas spiritueller Erbe? Nein.
Er war unwürdig.
Und was war aus ihrer Vision von der leuchtenden Stadt
geworden? Alles war zerstört!
Die Mediziner sind immer noch geteilter Meinung, warum die
Pest nach der großen Feuersbrunst kaum mehr nach London zurückkam.
Auch die Ursachen des Brandes blieben umstritten. Die meisten
Londoner hielten die Katholiken für die Schuldigen. Maßvoller war
die Ansicht des Parlamentsausschusses, der bald danach aufgefordert
wurde, Bericht über den Großbrand zu erstatten. Die Schuld,
schlußfolgerte der Ausschuß, könne nicht irgendwelchen Ausländern
oder den Katholiken zugeschoben werden. Die Feuersbrunst von
London, hieß es unmißverständlich, sei höhere Gewalt gewesen. Die
Flamme Gottes.