LAVENDELHÜGEL
1819
ALS DIE KUTSCHE von Dover nach London über die lange gerade
Straße des Shooter's Hill kam, mußte sich der junge Mann auf dem
Kutschbock zweimal den Staub von der Brille wischen. Er wollte sich
nichts entgehen lassen. Gespannt und aufgeregt war der
achtzehnjährige Eugene zum erstenmal auf dem Weg nach London. Als
sie das Ende des Shooter's Hill erreicht hatten und unter sich die
Metropole sahen, spiegelte sein Gesichtsausdruck zuerst Erstaunen
und schließlich, als sie den Abhang hinunterfuhren, Entsetzen
wider. »Das ist London?« rief er, und der Kutscher lachte.
Sucht man nach einer Zeit, in der die
Zivilisation den Glanz des alten Rom übertraf, müßte man in der
englischsprachigen Welt sicherlich die Epoche unter Georg III.
nennen. Nominell war es eine lange Regierungszeit, von 1760 bis
1820, die zwei wesentliche Ereignisse umspannte, doch wurde der
König, der unter dem erblichen Enzymdefekt Porphyrie, einer
schweren Stoffwechselstörung, litt, über lange Zeiträume hinweg für
geistig unzurechnungsfähig erklärt.
Ganz und gar römisch geprägt waren die dreizehn amerikanischen
Kolonien, die 1776 ihre Unabhängigkeit von der britischen Kolonie
erklärten. Selbst jene Staaten, die anfangs noch eine Zuflucht für
religiös Verfolgte waren, hatten sich zu Gesellschaften entwickelt,
die den Stadtstaaten der unabhängigen Bauern und Kaufleute, die den
Kern der frühen Macht Roms gebildet hatten, ähnlich waren. Der
stoische General Washington sah aus wie ein Patrizier, hatte eine
Landvilla in Mount Vernon, Tausende Hektar Land und verhielt sich
wie ein römischer Adliger. Auch die Väter der Verfassung mit ihrem
gewählten Kongreß und dem elitären Senat waren zumeist von der
klassischen Antike geprägt. Die meisten der neuen amerikanischen
Staaten ahmten die Bräuche der römischen Republik auch mit ihrer
massiven Sklavenhaltung nach.
Der Umbruch durch die französische Revolution ein Dutzend
Jahre später orientierte sich offen am Vorbild Roms. Die
Revolutionäre nahmen, inspiriert von der Aufklärung als dem Triumph
der antiken Vernunft über die mittelalterliche Tyrannei und den
Aberglauben der katholischen Monarchie, zahlreiche Attribute des
römischen Zeitalters an. Die Untertanen hießen nun »Bürger« wie
einst die freien Römer. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
fanden einen neuen Verfechter in Napoleon, der seine Armeen unter
römischen Adlern marschieren ließ, Frankreich und einem großen Teil
Europas Gesetze nach römischem Recht gab und dessen gefragte
Künstler, Möbeltischler und Handwerker den Empirestil, inspiriert
vom römischen Imperium, entwickelten.
Auf der britischen Insel vollzog sich die Renaissance der
römischen Welt auf eher pragmatische Weise. Vor der Herrschaft
Georgs III. übertrafen die prachtvollen klassizistischen Plätze
Londons und die palladianischen Landsitze des Adels sicher jene des
römischen Britanniens. Solche Annehmlichkeiten wie öffentliche
Bäder und Zentralheizung waren noch nicht wieder eingeführt, doch
ein Merkmal der Römerzeit, das viel dazu beitrug, Ordnung in die
barbarische Welt zu bringen, kam wieder – im wörtlichen Sinn – an
die Oberfläche: das Straßennetz. Zur Römerzeit hatte ein System von
Straßen die Insel wie ein Knochengerüst aus Stein durchzogen.
Vernachlässigt und überwuchert, waren die meisten dann in
Vergessenheit geraten. Während der langen finsteren Jahrhunderte
bis zu den modernen Stuarts und frühen Hannoveranern waren die
Straßen kaum mehr als prähistorische Wege und zerfurchte
angelsächsische Fahrspuren gewesen. Die alte Straße durch Kent von
Dover und Canterbury war in Gebrauch geblieben, aber der frühere
Schotterbelag war so tief vergraben, daß selbst sie nicht mehr als
ein Karrenweg war.
All das hatte sich nun verändert. Die Mautstraßen des
achtzehnten Jahrhunderts gehörten privaten Kartellen und
Kapitalgesellschaften und sollten Profit einbringen. Dies taten sie
mit solchem Erfolg, daß sie innerhalb einer Generation den größten
Teil des Landes überzogen. Manchmal folgten sie einer geraden
römischen Route, öfter einem kurvigen angelsächsischen Pfad. Ihre
Oberflächen waren eben und hart genug, daß eine Kutsche ein
schnelles, konstantes Tempo beibehalten konnte. Reisen, die früher
ein oder zwei Tage gedauert hatten, brachte man nun in ein paar
Stunden hinter sich. Unternehmer mit einem Park schneller Kutschen
transportierten Post und Leute von den Londoner Postgaststätten in
die entferntesten Teile des Landes. Plötzlich war die immer mehr
wachsende Hauptstadt für jede andere Stadt des Königreichs
erreichbar. Es war sowohl die Rückkehr Roms als auch der Beginn des
modernen Zeitalters.
Der Anblick, der nun vor Eugene lag, war ganz und gar nicht
das, was er erwartet hatte. Die Metropole London war unter der
Herrschaft Georgs III. weiter gewachsen, vor allem nördlich der
Themse; Southwark am Südufer hatte sich nur bescheiden ausgedehnt.
Trotz Häuserreihen entlang den Straßen zur Westminster Bridge
bestand das große Kirchspiel Lambeth, westlich von Southwark, immer
noch hauptsächlich aus Obst- und Gemüsegärten und ein paar
vereinzelten Holzlagerplätzen am Ufer. In den alten Dörfern
Battersea und Clapham weiter flußaufwärts waren ein paar schöne
Villen und Gärten hinzugekommen, die wohlhabenden Kaufleuten und
Gentlemen gehörten. Schmutzige Backsteinhäuser standen in den
Ufergegenden von Bermondsey und Rotherhite unterhalb Southwarks,
danach kam bald offenes Marschland. Noch weiter flußabwärts war das
Dorf Greenwich mit seinen großen weißen Palästen nahezu
unverändert. Daß sich die mächtige Stadt auf der anderen
Themseseite wie ein ungestümer Koloß ausbreitete, konnte Eugene im
Augenblick allerdings nicht sehen. »Das ist der Londoner Nebel«,
erklärte der Kutscher.
Er lag über der Stadt wie eine dunkelgraue Dunstglocke. Als
sie nach Southwark kamen, war der Himmel dunkel, und die Häuser
lagen in einem öligen, grünlichen Dampf, den ihre Laternen nur mit
einem leisen orangefarbenen Schimmer durchdrangen; und als sie die
High Street erreichten, konnte Eugene nicht einmal mehr die Köpfe
der Leitpferde sehen.
Penny hatte von seinem Vater die Anweisung bekommen, sobald er
in London angekommen sei, solle er sofort zu seinem Paten Jeremy
Fleming gehen. Da der Nebel dies im Augenblick unmöglich machte,
beschloß Eugene, die Nacht über im »George Inn« zu bleiben. Er war
dennoch guter Dinge. Diese Unannehmlichkeit würde den Beginn seines
neuen Lebens nur um ein paar Stunden verzögern. Eugene wußte nicht,
daß der Nebel über London ein fester Bestandteil des neuen Lebens
war, das er suchte. Denn kaum hatte England das Niveau seiner
römischen Vergangenheit wieder erreicht, zeichnete sich bereits der
große Aufschwung ab, den man die industrielle Revolution
nennt.
Oft wird angenommen, die industrielle Revolution Englands habe
aus riesigen Fabriken bestanden, in denen eine Armee von
Unterdrückten arbeitete; und im Norden und in den Midlands gab es
auch solche große Eisenschmieden, dampfgetriebene
Baumwollspinnereien und Kohlebergwerke, in denen Kinder unter Tage
arbeiteten. Aber die führende Kraft der industriellen Revolution in
England war der traditionelle Handel mit wollenem Tuch, gefolgt von
billiger Baumwolle aus Manufakturen. Obwohl mechanische Spinn- und
Webmaschinen einen enormen Aufschwung ermöglichten, waren diese
Manufakturen zumeist kleine Ausbeuterbetriebe. Sie alle benutzten
Kohle; und aus den Kaminen der Stadt drang so viel Rauch und Ruß,
daß die dunklen Dämpfe bei entsprechender Wetterlage wie eine Decke
über London lagen und die unteren Dämpfe am Entweichen hinderten;
wenn dann noch Nebel aufkam, entstand dieser erstickende,
undurchdringliche Horror, in dem die Menschen ihre Gesichter
verhüllen mußten – der berüchtigte Londoner Smog, die
Waschküche.
Im warmen Lichtschein der größten Gaststube des »George Inn«
konnte Eugene den Nebel vergessen. Der Wirt brachte ihm eine
Steak-Kidney-Pie und eine Flasche Porter, wie das dunkle Bier oft
genannt wurde. Neugierig betrachtete Eugene die Gesichter um sich
herum. Da es eine Postgaststätte war, sah man hier alle Arten von
Reisenden – Kutscher in ihren dicken Mänteln, Kaufleute, zwei
Anwälte, einen Geistlichen, kleine Ladeninhaber.
Gegen neun Uhr kam eine seltsame Gestalt herein, bestellte
sich einen Krug Porter und setzte sich allein in eine Ecke der
Gaststube. Einen Augenblick lang verstummten die Gespräche. Er war
klein, aber sehr kräftig gebaut und bewegte sich mit mürrischer
Schwerfälligkeit. Sein dicker Rock war von unbestimmbarer Farbe,
auf dem Kopf trug er einen formlosen schwarzen Hut, dessen Krempe
seine buschigen schwarzen Brauen berührte. Unter den großen,
unfreundlichen Augen lagen dunkle Ringe, und insgesamt machte er
einen bedrohlichen Eindruck.
Ob aufgrund seiner fahlen Hautfarbe oder der seltsamen Hand
mit den feinen Schwimmhäuten, die den Krug hielt – Eugene kam es
vor, als sei die Erscheinung aus dem dunklen Fluß selbst
aufgetaucht.
»Wer ist das?« fragte er den Wirt.
»Der?« erwiderte der Mann mit einem Blick voller Abscheu. »Er
heißt Silas Dogget.«
»Was macht er?« erkundigte sich Penny weiter.
»Das brauchen Sie nicht zu wissen«, erklärte der andere und
sagte nichts weiter.
Es sah aus, als würde sich ein Aufstand
bilden. In der Morgendämmerung hatte der Wind den Nebel
fortgeblasen; nur ein kleiner Rest von Ruß war noch übrig. Etwa
vierhundert Menschen hatten sich vor dem schönen Haus am Fitzroy
Square versammelt, um die schockierende Botschaft zu hören.
»Glauben wir«, rief der Mann aus dem Fenster im Obergeschoß,
»an die Brüderlichkeit der Menschen?« Die Menge bestätigte das mit
einem Aufschrei. »Erkennt ihr an, frage ich, erkennt ihr an, daß
jeder Mensch Rechte hat? Gibt es nicht die Menschenrechte? Und
schließen diese unveräußerlichen Rechte nicht auch dies ein«
– die nächsten Worte stieß er hervor wie einen Trommelwirbel:
»No taxation without re-present-a-tion? Keine
Besteuerung ohne Vertretung?« Zachary Carpenters kleine,
untersetzte Gestalt und sein runder Kopf hüpften förmlich auf und
ab.
Es mag seltsam erscheinen, daß diese Worte, direkt aus der
Feder Thomas Paines, des großen Propagandisten der amerikanischen
Revolution, auf einer Straße in London proklamiert wurden. Aber
Engländer im Mittelalter hatten zur Zeit der Aufstände Wat Tylers
dasselbe gesagt, und viele Zeitgenossen hatten Großväter, die sich
noch an die Levellers aus dem großen englischen Bürgerkrieg
erinnern konnten. Das freie House of Commons, die Puritaner, die
Rundköpfe, die nun unabhängigen Amerikaner und die radikalen
Engländer waren alle demselben alten Drang nach Freiheit
entsprungen. König Georg III. mochte wütend sein, weil die
Amerikaner sich von der Krone losgesagt hatten, aber viele seiner
einfachen Untertanen hatten Paine gelesen und empfanden Sympathie
für die mutigen Kolonisten.
»Tausche ich mich«, fragte Zachary nun die Menge, »oder hat
das Parlament die Sklaverei abgeschafft?«
Die Menge versicherte ihm, daß er recht hatte. 1772 war in
England die Sklaverei abgeschafft worden, und dank Reformern wie
William Wilberforce war der Sklavenhandel seit kurzem selbst in
Großbritanniens weit entfernten Besitzungen in Übersee
verboten.
»Warum werden wir dann hier, im Kirchspiel von St. Pancras,
nicht besser als Sklaven behandelt?« rief Carpenter. »Warum werden
freie Männer von einer Tyrannei niedergetreten?«
Carpenters Anklage war vollkommen berechtigt. Die alte
Kontroverse darüber, wer die Kirchspielversammlung kontrollieren
solle, war immer noch nicht entschieden. Das alte Gebiet der
fünfundzwanzig Stadtbezirke wurde immer noch vom Mayor, von den
Aldermen und den nun eher dekorativen Gilden regiert, die immer
größer werdende Metropole hatte jedoch keine zentrale Verwaltung.
Es waren die Kirchspiele, die für Ordnung sorgten, die Straßen
pflasterten und für die Armen und Kranken aufkamen. Und daher
erhoben die Kirchspiele auch Steuern.
St. Pancras war ein sehr großes Kirchspiel. Seine Grenze
verlief von Holborn aus über eine Meile westwärts; von dieser Linie
aus erstreckte es sich über städtische Straßen, Vorstädte, offene
Felder und Dörfer vier Meilen nach Norden hinauf bis zu den Hügeln
von Hampstead und Highgate. Innerhalb dieses Bereichs lebten nun an
die sechzigtausend Menschen, regiert von der Kirchspielversammlung.
Es gab zwei Arten von Kirchspielen. In den einen wurde die
Versammlung zumindest von einem Teil der Haushaltsvorstände
gewählt; »offene« Kirchspiele nannte man sie. In den anderen – eine
Minderheit, aber eine bedeutende – ernannte sich die Versammlung,
deren Zusammensetzung vom Parlament festgelegt wurde, selbst, ohne
irgendeine Beteiligung der Kirchspielangehörigen; das waren die
»geschlossenen« Kirchspiele. In diesem Jahr 1819 war das große
Kirchspiel St. Pancras, das offen gewesen war, dank einer mächtigen
Adelsclique vom Parlament in ein geschlossenes verwandelt
worden.
»Das ist eine Ungerechtigkeit!« donnerte Carpenter.
Zachary Carpenter war eine bekannte Gestalt. Er war
Möbeltischler, und zwar ein guter. Er war Lehrling bei der Firma
Chippendale gewesen, hatte kurze Zeit als Geselle für Sheraton
gearbeitet und sich dann mit der Herstellung zierlicher
Schreibsekretäre, die man Davenports nannte, selbständig gemacht.
Wie viele Kunsttischler arbeitete er im Kirchspiel von St. Pancras,
wo er eine Werkstatt mit drei Gesellen und zwei Lehrlingen hatte;
und wie viele Handwerker und Kleinunternehmer war er ein
leidenschaftlicher Radikaler.
Er war achtzehn, als die Französische Revolution begann,
einundzwanzig, als Thomas Paines Streitschrift Die Rechte
des Menschen mit der Forderung »ein Mann, eine Stimme«
veröffentlicht wurde. Innerhalb einer Woche hatte er sie gelesen
und sich der Londoner Corresponding Society angeschlossen, deren
Abhandlungen und Zusammenkünfte bald ein Forum für Radikale in ganz
England bildeten. Mit fünfundzwanzig begann er sich einen Ruf als
Redner zu erwerben. »Und ist dieses Kirchspiel nicht ein Beispiel
für die große Ungerechtigkeit in jedem Wahlkreis in Britannien«,
rief er aus, »wo freie Männer kein Stimmrecht haben und die
Parlamentsmitglieder nicht vom Volk, sondern von einem Grüppchen
von Adligen gewählt werden? Es ist Zeit, dieser Schande ein Ende zu
machen. Es ist Zeit, daß das Volk regiert.« Nach dieser Anstiftung
zur Revolution trat er unter heftigem Beifall zurück ins
Haus.
Seltsam war, daß diese Szene am Fitzroy Square stattfand,
einer der vornehmsten, im Südwesten gelegenen Gegenden des
Kirchspiels. Noch seltsamer war, daß neben Carpenter der Eigentümer
des Hauses stand und die ganze Zeit zustimmend nickte –
ausgerechnet dieser Inbegriff eines Aristokraten, der Earl of St.
James persönlich.
Siebzig Jahre war es nun her, daß Sam ein Earl geworden war.
Während seine Kindheit verging, hatte er seine frühen Jahre in
Seven Dials allmählich vergessen. Sein Stiefvater Meredith hatte
ihm so oft gesagt, er sei gerettet worden und nehme wieder den Rang
ein, der ihm zukomme, daß er es schließlich glaubte. Als junger
Mann dachte er nicht mehr an Sep. Der Earl of St. James war zu sehr
damit beschäftigt, sich zu amüsieren. Nun amüsierte er sich damit,
seinen radikalen Freund Carpenter zu unterstützen. Als die beiden
in den Raum zurücktraten, warteten zwei Männer auf sie. Lord St.
James verzog ärgerlich das Gesicht.
»Was zum Teufel machst du hier, Bocton?« fragte er
scharf.
Obwohl an der Vaterschaft nicht der leiseste Zweifel bestand,
hätte man nie geglaubt, daß der Earl und Lord Bocton Vater und Sohn
waren. Zwar hatte Bocton wie sein Vater eine weiße Strähne im
dunklen Haar, doch er war groß und mager wie die
Familienangehörigen seiner Mutter. Anders als sein Vater war er
altmodisch gekleidet, nicht in den nun gängigen engen langen Hosen,
sondern in einer Kniehose mit Seidenstrümpfen. Stets trug er einen
dunkelgrünen Rock, was seinen Vater oft zu der Bemerkung
veranlaßte: »Du siehst aus wie eine Flasche.«
Der Earl nickte dem Begleiter seines Sohnes zu. »Wer ist
das?«
»Ein Freund, Vater«, begann Lord Bocton.
»Habe gar nicht gewußt, daß du welche hast«, schnaubte der
Earl. »Wie hat dir die Rede gefallen?« Er wußte sehr gut, daß sie
Lord Bocton überhaupt nicht gefallen hatte. »Bocton ist ein Tory,
wissen Sie«, erklärte er Carpenter.
Unter der Herrschaft Georgs III. gab es drei politische
Richtungen. Die Tories, die Partei der Gutsherren und des Klerus,
waren für König und Vaterland. Da ihr Einkommen in der Regel aus
eher kleinem Grundbesitz stammte, waren sie protektionistisch
gesinnt und verteidigten die Getreidezölle, die den Getreidepreis
künstlich hochhielten. Jeder Art von Reform standen sie mißtrauisch
gegenüber. Der starrsinnige Georg III. ob geistesgestört oder
nicht, war ihnen gerade recht.
Die Whigs wollten den König unter der Fuchtel des Parlaments
halten. Als Partei von Wirtschaft und Handel, immer noch angeführt
von hohen Aristokraten, deren Reichtum oft Beteiligungen an Handel
und Bergbau einschloß, traten sie für Freihandel und gemäßigte
Reformen ein. Es war in ihren Augen absurd, daß eine Handvoll
Wähler aus einem Bezirk ein Mitglied ins Parlament entsenden
konnte, während manche wachsenden Industriestädte überhaupt keine
Vertretung hatten. Die Whigs standen auch den Nonkonformisten, den
Juden und zum Teil sogar den Katholiken, die unter der alten
Test-Akte immer noch keine öffentlichen Ämter ausüben konnten,
wohlwollend gegenüber.
Und es gab noch eine dritte politische Gruppe – einige
radikale Whigs, die sich vehement für Reformen, Toleranz und
Redefreiheit aussprachen. Ihr Anführer war Charles James Fox –
leichtlebig und verschuldet, aber ein großer Redner, wie selbst
seine Gegner einräumten. Wenn Fox sich im House of Commons
ereiferte, wußte er, daß er im House of Lords stets auf die Stimme
des Earl of St. James zählen konnte, während er in Lord Bocton
einen jüngeren, aber unversöhnlichen Feind hatte.
»Da Sie fragen, Vater«, antwortete Bocton nun, »ich halte die
Rede für unklug. Wir sollten das Volk nicht aufwiegeln.«
»Fürchten Sie eine Revolution, Mylord?« erkundigte sich
Zachary.
»Natürlich.«
»Und Sie fürchten sich vor dem Volk?« fuhr der Radikale
fort.
»Das sollten wir alle, Mr. Carpenter«, entgegnete Bocton.
»Meine unmittelbare Befürchtung ist, daß Sie und mein Vater dabei
sind, einen Aufruhr zu provozieren.«
Es gab guten Grund zu dieser Befürchtung. Das Ende der
Napoleonischen Kriege vier Jahre zuvor mochte Europa Frieden
gebracht haben, aber sicher nicht Ruhe und Ordnung im eigenen Land.
Eine große Zahl zurückgekehrter Soldaten war immer noch ohne
Arbeit; die Textilindustrie mußte sich darauf einstellen, daß sie
keine Großaufträge mehr für Uniformen bekam; die Getreidepreise
waren hoch. Natürlich gab man der Regierung die Schuld, und viele
glaubten den Radikalen, die ihnen sagten, daß all ihre Probleme von
einer korrupten Aristokratenclique, die das Land regierte,
verursacht wurden. Es hatte vereinzelte Aufstände gegeben; die
Regierung war beunruhigt. Erst vor ein paar Wochen waren bei einer
Versammlung in Manchester berittene Soldaten in die Menge gestürmt,
mehr als ein Dutzend Menschen wurden getötet. Der Vorfall ging als
Massaker von Peterloo in die Geschichte ein, und seither war jede
öffentliche Versammlung spannungsgeladen.
»Ich verstehe nicht, wie Sie so etwas in Ihrem Haus zulassen
können, Vater«, beschwerte sich Lord Bocton.
»In Wirklichkeit meint mein Sohn«, erklärte St. James
Carpenter, »daß in diesem Haus keine Radikalen wären, wenn es
ihm gehörte. Und er versteht vor allem nicht, daß ich immer
noch hier bin – er meint, ich hätte nun schon zu lange gelebt. Nach
meinem Tod bekommt nämlich er das Geld.«
»Ich denke nicht an das Geld, Vater.«
»Schon gut. Geld ist dazu da, um es zu genießen, und
vielleicht gebe ich noch alles aus. Wußtest du, Bocton, daß ich
nächstes Jahr ein neues Haus bauen lasse? Am Regent's Park.«
Während der Phasen, in denen König Georg III. geistesgestört
war, regierte sein Erbe als Prinzregent. Die letzte Phase dauerte
so lange, daß sie als Epoche der Regency in die Geschichte
einging, und im Stil des von dem Regenten favorisierten Architekten
Nash wollte nun auch der Earl ein neues Domizil.
»Sie haben nicht nur einen Sohn, sondern auch einen Enkel zu
berücksichtigen«, warf Lord Bocton ihm vor. Bei der Erwähnung
seines Enkels blickte der Earl milder. Der junge George war etwas
anderes. »Sind Sie überdies nicht ein wenig zu alt, um sich mit
einem solchen Umzug zu belasten?« fuhr Lord Bocton fort.
»Keineswegs«, erwiderte sein Vater freundlich. »Ich werde
hundert Jahre alt. Du wirst dann schon über siebzig sein.« Er sah
aus dem Fenster. »Kein Aufstand«, bemerkte er. »Du kannst nach
Hause gehen.«
Draußen wandte sich Lord Bocton an seinen Begleiter. »Was
meinen Sie, Mr. Silversleeves?«
Dieser schüttelte den Kopf. »Ein interessanter Fall, Mylord.
Vermindertes Verantwortungsgefühl; Größenwahn – glaubt, er wird
hundert Jahre alt – ; Geschäftsunfähigkeit – will sein ganzes Geld
verschwenden. Und seine radikalen Neigungen… das wird schließlich
zu Geistesgestörtheit führen.«
»Sie werden ihn also unter Verwahrung nehmen können?« fragte
Bocton.
»Oh, sicher, Mylord. Früher oder später.«
Mr. Cornelius Silversleeves war der stellvertretende Vorsteher
des Bethlehem Hospital, das vor kurzem in ein neues Gebäude in
Southwark umgezogen war. Im Volksmund wurde es Bedlam
genannt.
Penny hatte Glück mit seinem Paten. Jeremy
Fleming wohnte in einem hübschen alten Haus in einer Seitenstraße
der Fleet Street, wo die Konditorei seines Großvaters gewesen war.
Er war Witwer, seine Kinder verheiratet, und so freute er sich,
Gesellschaft zu bekommen, und versicherte Eugene, er könne in
seinem Haus leben, so lange er wolle. Und er war zuversichtlich,
was Eugenes Aussichten betraf, in der Finanzwelt Arbeit zu finden,
denn während seiner lebenslangen Arbeit als hochangesehener
Angestellter der Bank von England hatte er ein enzyklopädisches
Wissen über die Londoner City erworben.
Am ersten Tag zeigte Fleming Eugene den Tower und St. Paul's;
am zweiten besichtigten sie Westminster und das Westend. »Heute
beginnen wir mit deiner Ausbildung«, erklärte Fleming am dritten
Tag. In einer Mietkutsche ließen sie sich nach Greenwich fahren.
Ein frischer Ostwind wehte, und die Stadt hinter ihnen und die
weite Flußbiegung lagen unter einem klaren blauen Himmel. Doch
Fleming lenkte Eugenes Aufmerksamkeit auf eine Reihe von
Wasserbecken, die sich wie riesige Teiche neben dem Fluß
ausbreiteten. »Dort bei Wapping ist London Dock; links davon Surrey
Dock; gegenüber ist die Westindiengesellschaft, ein bißchen weiter
die Ostindiengesellschaft.«
In den letzten zwanzig Jahren hatte sich der Fluß verändert.
Der Pool von London unterhalb des Towers war als Hafen so
überlastet gewesen, daß etwas getan werden mußte. So hatte man in
dem Sumpfland am Fluß ein Hafenbecken- und Kanalsystem angelegt und
Kais und Fahrdämme gebaut. Es war der Beginn der gigantischen
Anlage der Londoner Docklands, die notwendig wurden, je mehr sich
das britische Empire zu einem Handelsimperium entwickelte: Zucker
von den karibischen Inseln, Tee aus Indien – nach einigen
brillanten Feldzügen herrschte England über große Teile dieses
Subkontinents – und dazu der ausgedehnte Handel mit Europa,
Rußland, Süd- und Nordamerika. Während der vergangenen hundert
Jahre hatte sich London von einem wichtigen Hafen zur größten
Handelsmetropole der Welt entwickelt.
»Nur unsere Marine macht das möglich«, erklärte Fleming.
Nach zwei Jahrhunderten der Auseinandersetzung mit Spanien,
Holland und Frankreich hatten die Schiffe, die in König Heinrichs
Werft bei Deptford ausgerüstet wurden, die englische Vorherrschaft
auf den Meeren bekräftigt. Königin Elisabeths Freibeuter hatten
Englands Handelsimperium begründet, Nelson und seine Nachfolger
hatten es gesichert.
Ob der amerikanische Unabhängigkeitskrieg den Handel
beeinträchtigt hatte, wollte Eugene wissen. Fleming zuckte die
Achseln. »Nicht besonders. Im Grunde ist der Handel wie ein Fluß.
Man kann versuchen, ihn einzudämmen, aber in der Regel sickert er
durch. Eine Zeitlang war Tabak das große Geschäft, jetzt ist es
Baumwolle. Dort wird sie angebaut, hier verarbeitet. Der Handel
geht weiter.«
»Aber nicht immer«, meinte Eugene. Als Napoleon während der
langen Auseinandersetzungen in fast ganz Europa seine
Kontinentalsperre gegen England verhängt hatte, waren nur noch
Schmuggler durchgekommen.
»Richtig«, stimmte Fleming zu, »aber dank unserer Seemacht
konnten wir diese Flaute anderswo ausgleichen. Asien und Südamerika
sind nun die aufstrebenden Märkte. Aber etwas konnte auch Napoleon
nicht kontrollieren, Eugene – Geld. Während er Europa auf den Kopf
gestellt hat, beeilte sich jeder, der Geld hatte, es zu Londoner
Banken zu schicken – sogar die Franzosen! Der Korse hat uns zum
Finanzzentrum der Welt gemacht!«
Am folgenden Nachmittag ging Fleming mit Eugene durch
Cheapside zur Poultry. Vor ihnen, am Fuß von Cornhill, ragte die
imposante Fassade der Londoner Börse auf; rechts stand ein
prachtvoller klassizistischer Bau. »Das ist das Mansion House, der
offizielle Sitz des Lord-Mayors«, erklärte Fleming. »Zu Lebzeiten
meines Vaters erbaut.« Dann deutete er auf eine langgestreckte,
schmucklose Mauer links von der Börse, durch die Threadneedle
Street von ihr getrennt. »Das ist die Bank von England.«
Ehrfürchtige Verehrung lag in seinem Ton.
Seit ihrer Gründung als Aktiengesellschaft in der ehemaligen
Gildehalle der Mercer hatte die Bank von England alle Rivalen
überdauert. Immer wieder, wenn England Krieg führte, hatte sie die
Mittel bereitgestellt. Sie hatte der Regierung über jede Krise
hinweggeholfen; ihre Angestellten verwalteten fast den gesamten
Staatshaushalt, bezahlten Armee und Marine und hatten sogar die
Aufsicht über die staatliche Lotterie. Obwohl die Bank
genaugenommen eine private Gesellschaft war, war sie in der Praxis
ein Teil des Staates geworden. »Ihre Rücklagen sind so hoch und
werden so sorgfältig verwaltet, daß sämtliche Geldinstitute und
Handelsunternehmen in London sich an sie wenden, wenn sie Kapital
brauchen«, fuhr Fleming fort. »Die Bank hat sämtliche
Handlungsvollmachten; als einzige Bank in London hat sie die
Konzession, Banknoten in Umlauf zu bringen. Geld muß stabil sein,
und diese Stabilität hat die Bank durch Vorsicht erreicht.«
Eugene wollte ihm gerade höflich für diese Informationen
danken, doch Fleming fuhr fort: »Ich habe noch eine Neuigkeit für
dich, Eugene. Dank eines alten Freundes konnte ich dir eine Stelle
sichern. Eine Stelle in der Bank von England. Sicherheit fürs
Leben, Eugene!«
Eugene mußte sich rasch eine Antwort einfallen lassen. Er war
ehrgeizig und wie seine hugenottischen Vorfahren sehr beharrlich.
»Das Problem ist«, sagte er, »daß ich etwas anderes im Sinn hatte.
Ich bin hergekommen, um hier mein Glück zu machen.«
»Ah.« Jeremy Fleming verstummte einen Augenblick.
Als sie nach Hause gingen, befürchtete Eugene, daß Fleming
gekränkt sein könnte, aber als sie beim Abendessen saßen,
erkundigte sich sein Pate ruhig: »Hast du ans Börsenmakeln oder an
eine der Privatbanken gedacht?« Eugene war überrascht. Fleming
schien über den Unternehmungsgeist seines Patensohnes fast erfreut,
und er begann, die Vor- und Nachteile verschiedener Firmen zu
erörtern. »Ich glaube, bei den Maklern sind die Unternehmen der
Quäker am solidesten, aber vermutlich hast du keine Lust, Quäker zu
werden. Dann gibt es natürlich die Baring-Bank – äußerst
distinguiert, aber da du keine besonderen Beziehungen hast, ist das
wohl schwierig. Die Rothschild-Bank ist rein in Familienhand. Was
du brauchst, denke ich, ist ein aufstrebendes kleines Unternehmen,
das in allen neuen Märkten engagiert ist. Laß mir ein oder zwei
Tage Zeit, um mich umzuhören.«
Während der folgenden Tage erklärte Fleming Eugene die
Funktionsweise der Märkte, die Denkweise der City und ihre
Gepflogenheiten und beschrieb fast mit Wonne die übelsten Tricks
der Händler. »Es erstaunt mich, daß du nie selbst Geschäftsmann
geworden bist«, äußerte Eugene.
Fleming lächelte. »Ich habe einmal davon geträumt. Aber ich
hatte nicht genügend Mut. Übrigens, morgen hast du ein
Einstellungsgespräch.«
Das Bankhaus Meredith war ein hohes Backsteingebäude in einem
schmalen Hof, in den man durch eine kleine Seitenstraße vom
Cornhill kam. In einem komfortablen Empfangsraum im ersten Stock
fand sich Eugene einem gutaussehenden Gentleman in den Dreißigern
gegenüber, der sich als Mr. Meredith vorstellte, und in einem
Ohrensessel daneben saß ein wesentlich älterer Gentleman.
Meredith plauderte liebenswürdig über sein Geschäft, bevor er
sich nach Eugenes Familie erkundigte. Als Penny seine hugenottische
Herkunft erklärte, schien Meredith sehr zufrieden. »In der
Finanzwelt gibt es viele Hugenotten, und sie machen sich gut«,
bemerkte er. »Ich erwarte, daß Sie hart arbeiten.« Eugene
versicherte ihm das. »Wenn Sie aufsteigen wollen, hängt das davon
ab, wie nützlich Sie sich machen können.«
Meredith fuhr fort, ihm einige Fragen zu stellen, um zu sehen,
was Eugene von den Regeln der Finanzwelt verstand, und dank der
Unterweisung durch seinen Paten konnte Eugene sie auch beantworten.
Am Ende des Gesprächs mischte sich plötzlich der alte Mann ein.
»Was denkt er über den Freihandel?« fragte er.
Die Frage kam so abrupt, daß Eugene fast zusammenzuckte. »Lord
St. James möchte Ihre Ansicht über den Freihandel kennenlernen«,
soufflierte Meredith.
Von Fleming wußte Eugene, wer der alte Mann war und wie seine
Antwort lauten mußte. »Ich stimme mit den Whigs im Prinzip für den
Freihandel, zum größeren Wohl der Menschen, doch solange unsere
Handelskonkurrenten ihn nicht auch einführen, brauchen englische
Kaufleute wohl hier und da etwas Schutz.« Das war genau die Ansicht
der Whig-Anhänger unter den Kaufleuten und Finanzmännern: Sie waren
alle für den Freihandel – solange er ihnen zupaß kam.
Doch anscheinend wollte der Earl sich noch weiter auf Eugenes
Kosten amüsieren. »Was ist mit dem Goldstandard, junger Mann?«
bellte er. »Wie denken Sie darüber?«
Wenn es im Jahr 1819 ein Thema gab, das in der City und im
Parlament die Gemüter erhitzte, dann war es die Goldfrage. Wenn
Banknoten ausgegeben wurden, entsprachen sie herkömmlicherweise
einer bestimmten Menge an Goldbarren, gegen die sie stets
umgetauscht werden konnten. Das beschränkte die Zahl der Banknoten,
die im Umlauf waren, und hielt die Währung stabil. Doch zu Beginn
des Konflikts mit dem revolutionären Frankreich brauchte die
englische Regierung, vermittelt durch die Bank, so hohe
Geldanleihen – und mußte daher so viele Schuldscheine ausgeben –,
daß die Geldmenge, die am Londoner Markt in Umlauf war, enorm
anwuchs. Am Ende der Napoleonischen Kriege wurden etwa neunzig
Prozent der Staatseinnahmen von Zinszahlungen aufgefressen. Unter
diesen Umständen gab es einfach nicht genug Goldbarren, um alle
Banknoten zu decken, und daher hatte die Bank von England die
Erlaubnis bekommen, Geld zu drucken, das keine Golddeckung mehr
besaß.
Diese Banknoten waren immer noch stabil. Hinter ihnen standen
die große Glaubwürdigkeit der Bank und die Möglichkeit der
Regierung, Geld durch Steuern zu beschaffen. Doch vielen gediegenen
Tories erschien das Ganze wie ein Trick. »Wenn kein Gold hinter der
Währung steht«, betonten sie, »wie können wir diesen Kerlen dann
trauen, daß sie nicht Geldscheine drucken, wann immer es ihnen
paßt?« Sie scherten sich nicht darum, daß sie damit die Integrität
des Schatzkanzlers und der Direktoren der Bank von England
beleidigten. Im Sommer 1819 hatten sie sich durchgesetzt. Das
Parlament erklärte, daß man im Laufe der nächsten paar Jahre zum
Goldstandard zurückkehren werde. Aber dabei gab es eine
Schwierigkeit.
»Gold ist stabil, Mylord«, erwiderte Eugene. »Aber ich glaube,
eine zu plötzliche Rückkehr zur vollen Golddeckung ist gefährlich.
Die Bank muß die Währungsmenge, die im Umlauf ist, reduzieren,
damit sie wieder mit den Goldbarren übereinstimmt. Das bedeutet,
daß die Preise sinken, wenn weniger Geld da ist. Alle Geschäfte
werden dadurch geschädigt. Schlimmer, wenn all dies Geld vom Markt
abgezogen wird, werden viele Kaufleute Schwierigkeiten haben, einen
Kredit zu bekommen, der sie über Wasser hält. Das ganze System
könnte zusammenbrechen.«
Das war genau die Ansicht der City. Rothschild und andere
Bankiers hatten das dem Parlament wiederholt vor Augen geführt. Der
Zusammenbruch, den sie befürchteten, sollte einer späteren Epoche
als klassische Wirtschaftskrise, verursacht durch Verringerung des
Geldvorrats, nur zu bekannt werden.
Eugenes Antwort entlockte dem Earl of St. James nur ein
einziges Wort. »Beachtlich.«
Eugene hatte sich im Gespräch soeben eine Stelle
erobert.
1822
Lucy war vier Jahre alt, als an einem kalten Dezembermorgen
ihr Bruder geboren wurde. Zuerst dachten sie, er werde sterben.
»Wir nennen ihn Horatio«, entschied ihr Vater. »Nach Nelson.«
Vielleicht hofften sie, der Name des Helden werde dem Kind die
Kraft zum Überleben verleihen, und es schien zu funktionieren.
Einen Monat später sagte die Mutter zu Lucy: »Dieses Baby ist auch
deines. Du wirst immer für es sorgen, nicht wahr?« Seither war
Horatio auch ihr Kind.
Tod und Elend waren den Doggets nicht fremd. William, der
Vater der Kinder, war erst drei Jahre alt gewesen, als sein Vater
Sep Dogget, der Feuerwehrmann, beim Einsturz eines brennenden
Hauses umgekommen war. Williams Mutter war Seps zweite Frau und
hatte ihr Bestes getan, um ihn allein großzuziehen. Sein älterer
Halbbruder hatte geholfen, aber nicht viel, da er für seine eigenen
Kinder sorgen mußte. Als junger Mann war William in das Kirchspiel
St. Pancras gekommen, wo er zusammen mit seiner Frau, Lucy und dem
kränkelnden Horatio, den beiden überlebenden von fünf Kindern, drei
Zimmer bewohnte. Nicht einmal die Hälfte aller Kinder in London
erreichte das Alter von sechs Jahren.
Eugene führte bei Meredith ein schönes Leben. Die ersten
beiden Jahre wohnte er in Meredith' Haus und besuchte an den
Wochenenden manchmal seine Eltern in Rochester oder seinen Paten
Fleming. Für Meredith' vier ausgelassene Kinder war er wie ein
älterer Bruder, und insgeheim war er in die hübsche Mrs. Meredith
verliebt. Obwohl das Bankhaus Meredith die Konten einer Reihe von
Landedelmännern führte, machte es, wie die meisten Privatbanken,
sein Geschäft hauptsächlich mit Warenkrediten für Kaufleute im Im-
und Export. Fabrikanten bekamen keine Kredite. Die Unternehmer der
frühen industriellen Revolution brachten ihr Kapital auf, indem sie
von Freunden liehen, manchmal auch mit Hilfe adliger Geldgeber,
aber kaum je durch Banken. Kurzfristige Kredite für Frachten,
Akkreditive, Diskontwechsel – davon lebten kleine Banken wie das
Bankhaus Meredith.
Die Befürchtungen der City wegen des Goldstandards erwiesen
sich als zum Teil berechtigt. Es war weniger Geld in Umlauf,
Kredite waren knapp, die Aktienkurse niedrig. »Wir brauchen neue
Kunden. Seht euch nach Fachhändlern um; die überstehen oft Krisen«,
forderte Meredith seine Angestellten auf. Eugene hatte mehrere
akquiriert, doch der riesige Zuwachs, an dem er seine Bank
beteiligen wollte, kam von den großen Auslandskrediten an die
Regierungen von Frankreich und Preußen und in letzter Zeit auch an
südamerikanische Länder. Dieses lukrative Geschäft, das für eine
Bank allein viel zu groß war, wurde von einem Konsortium
abgewickelt; mehrere Banken übernahmen je einen Anteil, darunter
auch die Bank Meredith.
»Das große Geld machen die Vermittlerbanken, die das Geschäft
einfädeln«, erklärte Meredith, »weil sie auch Gebühren kassieren.«
Führend in diesem Bereich waren die Banken Baring und Rothschild,
da sie es mit ihren internationalen Verbindungen bewerkstelligen
konnten, daß sich Banken in ganz Europa daran beteiligten.
Eugene verlor nie sein Ziel aus den Augen. Was war er wert?
Diese Frage hörte man in der City tagtäglich. Abgesehen von der
bescheidenen Summe, die er eines Tages von seinen Eltern erben
würde, war die Antwort bisher: nicht viel. Dabei gab es zahlreiche
Geschichten über ehrgeizige junge Männer, die sich in weniger als
zehn Jahren Reichtümer erwarben und zu Geschäftspartnern gemacht
wurden. Mit Börsenspekulation konnte man nebenbei etwas Geld
machen, doch mit seinen sehr beschränkten Mitteln wußte er nicht
recht, wie er anfangen sollte. »Termingeschäfte, Eugene«, belehrte
ihn ein befreundeter Börsenmakler. »Ich zeige dir, wie das
funktioniert.«
Es gab einen lebhaften Markt für Termingeschäfte. Statt Aktien
oder Obligationen zu erwerben und zu behalten, konnte man
vereinbaren, sie erst zu einem zukünftigen Datum zu kaufen, was in
der Praxis bedeutete, daß man eine Wette darauf einging, welchen
Preis die Aktie bis dahin haben würde. Wenn man jedoch einen
anderen Käufer fand, konnte man diese Kaufoption zu einem höheren
Preis verkaufen und den Gewinn einstecken, ohne eigentlich selbst
Geld aufgebracht zu haben. Dieser Handel mit Optionen, die man
später Derivate nennen sollte, hatte 1720 begonnen, zur Zeit der
Spekulationskrise der South Sea Bubble. Obwohl seither formal
verboten, wurde er doch tagtäglich praktiziert. Eugene fand bald
heraus, daß dies ein guter Weg war, sich in das knifflige System,
wie man Risiken taxieren konnte, einzuarbeiten. Er führte Buch über
all seine Geschäfte, und nach einem Jahr hatte er nicht nur einen
bescheidenen Profit erworben, sondern auch begonnen, Strategien zu
entwickeln, wie man ein Risiko mit einem anderen kompensieren
konnte. Doch gerade diese Erfahrung ließ in Eugene zum erstenmal
ein Gefühl der Besorgnis aufkommen. Allmählich konnte er sich auch
ein Bild der Aktivitäten seines Bankhauses machen. Er erstellte ein
Verzeichnis ihrer wichtigsten Handelspartner und begann deren
Unternehmen zu taxieren. Mit der Zeit kam er zu einer
beunruhigenden Schlußfolgerung. »Ich bin nicht sicher«, sagte er zu
Fleming, »aber wenn ein paar dieser Firmen Bankrott machen, dann,
glaube ich, könnte auch das Bankhaus Meredith untergehen.«
»Aber du mußt davon ausgehen, daß der Earl of St. James hinter
ihm steht«, tröstete Fleming. Jeder in der Bank wußte, daß
Meredith' Großvater den Earl aufgezogen hatte, und aus Dankbarkeit
hatte St. James Meredith bei der Gründung seiner Bank unter die
Arme gegriffen.
Neben der Bank und der Warenbörse gab es in der City noch eine
weitere aufstrebende Adresse für Geschäfte, nahe der Bank in einer
kleinen Enklave namens Capel Court gelegen: die Aktienbörse, wo
sich vor allem die Männer einfanden, die mit den unzähligen
Staatsschuldscheinen handelten. Die Akteure in dieser Institution
hatten wohl beschlossen, wie ewige Schuljungen zu leben; sie hatten
sogar einen großen Stand, wo sie süße Brötchen, Krapfen und
Süßigkeiten kaufen konnten. Am erstaunlichsten war aber wohl Capel
Court 2, wo der große Preisboxer Mendoza einen Boxring führte.
Junge Leute konnten dort entweder gegeneinander oder gegen einen
Berufsboxer antreten.
Als Eugene eines Tages zufällig zusammen mit Meredith bei
Mendoza vorbeikam, bot sich ihm ein seltsamer Anblick. Da stand ein
junger Bursche, nicht groß, aber sehr stämmig, bis zur Taille nackt
und mit der Haltung eines Berufsboxers. Im Haar hatte er eine weiße
Strähne, um den Hals ein rotes Tuch. Er hatte gerade einen Makler
niedergeschlagen und fragte fröhlich, ob jemand anderer gegen ihn
antreten wolle, als Meredith ihm einen Gruß zurief. »Hallo, George!
Was machst du hier?«
»Hallo, Meredith!« Der junge Mann grinste. »Eine Runde
gefällig?«
»Nein danke. George, das ist Eugene Penny. Penny, das ist Mr.
George de Quette.« Der Enkel des Earls.
Jedermann hatte von George de Quette gehört. Er schlug mehr
nach seinem munteren Großvater als nach dem sauertöpfischen Lord
Bocton und war bekannt als der lebhafteste und lustigste junge
Draufgänger in England. Er ritt wie ein Jockey, raufte wie ein
Kampfhahn und scherte sich nicht um seinen gesellschaftlichen Rang.
Seine Erfolge bei Frauen waren legendär. Sein Vater hatte ihn auf
eine Bildungsreise durch den Kontinent geschickt, von der er
unverändert zurückgekommen war. Er zog sich nun ein Hemd über, kam
aus dem Ring und plauderte mit ihnen.
Als George Penny eine Woche später auf der Straße begegnete,
erinnerte er sich sofort an ihn und lud ihn in ein Kaffeehaus ein.
Penny stellte fest, daß der junge Aristokrat ein beträchtliches
Wissen über Frankreich und Italien hatte und sehr belesen war.
Sogar für Gedichte hatte er etwas übrig. »Natürlich liest jeder
Lord Byron, er ist modern«, erklärte er. »Aber ich mag auch Keats.
Seine Ode an die Nachtigall finde ich sehr schön.« Auch an
der Bank schien er interessiert zu sein und fragte Eugene nach
seinem Leben dort aus, und Eugene erzählte ihm sogar von seinen
Termingeschäften.
1824
Heute waren sie weiter gekommen als
gewöhnlich, da ein freundlicher Nachbar sie auf seinem Wagen
mitgenommen hatte. Jeder in der ärmlichen kleinen Straße kannte
Lucy und Horatio. Jeden Nachmittag nahm die dünne, blasse
Fünfjährige den kleinen Kerl, der noch wacklig auf den Beinen war,
mit nach draußen, weil man ihr sagte, dann würde er kräftiger
werden. Horatio klammerte sich an ihre Hand und stapfte tapfer
neben ihr her. Heute setzte der Nachbar, der in der Nähe der Strand
zu tun hatte, die beiden Kinder bei Charing Cross ab und versprach,
sie in einer halben Stunde dort wieder abzuholen. Vor ihnen lag ein
leicht abschüssiges Gelände, wo später der Trafalgar Square
entstehen sollte. Südlich davon mündeten die Prachtstraßen
Whitehall und Pall Mall. Rechts war die klassizistische Fassade von
St. Martin-in-the-Fields, und vor ihnen lag der Königliche
Marstall, wo die Pferde und Kutschen des Königs untergebracht
waren.
Der Sommernachmittag war heiß und staubig. In der Mitte des
offenen Platzes war ein kleiner Markt aufgebaut, und mehrere
Straßenhändler boten lautstark ihre Waren feil. Während die Kinder
zufrieden herumspazierten, fiel ihnen eine junge Frau mit einem
Korb auf. »Lavendel! Kauft meinen Lavendel!« rief sie mit feiner
Stimme. Die junge Frau reichte ihnen ein frisches Zweiglein, und
als Lucy erklärte, daß sie kein Geld hatten, lachte sie und sagte,
sie solle es trotzdem behalten. Es duftete wundervoll, und Lucy
fragte, wo das her sei.
»Vom Lavendelhügel natürlich«, antwortete die junge Frau.
»Zwischen Battersea und Clapham Common.« Auf diesen Hügeln, nicht
einmal drei Meilen entfernt, wurde Lavendel angebaut, erklärte sie
Lucy. »Ist das dein Bruder?« fragte sie dann. »Er ist
kränklich?«
»Er wird schon kräftiger.«
»Kennt er das Lavendellied?«
Lucy schüttelte den Kopf, und die junge Frau sang es ihm
vor:
»Lavendel blau, dilly dilly, Lavendel grün –
Wenn du der König bist, dilly dilly, Bin ich Königin.
Du solltest ihm das öfter vorsingen«, forderte sie Lucy
fröhlich auf.
Lucy und Horatio wollten gerade wieder zurückgehen, als die
Frau ihres Nachbarn auf sie zueilte. »Kommt mit mir«, sagte
sie.
Man hatte Will Dogget auf das Bett gelegt. An diesem
Sommernachmittag war Will auf der Baustelle neben dem Regent's
Park, wo eine Reihe eleganter Häuser errichtet wurden, an einem
Gerüst vorbeigegangen, als ein großer Korb voller Ziegel auf ihn
herabstürzte. Will atmete keuchend. Er schien nicht wahrzunehmen,
daß der Geistliche da war, und er sah auch Lucy und den kleinen
Horatio nicht. Gegen sechs Uhr abends war er tot.
Das Gesicht ihrer Mutter war grau. Den Ehemann zu verlieren
war furchtbar. Ein Witwer konnte wieder heiraten, und die neue Frau
würde sich um die Kinder kümmern, doch wovon sollte eine Witwe
leben, wenn der Ernährer starb? Will Dogget wurde am nächsten Tag
in einem Armengrab bestattet. Lucy hatte einmal gehört, daß ihr
Vater gesagt hatte, es gebe auch noch andere Doggets, Onkel oder
Tanten vielleicht, aber ihre Mutter kannte sie nicht. Eine einzige
andere Person tauchte noch auf, eine seltsame, untersetzte Gestalt
mit einem formlosen schwarzen Hut. Der Mann sah der Beerdigung
schweigend zu, dann kam er zu ihnen und sprach ein paar schroffe
Worte, bevor er ging. Er roch nach dem Fluß, und Lucy fand, daß er
ein finsterer Geselle war.
»Wer ist das?« fragte sie ihre Mutter.
Ihre Mutter verzog das Gesicht. »Das ist Silas. Ich weiß
nicht, wie er das mit eurem Vater erfahren hat. Ich habe ihn nicht
hergebeten.«
»Was macht er?« fragte das Mädchen neugierig. »Das brauchst du
nicht zu wissen«, antwortete die Mutter.
Was also war er wert? Als Penny an diesem
Oktobernachmittag aus der Bank kam, war diese Frage plötzlich
wichtig. Der Grund waren ein Paar wunderbarer brauner Augen und
eine sanfte Stimme mit einem leichten schottischen Akzent, die Miss
Mary Forsyth gehörten. Es war eine dringende Frage, denn er sollte
nun zum erstenmal mit ihrem Vater sprechen.
In den vergangenen eineinhalb Jahren hatte Eugene ein wenig
Geld auf die Seite gebracht und mit ein paar vielversprechenden
Investitionen begonnen. Vor allem der wachsende Markt für
Auslandskredite hatte in der City für Optimismus gesorgt. Das
Bankhaus Meredith hatte bereits sehr gut an Buenos Aires und
Brasilien verdient und sich erst kürzlich einem großen Konsortium
für Mexiko angeschlossen, mögliche Kredite für Kolumbien und Peru
aber klugerweise abgelehnt. Ermutigt von diesen profitablen
riesigen Geldsummen, die in der City umgesetzt wurden, hatten
Börsenspekulanten, wie eine Flottille im Kielwasser der großen
Anleihen, kleinere Obligationen und sogar Aktiengesellschaften
verkauft. Es war eine große Hausse, und da sämtliche Kurse stiegen,
fühlten sich alle Investoren sehr schlau. Eugene Penny hatte
bereits mehr als tausend Pfund dabei verdient. Aber war das genug,
um Hamish Forsyth zufriedenzustellen?
Er betrat die Königliche Warenbörse. Sie war zum Bersten voll.
Jeder Quadratmeter des weltweiten Handelszentrums war einem
speziellen Handelszweig zugeordnet; so gab es die Straße für
Jamaika, für Spanien, für Norwegen, wo Spekulanten Aktien an Käufer
aus jedem Land verkauften. Eugene schritt durch die geräuschvolle
Halle in die ruhigeren Bereiche des Halbgeschosses darüber. Hier
war Mr. Forsyth' Arbeitsplatz.
Lloyds of London war nicht zu unterschätzen. Das alte
Kaffeehaus hatte sich zu einer klug geleiteten Gesellschaft mit
bestem Ruf entwickelt. Manche der kleineren Versicherungsvertreter
waren kaum mehr als herausgeputzte Straßenhändler oder
Trickbetrüger, aber die Angestellten von Lloyds waren von einem
ganz anderen Schlag. In diesem feierlichen Saal, den sie von der
Börse gemietet hatten, war das Schiffsregister von Lloyds
untergebracht. Hier wurden die größten Schiffe, egal, wie wertvoll
ihre Fracht war, durch ähnliche Syndikate, wie sie die Banken für
die größten Kredite aufbauten, versichert. Und keiner der etwa
hundert Versicherer hatte strengere Grundsätze als der mürrische
Mann, der Eugene nun zunickte.
Über Mr. Hamish Forsyth sagte man oft, er sehe aus wie ein
schottischer Richter, der gerade ein Urteil gesprochen hatte. Seine
presbyterianischen Vorfahren waren rauh wie Granit. Hamish Forsyth,
ebenso streng, richtete sein Augenmerk jedoch auf den Londoner
Versicherungsmarkt statt auf die schottische Staatskirche. Er hatte
eine Hakennase und noch ein paar Strähnen grauen Haares über der
hohen Stirn. Von Zeit zu Zeit nahm er eine kräftige Prise
Schnupftabak. Er nahm Penny mit in ein Kaffeehaus in der
Threadneedle Street, wo er ihn mit gönnerhafter Miene zu einer
Tasse Kaffee einlud. »Sie haben meine Tochter kennengelernt«,
meinte Forsyth. »Dann sollten Sie mir wohl Rede und Antwort
stehen.«
Penny fühlte sich, als wäre er ein Schiff, das auf seine
Seetauglichkeit geprüft wurde. Forsyth stellte die Fragen, er
antwortete. Seine Familie? Er schilderte sie. Sein Glaube? Seine
Vorfahren waren Hugenotten. Darauf folgte ein Schnauben,
anscheinend billigend. Er selbst, gestand Eugene, gehöre der
anglikanischen Kirche an, aber auch das schien akzeptabel zu sein.
»Sie ist solide«, meinte Forsyth. Seine Stellung? Er erklärte, daß
er Angestellter beim Bankhaus Meredith sei. Forsyth sah
nachdenklich drein. Dazu aufgefordert, seine Vermögensverhältnisse
offenzulegen, gab Penny wahrheitsgemäß Auskunft und berichtete
detailliert über seine Geschäfte. Das entlockte Forsyth einen
Seufzer. »Dieser Markt ist überhitzt, junger Mann. Steigen Sie da
aus, oder Sie verbrennen sich die Finger.«
Eugene war klug genug, nicht zu widersprechen. »Wann soll ich
aussteigen, Sir?«
»Ostern«, erwiderte Forsyth. Ganz plötzlich fragte er dann:
»Sie tragen eine Brille, Mr. Penny. Wie schlecht sind Ihre
Augen?«
Eugene erklärte, daß auch sein Vater und sein Großvater
kurzsichtig gewesen waren. »Aber offenbar wird es nicht schlimmer«,
fügte er hinzu.
Ob Forsyth sich damit zufriedengab, konnte Eugene nicht
beurteilen; bald schon wurden ihm eine Reihe von Fragen über das
Bank- und Finanzwesen gestellt, die ihm klarmachten, daß der
Schotte wirklich ein scharfsinniger Kopf war. Zumeist fielen ihm
die Antworten nicht schwer, aber bei der letzten Frage zögerte er
doch. »Was halten Sie von der Rückkehr zum Goldstandard, Mr.
Penny?«
Eugene erinnerte sich an die Antwort, die er dem Earl of St.
James gegeben hatte, doch ihm war klar, daß hier eine andere
Meinung angebracht war. »Ich bin für den Goldstandard, Sir«,
erwiderte er.
»Ach?« Forsyth war überrascht. »Und warum, wenn ich fragen
darf?«
»Weil ich der Bank von England nicht traue«, sagte Penny
kühn.
»Soso.« Selbst Forsyth war einen Augenblick lang sprachlos.
»Man findet in der City nicht oft einen jungen Mann mit solchen
Ansichten.« Eugene hatte ins Schwarze getroffen. Für Forsyth war
sogar die Bank von England ein unsicheres Schiff. Nun konterte er.
»Sie haben also Zuneigung zu Mary gefaßt? Sie ist keine
Schönheit.«
Mary Forsyth hatte eine schlanke Figur, braunes Haar, das in
der Mitte gescheitelt war, und sah ein wenig brav aus. Sie hatte
nichts Modisches oder Kokettes an sich. Ihre Schönheit lag in ihrem
liebenswerten Gemüt und ihrer hohen Intelligenz. Eugene liebte sie
aufrichtig. »Ich bitte, Ihnen widersprechen zu dürfen, Sir.«
Forsyth schnupfte. Eine Pause. »Dann sind Sie also hinter
ihrem Geld her.«
Eugene überlegte. Obwohl Forsyth nicht als reicher Mann galt,
gab es keinen Zweifel, daß er ein beträchtliches Vermögen hatte,
und Mary war sein einziges Kind. Es wäre unaufrichtig, vorzugeben,
daß ihm diese Tatsache gleichgültig war. »Ich würde nie danach
trachten, eine Frau zu heiraten, die ich nicht liebe und
respektiere, Sir«, antwortete er. »Was ihr Vermögen betrifft – ich
bin nicht so sehr auf Geld aus. Aber ich möchte in eine Familie
einheiraten, die solide ist.«
»Solide? Ich bin solide, Sir. Dessen können Sie sicher sein.«
Forsyth nahm eine Prise. »Sie sind jung, Mr. Penny. Sie müssen sich
noch etablieren. Natürlich kann Mary einen besseren Antrag
bekommen. Aber wenn nicht, werden wir Sie in ein paar Jahren noch
einmal in Betracht ziehen. In der Zwischenzeit können Sie Mary hin
und wieder besuchen.«
Lucy kam jeden Tag an dem Haus vorbei, sah aber immer weg,
denn ebendiesem Ort galt es zu entrinnen – dem Armenhaus. Es war
die große Furcht jeder notleidenden Familie, und das Armenhaus im
Kirchspiel St. Pancras war so schlimm wie alle anderen. Es lag
zwischen zwei schmutzigen Durchgangsstraßen neben
heruntergekommenen Lagerhäusern und einem ehemaligen Gefängnis; der
schmutzige Hof war übersät von Abfall. Man hatte das alte Haus vor
ein paar Jahren erweitern müssen, da weiß Gott wie viele arme
Kreaturen dort eingepfercht leben mußten.
Theoretisch waren die Armenhäuser der Kirchspiele dazu da, den
Armen zu helfen. Wer nicht für sich selbst sorgen konnte, sollte
eine Unterkunft bekommen, die Kinder sollten ein Handwerk lernen,
die Erwachsenen sollten eine Arbeit bekommen. Die Praxis sah anders
aus. Die Leute wollten für die Armen der Gemeinde kein Geld
spenden. Daher gaben die Kirchspiele so wenig wie möglich aus, und
Kontrollen gab es kaum. Zumeist waren diese Häuser voller Kranker –
und die Armen, die gesund dort hinkamen, blieben nicht lange
gesund.
»Müssen wir vielleicht ins Armenhaus?« flüsterte Lucy ihrer
Mutter bald nach dem Tod des Vaters ängstlich zu.
»Natürlich nicht«, log die Mutter. »Aber wir müssen beide
arbeiten.« Sie hatte eine Stelle in einer kleinen Fabrik in der
Nähe gefunden, die Baumwollkleidung herstellte. Doch der Besitzer
erlaubte nicht, daß sie den kleinen Horatio mitbrachte. Und so ging
Lucy jeden Morgen mit ihrem Bruder am Armenhaus vorbei zu ihrer
neuen Stelle in der Tottenham Court Road.
Was immer Zachary Carpenter über den allgemeinen Zustand der
Welt denken mochte, das Möbelgeschäft hatte sich für ihn als
profitabel erwiesen. Er hatte neue Räume hinzugemietet und
beschäftigte nun zehn Gesellen und einen Lehrling. Seine gesamte
Belegschaft war doppelt so groß, aber die übrigen waren weder
Gesellen noch Lehrlinge, sondern Kinder. »Wenn man sie richtig
anlernt, können sie mit ihren kleinen Händen sehr gut zum letzten
Schliff beitragen«, erklärte Carpenter. Er kannte niemanden in
seiner Branche, der nicht mit Kindern arbeitete. Auf die Frage, ob
das richtig sei, antwortete der Sozialreformer: »Sie sollten in die
Schule gehen. Doch bis es Schulen gibt, bewahre ich sie wenigstens
vor dem Verhungern.« Oder vor dem Armenhaus. Wie viele Meister
beschäftigte Carpenter keine Kinder unter sieben Jahren, aber für
Horatio hatte er eine Ausnahme gemacht. Da der kleine Junge so
gerne helfen wollte, gab er ihm einen Besen und ließ ihn die
Holzspäne aufkehren, wofür er ihm dann hier und da einen Farthing
gab.
Lucy und ihre Mutter mußten beide arbeiten, um nur einen Teil
von Will Doggets Verdienst zu ersetzen. Er hatte zwischen zwanzig
und dreißig Shilling pro Woche nach Hause gebracht. Seine Witwe
bekam zehn Shilling, Lucy fünf. Es war in ganz England so – Frauen
hatten etwa den halben Lohn eines Mannes, Kinder etwa ein
Sechstel.
Zu Ostern 1825 beherzigte Eugene Penny Mr.
Hamish Forsyth' Rat und verwandelte all seine Investitionen in
Bargeld oder sichere Staatspapiere. Wenn er recht hat und ich
seinem Rat nicht folge, wird er mir nie verzeihen, hatte er
überlegt; aber wenn ich es tue und er sich geirrt hat, bin ich ihm
gegenüber in einer stärkeren Position.
Es war schwierig zu sagen, ob der strenge Schotte recht hatte
oder nicht. Auslandskredite hatten weiterhin Hochkonjunktur. »Wir
haben noch nie solche Gewinne gemacht«, erklärte Meredith. Doch
wenn Penny sich einige Börsenkurse ansah, die am steilsten in die
Höhe schossen, mußte er zugeben, daß sie überbewertet waren. Auf
dem Warenmarkt nahmen die Leute Kredit auf, um alles zu kaufen, was
sich bot. Frühling und Sommer gingen vorbei, es herrschte immer
noch Hochkonjunktur.
Penny hatte in der Firma nun eine gewisse Position erworben.
Meredith hatte ihm manche Aufgaben anvertraut, die Diskretion
erforderten, und sprach oft vertraulich mit ihm über Geschäfte.
»Wir sind dem Beispiel von Baring und Rothschild gefolgt«, sagte
Meredith. Die beiden führenden Häuser bei Auslandskrediten hatten
sich von allen Aktienspekulationen ganz ferngehalten. »Wir stehen
ganz solide da. Was ich fürchte, ist ein allgemeiner Niedergang.
Für eine kleine Bank wie uns ist es sehr schwer, sich dagegen zu
schützen.« Die Gefahr für die Meredith-Bank war typisch für alle
kleinen Unternehmen dieser Art. Wenn einige von jenen, die Meredith
Geld schuldeten, Bankrott machten, konnte auch er am Rande des
Untergangs sein. »Aber wirklich bedrohlich ist Vertrauensverlust«,
fuhr er fort. »Das kann uns den Kopf kosten.«
Eugene sah Mary jede Woche. Für sie bestand kein Zweifel, daß
sie heiraten würden, doch wie bald, das war eine andere Frage.
Eugenes Gehalt war beträchtlich gestiegen, seine Stelle schien
sicher, doch hatte er noch keine Position erreicht, die Mr. Hamish
Forsyth zufriedenstellen würde.
Die Probleme begannen im Herbst. »Machen Sie die Luken dicht,
Penny«, kündigte Meredith an. »Ich glaube, wir müssen mit Sturm
rechnen. Man sagt, die Bank von England will die Schrauben
anziehen.« Anfang Dezember begann die Bank von England Kredit zu
gewähren, doch es war zu spät.
Am Mittwoch, den 7. Dezember, wurde bestätigt, daß die
Privatbank Pole, die mit nicht weniger als achtunddreißig
Grafschaftsbanken eng verflochten war, von der Bank von England
über das Wochenende gerettet worden war. Am Donnerstag, den 8.
machte die große Bank Wentworth in Yorkshire plötzlich pleite. In
ganz England eilten die Kunden zu ihren Banken, um ihr Geld
abzuheben. Mit den Postkutschen aus jeder Grafschaftshauptstadt
kamen die Nachrichten nach London. »Gold. Sie wollen alle Gold!« Am
folgenden Wochenende stellte Pole alle Zahlungen ein, und
infolgedessen waren am Montag, den 16. Dezember, drei Dutzend
Provinzbanken zusammengebrochen.
Schon vor Morgengrauen hatte sich an diesem Montag Nebel über
die Stadt gelegt. Der Vormittag verging ereignislos; der Handel
stand still. Von Zeit zu Zeit sandte man einen der Angestellten
aus, der sich nach Neuigkeiten erkundigen sollte: »In der Börse
wimmelt es von Leuten, die Geld wollen!« erfahr man. »Das Bankhaus
Williams in der Mincing Lane wird belagert.«
Meredith' eigene Vorbereitungen waren gründlich gewesen.
Während der letzten Woche hatte er fast alle großen Kunden der Bank
aufgesucht. »Ich glaube, ich habe die Sache mit allen geregelt«,
sagte er Eugene. Außerdem hatte er sich mit soviel Goldmünzen wie
möglich eingedeckt. »Zwanzigtausend Sovereigns«, verkündete
er.
Nur wenige Leute kamen vormittags, um Geld abzuheben. Mittags
kam ein Kaufmann und zahlte tausend Pfund ein. »Die habe ich bei
Williams abgehoben«, erklärte er. »Bei Ihnen ist es
sicherer.«
Kurz vor Geschäftsschluß erschien ein älterer Landedelmann,
eingemummt in einen dicken Mantel, im nebelumwaberten Eingang und
trat an den Schalter. »Ich heiße Grimsdyke«, erklärte er, »aus
Cumberland. Ich möchte abheben.«
»Bei Gott«, murmelte Meredith, »dieser alte Gentleman war
einer meiner ersten Kunden! Er muß die ganze Nacht unterwegs
gewesen sein.«
»Gewiß, Sir«, erwiderte der Angestellte zuvorkommend.
»Wieviel?«
»Zwanzigtausend Pfund.«
Es sei wirklich nicht nötig, so viel abzuheben, versicherte
ihm Meredith, die Bank sei absolut stabil. Aber der alte Gentleman
war nicht den ganzen Weg aus Nordengland gekommen, um nun seine
Meinung zu ändern. Er hob alles ab und ließ es von den Angestellten
zu seiner Kutsche tragen. Als sich die Tür hinter ihm schloß, rief
Meredith Eugene. »Machen Sie eine Bilanz, Mr. Penny, und kommen Sie
damit in mein Arbeitszimmer.«
»Noch einen Tag überstehen wir nicht«, meinte Meredith, als er
und Eugene die Bücher durchsahen. »Diese drei« – er deutete auf die
Namen, die Penny schon vor einigen Jahren beunruhigt hatten –
»schulden uns zuviel, und ich weiß wirklich nicht, ob wir solvent
sind oder nicht. Und was Abhebungen betrifft – ich kann noch einmal
fünftausend in bar bekommen, aber irgendwann morgen wird das Geld
weg sein, und wir müssen schließen.«
»Wird uns die Bank von England über Wasser halten?«
»Sie haben noch keine Bereitschaft gezeigt. Wir sind ohnehin
zu klein, als daß sie sich mit uns abgeben würden.« Beide
schwiegen.
»Und der Earl of St. James?« fragte Eugene schließlich.
»Er hat schon soviel für mich getan. Außerdem hat er mir schon
gesagt, daß er mir nicht aus der Patsche helfen würde. Ich kann
nicht zu ihm gehen.«
»Dann lassen Sie mich gehen«, erwiderte Eugene.
Der Earl war nach Brighton gefahren. Also mietete sich Penny
eine Postkutsche und fuhr auf der Mautstraße fünfzig Meilen in das
Seebad im Süden. Mit etwas Glück, dachte er, würde er dort noch
ankommen, bevor der Earl sich zum Schlafen zurückzog.
Es war nach zehn Uhr, als Eugene sich nach ausführlichen
Erklärungen gegenüber Türstehern und Lakaien allein mit dem Earl of
St. James in einem prachtvoll ausgestatteten Vorzimmer befand. Die
Augen des Earls wurden hart, als Eugene den Grund seines Kommens
erklärte. »Ich habe ihm gesagt, daß ich ihm nicht aus der Patsche
helfen würde. Das weiß er.«
»Ja, Mylord. Ich habe ihn gebeten, daß er mich zu Ihnen fahren
lassen soll.«
»Sie?« St. James starrte ihn an. »Sie sind einer seiner
Angestellten, und kommen zu mir? Hierher? Sie haben
Nerven.«
»Gute Nerven sind alles, was die Bank braucht. Wenn Sie uns
nur kurze Zeit über Wasser halten.«
»Ist die Bank solvent?«
»Ja, Mylord.« Eugene sagte das mit absoluter Überzeugung,
obwohl er wußte, daß es eine Lüge war. Aber er tat es für
Meredith.
»Ich leihe ihm zehntausend zu zehn Prozent«, entschied St.
James. »Ich komme morgen nach London. Reicht das?«
Eugene Penny nahm die Postkutsche, die vor Morgengrauen fuhr,
und war vormittags wieder in der Stadt. Der Nebel hatte sich
gelichtet; auf den Straßen herrschte geschäftiges Treiben. Als er
Meredith die Nachricht überbrachte, war der Bankier so überwältigt,
daß er ihm nur die Hand schütteln konnte. Doch sobald er die
Sprache wiedergefunden hatte, mußte er die Lage erklären. »Ich
fürchte trotzdem, daß es zu spät ist… Wir haben noch zweitausend
Pfund. Ungefähr tausend Pfund pro Stunde werden abgehoben. Mittags
ist es vorbei. Ich kann nicht einfach bis zum späten Nachmittag,
wenn St. James kommt, die Türen zumachen. Wir müssen mindestens
vier Stunden überbrücken, Penny.«
Eugene hatte eine glänzende Idee. »Sie haben noch zweitausend?
Bringen Sie das Geld sofort zur Bank von England! In einem
Handkarren«, rief er.
Eine halbe Stunde später wandte sich ein ganz gelassener
Meredith an die kleine Menschenansammlung im Kontor, die darauf
wartete, ausgezahlt zu werden. »Gentlemen, wir bitten um
Entschuldigung. Wir haben bei der Bank um Sovereigns gebeten, und
man hat uns nur Kleingeld geschickt. Aber wir haben genug. Sie
bekommen alle Ihr Geld. Nur ein wenig Geduld, bitte.«
Die beiden Angestellten am Schalter begannen langsam mit den
Auszahlungen – in Shillings, Sixpences, aber vor allem in Pennies.
Da die kleinen Münzen sorgfältig abgezählt werden mußten, gingen
nicht mehr als dreihundert Pfund pro Stunde hinaus, wenn auch der
Strom nicht abriß. Kurz vor Geschäftsschluß kam der Earl mit
zehntausend Pfund in Gold.
Die große Bankenkrise von 1825 endete nicht an diesem
Dienstag; am Mittwoch wurde es für viele noch schlimmer. Am
Donnerstag gab die Bank von England, im Kabinett vom Herzog von
Wellington persönlich unterstützt, ihre strenge Haltung auf und
bürgte für jedes Finanzhaus. Am Freitag gingen auch der Bank von
England die Goldreserven aus. Am Abend wurde sie durch eine
Goldeinlage gerettet, die der einzige Mann in England oder der
ganzen Welt aufgebracht hatte, dem so etwas möglich war: Nathan
Rothschild. Rothschild war der König der City.
Der Winter, in dem Lucy acht Jahre alt wurde, war hart für die
Familie. Ihre Mutter schaffte es zwar, jeden Tag zur Arbeit zu
gehen, sie wurde aber von einem trockenen Husten sehr geplagt, und
vor allem wurden Horatios Beine schwächer. Manchmal mußte er zu
Hause bleiben, wenn Lucy zu Carpenter zur Arbeit ging. Im Frühling
schien es ihm besserzugehen, aber manchmal weinte er leise.
Eines warmen Sommerabends sah Lucy erstaunt, wie Silas Dogget
die Straße zu ihnen heraufkam. Uneingeladen trat er ein, setzte
sich an den Küchentisch und erklärte schroff: »Ich brauche eine
Hilfe. Habe euch einen Vorschlag zu machen. Ich zahle euch
fünfundzwanzig Shilling pro Woche; das bewahrt euch vor dem
Armenhaus.«
»Niemals!« rief Lucys Mutter, als sie hörte, worum es
ging.
»Du bist genauso dumm wie dein Mann«, meinte Silas.
»Laß uns in Ruhe und geh!«
Silas zuckte die Schultern und stand langsam auf. Er sah Lucy
an. »Dein Sohn ist kränklich, aber das Mädchen sieht kräftig aus.
Vielleicht ist sie in ein oder zwei Jahren nicht so stolz wie du.«
Er legte Lucy seine schwere Hand auf die Schulter. »Denk nur an
deinen Onkel Silas, Mädchen.«
Als Lucy und Horatio eines Septembernachmittags von der Arbeit
zurückkamen, hörten sie aus dem Schlafzimmer ein seltsames
Geräusch. Sie fanden ihre Mutter auf dem Bett liegen. Ihr Gesicht
war sehr blaß, und sie keuchte nach Luft. Lucy holte eilig eine
Nachbarin und wartete ängstlich, während die Frau ihrer Mutter
half, bis der Anfall vorbei war.
»Was hat sie?« fragte sie die Frau verzweifelt. »Stirbt meine
Mutter?«
»Nein«, erwiderte die Frau. »Viele Leute hier haben das, Lucy.
Es ist Asthma. Ich habe schon gesehen, daß Leute gehustet haben und
dann gestorben sind«, antwortete die Frau wahrheitsgemäß, »die
meisten sind zwar schwach, können aber damit leben.«
»Was kann ich tun, damit es ihr bessergeht?« rief Lucy.
»Mehr Ruhe vor allem. Weniger Sorgen.« Die Frau tätschelte das
Kind freundlich.
Ein Monat verging, und ihrer Mutter ging es einigermaßen gut.
Aber eines Morgens hatte sie wieder einen Anfall und konnte nicht
zur Arbeit gehen. Lucy brachte schließlich das Thema zur Sprache.
»Laß mich für Onkel Silas arbeiten, Mutter.«
Ihre Mutter schüttelte vor Abscheu den Kopf. »Wenn ich mir
vorstelle, daß du dasselbe tust wie er…«
»Ich glaube, es würde mir nichts ausmachen.«
»Niemals, Lucy, solange ich noch atme. Denk nicht einmal mehr
daran.«
Eugene Penny beschloß im September 1827, endlich eine
Entscheidung herbeizuführen. Meredith' Bank hatte sich ganz gut aus
der Krise gerettet. Lord St. James hatte sein Geld zurückbekommen
und erinnerte sich mit Bewunderung an den jungen Angestellten.
Meredith stand in seiner Schuld. Es war sogar zu Hamish Forsyth
durchgedrungen, daß der fünfundzwanzigjährige Penny als junger Mann
mit Zukunft galt. Er besaß nun fast zweitausend Pfund, eine
beträchtliche Summe, wenn man bedenkt, daß ein gewöhnlicher
Angestellter der Bank von England etwa hundert Pfand im Jahr
verdiente.
Eines Montagmorgens ging er zu Meredith. »Ich habe die Freude,
Ihnen mitzuteilen, daß ich die einzige Tochter Mr. Hamish Forsyth'
von Lloyds heiraten werde. Doch da ist noch etwas. Ich glaube, Sie
stimmen mir zu, daß ich mir eine Juniorteilhaberschaft verdient
habe. Meine Stellung als Forsyth' Schwiegersohn läßt das auch als
angemessen erscheinen.«
Meredith brauchte nicht lange, um sich Forsyth' Vermögen
auszurechnen und zuzugeben, daß Penny der Firma tatsächlich
wertvolle Dienste geleistet hatte. »Ich habe genau dasselbe
gedacht«, erwiderte der Bankier.
Penny trank noch ein Glas Sherry, das Meredith ihm anbot, dann
ging er geradewegs zu Lloyds. »Mr. Forsyth«, begann er kühn, »ich
bin nun Teilhaber im Bankhaus Meredith. Ich bin gekommen, weil ich
um Marys Hand anhalten will.«
»Teilhaber?« fragte der Schotte. »Ist das sicher?« Eugene
nickte. »Na gut, dann haben Sie wohl recht. Die Zeit ist gekommen.
Haben Sie einen Ring?«
»Ich werde heute einen kaufen.«
»Ein Ring ist nötig. Aber folgen Sie meinem Rat, und kaufen
Sie nichts zu Teures. Ich kann Sie zu einem Händler bringen, der
Ihnen etwas absolut Solides verkauft.«
Das erste Kind des Ehepaars Penny war ein gesunder Junge, und
ein zweites war bereits unterwegs, als Mary sagte, sie würde gerne
etwas außerhalb der Stadt wohnen. Sie war begeistert, als Eugene
ihr sagte, er habe ein Haus in Clapham gefunden. Es war eine kluge
Wahl, sich für dieses Dorf am Südufer der Themse zu entscheiden.
Drei neue Brücken – Waterloo, Southwark und Vauxhall –
erleichterten den Zugang, und im offenen Gelände bei Lambeth wurden
schöne Straßen angelegt, so daß der Weg zu den Villen von Battersea
und Clapham durch eine elegante Vorstadt führte. In Clapham gab es
neben der alten Gemeinde eine Reihe nobler Häuser, und die Kirche
im Zentrum war ein anmutiges klassizistisches Gebäude. Forsyth
meinte zwar, das Haus mit sechs Schlafzimmern, das Penny gefunden
hatte, sei größer als eigentlich notwendig, besänftigte sich aber,
als Eugene darauf hinwies, daß die Familie ja noch größer werden
würde. Zur Feier des Anlasses kaufte er dem Paar sogar ein schönes
Wedgwood-Service.
Eugene brauchte kaum mehr als eine halbe Stunde von seinem
Haus zum Büro. Seiner Frau jedoch gefiel am besten, daß kaum
hundert Meter von ihrem hübschen Garten entfernt die großen,
duftenden Lavendelfelder lagen, die sich den Hügel hinunter nach
Battersea zogen. Wenn sie gefragt wurde, wo sie nun wohnten,
antwortete sie stets: »Oh, in Clapham, neben dem
Lavendelhügel.«
1829
Langsam pflügte sich das Boot durch das
braune Wasser zur Strommitte. Das kleine Gefährt lag so tief im
Fluß, daß es im trüben Licht eines Aprilabends aus der Entfernung
fast so aussah, als sei es voller Wasser. Zwischen Blackfriars und
Bankside machte es in der Mitte Halt. »Halt das Boot auf dieser
Höhe«, kam Silas' Stimme vom Heck.
Obwohl es schon ein Jahr her war, daß die nun zehnjährige Lucy
für Silas zu arbeiten begonnen hatte, konnte sie sich immer noch
nicht daran gewöhnen. Mittlerweile wurde aus der Großstadt eine
solche Menge an Abwässern in die Themse geleitet und eine solche
Menge an Kohlenstaub lag auf dem Fluß, daß nicht einmal die
Gezeiten den Schmutz wegschwemmen konnten. Bei Flut war das Wasser
trübe, bei Ebbe roch es widerwärtig. Zum erstenmal in der
Geschichte starben die Fische im Fluß; ihre gesprenkelten, blasigen
Kadaver lagen zwischen dem Müll auf den Schlammbänken. Senkte sich
der dicke, gelbe Smog über die Stadt, wirkten Nebel und Fluß wie
die gasförmige und flüssige Form ein und desselben dunklen,
stinkenden Elements.
Silas tauchte die Hände ins Wasser. Etwas Schweres stieß gegen
das Boot. Er nahm ein Stück Seil, das zwischen seinen Füßen lag,
knotete es um den Gegenstand im Wasser und befestigte das andere
Ende an einem Ring am Heck.
Danach fischte er wieder im Wasser herum. Mit einem
zufriedenen Grunzen setzte er sich auf, öffnete die großen Hände
mit den feinen Schwimmhäuten und zeigte Lucy ein halbes Dutzend
Goldsovereigns und eine Taschenuhr. Dann beugte er sich noch einmal
über den Bootsrand und starrte auf das Gesicht der Leiche, die
knapp unter der Wasseroberfläche schwamm. »Das ist er. Zehn Pfund
bringt er uns«, bemerkte er. Diese Belohnung war für die Entdeckung
des Leichnams eines gewissen Mr. Tobias Jones ausgesetzt, der vor
einer Woche verschwunden war. Da solche Leichname zudem oft
Wertgegenstände in der Tasche hatten, war es für Silas und Lucy
eine feine Sache, eine Leiche zu finden. Silas war ein Müllmann des
Flusses – ein Abfallfischer, wie man sagte. Die Abfallfischer
nahmen alles. Kisten oder Fässer, die von einem Schiff gefallen
waren, Rundhölzer, Körbe, Flaschen – und natürlich Leichen. Diese
sich auf dem Wasser bewegenden Aasgeier hatten etwas an sich, das
die meisten Menschen veranlaßte, sie zu meiden. Dabei konnten die
besten, wie Silas, gut davon leben. Lucy war nicht sicher, warum er
sie als seine Gehilfin gewählt hatte. »Immerhin bist du mit mir
verwandt«, sagte er. Das Geld, das er ihr zahlte, hatte die Familie
vor dem Armenhaus bewahrt. Das Asthma der Mutter hatte seinen
Tribut gefordert, so daß sie nicht mehr arbeiten konnte. Als ihnen
schließlich nur noch fünf Shilling pro Woche blieben, hatte Lucys
Mutter schwach zugestimmt: »Dann geh eben zu Silas.«
Wenn Lucy arbeiten ging, half der kleine Horatio im Haushalt.
Mit sieben Jahren war er immer noch ein blasser, magerer kleiner
Kerl. Seine Beine waren dünn wie Stecken, aber er gab nicht auf.
Jeden Tag, wenn Lucy zurückkam, wartete er mit dem Teekessel und
einer Mahlzeit auf sie. Manchmal, wenn es warm war und es ihrer
Mutter gutging, begleitete Horatio Lucy an den Fluß, setzte sich
bei einem der Bootshäuser in die Sonne oder spazierte bei Ebbe auf
den Schlammbänken herum, wo immer ein paar Kinder auf der Suche
nach etwas Brauchbarem waren. Oft zeigte er Lucy einen kleinen
Schatz, den er gefunden hatte.
Jeden Abend, wenn sie ihn im Arm hielt, versprach er:
»Irgendwann mal bin ich stark. Dann bleibst du daheim, und ich
arbeite für uns alle.«
Nun tauschte Lucy den Platz mit Silas, und er ruderte mit
kräftigen Schlägen auf den Tower zu. Als sie auf der Höhe des Turms
der All-Hallows-Kirche waren, erklärte Silas schroff: »Hab deinen
Bruder nicht zu sehr lieb. Er wird sterben.«
Als Zachary Carpenter sich zu seiner Rede erhob, hätte niemand
in dem stillen Saal von St. Pancras vermutet, daß er innerlich
überzeugt war, seine Zeit zu verschwenden. Ein halbes Leben lang
hatte er für Reformen geworben und nichts erreicht. Dennoch wandte
er sich mit seiner üblichen Redegewandtheit an die Versammelten.
»Erkennt Ihr nicht, daß diese Nation von Blutsaugern ausgelaugt
wird? Was sind der König, das Parlament und ihre vielen Freunde?
Sie fressen Eure Steuern auf. Wollt Ihr einen Beweis für die
Verderbtheit dieses Königreichs? Geht zur Mall und sagt mir, was
Ihr seht. Ihr seht einen Skandal, meine Freunde.« Er sprach vom Bau
des Buckingham-Palastes.
Keine der vielen Peinlichkeiten, die der Prinzregent, der nun
König war, dem englischen Staat zugemutet hatte – nicht einmal
seine Schulden oder seine Gattin, die sich überall herumtrieb –,
konnte es mit dem Skandal des BuckinghamPalastes aufnehmen.
Ursprünglich war es der Sitz eines Aristokraten; die königliche
Familie kaufte ihn, und Georg IV. beschloß, ihn zu einem neuen
Palast ausbauen zu lassen. Der Architekt Nash, sein Freund, wurde
damit beauftragt. Das Parlament genehmigte sehr unwillig
zweihunderttausend Pfund, die bald ausgegeben waren. Die Radikalen
protestierten, und sogar der loyale Herzog von Wellington bekam
einen Wutanfall. Der König aber machte fröhlich weiter.
Mittlerweile war die schwindelerregende Summe von
siebenhunderttausend Pfand ausgegeben worden. Daher mußte Carpenter
seinem Publikum nur vor Augen halten, daß solche Ausschweifungen
weitergehen würden, bis es zu einer Reform kam, und seine Sache war
bewiesen. Doch hatte er damit etwas gewonnen? Nichts änderte sich.
Seit letztem Jahr war der Getreueste der Tories, der Herzog von
Wellington, Premierminister. Gut, er hatte die Getreidezölle etwas
modifiziert, um den Armen zu helfen, aber nicht genug, um den
Grundbesitzern weh zu tun. Der Herzog hatte auch die Test-Akte
aufgehoben, so daß Methodisten und Nonkonformisten wie Carpenter
nicht länger von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen waren. Aber
Carpenter ließ sich davon nicht täuschen. »Wellington ist General«,
meinte er. »Das ist ein taktischer Zug, um seine Stellung bei den
Mittelschichten zu stärken.«
Als die Versammelten aus dem Saal strömten, war Carpenter
erstaunt, ausgerechnet die flaschengrün gewandete Gestalt Lord
Boctons auf sich zukommen zu sehen. »Mr. Carpenter, ich stimme
jedem Ihrer Worte zu!« erklärte dieser unnachgiebige Tory. »Sie und
ich, Mr. Carpenter, stehen uns vielleicht näher, als Sie glauben.
Ich komme tatsächlich zu Ihnen, um Sie um Ihre Hilfe zu bitten. Ich
kandidiere fürs Parlament, und ich trete für eine Wahlrechtsreform
ein.«
Das System politischer Vertretung, über das Carpenter sich
ereiferte, war wirklich schwerlich zu verteidigen. Große
Industriestädte stellten kein Parlamentsmitglied; viele ländliche
Sitze standen unter dem Patronat von Großgrundbesitzern, und der
größte Skandal waren die durch einen einzigen Grundbesitzer
vertretenen Wahlkreise, die pocket boroughs – oft
auch rotten boroughs, korrupte Wahlkreise, genannt –, wo
eine Handvoll vom Grundherrn abhängiger oder käuflicher Wähler das
Recht hatte, ein Mitglied zu entsenden. Manche Radikale traten
sogar für geheime Wahlen ein.
»Das kommt mir als ein feiges, hinterhältiges Verfahren vor,
das kein ehrbarer Mann unterstützen sollte«, gestand Bocton. »Aber
vielleicht können Sie mich umstimmen, Mr. Carpenter. Sind Sie
wirklich der Überzeugung, daß jedermann – der Geselle, den Sie
wegen Trunkenheit entlassen müssen, der Lehrling, sogar der Bettler
im Armenhaus – dasselbe Recht haben sollte wie Sie, die Führer des
Landes zu wählen?«
Genau wie er sich gedacht hatte, zögerte Carpenter. Diese
Frage hatte die Reformbewegung seit Jahren beschäftigt. Die
Puristen glaubten, alle Männer, gleich welchen Standes, sollten
Stimmrecht haben. Vor zehn Jahren hätte Carpenter noch zugestimmt,
aber je älter er wurde, desto mehr Zweifel kamen ihm. Waren zum
Beispiel seine zwanzig Angestellten wirklich reif für eine so große
Verantwortung? »Die Männer, die Steuern zahlen, sollen das
Stimmrecht haben.« Solide Bürger wie er.
»Genau«, pflichtete Lord Bocton ihm bei. Daß Frauen auch
wählen sollten, war keinem von ihnen je in den Sinn gekommen. »Mein
Titel«, fuhr Bocton fort, »als Erbe des Earls of St. James ist nur
ein Höflichkeitstitel. Im House of Lords sitzt mein Vater, aber ich
könnte ins House of Commons gewählt werden.« Viele politisch
interessierte Adlige schlugen diesen Weg ein. »Bei den nächsten
Wahlen möchte ich für den Sitz von St. Pancras kandidieren. Zwar
bin ich ein Tory, aber ich werde für eine Reform stimmen, und ich
möchte, daß Sie mich unterstützen.«
»Aber warum wollen Sie für eine Reform eintreten?«
Der Grund, warum Bocton und eine Reihe anderer Tories
plötzlich auf Reformkurs umgeschwenkt waren, hing mit den irischen
Katholiken zusammen. Im vergangenen Jahr war bei einer unerwarteten
Nachwahl ein prominenter irischer Katholik ins britische Parlament
gewählt worden. Nach den bestehenden Vorschriften konnte er seinen
Sitz aufgrund seiner Religion eigentlich nicht einnehmen. »Aber
wenn wir die Entscheidung nicht akzeptieren, revoltieren die Iren
womöglich«, hatte Wellington bedauernd erklärt. »Die Regierung des
Königs muß weitergeführt werden.« Nach beträchtlicher Druckausübung
hatte die Regierung tatsächlich ein Gesetz verabschiedet, das
Katholiken dieselben Rechte zugestand wie den Nonkonformisten.
Politisch war das ein gefährlicher Kurs.
Im Frühjahr 1829 fanden sich solide Tories in den Grafschaften
an der Seite methodistischer Ladeninhaber. »England ist
protestantisch«, erklärten sie. »Wenn die Regierung und ihre
käuflichen Wähler den Katholiken nachgeben, wovor werden sie dann
als nächstes zurückweichen?«
»Tatsächlich«, gestand Bocton mit entwaffnender Offenheit,
»fragen sich manche von uns sogar, ob wir nicht mit
Parlamentariern, die von soliden Männern aus der Mittelschicht
gewählt werden, besser dran wären als mit diesen käuflichen Wählern
ohne Prinzipien. Vielleicht ist eine vernünftige Reform besser als
Chaos.«
Beide Männer hatten ein gemeinsames Interesse, und so trafen
sie ein Abkommen. Eines irritierte Carpenter jedoch ein wenig.
»Bedeutet das, Mylord, daß Ihr Vater nun mit Ihnen zufrieden ist?«
wagte er zu fragen, nachdem er mit seinem früheren Feind zu einer
Einigung gekommen war.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Bocton. »Glauben Sie, mein Vater
würde Ihnen in der Frage des Buckingham-Palastes zustimmen?«
»Ich nehme es an.«
»Tut er aber nicht. Er sagt, der König soll soviel ausgeben,
wie er mag.« Das stimmte. Weil der Monarch ein Freund des Earls
war, scherte er sich nicht darum, wieviel Geld er für den Palast
verschwendete.
Lucy würde sich immer an den Tag erinnern, als sie zum
Lavendelhügel gingen. Es war angenehm warm, als sie die Tottenham
Court Road hinabschritten. Lucy hatte eine Flasche Wasser und ein
wenig Proviant in einem Tuch dabei. Nach jeder Meile durfte Horatio
sich ein wenig ausruhen. Vor ein paar Jahren wäre es ein
angenehmerer Spaziergang entlang der Themse gewesen, mit
Holzlagerplätzen am Ufer zu ihrer Rechten und offenen Gärtnereien
zu ihrer Linken. Nun standen hier kleine Fabriken, und statt der
Gärten drängten sich Reihenhäuser für Arbeiter und Handwerker
aneinander. Als sie die alte Mauer um den Lambeth Palace erreicht
hatten, war es heiß geworden. Von hier aus hatten sie noch eine
weite Strecke nach Vauxhall, wo es noch die alten Vergnügungsgärten
gab. Eine Schnapsbrennerei und eine Essigfabrik am Ufer vor ihnen
hatten den luxuriösen Anblick des Palastes jedoch zerstört. Als sie
schließlich Vauxhall erreichten, bemerkte Lucy, daß Horatio zu
hinken begann.
Gerade nach dem Mittagsläuten kam Mary Penny an Vauxhall
vorbei. Als der Gig die lange Straße nach Clapham hinaufrollte,
bemerkte sie die beiden Kinder am Straßenrand. »Halten Sie an!«
rief sie dem Kutscher zu. »Nehmen wir die Kinder mit, sie sehen so
müde aus.« Einen Augenblick später thronten Lucy und Horatio neben
der freundlichen Lady, die sich erkundigte, wo sie hinwollten. »Oh,
genau dort wohne ich!« rief sie dann aus. »Es ist ein zauberhafter
Ort. Und ihr wollt wieder den ganzen Weg nach St. Pancras
zurückgehen? Denkt daran, daß ihr euch auf dem Lavendelhügel erst
einmal gut ausruht.«
Der Lavendelhügel am Nachmittag. Tausende von Lavendelbüschen
überzogen die Abhänge mit einem blauen Schleier, über dem zahllose
Bienen summten. Der Duft war überwältigend. Lucy wickelte ihren
Proviant aus und legte Horatio das Tuch über den Kopf, um ihn vor
der Sonne zu schützen. Zwei Stunden blieben die beiden Kinder hier
und atmeten die warme, süße Luft ein. Lucy fühlte sich wie in einem
Traum. Horatio döste ein wenig. »Gehen wir nun wieder heim zu
Mutter«, sagte Lucy schließlich, »und bringen ihr ein wenig
Lavendel mit.«
Als sie am Rand des Feldes ankamen, sahen sie erstaunt den
Ponywagen, der auf sie wartete. »Die Lady hat angeordnet, daß ich
euch heimbringen soll«, erklärte der Kutscher. Auf dem Heimweg
sangen die Kinder immer wieder das Lavendellied.
1830 erwies sich als ein Jahr großer
Umwälzungen. Die politische Ordnung in Europa nach der
Restauration, die der Französischen Revolution und der Herrschaft
Napoleons gefolgt war, war keineswegs stabil. Unter der Oberfläche
wirkten immer noch die von den Franzosen freigesetzten Kräfte der
Demokratie, und es kam in vielen Ländern zu Aufständen.
In England war die Hausse der vergangenen Jahre zum Stillstand
gekommen; die Ernte des vorhergehenden Jahres war katastrophal
gewesen, und Wellingtons Korrektur der Getreidezölle war keineswegs
weitgehend genug, um dem Problem abzuhelfen – der Brotpreis
schnellte in die Höhe. Im Juni starb der König, ohne seinen
extravaganten Palast vollendet zu haben; ihm folgte als Wilhelm IV
sein Bruder nach, ein gutmütiger Seemann. Im Juli kam aus
Frankreich die Nachricht, daß die Franzosen nach über einem
Jahrzehnt unter der korrupten Herrschaft der restaurierten
Monarchie revoltierten. Innerhalb von Tagen wurde eine neue
liberale Monarchie errichtet. Wie immer blickte Europa auf
Frankreich, und auch in Italien, Polen und Deutschland gab es
Anzeichen für Revolten. Zu diesem Zeitpunkt begannen auch die
Aufstände in England. Die sogenannten Swing-Aufstände brachen im
Süden und Osten aus, wo die Preise für Grundnahrungsmittel in
diesem Jahr besonders hoch waren. Die Aufständischen machten alles
dafür verantwortlich: die Regierung, landwirtschaftliche Maschinen,
die Grundbesitzer. Woche um Woche setzten sich die Unruhen von
einem Dorf zum nächsten fort.
Für Carpenter war das Jahr aufregend. In den ersten Monaten
weckte eine Entwicklung im Norden Englands seine Neugier. Es gab
dort mehrere Versuche, Organisationen kleiner Meister und Arbeiter
zu Gewerkschaften zusammenzuschließen, die als Lobby Politiker für
ihre Interessen beeinflussen konnten. Die Ziele dieser
Gewerkschaften waren noch nicht klar. »Aber die Tatsache, daß sich
Menschen überhaupt organisiert zusammenschließen, kann langfristig
nur Veränderungen bedeuten«, meinte er.
Den größten Auftrieb für seinen Kampfgeist brachte die Wahl,
in der er mit seinem neuen Verbündeten Bocton kämpfte. Wenn der
König starb und ein neuer folgte, wurde traditionell eine Wahl
abgehalten. Es war keine sehr bedeutsame Sache, da es bei den
meisten Sitzen keinen Gegenkandidaten gab. Der Sitz von St. Pancras
jedoch war umkämpft. Ein redegewandter Anwalt, unterstützt von den
Gentlemen der Kirchspielversammlung, kandidierte und rechnete mit
einem Sieg. Die überraschende Kandidatur des sauertöpfischen Tories
Bocton auf einer Reformplattform der Whigs schien eine widersinnige
Störung.
Bocton und Carpenter arbeiteten eine einfache Taktik aus.
Immer wenn der Kandidat bei einer öffentlichen Versammlung sprach,
trat auch Bocton auf. Zuerst pflichtete er dem Kandidaten der
Tories bei, dann erklärte er: »Aber es funktioniert nicht.« Im
folgenden zeichnete er den Zuhörern ein furchterregendes Bild.
Revolution in Frankreich, Gewerkschaften im Norden, Banden
hungernder Landarbeiter, die über die London Bridge stürmten, und
schließlich rief er: »Ich habe mein Leben lang die Interessen des
Adels verfochten, aber ich sage Ihnen, so kann es nicht
weitergehen. Reform oder Revolution. Sie haben die Wahl.«
Carpenters Reden vor seiner reformerischen und radikalen
Wählerschaft ließen sich noch einfacher zusammenfassen: »Bocton ist
ein Tory, aber er ist zur Einsicht gekommen. Stimmt für ihn.«
Carpenter hatte den Earl in den letzten Jahren seltener
gesehen, jedoch bemerkt, daß der nun achtzigjährige St. James nicht
mehr ganz der Alte war. Seine Hände waren rotblau geschwollen, und
er blickte zunehmend reizbar drein. Bei einer von Boctons Reden sah
Carpenter den Earl, der sich mit seinem Enkel im Publikum befand.
Carpenter begrüßte den alten Mann. »Sind Sie gekommen, um Ihren
Sohn zu unterstützen?« fragte er. »Bocton unterstützen? Diesen
Verräter? Bestimmt nicht!« explodierte der Earl und stampfte davon,
George im Schlepptau.
Bei der Wahl in St. Pancras erhielt Lord Bocton eine große
Mehrheit, und auch für die meisten anderen umkämpften Sitze wurden
Reformer gewählt. Dennoch blieb die Lage im Land unbeständig. Es
gelang der Regierung nicht, die SwingAufstände unter Kontrolle zu
bringen; die oppositionellen Whigs verspotteten sie Tag für Tag und
erklärten, die Mittelschichten würden das nicht länger mitmachen.
Der Herzog von Wellington blieb hart. Die einzige Konzession seiner
Regierung war die Erlaubnis an bisher nicht zugelassene Hersteller,
billiges Bier zu brauen, das die höheren Brotkosten kompensieren
sollte.
Anfang November teilte der Herzog von Wellington kühl mit, in
der nächsten Zukunft werde es mit ihm keine Wahlrechtsreform geben,
und sogar ein paar Tories fanden, er gehe zu weit. Zwei Wochen
später wurde die Regierung im House of Commons niedergestimmt, und
Bocton teilte Carpenter mit: »Der König schickt nach den Whigs, Mr.
Carpenter. Sie haben Ihre Reform.«
Für Lucy brachte das Jahr Kummer. Auch das warme
Frühjahrswetter verbesserte Horatios Gesundheit nicht. An heißen
Sommertagen kämpfte er sich jedoch so oft es ihm möglich war
hinunter zur Themse und spazierte auf den Schlammbänken herum,
während sie und Silas arbeiteten. Um ihm etwas Besonderes zu
gönnen, nahm sie ihn einmal zur Bank mit, wo ein Mann mit
Unternehmungsgeist im Sommer zuvor eine neue Form des Transports
eingerichtet hatte: Ein großer Wagen mit zwanzig Sitzplätzen,
gezogen von drei kräftigen Pferden, fuhr von der Bank bis in das
westliche Dorf Paddington. Omnibus nannte man dieses Gefährt. Die
Kinder fuhren für Sixpence bis an den Rand von St. Pancras
zurück.
Horatio wurde zunehmend schwächer. Im Herzen wußte Lucy, daß
er in ihrer dunklen Wohnung und im Londoner Nebel nie gesund werden
würde. »Er muß fort von hier«, sagte sie zu Silas, obwohl sie den
Gedanken, sich von ihm zu trennen, kaum ertragen konnte. Silas
erwiderte nichts. »Fallen dir keine Verwandten oder Freunde ein,
die ihm helfen könnten?« fragte sie mehrmals. »Nein«, lautete die
Antwort stets.
Einmal fand Horatio an einem schönen Oktobertag im Schlamm
fünf goldene Sovereigns. »Fünf Sovereigns!« Er lächelte. »Jetzt
sind wir reich! Kannst du jetzt nicht aufhören zu arbeiten?
Wenigstens für eine Weile?«
»Wir werden ein Festessen machen«, versprach sie statt
dessen.
Die berühmteste Abstimmung im House of Commons in der
Geschichte des modernen England fand am 23. März 1831 statt. Das
Gesetz zu einer großen Wahlrechtsreform, vorgelegt von der neuen
Whig-Regierung, war nach mehreren stürmischen Sitzungen
durchgegangen. Etwa hundert Sitze sollten gestrichen und die
gesamte politische Struktur drastisch umgestaltet werden. Die
historische Maßnahme, die in England die moderne Demokratie
einführte, kam mit einer Stimme Mehrheit durch.
Wenige Tage später wurde jedoch ein Abänderungsantrag
verabschiedet, nach dem von der Reform nicht mehr viel übrig war.
»Jetzt werden die Whigs aufs Land gehen«, meinte Bocton, »und sie
werden gewinnen.« Lord Grey, der Premierminister der Whigs, setzte
prompt Neuwahlen an, und die Whigs wurden tatsächlich mit großer
Mehrheit gewählt. Eine Reform war nun unvermeidlich.
Eine kleine Begebenheit verwirrte Carpenter. Zu Beginn des
neuen Wahlkampfs war er zu einer Versammlung mit Bocton gegangen.
Als er ihn in einem überfüllten Saal neben der Westminster Hall
fand, fragte er vollkommen unbefangen: »Ich sehe, daß nun auch Ihr
Sohn George kandidiert. Für einen Pocket borough.«
Bocton sah ihn erstaunt an. »Wirklich?« Als er den alten St.
James erblickte, sprach er ihn an. »Wußten Sie, Vater, daß George
für einen Rotten borough kandidiert?«
»Natürlich, Bocton. Ich habe ihn für ihn gekauft.«
»Das haben Sie mir nicht gesagt. Aber ich freue mich darauf,
mit ihm die Abstimmungshalle zu betreten. Vater und Sohn«, meinte
Bocton trocken.
Daß ein Mann für einen Rotten borough kandidierte, sagte noch
nicht, daß er das Wahlsystem unterstützte. Es gab eine ganze Reihe
von Whigs, die über Rotten boroughs ins Parlament gekommen und
somit eigentlich verpflichtet waren, für die Abschaffung ihrer
eigenen Sitze zu stimmen.
»Wirklich?« Der alte Earl zuckte die Achseln. »Ich habe keine
Ahnung, wie er stimmen wird.«
»Er wird wie Sie und ich für eine Reform stimmen, Mylord«,
schmeichelte Carpenter dem brummigen alten Mann. »Deshalb haben Sie
ihm ja den Wahlkreis gekauft.«
Der alte Earl starrte ihn nur an.
Erstickender Septembernebel, dicht und
graubraun, lag über dem Fluß. Waren sie gegenüber von Blackfriars,
unten am Tower oder im Gebiet von Wapping? Als Lucy Silas fragte,
brummte er nur.
Lucy ließ ihre Gedanken schweifen. An Weihnachten hatten
Horatio und sie ein köstliches Festmahl für ihre Mutter bereitet.
Im Januar dann hatte Horatio angefangen, Schleim zu husten, und in
der ersten Februarwoche wurde er so von Fieber gequält, daß Lucy
sich fragte, wie lange sein schwacher Körper das aushalten konnte.
Zwei Monate lang mußte er, eingehüllt in Tücher, zu Hause sitzen.
Manchmal versuchte die Mutter, seine Infektion mit heißen
Umschlägen zu lindern, und er dankte ihr mit Tränen in den Augen.
Erst im Mai wurde es etwas besser, aber er blieb den ganzen Sommer
über schwach; und bei der nun beginnenden Septemberkühle und dem
Nebel zitterte Lucy davor, daß die Krankheit wieder ausbrechen
könnte.
Silas lehnte sich nachdenklich auf die Ruder. Sie wechselten
selten mehr als ein paar Worte, aber als sie nun so allein im Nebel
saßen, beschloß Silas, etwas umgänglicher zu sein. »Du hast Mumm.
Hier draußen im Nebel unterwegs, und ohne daß du dich je
beklagst.«
Ermutigt durch diese ungewöhnliche Wendung des Gesprächs,
wagte sie eine Frage: »Woher weißt du, wie man etwas finden kann,
Silas? Sogar in diesem Nebel?«
»Weiß ich nicht«, gestand er. »Hab's immer gekonnt.«
»Warst du als Kind schon auf dem Fluß?« Er nickte. »Und dein
Vater?«
»Fährmann. Die ganze Familie war auf dem Fluß, bloß meine
Schwester nicht. Sie hat's gehaßt.«
Lucys Herz setzte einen Schlag aus. Er hatte eine Schwester.
»Sie ist dann also nicht geblieben?« fragte sie weiter.
»Sarah? Nein. Hat einen Kutscher in Clapham geheiratet. Sie
haben da einen Laden aufgemacht. Jetzt sind sie schon lange tot,
alle beide. Auch keine Kinder da.«
Aber sie wußte, daß er log.
Im Oktober 1831 hatte Zachary Carpenter zum
erstenmal in seinem Leben das Gefühl, daß mit der Welt alles in
Ordnung war. Die Septembernebel hatten sich verzogen; das Wetter
war schön. Vor zwei Wochen war der Reformantrag der Whigs wie
erwartet im House of Commons verabschiedet worden; Lord Bocton und
sein Sohn hatten zusammen abgestimmt. Nun würde der König
unterzeichnen, und die Reform war Gesetz. Noch erfreuter war er
über die Erklärung des Parlaments, es sei ungesetzlich, daß man das
offene Kirchspiel St. Pancras in ein geschlossenes umgewandelt
hatte. Daher war es ein Schock für Carpenter, als er spät an diesem
Abend eine Nachricht von Bocton erhielt, die ihn veranlaßte, in das
Haus des Earl of St. James zu stürmen.
Niemals in seinem Leben war Carpenter wütender gewesen. »Was
zum Teufel haben Sie getan, Sie alter Schwindler?« schrie er. Das
House of Lords hatte das Reformgesetz gerade mit einer knappen
Mehrheit abgelehnt, und der Earl of St. James zählte zu den Peers,
die es abgelehnt hatten.
Carpenter wußte nicht, welche Reaktion er auf seinen Ausbruch
erwarten sollte, und es war ihm auch egal. Er war überrascht, als
der alte Mann ein wenig verwirrt dreinsah. »Sie wollten George
seinen Sitz wegnehmen«, murmelte er.
»Natürlich! Es ist ein Rotten borough«, rief Carpenter, den
das Verhalten des Earls blind dafür machte, daß der alte St. James
nicht mehr ganz im Besitz seiner geistigen Kräfte war. »Sie alter
Narr!« schrie Carpenter. »Sie sind genau wie der Rest von Euch
Aristokraten!« Er drehte sich auf dem Absatz um und schlug die Tür
hinter sich zu, so daß er nicht mehr sah, wie der Earl ihm ehrlich
verwirrt nachstarrte. »Wer bin ich?« fragte er.
Lucy wußte, daß sie keine Zeit zu verlieren
hatte. Am Tag nach dem Nebel hatte Horatio zu husten begonnen, und
Ende September war das Fieber wieder da. Sie hatte einen Arzt
geholt, den sie mit einem der Sovereigns, die Horatio gefunden
hatte, bezahlen wollte, doch nach einer sorgfältigen Untersuchung
hatte der Doktor nur traurig den Kopf geschüttelt und ihnen
geraten, ihm feuchte Brustwickel zu machen, damit wenigstens das
Fieber sank. Dann gab er Lucy die Goldmünze zurück. Am 6. Oktober
spuckte Horatio Blut. So kommt er nie durch den Winter, dachte
Lucy.
Lavendelhügel. Wenn sie ihn nur dort hinaufbringen könnte. Sie
wußte nun, daß es dort, in Clapham, eine Cousine gab, die einen
Laden hatte. Sie hatte sich ein Bild von dieser Cousine
zurechtphantasiert – eine warmherzige, freundliche, mütterliche
Frau, die den kleinen Jungen willkommen heißen und für ihn sorgen
würde. So viele Läden konnte es in dem Dorf Clapham nicht geben,
dachte Lucy; sie mußte nur ein wenig herumfragen, dann würde sie
ihre Cousine schon finden. Sie hatte gehofft, den Laden erst allein
aufsuchen zu können, aber keine Zeit gehabt, und als sie den Jungen
nun Blut husten sah, überwältigte sie ein blindes Verlangen, ihn
aus der Stadt hinauszubringen.
Sie hatte niemandem etwas gesagt. Ein Fuhrmann brachte sie für
einen Shilling im Morgengrauen zur London Bridge. Dort ließ sie
Horatio, in Schal und Mantel vermummt, an einer Ufertreppe und
holte das Boot aus Southwark. Es wurde gerade hell über dem Fluß,
als Lucy Horatio in das Boot trug. Er klapperte mit den Zähnen,
beklagte sich aber nicht. Ein paar Minuten später fuhren sie
langsam flußaufwärts.
Noch eine Gestalt war an diesem Morgen in
der frühen Dämmerung unterwegs, gekleidet in einen Mantel, mit
einem alten Dreispitz auf dem Kopf. Unter dem Mantel trug der alte
Mann nur einen Seidenschlafrock und ein Paar hochglanzpolierte
Schuhe mit hohen Absätzen. Ein Diener folgte ihm.
Als der Earl of St. James Seven Dials erreichte, waren dort
bereits Leute unterwegs; in dem nahen Markt von Covent Garden
begann bereits das Geschäft. Bei der Säule von Seven Dials blieb
der Earl stehen, als halte er nach jemandem Ausschau. Er wartete
eine Weile, bis er einen Straßenhändler mit einem Karren näher
kommen sah. Der Händler, ein freundlicher Kerl, dem bald klar
wurde, daß der alte Gentleman nicht richtig im Kopf war, sprach
sanft mit ihm. Nur eines war ihm ein Rätsel – der alte Gentleman
sprach breites Cockney. »Harn Se meinen Dad gesehn? Harry Dogget,
Straßenhändler.«
»Alter Junge, ich glaube, Ihr Dad ist schon ein paar Jährchen
tot.« Eine Frau mit einem Korb Austern gesellte sich zu ihnen. »Wer
ist das?« fragte sie.
»Sucht seinen Dad«, erwiderte der Händler.
Sie lachte. »Was ist mit deiner Mum, Lieber?«
»Nee.« St. James schüttelte den Kopf. »Die kann ich nich
brauchen. Ich muß Sep finden. Er hätt in dem Kamin sein sollen,
nich ich.«
»Er hat wirklich den Verstand verloren«, meinte die Frau
kopfschüttelnd.
In diesem Augenblick hielt ein paar Meter weiter eine Kutsche,
aus der Lord Bocton stieg, begleitet von Mr. Cornelius
Silversleeves.
Es ging sehr langsam voran, da Lucy gegen
die Strömung rudern mußte. Sie wollte an eine Stelle bei Chelsea.
Dort überquerte eine wacklige alte Brücke den Fluß, der danach eine
scharfe Biegung nach links machte. Ein Stückchen weiter kam aus dem
alten Dorf Battersea ein Zufluß in die Themse, und von hier aus war
es nur ein kurzer Fußweg über den Lavendelhügel hinauf nach Clapham
Common.
Es war Vormittag, als Lucy das Boot vertäute. Horatio war so
schwach, daß sie ihn tragen mußte. Sie sah sich um und entdeckte in
dem kleinen Kirchhof, der hier lag, ein altes Familiengrab mit
einer breiten Einfassung. Dorthin trug sie ihren Bruder, setzte
sich mit dem Rücken gegen den Grabstein und wiegte Horatio sanft in
ihren Armen.
Es war still hier, nur ein paar Spatzen tschilpten in den
Bäumen, und für ein paar Minuten brach sogar die Sonne durch den
grauen Himmel. Schließlich öffnete Horatio die Augen.
»Wir sind da«, sagte Lucy. »Schau nur! Du kannst den
Lavendelhügel sehen. Da gehen wir hinauf, und dann wirst du dich
besser fühlen.«
Er nickte langsam. »Lavendelhügel«, sagte er und schloß wieder
die Augen, bevor er zu husten begann – ein tiefer, schleimiger
Husten. »Lucy?« fragte er. »Sterbe ich?«
»Natürlich nicht.«
»Wenn ich weiterleben könnte«, sagte er schwach, »würde ich
gern mit dir auf dem Lavendelhügel wohnen. Ich bin froh, daß du
mich hierhergebracht hast.«
»Laß mich nicht allein«, flehte sie. »Du mußt kämpfen!«
»Lucy«, flüsterte er, »sing mir das Lavendellied vor.«
Und so sang sie, aber als sie zu der Zeile kam »Wenn du der
König bist, dilly, dilly«, ging ein Beben durch seinen schwachen
Körper, dann wurde er schlaff, und sie wußte, daß er tot war.
»Ein höchst bemerkenswerter Fall«, sagte
Silversleeves. »Ein vollkommener Persönlichkeitsverlust. Er scheint
sogar zu glauben, daß er eine andere Familie hat.«
»Er ist also verrückt?« fragte Bocton. »Sie können ihn
einsperren?«
»Gewiß. Jetzt gleich, wenn Sie wollen.«
»Das käme mir sehr zupaß. Und es wird dem politischen
Fortschritt helfen.«
Der öffentliche Zorn über das Vorgehen der Lords am Abend
zuvor war so groß, daß die neugeschaffene Polizei am Vormittag mit
Tumulten rechnete. Eine Stunde vor der Abstimmung in Westminster
sagten manche Parlamentsmitglieder, der König müsse wohl noch ein
paar Whigs zu Peers machen, um die Reform durchzubekommen.
Um halb zwölf vormittags fuhr eine geschlossene Kutsche durch
die Tore des großen Hospitals Bedlam in Lambeth, und man führte den
schwach und verwirrt aussehenden Earl of St. James in die
prachtvolle Eingangshalle.
Dort sollte er jedoch nicht sehr lange bleiben.
In Bedlam war es üblich, daß die ehrbare Öffentlichkeit die
Anstalt gegen ein Eintrittsgeld besichtigen konnte. Neugierige
konnten die Personen beobachten, die entweder vom Strafgericht oder
von Silversleeves und seinen Freunden für verrückt erklärt worden
waren. Manche Männer hielten sich für Napoleon und nahmen eine
pompöse Haltung an; andere lachten oder schnatterten. Manche waren
an ihren Betten festgebunden, während wieder andere sich manchmal
auszogen und obszöne Gesten vollführten. Die meisten Leute fanden
das höchst amüsant. Ein alter Mann behauptete, der Earl of St.
James zu sein.
Am frühen Nachmittag kam Meredith. Als George herausgefunden
hatte, was mit seinem Großvater geschehen war, hatte er den Bankier
um Rat gebeten, und dessen Antwort versprach nichts Gutes. »Ich
glaube, mit Silversleeves' Hilfe wird es Ihrem Vater gelingen,
Ihren Großvater zu entmündigen. Wir müssen ihn aus Bedlam
herausholen. Sie können das nicht tun, weil Bocton die Leute dort
wahrscheinlich vor Ihrem Erscheinen gewarnt hat. Aber ich schaffe
es vielleicht. Ich muß etwas finden, wo er unter erträglichen
Bedingungen leben kann.«
»Aber das wäre ja eine Entführung, Meredith!«
»Richtig. Und ich glaube, ich weiß ein Versteck für
ihn.«
Er schickte einen Jungen, der nach Silversleeves fragte, und
vergewisserte sich so, daß dieser für ein, zwei Stunden mit Bocton
unterwegs war. Unmittelbar danach fuhr Meredith' Kutsche im Hof
vor. Er betrat das Gebäude und befahl den Pförtnern, sofort
Silversleeves zu holen. Ungeachtet ihrer Versicherungen, der
Direktor sei nicht da, schritt er den Gang hinunter und verlangte,
St. James zu sehen. Kaum hatte er ihn gefunden, packte er ihn am
Ärmel und führte ihn zum Ausgang. »Ich bin der Leibarzt Seiner
Majestät des Königs und habe Befehl, diesen Patienten unverzüglich
an einen andern Ort zu bringen. Ich nehme an, Sie wissen, daß der
Earl ein persönlicher Freund des Königs ist?« Seine hochgewachsene,
gebieterische Gestalt und die ehrfurchtgebietenden Namen, die er
nannte, überwanden jeglichen Widerstand.
Nur einen Augenblick später ratterte seine Kutsche in Richtung
Westminster davon, doch kaum außer Sicht, schlug sie einen ganz
anderen Weg ein. Und so fand der Earl of St. James Zuflucht im Haus
von Mrs. Penny in Clapham Common am Lavendelhügel.
»Verdammt!« knurrte Lord Bocton, als er hörte, daß sein Vater
verschwunden war. »Wir hätten ihn festbinden sollen.«
Das große Reformgesetz wurde im Sommer 1832 verabschiedet.
Nicht nur bekamen die neuen Städte Sitze im Parlament und wurden
die Rotten boroughs abgeschafft, sondern man legte auch fest, daß
breite Teile der Mittelschicht das Wahlrecht erhielten. Frauen
konnten natürlich immer noch nicht wählen.
Da Horatio nun tot war und Lucy nur noch an sich und ihre
Mutter zu denken hatte, überlegte sie seit einiger Zeit, ob sie es
sich leisten könnte, nicht mehr für Silas zu arbeiten. Sie zog
verschiedene Möglichkeiten in Betracht, unter anderem die kleine
Fabrik, in der ihre Mutter früher gearbeitet hatte. Sie fragte sich
sogar, ob sie nicht etwas Unterstützung von der Cousine in Clapham
bekommen könnte, aber sie fand keine Spur von ihr oder ihrer
Familie. Eines Sommertags wurde diese Frage unerwartet geklärt. Sie
kam wie immer morgens zur Arbeit, fand Silas aber zu ihrer
Überraschung ohne sein Boot vor. »Wo ist das Boot?« fragte
sie.
»Hab's verkauft. Tatsache ist, ich glaube, ich brauch dich
nicht mehr. Ich mach jetzt was anderes.« Er nahm sie mit in eine
Gasse, wo ein schmutziger alter Karren stand. »Mit dem sammle ich
jetzt Müll. Die Leute zahlen dafür, daß man ihn wegbringt. Den
schichtet man irgendwo in einem Hof zu einem großen Haufen auf und
durchsucht ihn nach etwas Brauchbarem. Wenn du willst, kannst du
beim Sortieren helfen.«
»Ich glaube nicht«, erwiderte sie. »Meine Mutter und ich
werden schon zurechtkommen.«
Für Eugene Penny brachte das Jahr eine neue
Ausgabe, die er sich jedoch leisten konnte.
Die drei Wochen, in denen der Earl of St. James bei seiner
Familie wohnte, waren für Penny die anstrengendste Zeit seines
Lebens. An manchen Tagen war der alte Mann bei klarem Verstand und
wollte nach Hause. Eugene war gezwungen, ihn festzuhalten, was er
peinlich fand. An anderen Tagen war der Earl wieder verwirrt. Es
war eine Erleichterung, als Meredith endlich kam und ihn an einen
ruhigen Ort im West Country brachte.
Von da an hatte Eugene so viel Arbeit in der Bank, daß ihm
kaum Zeit blieb, an etwas anderes zu denken, bis er eines Tages in
der Fleet Street eine gebückte, traurige Gestalt mit abgenutzten
Schuhen sah und plötzlich erschrocken und schuldbewußt feststellte,
daß es sein Pate Jeremy Fleming war. Es war zwei Jahre her, daß er
ihn zuletzt besucht hatte. Warum hatte er das nicht getan, obwohl
er von ihm doch soviel Freundlichkeit erfahren hatte? Er hatte viel
zu tun, aber das war keine Entschuldigung. Was um alles in der Welt
war nur mit ihm geschehen?
Flemings Geschichte war bald erzählt. »Schuld war Wellingtons
Biergesetz von 1830, weißt du«, erklärte er. »Als jedermann sich
über die hohen Preise beklagte, wurde doch ein Gesetz erlassen, daß
jeder Bier brauen und verkaufen darf. So habe ich da oben bei St.
Pancras selbst eine kleine Brauerei aufgemacht und ein Jahr lang
Bier gebraut.«
»Ich dachte, du seist für so ein Unternehmen zu
vorsichtig?«
»Stimmt. Aber ich habe es so bewundert, wie du dein Leben
angepackt hast, Penny, daß ich mir gesagt habe, ›siehst du, Jeremy
Fleming, was du mit ein bißchen Mut hättest erreichen können‹. Und
ich habe mir gedacht, daß jeder Bier kaufen will, aber meines hat
keiner gewollt. Dann bin ich unvorsichtig geworden und habe es erst
recht weiter versucht. So habe ich alles verloren.«
»Das habe ich nicht gewußt! Du hast es mir nie gesagt.« Ich
habe auch nie gefragt, dachte Penny. »Wovon lebst du jetzt?«
»Meine Kinder sind sehr hilfsbereit, sie geben mir, soviel sie
können. Ich verhungere nicht.«
»Und dein Haus?«
»Ich habe jetzt etwas Kleineres, hier in der Nähe.«
»Du mußt heute noch zu uns zum Essen kommen!« rief Penny. Von
diesem Tag an bezahlte er Flemings Miete, ließ ihm einmal im Jahr
einen neuen Anzug machen und lud ihn häufig nach Clapham ein. Auf
Marys Wunsch hin wurde er zum zusätzlichen Paten ihrer Kinder
ernannt.
»Du bist gut zu ihm«, sagte sie manchmal zu ihrem Mann. Eugene
schüttelte dann den Kopf. »Aber sehr spät, Mary«, erwiderte er.
Dennoch, wenn er an warmen Sommerabenden mit ihr spazierenging,
dachte er, daß sich bei ihnen auf dem Lavendelhügel alles zum
besten entwickelt hatte.