LAVENDELHÜGEL

1819

ALS DIE KUTSCHE von Dover nach London über die lange gerade Straße des Shooter's Hill kam, mußte sich der junge Mann auf dem Kutschbock zweimal den Staub von der Brille wischen. Er wollte sich nichts entgehen lassen. Gespannt und aufgeregt war der achtzehnjährige Eugene zum erstenmal auf dem Weg nach London. Als sie das Ende des Shooter's Hill erreicht hatten und unter sich die Metropole sahen, spiegelte sein Gesichtsausdruck zuerst Erstaunen und schließlich, als sie den Abhang hinunterfuhren, Entsetzen wider. »Das ist London?« rief er, und der Kutscher lachte.
Sucht man nach einer Zeit, in der die Zivilisation den Glanz des alten Rom übertraf, müßte man in der englischsprachigen Welt sicherlich die Epoche unter Georg III. nennen. Nominell war es eine lange Regierungszeit, von 1760 bis 1820, die zwei wesentliche Ereignisse umspannte, doch wurde der König, der unter dem erblichen Enzymdefekt Porphyrie, einer schweren Stoffwechselstörung, litt, über lange Zeiträume hinweg für geistig unzurechnungsfähig erklärt.
Ganz und gar römisch geprägt waren die dreizehn amerikanischen Kolonien, die 1776 ihre Unabhängigkeit von der britischen Kolonie erklärten. Selbst jene Staaten, die anfangs noch eine Zuflucht für religiös Verfolgte waren, hatten sich zu Gesellschaften entwickelt, die den Stadtstaaten der unabhängigen Bauern und Kaufleute, die den Kern der frühen Macht Roms gebildet hatten, ähnlich waren. Der stoische General Washington sah aus wie ein Patrizier, hatte eine Landvilla in Mount Vernon, Tausende Hektar Land und verhielt sich wie ein römischer Adliger. Auch die Väter der Verfassung mit ihrem gewählten Kongreß und dem elitären Senat waren zumeist von der klassischen Antike geprägt. Die meisten der neuen amerikanischen Staaten ahmten die Bräuche der römischen Republik auch mit ihrer massiven Sklavenhaltung nach.
Der Umbruch durch die französische Revolution ein Dutzend Jahre später orientierte sich offen am Vorbild Roms. Die Revolutionäre nahmen, inspiriert von der Aufklärung als dem Triumph der antiken Vernunft über die mittelalterliche Tyrannei und den Aberglauben der katholischen Monarchie, zahlreiche Attribute des römischen Zeitalters an. Die Untertanen hießen nun »Bürger« wie einst die freien Römer. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit fanden einen neuen Verfechter in Napoleon, der seine Armeen unter römischen Adlern marschieren ließ, Frankreich und einem großen Teil Europas Gesetze nach römischem Recht gab und dessen gefragte Künstler, Möbeltischler und Handwerker den Empirestil, inspiriert vom römischen Imperium, entwickelten.
Auf der britischen Insel vollzog sich die Renaissance der römischen Welt auf eher pragmatische Weise. Vor der Herrschaft Georgs III. übertrafen die prachtvollen klassizistischen Plätze Londons und die palladianischen Landsitze des Adels sicher jene des römischen Britanniens. Solche Annehmlichkeiten wie öffentliche Bäder und Zentralheizung waren noch nicht wieder eingeführt, doch ein Merkmal der Römerzeit, das viel dazu beitrug, Ordnung in die barbarische Welt zu bringen, kam wieder – im wörtlichen Sinn – an die Oberfläche: das Straßennetz. Zur Römerzeit hatte ein System von Straßen die Insel wie ein Knochengerüst aus Stein durchzogen. Vernachlässigt und überwuchert, waren die meisten dann in Vergessenheit geraten. Während der langen finsteren Jahrhunderte bis zu den modernen Stuarts und frühen Hannoveranern waren die Straßen kaum mehr als prähistorische Wege und zerfurchte angelsächsische Fahrspuren gewesen. Die alte Straße durch Kent von Dover und Canterbury war in Gebrauch geblieben, aber der frühere Schotterbelag war so tief vergraben, daß selbst sie nicht mehr als ein Karrenweg war.
All das hatte sich nun verändert. Die Mautstraßen des achtzehnten Jahrhunderts gehörten privaten Kartellen und Kapitalgesellschaften und sollten Profit einbringen. Dies taten sie mit solchem Erfolg, daß sie innerhalb einer Generation den größten Teil des Landes überzogen. Manchmal folgten sie einer geraden römischen Route, öfter einem kurvigen angelsächsischen Pfad. Ihre Oberflächen waren eben und hart genug, daß eine Kutsche ein schnelles, konstantes Tempo beibehalten konnte. Reisen, die früher ein oder zwei Tage gedauert hatten, brachte man nun in ein paar Stunden hinter sich. Unternehmer mit einem Park schneller Kutschen transportierten Post und Leute von den Londoner Postgaststätten in die entferntesten Teile des Landes. Plötzlich war die immer mehr wachsende Hauptstadt für jede andere Stadt des Königreichs erreichbar. Es war sowohl die Rückkehr Roms als auch der Beginn des modernen Zeitalters.
Der Anblick, der nun vor Eugene lag, war ganz und gar nicht das, was er erwartet hatte. Die Metropole London war unter der Herrschaft Georgs III. weiter gewachsen, vor allem nördlich der Themse; Southwark am Südufer hatte sich nur bescheiden ausgedehnt. Trotz Häuserreihen entlang den Straßen zur Westminster Bridge bestand das große Kirchspiel Lambeth, westlich von Southwark, immer noch hauptsächlich aus Obst- und Gemüsegärten und ein paar vereinzelten Holzlagerplätzen am Ufer. In den alten Dörfern Battersea und Clapham weiter flußaufwärts waren ein paar schöne Villen und Gärten hinzugekommen, die wohlhabenden Kaufleuten und Gentlemen gehörten. Schmutzige Backsteinhäuser standen in den Ufergegenden von Bermondsey und Rotherhite unterhalb Southwarks, danach kam bald offenes Marschland. Noch weiter flußabwärts war das Dorf Greenwich mit seinen großen weißen Palästen nahezu unverändert. Daß sich die mächtige Stadt auf der anderen Themseseite wie ein ungestümer Koloß ausbreitete, konnte Eugene im Augenblick allerdings nicht sehen. »Das ist der Londoner Nebel«, erklärte der Kutscher.
Er lag über der Stadt wie eine dunkelgraue Dunstglocke. Als sie nach Southwark kamen, war der Himmel dunkel, und die Häuser lagen in einem öligen, grünlichen Dampf, den ihre Laternen nur mit einem leisen orangefarbenen Schimmer durchdrangen; und als sie die High Street erreichten, konnte Eugene nicht einmal mehr die Köpfe der Leitpferde sehen.
Penny hatte von seinem Vater die Anweisung bekommen, sobald er in London angekommen sei, solle er sofort zu seinem Paten Jeremy Fleming gehen. Da der Nebel dies im Augenblick unmöglich machte, beschloß Eugene, die Nacht über im »George Inn« zu bleiben. Er war dennoch guter Dinge. Diese Unannehmlichkeit würde den Beginn seines neuen Lebens nur um ein paar Stunden verzögern. Eugene wußte nicht, daß der Nebel über London ein fester Bestandteil des neuen Lebens war, das er suchte. Denn kaum hatte England das Niveau seiner römischen Vergangenheit wieder erreicht, zeichnete sich bereits der große Aufschwung ab, den man die industrielle Revolution nennt.
Oft wird angenommen, die industrielle Revolution Englands habe aus riesigen Fabriken bestanden, in denen eine Armee von Unterdrückten arbeitete; und im Norden und in den Midlands gab es auch solche große Eisenschmieden, dampfgetriebene Baumwollspinnereien und Kohlebergwerke, in denen Kinder unter Tage arbeiteten. Aber die führende Kraft der industriellen Revolution in England war der traditionelle Handel mit wollenem Tuch, gefolgt von billiger Baumwolle aus Manufakturen. Obwohl mechanische Spinn- und Webmaschinen einen enormen Aufschwung ermöglichten, waren diese Manufakturen zumeist kleine Ausbeuterbetriebe. Sie alle benutzten Kohle; und aus den Kaminen der Stadt drang so viel Rauch und Ruß, daß die dunklen Dämpfe bei entsprechender Wetterlage wie eine Decke über London lagen und die unteren Dämpfe am Entweichen hinderten; wenn dann noch Nebel aufkam, entstand dieser erstickende, undurchdringliche Horror, in dem die Menschen ihre Gesichter verhüllen mußten – der berüchtigte Londoner Smog, die Waschküche.
Im warmen Lichtschein der größten Gaststube des »George Inn« konnte Eugene den Nebel vergessen. Der Wirt brachte ihm eine Steak-Kidney-Pie und eine Flasche Porter, wie das dunkle Bier oft genannt wurde. Neugierig betrachtete Eugene die Gesichter um sich herum. Da es eine Postgaststätte war, sah man hier alle Arten von Reisenden – Kutscher in ihren dicken Mänteln, Kaufleute, zwei Anwälte, einen Geistlichen, kleine Ladeninhaber.
Gegen neun Uhr kam eine seltsame Gestalt herein, bestellte sich einen Krug Porter und setzte sich allein in eine Ecke der Gaststube. Einen Augenblick lang verstummten die Gespräche. Er war klein, aber sehr kräftig gebaut und bewegte sich mit mürrischer Schwerfälligkeit. Sein dicker Rock war von unbestimmbarer Farbe, auf dem Kopf trug er einen formlosen schwarzen Hut, dessen Krempe seine buschigen schwarzen Brauen berührte. Unter den großen, unfreundlichen Augen lagen dunkle Ringe, und insgesamt machte er einen bedrohlichen Eindruck.
Ob aufgrund seiner fahlen Hautfarbe oder der seltsamen Hand mit den feinen Schwimmhäuten, die den Krug hielt – Eugene kam es vor, als sei die Erscheinung aus dem dunklen Fluß selbst aufgetaucht.
»Wer ist das?« fragte er den Wirt.
»Der?« erwiderte der Mann mit einem Blick voller Abscheu. »Er heißt Silas Dogget.«
»Was macht er?« erkundigte sich Penny weiter.
»Das brauchen Sie nicht zu wissen«, erklärte der andere und sagte nichts weiter.
Es sah aus, als würde sich ein Aufstand bilden. In der Morgendämmerung hatte der Wind den Nebel fortgeblasen; nur ein kleiner Rest von Ruß war noch übrig. Etwa vierhundert Menschen hatten sich vor dem schönen Haus am Fitzroy Square versammelt, um die schockierende Botschaft zu hören.
»Glauben wir«, rief der Mann aus dem Fenster im Obergeschoß, »an die Brüderlichkeit der Menschen?« Die Menge bestätigte das mit einem Aufschrei. »Erkennt ihr an, frage ich, erkennt ihr an, daß jeder Mensch Rechte hat? Gibt es nicht die Menschenrechte? Und schließen diese unveräußerlichen Rechte nicht auch dies ein« – die nächsten Worte stieß er hervor wie einen Trommelwirbel: »No taxation without re-present-a-tion? Keine Besteuerung ohne Vertretung?« Zachary Carpenters kleine, untersetzte Gestalt und sein runder Kopf hüpften förmlich auf und ab.
Es mag seltsam erscheinen, daß diese Worte, direkt aus der Feder Thomas Paines, des großen Propagandisten der amerikanischen Revolution, auf einer Straße in London proklamiert wurden. Aber Engländer im Mittelalter hatten zur Zeit der Aufstände Wat Tylers dasselbe gesagt, und viele Zeitgenossen hatten Großväter, die sich noch an die Levellers aus dem großen englischen Bürgerkrieg erinnern konnten. Das freie House of Commons, die Puritaner, die Rundköpfe, die nun unabhängigen Amerikaner und die radikalen Engländer waren alle demselben alten Drang nach Freiheit entsprungen. König Georg III. mochte wütend sein, weil die Amerikaner sich von der Krone losgesagt hatten, aber viele seiner einfachen Untertanen hatten Paine gelesen und empfanden Sympathie für die mutigen Kolonisten.
»Tausche ich mich«, fragte Zachary nun die Menge, »oder hat das Parlament die Sklaverei abgeschafft?«
Die Menge versicherte ihm, daß er recht hatte. 1772 war in England die Sklaverei abgeschafft worden, und dank Reformern wie William Wilberforce war der Sklavenhandel seit kurzem selbst in Großbritanniens weit entfernten Besitzungen in Übersee verboten.
»Warum werden wir dann hier, im Kirchspiel von St. Pancras, nicht besser als Sklaven behandelt?« rief Carpenter. »Warum werden freie Männer von einer Tyrannei niedergetreten?«
Carpenters Anklage war vollkommen berechtigt. Die alte Kontroverse darüber, wer die Kirchspielversammlung kontrollieren solle, war immer noch nicht entschieden. Das alte Gebiet der fünfundzwanzig Stadtbezirke wurde immer noch vom Mayor, von den Aldermen und den nun eher dekorativen Gilden regiert, die immer größer werdende Metropole hatte jedoch keine zentrale Verwaltung. Es waren die Kirchspiele, die für Ordnung sorgten, die Straßen pflasterten und für die Armen und Kranken aufkamen. Und daher erhoben die Kirchspiele auch Steuern.
St. Pancras war ein sehr großes Kirchspiel. Seine Grenze verlief von Holborn aus über eine Meile westwärts; von dieser Linie aus erstreckte es sich über städtische Straßen, Vorstädte, offene Felder und Dörfer vier Meilen nach Norden hinauf bis zu den Hügeln von Hampstead und Highgate. Innerhalb dieses Bereichs lebten nun an die sechzigtausend Menschen, regiert von der Kirchspielversammlung. Es gab zwei Arten von Kirchspielen. In den einen wurde die Versammlung zumindest von einem Teil der Haushaltsvorstände gewählt; »offene« Kirchspiele nannte man sie. In den anderen – eine Minderheit, aber eine bedeutende – ernannte sich die Versammlung, deren Zusammensetzung vom Parlament festgelegt wurde, selbst, ohne irgendeine Beteiligung der Kirchspielangehörigen; das waren die »geschlossenen« Kirchspiele. In diesem Jahr 1819 war das große Kirchspiel St. Pancras, das offen gewesen war, dank einer mächtigen Adelsclique vom Parlament in ein geschlossenes verwandelt worden.
»Das ist eine Ungerechtigkeit!« donnerte Carpenter.
Zachary Carpenter war eine bekannte Gestalt. Er war Möbeltischler, und zwar ein guter. Er war Lehrling bei der Firma Chippendale gewesen, hatte kurze Zeit als Geselle für Sheraton gearbeitet und sich dann mit der Herstellung zierlicher Schreibsekretäre, die man Davenports nannte, selbständig gemacht. Wie viele Kunsttischler arbeitete er im Kirchspiel von St. Pancras, wo er eine Werkstatt mit drei Gesellen und zwei Lehrlingen hatte; und wie viele Handwerker und Kleinunternehmer war er ein leidenschaftlicher Radikaler.
Er war achtzehn, als die Französische Revolution begann, einundzwanzig, als Thomas Paines Streitschrift Die Rechte des Menschen mit der Forderung »ein Mann, eine Stimme« veröffentlicht wurde. Innerhalb einer Woche hatte er sie gelesen und sich der Londoner Corresponding Society angeschlossen, deren Abhandlungen und Zusammenkünfte bald ein Forum für Radikale in ganz England bildeten. Mit fünfundzwanzig begann er sich einen Ruf als Redner zu erwerben. »Und ist dieses Kirchspiel nicht ein Beispiel für die große Ungerechtigkeit in jedem Wahlkreis in Britannien«, rief er aus, »wo freie Männer kein Stimmrecht haben und die Parlamentsmitglieder nicht vom Volk, sondern von einem Grüppchen von Adligen gewählt werden? Es ist Zeit, dieser Schande ein Ende zu machen. Es ist Zeit, daß das Volk regiert.« Nach dieser Anstiftung zur Revolution trat er unter heftigem Beifall zurück ins Haus.
Seltsam war, daß diese Szene am Fitzroy Square stattfand, einer der vornehmsten, im Südwesten gelegenen Gegenden des Kirchspiels. Noch seltsamer war, daß neben Carpenter der Eigentümer des Hauses stand und die ganze Zeit zustimmend nickte – ausgerechnet dieser Inbegriff eines Aristokraten, der Earl of St. James persönlich.
Siebzig Jahre war es nun her, daß Sam ein Earl geworden war. Während seine Kindheit verging, hatte er seine frühen Jahre in Seven Dials allmählich vergessen. Sein Stiefvater Meredith hatte ihm so oft gesagt, er sei gerettet worden und nehme wieder den Rang ein, der ihm zukomme, daß er es schließlich glaubte. Als junger Mann dachte er nicht mehr an Sep. Der Earl of St. James war zu sehr damit beschäftigt, sich zu amüsieren. Nun amüsierte er sich damit, seinen radikalen Freund Carpenter zu unterstützen. Als die beiden in den Raum zurücktraten, warteten zwei Männer auf sie. Lord St. James verzog ärgerlich das Gesicht.
»Was zum Teufel machst du hier, Bocton?« fragte er scharf.
Obwohl an der Vaterschaft nicht der leiseste Zweifel bestand, hätte man nie geglaubt, daß der Earl und Lord Bocton Vater und Sohn waren. Zwar hatte Bocton wie sein Vater eine weiße Strähne im dunklen Haar, doch er war groß und mager wie die Familienangehörigen seiner Mutter. Anders als sein Vater war er altmodisch gekleidet, nicht in den nun gängigen engen langen Hosen, sondern in einer Kniehose mit Seidenstrümpfen. Stets trug er einen dunkelgrünen Rock, was seinen Vater oft zu der Bemerkung veranlaßte: »Du siehst aus wie eine Flasche.«
Der Earl nickte dem Begleiter seines Sohnes zu. »Wer ist das?«
»Ein Freund, Vater«, begann Lord Bocton.
»Habe gar nicht gewußt, daß du welche hast«, schnaubte der Earl. »Wie hat dir die Rede gefallen?« Er wußte sehr gut, daß sie Lord Bocton überhaupt nicht gefallen hatte. »Bocton ist ein Tory, wissen Sie«, erklärte er Carpenter.
Unter der Herrschaft Georgs III. gab es drei politische Richtungen. Die Tories, die Partei der Gutsherren und des Klerus, waren für König und Vaterland. Da ihr Einkommen in der Regel aus eher kleinem Grundbesitz stammte, waren sie protektionistisch gesinnt und verteidigten die Getreidezölle, die den Getreidepreis künstlich hochhielten. Jeder Art von Reform standen sie mißtrauisch gegenüber. Der starrsinnige Georg III. ob geistesgestört oder nicht, war ihnen gerade recht.
Die Whigs wollten den König unter der Fuchtel des Parlaments halten. Als Partei von Wirtschaft und Handel, immer noch angeführt von hohen Aristokraten, deren Reichtum oft Beteiligungen an Handel und Bergbau einschloß, traten sie für Freihandel und gemäßigte Reformen ein. Es war in ihren Augen absurd, daß eine Handvoll Wähler aus einem Bezirk ein Mitglied ins Parlament entsenden konnte, während manche wachsenden Industriestädte überhaupt keine Vertretung hatten. Die Whigs standen auch den Nonkonformisten, den Juden und zum Teil sogar den Katholiken, die unter der alten Test-Akte immer noch keine öffentlichen Ämter ausüben konnten, wohlwollend gegenüber.
Und es gab noch eine dritte politische Gruppe – einige radikale Whigs, die sich vehement für Reformen, Toleranz und Redefreiheit aussprachen. Ihr Anführer war Charles James Fox – leichtlebig und verschuldet, aber ein großer Redner, wie selbst seine Gegner einräumten. Wenn Fox sich im House of Commons ereiferte, wußte er, daß er im House of Lords stets auf die Stimme des Earl of St. James zählen konnte, während er in Lord Bocton einen jüngeren, aber unversöhnlichen Feind hatte.
»Da Sie fragen, Vater«, antwortete Bocton nun, »ich halte die Rede für unklug. Wir sollten das Volk nicht aufwiegeln.«
»Fürchten Sie eine Revolution, Mylord?« erkundigte sich Zachary.
»Natürlich.«
»Und Sie fürchten sich vor dem Volk?« fuhr der Radikale fort.
»Das sollten wir alle, Mr. Carpenter«, entgegnete Bocton. »Meine unmittelbare Befürchtung ist, daß Sie und mein Vater dabei sind, einen Aufruhr zu provozieren.«
Es gab guten Grund zu dieser Befürchtung. Das Ende der Napoleonischen Kriege vier Jahre zuvor mochte Europa Frieden gebracht haben, aber sicher nicht Ruhe und Ordnung im eigenen Land. Eine große Zahl zurückgekehrter Soldaten war immer noch ohne Arbeit; die Textilindustrie mußte sich darauf einstellen, daß sie keine Großaufträge mehr für Uniformen bekam; die Getreidepreise waren hoch. Natürlich gab man der Regierung die Schuld, und viele glaubten den Radikalen, die ihnen sagten, daß all ihre Probleme von einer korrupten Aristokratenclique, die das Land regierte, verursacht wurden. Es hatte vereinzelte Aufstände gegeben; die Regierung war beunruhigt. Erst vor ein paar Wochen waren bei einer Versammlung in Manchester berittene Soldaten in die Menge gestürmt, mehr als ein Dutzend Menschen wurden getötet. Der Vorfall ging als Massaker von Peterloo in die Geschichte ein, und seither war jede öffentliche Versammlung spannungsgeladen.
»Ich verstehe nicht, wie Sie so etwas in Ihrem Haus zulassen können, Vater«, beschwerte sich Lord Bocton.
»In Wirklichkeit meint mein Sohn«, erklärte St. James Carpenter, »daß in diesem Haus keine Radikalen wären, wenn es ihm gehörte. Und er versteht vor allem nicht, daß ich immer noch hier bin – er meint, ich hätte nun schon zu lange gelebt. Nach meinem Tod bekommt nämlich er das Geld.«
»Ich denke nicht an das Geld, Vater.«
»Schon gut. Geld ist dazu da, um es zu genießen, und vielleicht gebe ich noch alles aus. Wußtest du, Bocton, daß ich nächstes Jahr ein neues Haus bauen lasse? Am Regent's Park.«
Während der Phasen, in denen König Georg III. geistesgestört war, regierte sein Erbe als Prinzregent. Die letzte Phase dauerte so lange, daß sie als Epoche der Regency in die Geschichte einging, und im Stil des von dem Regenten favorisierten Architekten Nash wollte nun auch der Earl ein neues Domizil.
»Sie haben nicht nur einen Sohn, sondern auch einen Enkel zu berücksichtigen«, warf Lord Bocton ihm vor. Bei der Erwähnung seines Enkels blickte der Earl milder. Der junge George war etwas anderes. »Sind Sie überdies nicht ein wenig zu alt, um sich mit einem solchen Umzug zu belasten?« fuhr Lord Bocton fort.
»Keineswegs«, erwiderte sein Vater freundlich. »Ich werde hundert Jahre alt. Du wirst dann schon über siebzig sein.« Er sah aus dem Fenster. »Kein Aufstand«, bemerkte er. »Du kannst nach Hause gehen.«
Draußen wandte sich Lord Bocton an seinen Begleiter. »Was meinen Sie, Mr. Silversleeves?«
Dieser schüttelte den Kopf. »Ein interessanter Fall, Mylord. Vermindertes Verantwortungsgefühl; Größenwahn – glaubt, er wird hundert Jahre alt – ; Geschäftsunfähigkeit – will sein ganzes Geld verschwenden. Und seine radikalen Neigungen… das wird schließlich zu Geistesgestörtheit führen.«
»Sie werden ihn also unter Verwahrung nehmen können?« fragte Bocton.
»Oh, sicher, Mylord. Früher oder später.«
Mr. Cornelius Silversleeves war der stellvertretende Vorsteher des Bethlehem Hospital, das vor kurzem in ein neues Gebäude in Southwark umgezogen war. Im Volksmund wurde es Bedlam genannt.
Penny hatte Glück mit seinem Paten. Jeremy Fleming wohnte in einem hübschen alten Haus in einer Seitenstraße der Fleet Street, wo die Konditorei seines Großvaters gewesen war. Er war Witwer, seine Kinder verheiratet, und so freute er sich, Gesellschaft zu bekommen, und versicherte Eugene, er könne in seinem Haus leben, so lange er wolle. Und er war zuversichtlich, was Eugenes Aussichten betraf, in der Finanzwelt Arbeit zu finden, denn während seiner lebenslangen Arbeit als hochangesehener Angestellter der Bank von England hatte er ein enzyklopädisches Wissen über die Londoner City erworben.
Am ersten Tag zeigte Fleming Eugene den Tower und St. Paul's; am zweiten besichtigten sie Westminster und das Westend. »Heute beginnen wir mit deiner Ausbildung«, erklärte Fleming am dritten Tag. In einer Mietkutsche ließen sie sich nach Greenwich fahren. Ein frischer Ostwind wehte, und die Stadt hinter ihnen und die weite Flußbiegung lagen unter einem klaren blauen Himmel. Doch Fleming lenkte Eugenes Aufmerksamkeit auf eine Reihe von Wasserbecken, die sich wie riesige Teiche neben dem Fluß ausbreiteten. »Dort bei Wapping ist London Dock; links davon Surrey Dock; gegenüber ist die Westindiengesellschaft, ein bißchen weiter die Ostindiengesellschaft.«
In den letzten zwanzig Jahren hatte sich der Fluß verändert. Der Pool von London unterhalb des Towers war als Hafen so überlastet gewesen, daß etwas getan werden mußte. So hatte man in dem Sumpfland am Fluß ein Hafenbecken- und Kanalsystem angelegt und Kais und Fahrdämme gebaut. Es war der Beginn der gigantischen Anlage der Londoner Docklands, die notwendig wurden, je mehr sich das britische Empire zu einem Handelsimperium entwickelte: Zucker von den karibischen Inseln, Tee aus Indien – nach einigen brillanten Feldzügen herrschte England über große Teile dieses Subkontinents – und dazu der ausgedehnte Handel mit Europa, Rußland, Süd- und Nordamerika. Während der vergangenen hundert Jahre hatte sich London von einem wichtigen Hafen zur größten Handelsmetropole der Welt entwickelt.
»Nur unsere Marine macht das möglich«, erklärte Fleming.
Nach zwei Jahrhunderten der Auseinandersetzung mit Spanien, Holland und Frankreich hatten die Schiffe, die in König Heinrichs Werft bei Deptford ausgerüstet wurden, die englische Vorherrschaft auf den Meeren bekräftigt. Königin Elisabeths Freibeuter hatten Englands Handelsimperium begründet, Nelson und seine Nachfolger hatten es gesichert.
Ob der amerikanische Unabhängigkeitskrieg den Handel beeinträchtigt hatte, wollte Eugene wissen. Fleming zuckte die Achseln. »Nicht besonders. Im Grunde ist der Handel wie ein Fluß. Man kann versuchen, ihn einzudämmen, aber in der Regel sickert er durch. Eine Zeitlang war Tabak das große Geschäft, jetzt ist es Baumwolle. Dort wird sie angebaut, hier verarbeitet. Der Handel geht weiter.«
»Aber nicht immer«, meinte Eugene. Als Napoleon während der langen Auseinandersetzungen in fast ganz Europa seine Kontinentalsperre gegen England verhängt hatte, waren nur noch Schmuggler durchgekommen.
»Richtig«, stimmte Fleming zu, »aber dank unserer Seemacht konnten wir diese Flaute anderswo ausgleichen. Asien und Südamerika sind nun die aufstrebenden Märkte. Aber etwas konnte auch Napoleon nicht kontrollieren, Eugene – Geld. Während er Europa auf den Kopf gestellt hat, beeilte sich jeder, der Geld hatte, es zu Londoner Banken zu schicken – sogar die Franzosen! Der Korse hat uns zum Finanzzentrum der Welt gemacht!«
Am folgenden Nachmittag ging Fleming mit Eugene durch Cheapside zur Poultry. Vor ihnen, am Fuß von Cornhill, ragte die imposante Fassade der Londoner Börse auf; rechts stand ein prachtvoller klassizistischer Bau. »Das ist das Mansion House, der offizielle Sitz des Lord-Mayors«, erklärte Fleming. »Zu Lebzeiten meines Vaters erbaut.« Dann deutete er auf eine langgestreckte, schmucklose Mauer links von der Börse, durch die Threadneedle Street von ihr getrennt. »Das ist die Bank von England.« Ehrfürchtige Verehrung lag in seinem Ton.
Seit ihrer Gründung als Aktiengesellschaft in der ehemaligen Gildehalle der Mercer hatte die Bank von England alle Rivalen überdauert. Immer wieder, wenn England Krieg führte, hatte sie die Mittel bereitgestellt. Sie hatte der Regierung über jede Krise hinweggeholfen; ihre Angestellten verwalteten fast den gesamten Staatshaushalt, bezahlten Armee und Marine und hatten sogar die Aufsicht über die staatliche Lotterie. Obwohl die Bank genaugenommen eine private Gesellschaft war, war sie in der Praxis ein Teil des Staates geworden. »Ihre Rücklagen sind so hoch und werden so sorgfältig verwaltet, daß sämtliche Geldinstitute und Handelsunternehmen in London sich an sie wenden, wenn sie Kapital brauchen«, fuhr Fleming fort. »Die Bank hat sämtliche Handlungsvollmachten; als einzige Bank in London hat sie die Konzession, Banknoten in Umlauf zu bringen. Geld muß stabil sein, und diese Stabilität hat die Bank durch Vorsicht erreicht.«
Eugene wollte ihm gerade höflich für diese Informationen danken, doch Fleming fuhr fort: »Ich habe noch eine Neuigkeit für dich, Eugene. Dank eines alten Freundes konnte ich dir eine Stelle sichern. Eine Stelle in der Bank von England. Sicherheit fürs Leben, Eugene!«
Eugene mußte sich rasch eine Antwort einfallen lassen. Er war ehrgeizig und wie seine hugenottischen Vorfahren sehr beharrlich. »Das Problem ist«, sagte er, »daß ich etwas anderes im Sinn hatte. Ich bin hergekommen, um hier mein Glück zu machen.«
»Ah.« Jeremy Fleming verstummte einen Augenblick.
Als sie nach Hause gingen, befürchtete Eugene, daß Fleming gekränkt sein könnte, aber als sie beim Abendessen saßen, erkundigte sich sein Pate ruhig: »Hast du ans Börsenmakeln oder an eine der Privatbanken gedacht?« Eugene war überrascht. Fleming schien über den Unternehmungsgeist seines Patensohnes fast erfreut, und er begann, die Vor- und Nachteile verschiedener Firmen zu erörtern. »Ich glaube, bei den Maklern sind die Unternehmen der Quäker am solidesten, aber vermutlich hast du keine Lust, Quäker zu werden. Dann gibt es natürlich die Baring-Bank – äußerst distinguiert, aber da du keine besonderen Beziehungen hast, ist das wohl schwierig. Die Rothschild-Bank ist rein in Familienhand. Was du brauchst, denke ich, ist ein aufstrebendes kleines Unternehmen, das in allen neuen Märkten engagiert ist. Laß mir ein oder zwei Tage Zeit, um mich umzuhören.«
Während der folgenden Tage erklärte Fleming Eugene die Funktionsweise der Märkte, die Denkweise der City und ihre Gepflogenheiten und beschrieb fast mit Wonne die übelsten Tricks der Händler. »Es erstaunt mich, daß du nie selbst Geschäftsmann geworden bist«, äußerte Eugene.
Fleming lächelte. »Ich habe einmal davon geträumt. Aber ich hatte nicht genügend Mut. Übrigens, morgen hast du ein Einstellungsgespräch.«
Das Bankhaus Meredith war ein hohes Backsteingebäude in einem schmalen Hof, in den man durch eine kleine Seitenstraße vom Cornhill kam. In einem komfortablen Empfangsraum im ersten Stock fand sich Eugene einem gutaussehenden Gentleman in den Dreißigern gegenüber, der sich als Mr. Meredith vorstellte, und in einem Ohrensessel daneben saß ein wesentlich älterer Gentleman.
Meredith plauderte liebenswürdig über sein Geschäft, bevor er sich nach Eugenes Familie erkundigte. Als Penny seine hugenottische Herkunft erklärte, schien Meredith sehr zufrieden. »In der Finanzwelt gibt es viele Hugenotten, und sie machen sich gut«, bemerkte er. »Ich erwarte, daß Sie hart arbeiten.« Eugene versicherte ihm das. »Wenn Sie aufsteigen wollen, hängt das davon ab, wie nützlich Sie sich machen können.«
Meredith fuhr fort, ihm einige Fragen zu stellen, um zu sehen, was Eugene von den Regeln der Finanzwelt verstand, und dank der Unterweisung durch seinen Paten konnte Eugene sie auch beantworten. Am Ende des Gesprächs mischte sich plötzlich der alte Mann ein. »Was denkt er über den Freihandel?« fragte er.
Die Frage kam so abrupt, daß Eugene fast zusammenzuckte. »Lord St. James möchte Ihre Ansicht über den Freihandel kennenlernen«, soufflierte Meredith.
Von Fleming wußte Eugene, wer der alte Mann war und wie seine Antwort lauten mußte. »Ich stimme mit den Whigs im Prinzip für den Freihandel, zum größeren Wohl der Menschen, doch solange unsere Handelskonkurrenten ihn nicht auch einführen, brauchen englische Kaufleute wohl hier und da etwas Schutz.« Das war genau die Ansicht der Whig-Anhänger unter den Kaufleuten und Finanzmännern: Sie waren alle für den Freihandel – solange er ihnen zupaß kam.
Doch anscheinend wollte der Earl sich noch weiter auf Eugenes Kosten amüsieren. »Was ist mit dem Goldstandard, junger Mann?« bellte er. »Wie denken Sie darüber?«
Wenn es im Jahr 1819 ein Thema gab, das in der City und im Parlament die Gemüter erhitzte, dann war es die Goldfrage. Wenn Banknoten ausgegeben wurden, entsprachen sie herkömmlicherweise einer bestimmten Menge an Goldbarren, gegen die sie stets umgetauscht werden konnten. Das beschränkte die Zahl der Banknoten, die im Umlauf waren, und hielt die Währung stabil. Doch zu Beginn des Konflikts mit dem revolutionären Frankreich brauchte die englische Regierung, vermittelt durch die Bank, so hohe Geldanleihen – und mußte daher so viele Schuldscheine ausgeben –, daß die Geldmenge, die am Londoner Markt in Umlauf war, enorm anwuchs. Am Ende der Napoleonischen Kriege wurden etwa neunzig Prozent der Staatseinnahmen von Zinszahlungen aufgefressen. Unter diesen Umständen gab es einfach nicht genug Goldbarren, um alle Banknoten zu decken, und daher hatte die Bank von England die Erlaubnis bekommen, Geld zu drucken, das keine Golddeckung mehr besaß.
Diese Banknoten waren immer noch stabil. Hinter ihnen standen die große Glaubwürdigkeit der Bank und die Möglichkeit der Regierung, Geld durch Steuern zu beschaffen. Doch vielen gediegenen Tories erschien das Ganze wie ein Trick. »Wenn kein Gold hinter der Währung steht«, betonten sie, »wie können wir diesen Kerlen dann trauen, daß sie nicht Geldscheine drucken, wann immer es ihnen paßt?« Sie scherten sich nicht darum, daß sie damit die Integrität des Schatzkanzlers und der Direktoren der Bank von England beleidigten. Im Sommer 1819 hatten sie sich durchgesetzt. Das Parlament erklärte, daß man im Laufe der nächsten paar Jahre zum Goldstandard zurückkehren werde. Aber dabei gab es eine Schwierigkeit.
»Gold ist stabil, Mylord«, erwiderte Eugene. »Aber ich glaube, eine zu plötzliche Rückkehr zur vollen Golddeckung ist gefährlich. Die Bank muß die Währungsmenge, die im Umlauf ist, reduzieren, damit sie wieder mit den Goldbarren übereinstimmt. Das bedeutet, daß die Preise sinken, wenn weniger Geld da ist. Alle Geschäfte werden dadurch geschädigt. Schlimmer, wenn all dies Geld vom Markt abgezogen wird, werden viele Kaufleute Schwierigkeiten haben, einen Kredit zu bekommen, der sie über Wasser hält. Das ganze System könnte zusammenbrechen.«
Das war genau die Ansicht der City. Rothschild und andere Bankiers hatten das dem Parlament wiederholt vor Augen geführt. Der Zusammenbruch, den sie befürchteten, sollte einer späteren Epoche als klassische Wirtschaftskrise, verursacht durch Verringerung des Geldvorrats, nur zu bekannt werden.
Eugenes Antwort entlockte dem Earl of St. James nur ein einziges Wort. »Beachtlich.«
Eugene hatte sich im Gespräch soeben eine Stelle erobert.


1822

Lucy war vier Jahre alt, als an einem kalten Dezembermorgen ihr Bruder geboren wurde. Zuerst dachten sie, er werde sterben. »Wir nennen ihn Horatio«, entschied ihr Vater. »Nach Nelson.« Vielleicht hofften sie, der Name des Helden werde dem Kind die Kraft zum Überleben verleihen, und es schien zu funktionieren. Einen Monat später sagte die Mutter zu Lucy: »Dieses Baby ist auch deines. Du wirst immer für es sorgen, nicht wahr?« Seither war Horatio auch ihr Kind.
Tod und Elend waren den Doggets nicht fremd. William, der Vater der Kinder, war erst drei Jahre alt gewesen, als sein Vater Sep Dogget, der Feuerwehrmann, beim Einsturz eines brennenden Hauses umgekommen war. Williams Mutter war Seps zweite Frau und hatte ihr Bestes getan, um ihn allein großzuziehen. Sein älterer Halbbruder hatte geholfen, aber nicht viel, da er für seine eigenen Kinder sorgen mußte. Als junger Mann war William in das Kirchspiel St. Pancras gekommen, wo er zusammen mit seiner Frau, Lucy und dem kränkelnden Horatio, den beiden überlebenden von fünf Kindern, drei Zimmer bewohnte. Nicht einmal die Hälfte aller Kinder in London erreichte das Alter von sechs Jahren.
Eugene führte bei Meredith ein schönes Leben. Die ersten beiden Jahre wohnte er in Meredith' Haus und besuchte an den Wochenenden manchmal seine Eltern in Rochester oder seinen Paten Fleming. Für Meredith' vier ausgelassene Kinder war er wie ein älterer Bruder, und insgeheim war er in die hübsche Mrs. Meredith verliebt. Obwohl das Bankhaus Meredith die Konten einer Reihe von Landedelmännern führte, machte es, wie die meisten Privatbanken, sein Geschäft hauptsächlich mit Warenkrediten für Kaufleute im Im- und Export. Fabrikanten bekamen keine Kredite. Die Unternehmer der frühen industriellen Revolution brachten ihr Kapital auf, indem sie von Freunden liehen, manchmal auch mit Hilfe adliger Geldgeber, aber kaum je durch Banken. Kurzfristige Kredite für Frachten, Akkreditive, Diskontwechsel – davon lebten kleine Banken wie das Bankhaus Meredith.
Die Befürchtungen der City wegen des Goldstandards erwiesen sich als zum Teil berechtigt. Es war weniger Geld in Umlauf, Kredite waren knapp, die Aktienkurse niedrig. »Wir brauchen neue Kunden. Seht euch nach Fachhändlern um; die überstehen oft Krisen«, forderte Meredith seine Angestellten auf. Eugene hatte mehrere akquiriert, doch der riesige Zuwachs, an dem er seine Bank beteiligen wollte, kam von den großen Auslandskrediten an die Regierungen von Frankreich und Preußen und in letzter Zeit auch an südamerikanische Länder. Dieses lukrative Geschäft, das für eine Bank allein viel zu groß war, wurde von einem Konsortium abgewickelt; mehrere Banken übernahmen je einen Anteil, darunter auch die Bank Meredith.
»Das große Geld machen die Vermittlerbanken, die das Geschäft einfädeln«, erklärte Meredith, »weil sie auch Gebühren kassieren.« Führend in diesem Bereich waren die Banken Baring und Rothschild, da sie es mit ihren internationalen Verbindungen bewerkstelligen konnten, daß sich Banken in ganz Europa daran beteiligten.
Eugene verlor nie sein Ziel aus den Augen. Was war er wert? Diese Frage hörte man in der City tagtäglich. Abgesehen von der bescheidenen Summe, die er eines Tages von seinen Eltern erben würde, war die Antwort bisher: nicht viel. Dabei gab es zahlreiche Geschichten über ehrgeizige junge Männer, die sich in weniger als zehn Jahren Reichtümer erwarben und zu Geschäftspartnern gemacht wurden. Mit Börsenspekulation konnte man nebenbei etwas Geld machen, doch mit seinen sehr beschränkten Mitteln wußte er nicht recht, wie er anfangen sollte. »Termingeschäfte, Eugene«, belehrte ihn ein befreundeter Börsenmakler. »Ich zeige dir, wie das funktioniert.«
Es gab einen lebhaften Markt für Termingeschäfte. Statt Aktien oder Obligationen zu erwerben und zu behalten, konnte man vereinbaren, sie erst zu einem zukünftigen Datum zu kaufen, was in der Praxis bedeutete, daß man eine Wette darauf einging, welchen Preis die Aktie bis dahin haben würde. Wenn man jedoch einen anderen Käufer fand, konnte man diese Kaufoption zu einem höheren Preis verkaufen und den Gewinn einstecken, ohne eigentlich selbst Geld aufgebracht zu haben. Dieser Handel mit Optionen, die man später Derivate nennen sollte, hatte 1720 begonnen, zur Zeit der Spekulationskrise der South Sea Bubble. Obwohl seither formal verboten, wurde er doch tagtäglich praktiziert. Eugene fand bald heraus, daß dies ein guter Weg war, sich in das knifflige System, wie man Risiken taxieren konnte, einzuarbeiten. Er führte Buch über all seine Geschäfte, und nach einem Jahr hatte er nicht nur einen bescheidenen Profit erworben, sondern auch begonnen, Strategien zu entwickeln, wie man ein Risiko mit einem anderen kompensieren konnte. Doch gerade diese Erfahrung ließ in Eugene zum erstenmal ein Gefühl der Besorgnis aufkommen. Allmählich konnte er sich auch ein Bild der Aktivitäten seines Bankhauses machen. Er erstellte ein Verzeichnis ihrer wichtigsten Handelspartner und begann deren Unternehmen zu taxieren. Mit der Zeit kam er zu einer beunruhigenden Schlußfolgerung. »Ich bin nicht sicher«, sagte er zu Fleming, »aber wenn ein paar dieser Firmen Bankrott machen, dann, glaube ich, könnte auch das Bankhaus Meredith untergehen.«
»Aber du mußt davon ausgehen, daß der Earl of St. James hinter ihm steht«, tröstete Fleming. Jeder in der Bank wußte, daß Meredith' Großvater den Earl aufgezogen hatte, und aus Dankbarkeit hatte St. James Meredith bei der Gründung seiner Bank unter die Arme gegriffen.
Neben der Bank und der Warenbörse gab es in der City noch eine weitere aufstrebende Adresse für Geschäfte, nahe der Bank in einer kleinen Enklave namens Capel Court gelegen: die Aktienbörse, wo sich vor allem die Männer einfanden, die mit den unzähligen Staatsschuldscheinen handelten. Die Akteure in dieser Institution hatten wohl beschlossen, wie ewige Schuljungen zu leben; sie hatten sogar einen großen Stand, wo sie süße Brötchen, Krapfen und Süßigkeiten kaufen konnten. Am erstaunlichsten war aber wohl Capel Court 2, wo der große Preisboxer Mendoza einen Boxring führte. Junge Leute konnten dort entweder gegeneinander oder gegen einen Berufsboxer antreten.
Als Eugene eines Tages zufällig zusammen mit Meredith bei Mendoza vorbeikam, bot sich ihm ein seltsamer Anblick. Da stand ein junger Bursche, nicht groß, aber sehr stämmig, bis zur Taille nackt und mit der Haltung eines Berufsboxers. Im Haar hatte er eine weiße Strähne, um den Hals ein rotes Tuch. Er hatte gerade einen Makler niedergeschlagen und fragte fröhlich, ob jemand anderer gegen ihn antreten wolle, als Meredith ihm einen Gruß zurief. »Hallo, George! Was machst du hier?«
»Hallo, Meredith!« Der junge Mann grinste. »Eine Runde gefällig?«
»Nein danke. George, das ist Eugene Penny. Penny, das ist Mr. George de Quette.« Der Enkel des Earls.
Jedermann hatte von George de Quette gehört. Er schlug mehr nach seinem munteren Großvater als nach dem sauertöpfischen Lord Bocton und war bekannt als der lebhafteste und lustigste junge Draufgänger in England. Er ritt wie ein Jockey, raufte wie ein Kampfhahn und scherte sich nicht um seinen gesellschaftlichen Rang. Seine Erfolge bei Frauen waren legendär. Sein Vater hatte ihn auf eine Bildungsreise durch den Kontinent geschickt, von der er unverändert zurückgekommen war. Er zog sich nun ein Hemd über, kam aus dem Ring und plauderte mit ihnen.
Als George Penny eine Woche später auf der Straße begegnete, erinnerte er sich sofort an ihn und lud ihn in ein Kaffeehaus ein. Penny stellte fest, daß der junge Aristokrat ein beträchtliches Wissen über Frankreich und Italien hatte und sehr belesen war. Sogar für Gedichte hatte er etwas übrig. »Natürlich liest jeder Lord Byron, er ist modern«, erklärte er. »Aber ich mag auch Keats. Seine Ode an die Nachtigall finde ich sehr schön.« Auch an der Bank schien er interessiert zu sein und fragte Eugene nach seinem Leben dort aus, und Eugene erzählte ihm sogar von seinen Termingeschäften.
1824
Heute waren sie weiter gekommen als gewöhnlich, da ein freundlicher Nachbar sie auf seinem Wagen mitgenommen hatte. Jeder in der ärmlichen kleinen Straße kannte Lucy und Horatio. Jeden Nachmittag nahm die dünne, blasse Fünfjährige den kleinen Kerl, der noch wacklig auf den Beinen war, mit nach draußen, weil man ihr sagte, dann würde er kräftiger werden. Horatio klammerte sich an ihre Hand und stapfte tapfer neben ihr her. Heute setzte der Nachbar, der in der Nähe der Strand zu tun hatte, die beiden Kinder bei Charing Cross ab und versprach, sie in einer halben Stunde dort wieder abzuholen. Vor ihnen lag ein leicht abschüssiges Gelände, wo später der Trafalgar Square entstehen sollte. Südlich davon mündeten die Prachtstraßen Whitehall und Pall Mall. Rechts war die klassizistische Fassade von St. Martin-in-the-Fields, und vor ihnen lag der Königliche Marstall, wo die Pferde und Kutschen des Königs untergebracht waren.
Der Sommernachmittag war heiß und staubig. In der Mitte des offenen Platzes war ein kleiner Markt aufgebaut, und mehrere Straßenhändler boten lautstark ihre Waren feil. Während die Kinder zufrieden herumspazierten, fiel ihnen eine junge Frau mit einem Korb auf. »Lavendel! Kauft meinen Lavendel!« rief sie mit feiner Stimme. Die junge Frau reichte ihnen ein frisches Zweiglein, und als Lucy erklärte, daß sie kein Geld hatten, lachte sie und sagte, sie solle es trotzdem behalten. Es duftete wundervoll, und Lucy fragte, wo das her sei.
»Vom Lavendelhügel natürlich«, antwortete die junge Frau. »Zwischen Battersea und Clapham Common.« Auf diesen Hügeln, nicht einmal drei Meilen entfernt, wurde Lavendel angebaut, erklärte sie Lucy. »Ist das dein Bruder?« fragte sie dann. »Er ist kränklich?«
»Er wird schon kräftiger.«
»Kennt er das Lavendellied?«
Lucy schüttelte den Kopf, und die junge Frau sang es ihm vor:
»Lavendel blau, dilly dilly, Lavendel grün –
Wenn du der König bist, dilly dilly, Bin ich Königin.
Du solltest ihm das öfter vorsingen«, forderte sie Lucy fröhlich auf.
Lucy und Horatio wollten gerade wieder zurückgehen, als die Frau ihres Nachbarn auf sie zueilte. »Kommt mit mir«, sagte sie.
Man hatte Will Dogget auf das Bett gelegt. An diesem Sommernachmittag war Will auf der Baustelle neben dem Regent's Park, wo eine Reihe eleganter Häuser errichtet wurden, an einem Gerüst vorbeigegangen, als ein großer Korb voller Ziegel auf ihn herabstürzte. Will atmete keuchend. Er schien nicht wahrzunehmen, daß der Geistliche da war, und er sah auch Lucy und den kleinen Horatio nicht. Gegen sechs Uhr abends war er tot.
Das Gesicht ihrer Mutter war grau. Den Ehemann zu verlieren war furchtbar. Ein Witwer konnte wieder heiraten, und die neue Frau würde sich um die Kinder kümmern, doch wovon sollte eine Witwe leben, wenn der Ernährer starb? Will Dogget wurde am nächsten Tag in einem Armengrab bestattet. Lucy hatte einmal gehört, daß ihr Vater gesagt hatte, es gebe auch noch andere Doggets, Onkel oder Tanten vielleicht, aber ihre Mutter kannte sie nicht. Eine einzige andere Person tauchte noch auf, eine seltsame, untersetzte Gestalt mit einem formlosen schwarzen Hut. Der Mann sah der Beerdigung schweigend zu, dann kam er zu ihnen und sprach ein paar schroffe Worte, bevor er ging. Er roch nach dem Fluß, und Lucy fand, daß er ein finsterer Geselle war.
»Wer ist das?« fragte sie ihre Mutter.
Ihre Mutter verzog das Gesicht. »Das ist Silas. Ich weiß nicht, wie er das mit eurem Vater erfahren hat. Ich habe ihn nicht hergebeten.«
»Was macht er?« fragte das Mädchen neugierig. »Das brauchst du nicht zu wissen«, antwortete die Mutter.
Was also war er wert? Als Penny an diesem Oktobernachmittag aus der Bank kam, war diese Frage plötzlich wichtig. Der Grund waren ein Paar wunderbarer brauner Augen und eine sanfte Stimme mit einem leichten schottischen Akzent, die Miss Mary Forsyth gehörten. Es war eine dringende Frage, denn er sollte nun zum erstenmal mit ihrem Vater sprechen.
In den vergangenen eineinhalb Jahren hatte Eugene ein wenig Geld auf die Seite gebracht und mit ein paar vielversprechenden Investitionen begonnen. Vor allem der wachsende Markt für Auslandskredite hatte in der City für Optimismus gesorgt. Das Bankhaus Meredith hatte bereits sehr gut an Buenos Aires und Brasilien verdient und sich erst kürzlich einem großen Konsortium für Mexiko angeschlossen, mögliche Kredite für Kolumbien und Peru aber klugerweise abgelehnt. Ermutigt von diesen profitablen riesigen Geldsummen, die in der City umgesetzt wurden, hatten Börsenspekulanten, wie eine Flottille im Kielwasser der großen Anleihen, kleinere Obligationen und sogar Aktiengesellschaften verkauft. Es war eine große Hausse, und da sämtliche Kurse stiegen, fühlten sich alle Investoren sehr schlau. Eugene Penny hatte bereits mehr als tausend Pfund dabei verdient. Aber war das genug, um Hamish Forsyth zufriedenzustellen?
Er betrat die Königliche Warenbörse. Sie war zum Bersten voll. Jeder Quadratmeter des weltweiten Handelszentrums war einem speziellen Handelszweig zugeordnet; so gab es die Straße für Jamaika, für Spanien, für Norwegen, wo Spekulanten Aktien an Käufer aus jedem Land verkauften. Eugene schritt durch die geräuschvolle Halle in die ruhigeren Bereiche des Halbgeschosses darüber. Hier war Mr. Forsyth' Arbeitsplatz.
Lloyds of London war nicht zu unterschätzen. Das alte Kaffeehaus hatte sich zu einer klug geleiteten Gesellschaft mit bestem Ruf entwickelt. Manche der kleineren Versicherungsvertreter waren kaum mehr als herausgeputzte Straßenhändler oder Trickbetrüger, aber die Angestellten von Lloyds waren von einem ganz anderen Schlag. In diesem feierlichen Saal, den sie von der Börse gemietet hatten, war das Schiffsregister von Lloyds untergebracht. Hier wurden die größten Schiffe, egal, wie wertvoll ihre Fracht war, durch ähnliche Syndikate, wie sie die Banken für die größten Kredite aufbauten, versichert. Und keiner der etwa hundert Versicherer hatte strengere Grundsätze als der mürrische Mann, der Eugene nun zunickte.
Über Mr. Hamish Forsyth sagte man oft, er sehe aus wie ein schottischer Richter, der gerade ein Urteil gesprochen hatte. Seine presbyterianischen Vorfahren waren rauh wie Granit. Hamish Forsyth, ebenso streng, richtete sein Augenmerk jedoch auf den Londoner Versicherungsmarkt statt auf die schottische Staatskirche. Er hatte eine Hakennase und noch ein paar Strähnen grauen Haares über der hohen Stirn. Von Zeit zu Zeit nahm er eine kräftige Prise Schnupftabak. Er nahm Penny mit in ein Kaffeehaus in der Threadneedle Street, wo er ihn mit gönnerhafter Miene zu einer Tasse Kaffee einlud. »Sie haben meine Tochter kennengelernt«, meinte Forsyth. »Dann sollten Sie mir wohl Rede und Antwort stehen.«
Penny fühlte sich, als wäre er ein Schiff, das auf seine Seetauglichkeit geprüft wurde. Forsyth stellte die Fragen, er antwortete. Seine Familie? Er schilderte sie. Sein Glaube? Seine Vorfahren waren Hugenotten. Darauf folgte ein Schnauben, anscheinend billigend. Er selbst, gestand Eugene, gehöre der anglikanischen Kirche an, aber auch das schien akzeptabel zu sein. »Sie ist solide«, meinte Forsyth. Seine Stellung? Er erklärte, daß er Angestellter beim Bankhaus Meredith sei. Forsyth sah nachdenklich drein. Dazu aufgefordert, seine Vermögensverhältnisse offenzulegen, gab Penny wahrheitsgemäß Auskunft und berichtete detailliert über seine Geschäfte. Das entlockte Forsyth einen Seufzer. »Dieser Markt ist überhitzt, junger Mann. Steigen Sie da aus, oder Sie verbrennen sich die Finger.«
Eugene war klug genug, nicht zu widersprechen. »Wann soll ich aussteigen, Sir?«
»Ostern«, erwiderte Forsyth. Ganz plötzlich fragte er dann: »Sie tragen eine Brille, Mr. Penny. Wie schlecht sind Ihre Augen?«
Eugene erklärte, daß auch sein Vater und sein Großvater kurzsichtig gewesen waren. »Aber offenbar wird es nicht schlimmer«, fügte er hinzu.
Ob Forsyth sich damit zufriedengab, konnte Eugene nicht beurteilen; bald schon wurden ihm eine Reihe von Fragen über das Bank- und Finanzwesen gestellt, die ihm klarmachten, daß der Schotte wirklich ein scharfsinniger Kopf war. Zumeist fielen ihm die Antworten nicht schwer, aber bei der letzten Frage zögerte er doch. »Was halten Sie von der Rückkehr zum Goldstandard, Mr. Penny?«
Eugene erinnerte sich an die Antwort, die er dem Earl of St. James gegeben hatte, doch ihm war klar, daß hier eine andere Meinung angebracht war. »Ich bin für den Goldstandard, Sir«, erwiderte er.
»Ach?« Forsyth war überrascht. »Und warum, wenn ich fragen darf?«
»Weil ich der Bank von England nicht traue«, sagte Penny kühn.
»Soso.« Selbst Forsyth war einen Augenblick lang sprachlos. »Man findet in der City nicht oft einen jungen Mann mit solchen Ansichten.« Eugene hatte ins Schwarze getroffen. Für Forsyth war sogar die Bank von England ein unsicheres Schiff. Nun konterte er. »Sie haben also Zuneigung zu Mary gefaßt? Sie ist keine Schönheit.«
Mary Forsyth hatte eine schlanke Figur, braunes Haar, das in der Mitte gescheitelt war, und sah ein wenig brav aus. Sie hatte nichts Modisches oder Kokettes an sich. Ihre Schönheit lag in ihrem liebenswerten Gemüt und ihrer hohen Intelligenz. Eugene liebte sie aufrichtig. »Ich bitte, Ihnen widersprechen zu dürfen, Sir.«
Forsyth schnupfte. Eine Pause. »Dann sind Sie also hinter ihrem Geld her.«
Eugene überlegte. Obwohl Forsyth nicht als reicher Mann galt, gab es keinen Zweifel, daß er ein beträchtliches Vermögen hatte, und Mary war sein einziges Kind. Es wäre unaufrichtig, vorzugeben, daß ihm diese Tatsache gleichgültig war. »Ich würde nie danach trachten, eine Frau zu heiraten, die ich nicht liebe und respektiere, Sir«, antwortete er. »Was ihr Vermögen betrifft – ich bin nicht so sehr auf Geld aus. Aber ich möchte in eine Familie einheiraten, die solide ist.«
»Solide? Ich bin solide, Sir. Dessen können Sie sicher sein.« Forsyth nahm eine Prise. »Sie sind jung, Mr. Penny. Sie müssen sich noch etablieren. Natürlich kann Mary einen besseren Antrag bekommen. Aber wenn nicht, werden wir Sie in ein paar Jahren noch einmal in Betracht ziehen. In der Zwischenzeit können Sie Mary hin und wieder besuchen.«
Lucy kam jeden Tag an dem Haus vorbei, sah aber immer weg, denn ebendiesem Ort galt es zu entrinnen – dem Armenhaus. Es war die große Furcht jeder notleidenden Familie, und das Armenhaus im Kirchspiel St. Pancras war so schlimm wie alle anderen. Es lag zwischen zwei schmutzigen Durchgangsstraßen neben heruntergekommenen Lagerhäusern und einem ehemaligen Gefängnis; der schmutzige Hof war übersät von Abfall. Man hatte das alte Haus vor ein paar Jahren erweitern müssen, da weiß Gott wie viele arme Kreaturen dort eingepfercht leben mußten.
Theoretisch waren die Armenhäuser der Kirchspiele dazu da, den Armen zu helfen. Wer nicht für sich selbst sorgen konnte, sollte eine Unterkunft bekommen, die Kinder sollten ein Handwerk lernen, die Erwachsenen sollten eine Arbeit bekommen. Die Praxis sah anders aus. Die Leute wollten für die Armen der Gemeinde kein Geld spenden. Daher gaben die Kirchspiele so wenig wie möglich aus, und Kontrollen gab es kaum. Zumeist waren diese Häuser voller Kranker – und die Armen, die gesund dort hinkamen, blieben nicht lange gesund.
»Müssen wir vielleicht ins Armenhaus?« flüsterte Lucy ihrer Mutter bald nach dem Tod des Vaters ängstlich zu.
»Natürlich nicht«, log die Mutter. »Aber wir müssen beide arbeiten.« Sie hatte eine Stelle in einer kleinen Fabrik in der Nähe gefunden, die Baumwollkleidung herstellte. Doch der Besitzer erlaubte nicht, daß sie den kleinen Horatio mitbrachte. Und so ging Lucy jeden Morgen mit ihrem Bruder am Armenhaus vorbei zu ihrer neuen Stelle in der Tottenham Court Road.
Was immer Zachary Carpenter über den allgemeinen Zustand der Welt denken mochte, das Möbelgeschäft hatte sich für ihn als profitabel erwiesen. Er hatte neue Räume hinzugemietet und beschäftigte nun zehn Gesellen und einen Lehrling. Seine gesamte Belegschaft war doppelt so groß, aber die übrigen waren weder Gesellen noch Lehrlinge, sondern Kinder. »Wenn man sie richtig anlernt, können sie mit ihren kleinen Händen sehr gut zum letzten Schliff beitragen«, erklärte Carpenter. Er kannte niemanden in seiner Branche, der nicht mit Kindern arbeitete. Auf die Frage, ob das richtig sei, antwortete der Sozialreformer: »Sie sollten in die Schule gehen. Doch bis es Schulen gibt, bewahre ich sie wenigstens vor dem Verhungern.« Oder vor dem Armenhaus. Wie viele Meister beschäftigte Carpenter keine Kinder unter sieben Jahren, aber für Horatio hatte er eine Ausnahme gemacht. Da der kleine Junge so gerne helfen wollte, gab er ihm einen Besen und ließ ihn die Holzspäne aufkehren, wofür er ihm dann hier und da einen Farthing gab.
Lucy und ihre Mutter mußten beide arbeiten, um nur einen Teil von Will Doggets Verdienst zu ersetzen. Er hatte zwischen zwanzig und dreißig Shilling pro Woche nach Hause gebracht. Seine Witwe bekam zehn Shilling, Lucy fünf. Es war in ganz England so – Frauen hatten etwa den halben Lohn eines Mannes, Kinder etwa ein Sechstel.
Zu Ostern 1825 beherzigte Eugene Penny Mr. Hamish Forsyth' Rat und verwandelte all seine Investitionen in Bargeld oder sichere Staatspapiere. Wenn er recht hat und ich seinem Rat nicht folge, wird er mir nie verzeihen, hatte er überlegt; aber wenn ich es tue und er sich geirrt hat, bin ich ihm gegenüber in einer stärkeren Position.
Es war schwierig zu sagen, ob der strenge Schotte recht hatte oder nicht. Auslandskredite hatten weiterhin Hochkonjunktur. »Wir haben noch nie solche Gewinne gemacht«, erklärte Meredith. Doch wenn Penny sich einige Börsenkurse ansah, die am steilsten in die Höhe schossen, mußte er zugeben, daß sie überbewertet waren. Auf dem Warenmarkt nahmen die Leute Kredit auf, um alles zu kaufen, was sich bot. Frühling und Sommer gingen vorbei, es herrschte immer noch Hochkonjunktur.
Penny hatte in der Firma nun eine gewisse Position erworben. Meredith hatte ihm manche Aufgaben anvertraut, die Diskretion erforderten, und sprach oft vertraulich mit ihm über Geschäfte. »Wir sind dem Beispiel von Baring und Rothschild gefolgt«, sagte Meredith. Die beiden führenden Häuser bei Auslandskrediten hatten sich von allen Aktienspekulationen ganz ferngehalten. »Wir stehen ganz solide da. Was ich fürchte, ist ein allgemeiner Niedergang. Für eine kleine Bank wie uns ist es sehr schwer, sich dagegen zu schützen.« Die Gefahr für die Meredith-Bank war typisch für alle kleinen Unternehmen dieser Art. Wenn einige von jenen, die Meredith Geld schuldeten, Bankrott machten, konnte auch er am Rande des Untergangs sein. »Aber wirklich bedrohlich ist Vertrauensverlust«, fuhr er fort. »Das kann uns den Kopf kosten.«
Eugene sah Mary jede Woche. Für sie bestand kein Zweifel, daß sie heiraten würden, doch wie bald, das war eine andere Frage. Eugenes Gehalt war beträchtlich gestiegen, seine Stelle schien sicher, doch hatte er noch keine Position erreicht, die Mr. Hamish Forsyth zufriedenstellen würde.
Die Probleme begannen im Herbst. »Machen Sie die Luken dicht, Penny«, kündigte Meredith an. »Ich glaube, wir müssen mit Sturm rechnen. Man sagt, die Bank von England will die Schrauben anziehen.« Anfang Dezember begann die Bank von England Kredit zu gewähren, doch es war zu spät.
Am Mittwoch, den 7. Dezember, wurde bestätigt, daß die Privatbank Pole, die mit nicht weniger als achtunddreißig Grafschaftsbanken eng verflochten war, von der Bank von England über das Wochenende gerettet worden war. Am Donnerstag, den 8. machte die große Bank Wentworth in Yorkshire plötzlich pleite. In ganz England eilten die Kunden zu ihren Banken, um ihr Geld abzuheben. Mit den Postkutschen aus jeder Grafschaftshauptstadt kamen die Nachrichten nach London. »Gold. Sie wollen alle Gold!« Am folgenden Wochenende stellte Pole alle Zahlungen ein, und infolgedessen waren am Montag, den 16. Dezember, drei Dutzend Provinzbanken zusammengebrochen.
Schon vor Morgengrauen hatte sich an diesem Montag Nebel über die Stadt gelegt. Der Vormittag verging ereignislos; der Handel stand still. Von Zeit zu Zeit sandte man einen der Angestellten aus, der sich nach Neuigkeiten erkundigen sollte: »In der Börse wimmelt es von Leuten, die Geld wollen!« erfahr man. »Das Bankhaus Williams in der Mincing Lane wird belagert.«
Meredith' eigene Vorbereitungen waren gründlich gewesen. Während der letzten Woche hatte er fast alle großen Kunden der Bank aufgesucht. »Ich glaube, ich habe die Sache mit allen geregelt«, sagte er Eugene. Außerdem hatte er sich mit soviel Goldmünzen wie möglich eingedeckt. »Zwanzigtausend Sovereigns«, verkündete er.
Nur wenige Leute kamen vormittags, um Geld abzuheben. Mittags kam ein Kaufmann und zahlte tausend Pfund ein. »Die habe ich bei Williams abgehoben«, erklärte er. »Bei Ihnen ist es sicherer.«
Kurz vor Geschäftsschluß erschien ein älterer Landedelmann, eingemummt in einen dicken Mantel, im nebelumwaberten Eingang und trat an den Schalter. »Ich heiße Grimsdyke«, erklärte er, »aus Cumberland. Ich möchte abheben.«
»Bei Gott«, murmelte Meredith, »dieser alte Gentleman war einer meiner ersten Kunden! Er muß die ganze Nacht unterwegs gewesen sein.«
»Gewiß, Sir«, erwiderte der Angestellte zuvorkommend. »Wieviel?«
»Zwanzigtausend Pfund.«
Es sei wirklich nicht nötig, so viel abzuheben, versicherte ihm Meredith, die Bank sei absolut stabil. Aber der alte Gentleman war nicht den ganzen Weg aus Nordengland gekommen, um nun seine Meinung zu ändern. Er hob alles ab und ließ es von den Angestellten zu seiner Kutsche tragen. Als sich die Tür hinter ihm schloß, rief Meredith Eugene. »Machen Sie eine Bilanz, Mr. Penny, und kommen Sie damit in mein Arbeitszimmer.«
»Noch einen Tag überstehen wir nicht«, meinte Meredith, als er und Eugene die Bücher durchsahen. »Diese drei« – er deutete auf die Namen, die Penny schon vor einigen Jahren beunruhigt hatten – »schulden uns zuviel, und ich weiß wirklich nicht, ob wir solvent sind oder nicht. Und was Abhebungen betrifft – ich kann noch einmal fünftausend in bar bekommen, aber irgendwann morgen wird das Geld weg sein, und wir müssen schließen.«
»Wird uns die Bank von England über Wasser halten?«
»Sie haben noch keine Bereitschaft gezeigt. Wir sind ohnehin zu klein, als daß sie sich mit uns abgeben würden.« Beide schwiegen.
»Und der Earl of St. James?« fragte Eugene schließlich.
»Er hat schon soviel für mich getan. Außerdem hat er mir schon gesagt, daß er mir nicht aus der Patsche helfen würde. Ich kann nicht zu ihm gehen.«
»Dann lassen Sie mich gehen«, erwiderte Eugene.
Der Earl war nach Brighton gefahren. Also mietete sich Penny eine Postkutsche und fuhr auf der Mautstraße fünfzig Meilen in das Seebad im Süden. Mit etwas Glück, dachte er, würde er dort noch ankommen, bevor der Earl sich zum Schlafen zurückzog.
Es war nach zehn Uhr, als Eugene sich nach ausführlichen Erklärungen gegenüber Türstehern und Lakaien allein mit dem Earl of St. James in einem prachtvoll ausgestatteten Vorzimmer befand. Die Augen des Earls wurden hart, als Eugene den Grund seines Kommens erklärte. »Ich habe ihm gesagt, daß ich ihm nicht aus der Patsche helfen würde. Das weiß er.«
»Ja, Mylord. Ich habe ihn gebeten, daß er mich zu Ihnen fahren lassen soll.«
»Sie?« St. James starrte ihn an. »Sie sind einer seiner Angestellten, und kommen zu mir? Hierher? Sie haben Nerven.«
»Gute Nerven sind alles, was die Bank braucht. Wenn Sie uns nur kurze Zeit über Wasser halten.«
»Ist die Bank solvent?«
»Ja, Mylord.« Eugene sagte das mit absoluter Überzeugung, obwohl er wußte, daß es eine Lüge war. Aber er tat es für Meredith.
»Ich leihe ihm zehntausend zu zehn Prozent«, entschied St. James. »Ich komme morgen nach London. Reicht das?«
Eugene Penny nahm die Postkutsche, die vor Morgengrauen fuhr, und war vormittags wieder in der Stadt. Der Nebel hatte sich gelichtet; auf den Straßen herrschte geschäftiges Treiben. Als er Meredith die Nachricht überbrachte, war der Bankier so überwältigt, daß er ihm nur die Hand schütteln konnte. Doch sobald er die Sprache wiedergefunden hatte, mußte er die Lage erklären. »Ich fürchte trotzdem, daß es zu spät ist… Wir haben noch zweitausend Pfund. Ungefähr tausend Pfund pro Stunde werden abgehoben. Mittags ist es vorbei. Ich kann nicht einfach bis zum späten Nachmittag, wenn St. James kommt, die Türen zumachen. Wir müssen mindestens vier Stunden überbrücken, Penny.«
Eugene hatte eine glänzende Idee. »Sie haben noch zweitausend? Bringen Sie das Geld sofort zur Bank von England! In einem Handkarren«, rief er.
Eine halbe Stunde später wandte sich ein ganz gelassener Meredith an die kleine Menschenansammlung im Kontor, die darauf wartete, ausgezahlt zu werden. »Gentlemen, wir bitten um Entschuldigung. Wir haben bei der Bank um Sovereigns gebeten, und man hat uns nur Kleingeld geschickt. Aber wir haben genug. Sie bekommen alle Ihr Geld. Nur ein wenig Geduld, bitte.«
Die beiden Angestellten am Schalter begannen langsam mit den Auszahlungen – in Shillings, Sixpences, aber vor allem in Pennies. Da die kleinen Münzen sorgfältig abgezählt werden mußten, gingen nicht mehr als dreihundert Pfund pro Stunde hinaus, wenn auch der Strom nicht abriß. Kurz vor Geschäftsschluß kam der Earl mit zehntausend Pfund in Gold.
Die große Bankenkrise von 1825 endete nicht an diesem Dienstag; am Mittwoch wurde es für viele noch schlimmer. Am Donnerstag gab die Bank von England, im Kabinett vom Herzog von Wellington persönlich unterstützt, ihre strenge Haltung auf und bürgte für jedes Finanzhaus. Am Freitag gingen auch der Bank von England die Goldreserven aus. Am Abend wurde sie durch eine Goldeinlage gerettet, die der einzige Mann in England oder der ganzen Welt aufgebracht hatte, dem so etwas möglich war: Nathan Rothschild. Rothschild war der König der City.
Der Winter, in dem Lucy acht Jahre alt wurde, war hart für die Familie. Ihre Mutter schaffte es zwar, jeden Tag zur Arbeit zu gehen, sie wurde aber von einem trockenen Husten sehr geplagt, und vor allem wurden Horatios Beine schwächer. Manchmal mußte er zu Hause bleiben, wenn Lucy zu Carpenter zur Arbeit ging. Im Frühling schien es ihm besserzugehen, aber manchmal weinte er leise.
Eines warmen Sommerabends sah Lucy erstaunt, wie Silas Dogget die Straße zu ihnen heraufkam. Uneingeladen trat er ein, setzte sich an den Küchentisch und erklärte schroff: »Ich brauche eine Hilfe. Habe euch einen Vorschlag zu machen. Ich zahle euch fünfundzwanzig Shilling pro Woche; das bewahrt euch vor dem Armenhaus.«
»Niemals!« rief Lucys Mutter, als sie hörte, worum es ging.
»Du bist genauso dumm wie dein Mann«, meinte Silas.
»Laß uns in Ruhe und geh!«
Silas zuckte die Schultern und stand langsam auf. Er sah Lucy an. »Dein Sohn ist kränklich, aber das Mädchen sieht kräftig aus. Vielleicht ist sie in ein oder zwei Jahren nicht so stolz wie du.« Er legte Lucy seine schwere Hand auf die Schulter. »Denk nur an deinen Onkel Silas, Mädchen.«
Als Lucy und Horatio eines Septembernachmittags von der Arbeit zurückkamen, hörten sie aus dem Schlafzimmer ein seltsames Geräusch. Sie fanden ihre Mutter auf dem Bett liegen. Ihr Gesicht war sehr blaß, und sie keuchte nach Luft. Lucy holte eilig eine Nachbarin und wartete ängstlich, während die Frau ihrer Mutter half, bis der Anfall vorbei war.
»Was hat sie?« fragte sie die Frau verzweifelt. »Stirbt meine Mutter?«
»Nein«, erwiderte die Frau. »Viele Leute hier haben das, Lucy. Es ist Asthma. Ich habe schon gesehen, daß Leute gehustet haben und dann gestorben sind«, antwortete die Frau wahrheitsgemäß, »die meisten sind zwar schwach, können aber damit leben.«
»Was kann ich tun, damit es ihr bessergeht?« rief Lucy.
»Mehr Ruhe vor allem. Weniger Sorgen.« Die Frau tätschelte das Kind freundlich.
Ein Monat verging, und ihrer Mutter ging es einigermaßen gut. Aber eines Morgens hatte sie wieder einen Anfall und konnte nicht zur Arbeit gehen. Lucy brachte schließlich das Thema zur Sprache. »Laß mich für Onkel Silas arbeiten, Mutter.«
Ihre Mutter schüttelte vor Abscheu den Kopf. »Wenn ich mir vorstelle, daß du dasselbe tust wie er…«
»Ich glaube, es würde mir nichts ausmachen.«
»Niemals, Lucy, solange ich noch atme. Denk nicht einmal mehr daran.«



Eugene Penny beschloß im September 1827, endlich eine Entscheidung herbeizuführen. Meredith' Bank hatte sich ganz gut aus der Krise gerettet. Lord St. James hatte sein Geld zurückbekommen und erinnerte sich mit Bewunderung an den jungen Angestellten. Meredith stand in seiner Schuld. Es war sogar zu Hamish Forsyth durchgedrungen, daß der fünfundzwanzigjährige Penny als junger Mann mit Zukunft galt. Er besaß nun fast zweitausend Pfund, eine beträchtliche Summe, wenn man bedenkt, daß ein gewöhnlicher Angestellter der Bank von England etwa hundert Pfand im Jahr verdiente.
Eines Montagmorgens ging er zu Meredith. »Ich habe die Freude, Ihnen mitzuteilen, daß ich die einzige Tochter Mr. Hamish Forsyth' von Lloyds heiraten werde. Doch da ist noch etwas. Ich glaube, Sie stimmen mir zu, daß ich mir eine Juniorteilhaberschaft verdient habe. Meine Stellung als Forsyth' Schwiegersohn läßt das auch als angemessen erscheinen.«
Meredith brauchte nicht lange, um sich Forsyth' Vermögen auszurechnen und zuzugeben, daß Penny der Firma tatsächlich wertvolle Dienste geleistet hatte. »Ich habe genau dasselbe gedacht«, erwiderte der Bankier.
Penny trank noch ein Glas Sherry, das Meredith ihm anbot, dann ging er geradewegs zu Lloyds. »Mr. Forsyth«, begann er kühn, »ich bin nun Teilhaber im Bankhaus Meredith. Ich bin gekommen, weil ich um Marys Hand anhalten will.«
»Teilhaber?« fragte der Schotte. »Ist das sicher?« Eugene nickte. »Na gut, dann haben Sie wohl recht. Die Zeit ist gekommen. Haben Sie einen Ring?«
»Ich werde heute einen kaufen.«
»Ein Ring ist nötig. Aber folgen Sie meinem Rat, und kaufen Sie nichts zu Teures. Ich kann Sie zu einem Händler bringen, der Ihnen etwas absolut Solides verkauft.«
Das erste Kind des Ehepaars Penny war ein gesunder Junge, und ein zweites war bereits unterwegs, als Mary sagte, sie würde gerne etwas außerhalb der Stadt wohnen. Sie war begeistert, als Eugene ihr sagte, er habe ein Haus in Clapham gefunden. Es war eine kluge Wahl, sich für dieses Dorf am Südufer der Themse zu entscheiden. Drei neue Brücken – Waterloo, Southwark und Vauxhall – erleichterten den Zugang, und im offenen Gelände bei Lambeth wurden schöne Straßen angelegt, so daß der Weg zu den Villen von Battersea und Clapham durch eine elegante Vorstadt führte. In Clapham gab es neben der alten Gemeinde eine Reihe nobler Häuser, und die Kirche im Zentrum war ein anmutiges klassizistisches Gebäude. Forsyth meinte zwar, das Haus mit sechs Schlafzimmern, das Penny gefunden hatte, sei größer als eigentlich notwendig, besänftigte sich aber, als Eugene darauf hinwies, daß die Familie ja noch größer werden würde. Zur Feier des Anlasses kaufte er dem Paar sogar ein schönes Wedgwood-Service.
Eugene brauchte kaum mehr als eine halbe Stunde von seinem Haus zum Büro. Seiner Frau jedoch gefiel am besten, daß kaum hundert Meter von ihrem hübschen Garten entfernt die großen, duftenden Lavendelfelder lagen, die sich den Hügel hinunter nach Battersea zogen. Wenn sie gefragt wurde, wo sie nun wohnten, antwortete sie stets: »Oh, in Clapham, neben dem Lavendelhügel.«
1829
Langsam pflügte sich das Boot durch das braune Wasser zur Strommitte. Das kleine Gefährt lag so tief im Fluß, daß es im trüben Licht eines Aprilabends aus der Entfernung fast so aussah, als sei es voller Wasser. Zwischen Blackfriars und Bankside machte es in der Mitte Halt. »Halt das Boot auf dieser Höhe«, kam Silas' Stimme vom Heck.
Obwohl es schon ein Jahr her war, daß die nun zehnjährige Lucy für Silas zu arbeiten begonnen hatte, konnte sie sich immer noch nicht daran gewöhnen. Mittlerweile wurde aus der Großstadt eine solche Menge an Abwässern in die Themse geleitet und eine solche Menge an Kohlenstaub lag auf dem Fluß, daß nicht einmal die Gezeiten den Schmutz wegschwemmen konnten. Bei Flut war das Wasser trübe, bei Ebbe roch es widerwärtig. Zum erstenmal in der Geschichte starben die Fische im Fluß; ihre gesprenkelten, blasigen Kadaver lagen zwischen dem Müll auf den Schlammbänken. Senkte sich der dicke, gelbe Smog über die Stadt, wirkten Nebel und Fluß wie die gasförmige und flüssige Form ein und desselben dunklen, stinkenden Elements.
Silas tauchte die Hände ins Wasser. Etwas Schweres stieß gegen das Boot. Er nahm ein Stück Seil, das zwischen seinen Füßen lag, knotete es um den Gegenstand im Wasser und befestigte das andere Ende an einem Ring am Heck.
Danach fischte er wieder im Wasser herum. Mit einem zufriedenen Grunzen setzte er sich auf, öffnete die großen Hände mit den feinen Schwimmhäuten und zeigte Lucy ein halbes Dutzend Goldsovereigns und eine Taschenuhr. Dann beugte er sich noch einmal über den Bootsrand und starrte auf das Gesicht der Leiche, die knapp unter der Wasseroberfläche schwamm. »Das ist er. Zehn Pfund bringt er uns«, bemerkte er. Diese Belohnung war für die Entdeckung des Leichnams eines gewissen Mr. Tobias Jones ausgesetzt, der vor einer Woche verschwunden war. Da solche Leichname zudem oft Wertgegenstände in der Tasche hatten, war es für Silas und Lucy eine feine Sache, eine Leiche zu finden. Silas war ein Müllmann des Flusses – ein Abfallfischer, wie man sagte. Die Abfallfischer nahmen alles. Kisten oder Fässer, die von einem Schiff gefallen waren, Rundhölzer, Körbe, Flaschen – und natürlich Leichen. Diese sich auf dem Wasser bewegenden Aasgeier hatten etwas an sich, das die meisten Menschen veranlaßte, sie zu meiden. Dabei konnten die besten, wie Silas, gut davon leben. Lucy war nicht sicher, warum er sie als seine Gehilfin gewählt hatte. »Immerhin bist du mit mir verwandt«, sagte er. Das Geld, das er ihr zahlte, hatte die Familie vor dem Armenhaus bewahrt. Das Asthma der Mutter hatte seinen Tribut gefordert, so daß sie nicht mehr arbeiten konnte. Als ihnen schließlich nur noch fünf Shilling pro Woche blieben, hatte Lucys Mutter schwach zugestimmt: »Dann geh eben zu Silas.«
Wenn Lucy arbeiten ging, half der kleine Horatio im Haushalt. Mit sieben Jahren war er immer noch ein blasser, magerer kleiner Kerl. Seine Beine waren dünn wie Stecken, aber er gab nicht auf. Jeden Tag, wenn Lucy zurückkam, wartete er mit dem Teekessel und einer Mahlzeit auf sie. Manchmal, wenn es warm war und es ihrer Mutter gutging, begleitete Horatio Lucy an den Fluß, setzte sich bei einem der Bootshäuser in die Sonne oder spazierte bei Ebbe auf den Schlammbänken herum, wo immer ein paar Kinder auf der Suche nach etwas Brauchbarem waren. Oft zeigte er Lucy einen kleinen Schatz, den er gefunden hatte.
Jeden Abend, wenn sie ihn im Arm hielt, versprach er: »Irgendwann mal bin ich stark. Dann bleibst du daheim, und ich arbeite für uns alle.«
Nun tauschte Lucy den Platz mit Silas, und er ruderte mit kräftigen Schlägen auf den Tower zu. Als sie auf der Höhe des Turms der All-Hallows-Kirche waren, erklärte Silas schroff: »Hab deinen Bruder nicht zu sehr lieb. Er wird sterben.«
Als Zachary Carpenter sich zu seiner Rede erhob, hätte niemand in dem stillen Saal von St. Pancras vermutet, daß er innerlich überzeugt war, seine Zeit zu verschwenden. Ein halbes Leben lang hatte er für Reformen geworben und nichts erreicht. Dennoch wandte er sich mit seiner üblichen Redegewandtheit an die Versammelten. »Erkennt Ihr nicht, daß diese Nation von Blutsaugern ausgelaugt wird? Was sind der König, das Parlament und ihre vielen Freunde? Sie fressen Eure Steuern auf. Wollt Ihr einen Beweis für die Verderbtheit dieses Königreichs? Geht zur Mall und sagt mir, was Ihr seht. Ihr seht einen Skandal, meine Freunde.« Er sprach vom Bau des Buckingham-Palastes.
Keine der vielen Peinlichkeiten, die der Prinzregent, der nun König war, dem englischen Staat zugemutet hatte – nicht einmal seine Schulden oder seine Gattin, die sich überall herumtrieb –, konnte es mit dem Skandal des BuckinghamPalastes aufnehmen. Ursprünglich war es der Sitz eines Aristokraten; die königliche Familie kaufte ihn, und Georg IV. beschloß, ihn zu einem neuen Palast ausbauen zu lassen. Der Architekt Nash, sein Freund, wurde damit beauftragt. Das Parlament genehmigte sehr unwillig zweihunderttausend Pfund, die bald ausgegeben waren. Die Radikalen protestierten, und sogar der loyale Herzog von Wellington bekam einen Wutanfall. Der König aber machte fröhlich weiter. Mittlerweile war die schwindelerregende Summe von siebenhunderttausend Pfand ausgegeben worden. Daher mußte Carpenter seinem Publikum nur vor Augen halten, daß solche Ausschweifungen weitergehen würden, bis es zu einer Reform kam, und seine Sache war bewiesen. Doch hatte er damit etwas gewonnen? Nichts änderte sich. Seit letztem Jahr war der Getreueste der Tories, der Herzog von Wellington, Premierminister. Gut, er hatte die Getreidezölle etwas modifiziert, um den Armen zu helfen, aber nicht genug, um den Grundbesitzern weh zu tun. Der Herzog hatte auch die Test-Akte aufgehoben, so daß Methodisten und Nonkonformisten wie Carpenter nicht länger von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen waren. Aber Carpenter ließ sich davon nicht täuschen. »Wellington ist General«, meinte er. »Das ist ein taktischer Zug, um seine Stellung bei den Mittelschichten zu stärken.«
Als die Versammelten aus dem Saal strömten, war Carpenter erstaunt, ausgerechnet die flaschengrün gewandete Gestalt Lord Boctons auf sich zukommen zu sehen. »Mr. Carpenter, ich stimme jedem Ihrer Worte zu!« erklärte dieser unnachgiebige Tory. »Sie und ich, Mr. Carpenter, stehen uns vielleicht näher, als Sie glauben. Ich komme tatsächlich zu Ihnen, um Sie um Ihre Hilfe zu bitten. Ich kandidiere fürs Parlament, und ich trete für eine Wahlrechtsreform ein.«
Das System politischer Vertretung, über das Carpenter sich ereiferte, war wirklich schwerlich zu verteidigen. Große Industriestädte stellten kein Parlamentsmitglied; viele ländliche Sitze standen unter dem Patronat von Großgrundbesitzern, und der größte Skandal waren die durch einen einzigen Grundbesitzer vertretenen Wahlkreise, die pocket boroughs oft auch rotten boroughs, korrupte Wahlkreise, genannt –, wo eine Handvoll vom Grundherrn abhängiger oder käuflicher Wähler das Recht hatte, ein Mitglied zu entsenden. Manche Radikale traten sogar für geheime Wahlen ein.
»Das kommt mir als ein feiges, hinterhältiges Verfahren vor, das kein ehrbarer Mann unterstützen sollte«, gestand Bocton. »Aber vielleicht können Sie mich umstimmen, Mr. Carpenter. Sind Sie wirklich der Überzeugung, daß jedermann – der Geselle, den Sie wegen Trunkenheit entlassen müssen, der Lehrling, sogar der Bettler im Armenhaus – dasselbe Recht haben sollte wie Sie, die Führer des Landes zu wählen?«
Genau wie er sich gedacht hatte, zögerte Carpenter. Diese Frage hatte die Reformbewegung seit Jahren beschäftigt. Die Puristen glaubten, alle Männer, gleich welchen Standes, sollten Stimmrecht haben. Vor zehn Jahren hätte Carpenter noch zugestimmt, aber je älter er wurde, desto mehr Zweifel kamen ihm. Waren zum Beispiel seine zwanzig Angestellten wirklich reif für eine so große Verantwortung? »Die Männer, die Steuern zahlen, sollen das Stimmrecht haben.« Solide Bürger wie er.
»Genau«, pflichtete Lord Bocton ihm bei. Daß Frauen auch wählen sollten, war keinem von ihnen je in den Sinn gekommen. »Mein Titel«, fuhr Bocton fort, »als Erbe des Earls of St. James ist nur ein Höflichkeitstitel. Im House of Lords sitzt mein Vater, aber ich könnte ins House of Commons gewählt werden.« Viele politisch interessierte Adlige schlugen diesen Weg ein. »Bei den nächsten Wahlen möchte ich für den Sitz von St. Pancras kandidieren. Zwar bin ich ein Tory, aber ich werde für eine Reform stimmen, und ich möchte, daß Sie mich unterstützen.«
»Aber warum wollen Sie für eine Reform eintreten?«
Der Grund, warum Bocton und eine Reihe anderer Tories plötzlich auf Reformkurs umgeschwenkt waren, hing mit den irischen Katholiken zusammen. Im vergangenen Jahr war bei einer unerwarteten Nachwahl ein prominenter irischer Katholik ins britische Parlament gewählt worden. Nach den bestehenden Vorschriften konnte er seinen Sitz aufgrund seiner Religion eigentlich nicht einnehmen. »Aber wenn wir die Entscheidung nicht akzeptieren, revoltieren die Iren womöglich«, hatte Wellington bedauernd erklärt. »Die Regierung des Königs muß weitergeführt werden.« Nach beträchtlicher Druckausübung hatte die Regierung tatsächlich ein Gesetz verabschiedet, das Katholiken dieselben Rechte zugestand wie den Nonkonformisten. Politisch war das ein gefährlicher Kurs.
Im Frühjahr 1829 fanden sich solide Tories in den Grafschaften an der Seite methodistischer Ladeninhaber. »England ist protestantisch«, erklärten sie. »Wenn die Regierung und ihre käuflichen Wähler den Katholiken nachgeben, wovor werden sie dann als nächstes zurückweichen?«
»Tatsächlich«, gestand Bocton mit entwaffnender Offenheit, »fragen sich manche von uns sogar, ob wir nicht mit Parlamentariern, die von soliden Männern aus der Mittelschicht gewählt werden, besser dran wären als mit diesen käuflichen Wählern ohne Prinzipien. Vielleicht ist eine vernünftige Reform besser als Chaos.«
Beide Männer hatten ein gemeinsames Interesse, und so trafen sie ein Abkommen. Eines irritierte Carpenter jedoch ein wenig. »Bedeutet das, Mylord, daß Ihr Vater nun mit Ihnen zufrieden ist?« wagte er zu fragen, nachdem er mit seinem früheren Feind zu einer Einigung gekommen war.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Bocton. »Glauben Sie, mein Vater würde Ihnen in der Frage des Buckingham-Palastes zustimmen?«
»Ich nehme es an.«
»Tut er aber nicht. Er sagt, der König soll soviel ausgeben, wie er mag.« Das stimmte. Weil der Monarch ein Freund des Earls war, scherte er sich nicht darum, wieviel Geld er für den Palast verschwendete.
Lucy würde sich immer an den Tag erinnern, als sie zum Lavendelhügel gingen. Es war angenehm warm, als sie die Tottenham Court Road hinabschritten. Lucy hatte eine Flasche Wasser und ein wenig Proviant in einem Tuch dabei. Nach jeder Meile durfte Horatio sich ein wenig ausruhen. Vor ein paar Jahren wäre es ein angenehmerer Spaziergang entlang der Themse gewesen, mit Holzlagerplätzen am Ufer zu ihrer Rechten und offenen Gärtnereien zu ihrer Linken. Nun standen hier kleine Fabriken, und statt der Gärten drängten sich Reihenhäuser für Arbeiter und Handwerker aneinander. Als sie die alte Mauer um den Lambeth Palace erreicht hatten, war es heiß geworden. Von hier aus hatten sie noch eine weite Strecke nach Vauxhall, wo es noch die alten Vergnügungsgärten gab. Eine Schnapsbrennerei und eine Essigfabrik am Ufer vor ihnen hatten den luxuriösen Anblick des Palastes jedoch zerstört. Als sie schließlich Vauxhall erreichten, bemerkte Lucy, daß Horatio zu hinken begann.
Gerade nach dem Mittagsläuten kam Mary Penny an Vauxhall vorbei. Als der Gig die lange Straße nach Clapham hinaufrollte, bemerkte sie die beiden Kinder am Straßenrand. »Halten Sie an!« rief sie dem Kutscher zu. »Nehmen wir die Kinder mit, sie sehen so müde aus.« Einen Augenblick später thronten Lucy und Horatio neben der freundlichen Lady, die sich erkundigte, wo sie hinwollten. »Oh, genau dort wohne ich!« rief sie dann aus. »Es ist ein zauberhafter Ort. Und ihr wollt wieder den ganzen Weg nach St. Pancras zurückgehen? Denkt daran, daß ihr euch auf dem Lavendelhügel erst einmal gut ausruht.«
Der Lavendelhügel am Nachmittag. Tausende von Lavendelbüschen überzogen die Abhänge mit einem blauen Schleier, über dem zahllose Bienen summten. Der Duft war überwältigend. Lucy wickelte ihren Proviant aus und legte Horatio das Tuch über den Kopf, um ihn vor der Sonne zu schützen. Zwei Stunden blieben die beiden Kinder hier und atmeten die warme, süße Luft ein. Lucy fühlte sich wie in einem Traum. Horatio döste ein wenig. »Gehen wir nun wieder heim zu Mutter«, sagte Lucy schließlich, »und bringen ihr ein wenig Lavendel mit.«
Als sie am Rand des Feldes ankamen, sahen sie erstaunt den Ponywagen, der auf sie wartete. »Die Lady hat angeordnet, daß ich euch heimbringen soll«, erklärte der Kutscher. Auf dem Heimweg sangen die Kinder immer wieder das Lavendellied.
1830 erwies sich als ein Jahr großer Umwälzungen. Die politische Ordnung in Europa nach der Restauration, die der Französischen Revolution und der Herrschaft Napoleons gefolgt war, war keineswegs stabil. Unter der Oberfläche wirkten immer noch die von den Franzosen freigesetzten Kräfte der Demokratie, und es kam in vielen Ländern zu Aufständen.
In England war die Hausse der vergangenen Jahre zum Stillstand gekommen; die Ernte des vorhergehenden Jahres war katastrophal gewesen, und Wellingtons Korrektur der Getreidezölle war keineswegs weitgehend genug, um dem Problem abzuhelfen – der Brotpreis schnellte in die Höhe. Im Juni starb der König, ohne seinen extravaganten Palast vollendet zu haben; ihm folgte als Wilhelm IV sein Bruder nach, ein gutmütiger Seemann. Im Juli kam aus Frankreich die Nachricht, daß die Franzosen nach über einem Jahrzehnt unter der korrupten Herrschaft der restaurierten Monarchie revoltierten. Innerhalb von Tagen wurde eine neue liberale Monarchie errichtet. Wie immer blickte Europa auf Frankreich, und auch in Italien, Polen und Deutschland gab es Anzeichen für Revolten. Zu diesem Zeitpunkt begannen auch die Aufstände in England. Die sogenannten Swing-Aufstände brachen im Süden und Osten aus, wo die Preise für Grundnahrungsmittel in diesem Jahr besonders hoch waren. Die Aufständischen machten alles dafür verantwortlich: die Regierung, landwirtschaftliche Maschinen, die Grundbesitzer. Woche um Woche setzten sich die Unruhen von einem Dorf zum nächsten fort.
Für Carpenter war das Jahr aufregend. In den ersten Monaten weckte eine Entwicklung im Norden Englands seine Neugier. Es gab dort mehrere Versuche, Organisationen kleiner Meister und Arbeiter zu Gewerkschaften zusammenzuschließen, die als Lobby Politiker für ihre Interessen beeinflussen konnten. Die Ziele dieser Gewerkschaften waren noch nicht klar. »Aber die Tatsache, daß sich Menschen überhaupt organisiert zusammenschließen, kann langfristig nur Veränderungen bedeuten«, meinte er.
Den größten Auftrieb für seinen Kampfgeist brachte die Wahl, in der er mit seinem neuen Verbündeten Bocton kämpfte. Wenn der König starb und ein neuer folgte, wurde traditionell eine Wahl abgehalten. Es war keine sehr bedeutsame Sache, da es bei den meisten Sitzen keinen Gegenkandidaten gab. Der Sitz von St. Pancras jedoch war umkämpft. Ein redegewandter Anwalt, unterstützt von den Gentlemen der Kirchspielversammlung, kandidierte und rechnete mit einem Sieg. Die überraschende Kandidatur des sauertöpfischen Tories Bocton auf einer Reformplattform der Whigs schien eine widersinnige Störung.
Bocton und Carpenter arbeiteten eine einfache Taktik aus. Immer wenn der Kandidat bei einer öffentlichen Versammlung sprach, trat auch Bocton auf. Zuerst pflichtete er dem Kandidaten der Tories bei, dann erklärte er: »Aber es funktioniert nicht.« Im folgenden zeichnete er den Zuhörern ein furchterregendes Bild. Revolution in Frankreich, Gewerkschaften im Norden, Banden hungernder Landarbeiter, die über die London Bridge stürmten, und schließlich rief er: »Ich habe mein Leben lang die Interessen des Adels verfochten, aber ich sage Ihnen, so kann es nicht weitergehen. Reform oder Revolution. Sie haben die Wahl.«
Carpenters Reden vor seiner reformerischen und radikalen Wählerschaft ließen sich noch einfacher zusammenfassen: »Bocton ist ein Tory, aber er ist zur Einsicht gekommen. Stimmt für ihn.«
Carpenter hatte den Earl in den letzten Jahren seltener gesehen, jedoch bemerkt, daß der nun achtzigjährige St. James nicht mehr ganz der Alte war. Seine Hände waren rotblau geschwollen, und er blickte zunehmend reizbar drein. Bei einer von Boctons Reden sah Carpenter den Earl, der sich mit seinem Enkel im Publikum befand. Carpenter begrüßte den alten Mann. »Sind Sie gekommen, um Ihren Sohn zu unterstützen?« fragte er. »Bocton unterstützen? Diesen Verräter? Bestimmt nicht!« explodierte der Earl und stampfte davon, George im Schlepptau.
Bei der Wahl in St. Pancras erhielt Lord Bocton eine große Mehrheit, und auch für die meisten anderen umkämpften Sitze wurden Reformer gewählt. Dennoch blieb die Lage im Land unbeständig. Es gelang der Regierung nicht, die SwingAufstände unter Kontrolle zu bringen; die oppositionellen Whigs verspotteten sie Tag für Tag und erklärten, die Mittelschichten würden das nicht länger mitmachen. Der Herzog von Wellington blieb hart. Die einzige Konzession seiner Regierung war die Erlaubnis an bisher nicht zugelassene Hersteller, billiges Bier zu brauen, das die höheren Brotkosten kompensieren sollte.
Anfang November teilte der Herzog von Wellington kühl mit, in der nächsten Zukunft werde es mit ihm keine Wahlrechtsreform geben, und sogar ein paar Tories fanden, er gehe zu weit. Zwei Wochen später wurde die Regierung im House of Commons niedergestimmt, und Bocton teilte Carpenter mit: »Der König schickt nach den Whigs, Mr. Carpenter. Sie haben Ihre Reform.«
Für Lucy brachte das Jahr Kummer. Auch das warme Frühjahrswetter verbesserte Horatios Gesundheit nicht. An heißen Sommertagen kämpfte er sich jedoch so oft es ihm möglich war hinunter zur Themse und spazierte auf den Schlammbänken herum, während sie und Silas arbeiteten. Um ihm etwas Besonderes zu gönnen, nahm sie ihn einmal zur Bank mit, wo ein Mann mit Unternehmungsgeist im Sommer zuvor eine neue Form des Transports eingerichtet hatte: Ein großer Wagen mit zwanzig Sitzplätzen, gezogen von drei kräftigen Pferden, fuhr von der Bank bis in das westliche Dorf Paddington. Omnibus nannte man dieses Gefährt. Die Kinder fuhren für Sixpence bis an den Rand von St. Pancras zurück.
Horatio wurde zunehmend schwächer. Im Herzen wußte Lucy, daß er in ihrer dunklen Wohnung und im Londoner Nebel nie gesund werden würde. »Er muß fort von hier«, sagte sie zu Silas, obwohl sie den Gedanken, sich von ihm zu trennen, kaum ertragen konnte. Silas erwiderte nichts. »Fallen dir keine Verwandten oder Freunde ein, die ihm helfen könnten?« fragte sie mehrmals. »Nein«, lautete die Antwort stets.
Einmal fand Horatio an einem schönen Oktobertag im Schlamm fünf goldene Sovereigns. »Fünf Sovereigns!« Er lächelte. »Jetzt sind wir reich! Kannst du jetzt nicht aufhören zu arbeiten? Wenigstens für eine Weile?«
»Wir werden ein Festessen machen«, versprach sie statt dessen.
Die berühmteste Abstimmung im House of Commons in der Geschichte des modernen England fand am 23. März 1831 statt. Das Gesetz zu einer großen Wahlrechtsreform, vorgelegt von der neuen Whig-Regierung, war nach mehreren stürmischen Sitzungen durchgegangen. Etwa hundert Sitze sollten gestrichen und die gesamte politische Struktur drastisch umgestaltet werden. Die historische Maßnahme, die in England die moderne Demokratie einführte, kam mit einer Stimme Mehrheit durch.
Wenige Tage später wurde jedoch ein Abänderungsantrag verabschiedet, nach dem von der Reform nicht mehr viel übrig war. »Jetzt werden die Whigs aufs Land gehen«, meinte Bocton, »und sie werden gewinnen.« Lord Grey, der Premierminister der Whigs, setzte prompt Neuwahlen an, und die Whigs wurden tatsächlich mit großer Mehrheit gewählt. Eine Reform war nun unvermeidlich.
Eine kleine Begebenheit verwirrte Carpenter. Zu Beginn des neuen Wahlkampfs war er zu einer Versammlung mit Bocton gegangen. Als er ihn in einem überfüllten Saal neben der Westminster Hall fand, fragte er vollkommen unbefangen: »Ich sehe, daß nun auch Ihr Sohn George kandidiert. Für einen Pocket borough.«
Bocton sah ihn erstaunt an. »Wirklich?« Als er den alten St. James erblickte, sprach er ihn an. »Wußten Sie, Vater, daß George für einen Rotten borough kandidiert?«
»Natürlich, Bocton. Ich habe ihn für ihn gekauft.«
»Das haben Sie mir nicht gesagt. Aber ich freue mich darauf, mit ihm die Abstimmungshalle zu betreten. Vater und Sohn«, meinte Bocton trocken.
Daß ein Mann für einen Rotten borough kandidierte, sagte noch nicht, daß er das Wahlsystem unterstützte. Es gab eine ganze Reihe von Whigs, die über Rotten boroughs ins Parlament gekommen und somit eigentlich verpflichtet waren, für die Abschaffung ihrer eigenen Sitze zu stimmen.
»Wirklich?« Der alte Earl zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung, wie er stimmen wird.«
»Er wird wie Sie und ich für eine Reform stimmen, Mylord«, schmeichelte Carpenter dem brummigen alten Mann. »Deshalb haben Sie ihm ja den Wahlkreis gekauft.«
Der alte Earl starrte ihn nur an.
Erstickender Septembernebel, dicht und graubraun, lag über dem Fluß. Waren sie gegenüber von Blackfriars, unten am Tower oder im Gebiet von Wapping? Als Lucy Silas fragte, brummte er nur.
Lucy ließ ihre Gedanken schweifen. An Weihnachten hatten Horatio und sie ein köstliches Festmahl für ihre Mutter bereitet. Im Januar dann hatte Horatio angefangen, Schleim zu husten, und in der ersten Februarwoche wurde er so von Fieber gequält, daß Lucy sich fragte, wie lange sein schwacher Körper das aushalten konnte. Zwei Monate lang mußte er, eingehüllt in Tücher, zu Hause sitzen. Manchmal versuchte die Mutter, seine Infektion mit heißen Umschlägen zu lindern, und er dankte ihr mit Tränen in den Augen. Erst im Mai wurde es etwas besser, aber er blieb den ganzen Sommer über schwach; und bei der nun beginnenden Septemberkühle und dem Nebel zitterte Lucy davor, daß die Krankheit wieder ausbrechen könnte.
Silas lehnte sich nachdenklich auf die Ruder. Sie wechselten selten mehr als ein paar Worte, aber als sie nun so allein im Nebel saßen, beschloß Silas, etwas umgänglicher zu sein. »Du hast Mumm. Hier draußen im Nebel unterwegs, und ohne daß du dich je beklagst.«
Ermutigt durch diese ungewöhnliche Wendung des Gesprächs, wagte sie eine Frage: »Woher weißt du, wie man etwas finden kann, Silas? Sogar in diesem Nebel?«
»Weiß ich nicht«, gestand er. »Hab's immer gekonnt.«
»Warst du als Kind schon auf dem Fluß?« Er nickte. »Und dein Vater?«
»Fährmann. Die ganze Familie war auf dem Fluß, bloß meine Schwester nicht. Sie hat's gehaßt.«
Lucys Herz setzte einen Schlag aus. Er hatte eine Schwester. »Sie ist dann also nicht geblieben?« fragte sie weiter.
»Sarah? Nein. Hat einen Kutscher in Clapham geheiratet. Sie haben da einen Laden aufgemacht. Jetzt sind sie schon lange tot, alle beide. Auch keine Kinder da.«
Aber sie wußte, daß er log.
Im Oktober 1831 hatte Zachary Carpenter zum erstenmal in seinem Leben das Gefühl, daß mit der Welt alles in Ordnung war. Die Septembernebel hatten sich verzogen; das Wetter war schön. Vor zwei Wochen war der Reformantrag der Whigs wie erwartet im House of Commons verabschiedet worden; Lord Bocton und sein Sohn hatten zusammen abgestimmt. Nun würde der König unterzeichnen, und die Reform war Gesetz. Noch erfreuter war er über die Erklärung des Parlaments, es sei ungesetzlich, daß man das offene Kirchspiel St. Pancras in ein geschlossenes umgewandelt hatte. Daher war es ein Schock für Carpenter, als er spät an diesem Abend eine Nachricht von Bocton erhielt, die ihn veranlaßte, in das Haus des Earl of St. James zu stürmen.
Niemals in seinem Leben war Carpenter wütender gewesen. »Was zum Teufel haben Sie getan, Sie alter Schwindler?« schrie er. Das House of Lords hatte das Reformgesetz gerade mit einer knappen Mehrheit abgelehnt, und der Earl of St. James zählte zu den Peers, die es abgelehnt hatten.
Carpenter wußte nicht, welche Reaktion er auf seinen Ausbruch erwarten sollte, und es war ihm auch egal. Er war überrascht, als der alte Mann ein wenig verwirrt dreinsah. »Sie wollten George seinen Sitz wegnehmen«, murmelte er.
»Natürlich! Es ist ein Rotten borough«, rief Carpenter, den das Verhalten des Earls blind dafür machte, daß der alte St. James nicht mehr ganz im Besitz seiner geistigen Kräfte war. »Sie alter Narr!« schrie Carpenter. »Sie sind genau wie der Rest von Euch Aristokraten!« Er drehte sich auf dem Absatz um und schlug die Tür hinter sich zu, so daß er nicht mehr sah, wie der Earl ihm ehrlich verwirrt nachstarrte. »Wer bin ich?« fragte er.
Lucy wußte, daß sie keine Zeit zu verlieren hatte. Am Tag nach dem Nebel hatte Horatio zu husten begonnen, und Ende September war das Fieber wieder da. Sie hatte einen Arzt geholt, den sie mit einem der Sovereigns, die Horatio gefunden hatte, bezahlen wollte, doch nach einer sorgfältigen Untersuchung hatte der Doktor nur traurig den Kopf geschüttelt und ihnen geraten, ihm feuchte Brustwickel zu machen, damit wenigstens das Fieber sank. Dann gab er Lucy die Goldmünze zurück. Am 6. Oktober spuckte Horatio Blut. So kommt er nie durch den Winter, dachte Lucy.
Lavendelhügel. Wenn sie ihn nur dort hinaufbringen könnte. Sie wußte nun, daß es dort, in Clapham, eine Cousine gab, die einen Laden hatte. Sie hatte sich ein Bild von dieser Cousine zurechtphantasiert – eine warmherzige, freundliche, mütterliche Frau, die den kleinen Jungen willkommen heißen und für ihn sorgen würde. So viele Läden konnte es in dem Dorf Clapham nicht geben, dachte Lucy; sie mußte nur ein wenig herumfragen, dann würde sie ihre Cousine schon finden. Sie hatte gehofft, den Laden erst allein aufsuchen zu können, aber keine Zeit gehabt, und als sie den Jungen nun Blut husten sah, überwältigte sie ein blindes Verlangen, ihn aus der Stadt hinauszubringen.
Sie hatte niemandem etwas gesagt. Ein Fuhrmann brachte sie für einen Shilling im Morgengrauen zur London Bridge. Dort ließ sie Horatio, in Schal und Mantel vermummt, an einer Ufertreppe und holte das Boot aus Southwark. Es wurde gerade hell über dem Fluß, als Lucy Horatio in das Boot trug. Er klapperte mit den Zähnen, beklagte sich aber nicht. Ein paar Minuten später fuhren sie langsam flußaufwärts.
Noch eine Gestalt war an diesem Morgen in der frühen Dämmerung unterwegs, gekleidet in einen Mantel, mit einem alten Dreispitz auf dem Kopf. Unter dem Mantel trug der alte Mann nur einen Seidenschlafrock und ein Paar hochglanzpolierte Schuhe mit hohen Absätzen. Ein Diener folgte ihm.
Als der Earl of St. James Seven Dials erreichte, waren dort bereits Leute unterwegs; in dem nahen Markt von Covent Garden begann bereits das Geschäft. Bei der Säule von Seven Dials blieb der Earl stehen, als halte er nach jemandem Ausschau. Er wartete eine Weile, bis er einen Straßenhändler mit einem Karren näher kommen sah. Der Händler, ein freundlicher Kerl, dem bald klar wurde, daß der alte Gentleman nicht richtig im Kopf war, sprach sanft mit ihm. Nur eines war ihm ein Rätsel – der alte Gentleman sprach breites Cockney. »Harn Se meinen Dad gesehn? Harry Dogget, Straßenhändler.«
»Alter Junge, ich glaube, Ihr Dad ist schon ein paar Jährchen tot.« Eine Frau mit einem Korb Austern gesellte sich zu ihnen. »Wer ist das?« fragte sie.
»Sucht seinen Dad«, erwiderte der Händler.
Sie lachte. »Was ist mit deiner Mum, Lieber?«
»Nee.« St. James schüttelte den Kopf. »Die kann ich nich brauchen. Ich muß Sep finden. Er hätt in dem Kamin sein sollen, nich ich.«
»Er hat wirklich den Verstand verloren«, meinte die Frau kopfschüttelnd.
In diesem Augenblick hielt ein paar Meter weiter eine Kutsche, aus der Lord Bocton stieg, begleitet von Mr. Cornelius Silversleeves.
Es ging sehr langsam voran, da Lucy gegen die Strömung rudern mußte. Sie wollte an eine Stelle bei Chelsea. Dort überquerte eine wacklige alte Brücke den Fluß, der danach eine scharfe Biegung nach links machte. Ein Stückchen weiter kam aus dem alten Dorf Battersea ein Zufluß in die Themse, und von hier aus war es nur ein kurzer Fußweg über den Lavendelhügel hinauf nach Clapham Common.
Es war Vormittag, als Lucy das Boot vertäute. Horatio war so schwach, daß sie ihn tragen mußte. Sie sah sich um und entdeckte in dem kleinen Kirchhof, der hier lag, ein altes Familiengrab mit einer breiten Einfassung. Dorthin trug sie ihren Bruder, setzte sich mit dem Rücken gegen den Grabstein und wiegte Horatio sanft in ihren Armen.
Es war still hier, nur ein paar Spatzen tschilpten in den Bäumen, und für ein paar Minuten brach sogar die Sonne durch den grauen Himmel. Schließlich öffnete Horatio die Augen.
»Wir sind da«, sagte Lucy. »Schau nur! Du kannst den Lavendelhügel sehen. Da gehen wir hinauf, und dann wirst du dich besser fühlen.«
Er nickte langsam. »Lavendelhügel«, sagte er und schloß wieder die Augen, bevor er zu husten begann – ein tiefer, schleimiger Husten. »Lucy?« fragte er. »Sterbe ich?«
»Natürlich nicht.«
»Wenn ich weiterleben könnte«, sagte er schwach, »würde ich gern mit dir auf dem Lavendelhügel wohnen. Ich bin froh, daß du mich hierhergebracht hast.«
»Laß mich nicht allein«, flehte sie. »Du mußt kämpfen!«
»Lucy«, flüsterte er, »sing mir das Lavendellied vor.«
Und so sang sie, aber als sie zu der Zeile kam »Wenn du der König bist, dilly, dilly«, ging ein Beben durch seinen schwachen Körper, dann wurde er schlaff, und sie wußte, daß er tot war.
»Ein höchst bemerkenswerter Fall«, sagte Silversleeves. »Ein vollkommener Persönlichkeitsverlust. Er scheint sogar zu glauben, daß er eine andere Familie hat.«
»Er ist also verrückt?« fragte Bocton. »Sie können ihn einsperren?«
»Gewiß. Jetzt gleich, wenn Sie wollen.«
»Das käme mir sehr zupaß. Und es wird dem politischen Fortschritt helfen.«
Der öffentliche Zorn über das Vorgehen der Lords am Abend zuvor war so groß, daß die neugeschaffene Polizei am Vormittag mit Tumulten rechnete. Eine Stunde vor der Abstimmung in Westminster sagten manche Parlamentsmitglieder, der König müsse wohl noch ein paar Whigs zu Peers machen, um die Reform durchzubekommen.
Um halb zwölf vormittags fuhr eine geschlossene Kutsche durch die Tore des großen Hospitals Bedlam in Lambeth, und man führte den schwach und verwirrt aussehenden Earl of St. James in die prachtvolle Eingangshalle.
Dort sollte er jedoch nicht sehr lange bleiben.
In Bedlam war es üblich, daß die ehrbare Öffentlichkeit die Anstalt gegen ein Eintrittsgeld besichtigen konnte. Neugierige konnten die Personen beobachten, die entweder vom Strafgericht oder von Silversleeves und seinen Freunden für verrückt erklärt worden waren. Manche Männer hielten sich für Napoleon und nahmen eine pompöse Haltung an; andere lachten oder schnatterten. Manche waren an ihren Betten festgebunden, während wieder andere sich manchmal auszogen und obszöne Gesten vollführten. Die meisten Leute fanden das höchst amüsant. Ein alter Mann behauptete, der Earl of St. James zu sein.
Am frühen Nachmittag kam Meredith. Als George herausgefunden hatte, was mit seinem Großvater geschehen war, hatte er den Bankier um Rat gebeten, und dessen Antwort versprach nichts Gutes. »Ich glaube, mit Silversleeves' Hilfe wird es Ihrem Vater gelingen, Ihren Großvater zu entmündigen. Wir müssen ihn aus Bedlam herausholen. Sie können das nicht tun, weil Bocton die Leute dort wahrscheinlich vor Ihrem Erscheinen gewarnt hat. Aber ich schaffe es vielleicht. Ich muß etwas finden, wo er unter erträglichen Bedingungen leben kann.«
»Aber das wäre ja eine Entführung, Meredith!«
»Richtig. Und ich glaube, ich weiß ein Versteck für ihn.«
Er schickte einen Jungen, der nach Silversleeves fragte, und vergewisserte sich so, daß dieser für ein, zwei Stunden mit Bocton unterwegs war. Unmittelbar danach fuhr Meredith' Kutsche im Hof vor. Er betrat das Gebäude und befahl den Pförtnern, sofort Silversleeves zu holen. Ungeachtet ihrer Versicherungen, der Direktor sei nicht da, schritt er den Gang hinunter und verlangte, St. James zu sehen. Kaum hatte er ihn gefunden, packte er ihn am Ärmel und führte ihn zum Ausgang. »Ich bin der Leibarzt Seiner Majestät des Königs und habe Befehl, diesen Patienten unverzüglich an einen andern Ort zu bringen. Ich nehme an, Sie wissen, daß der Earl ein persönlicher Freund des Königs ist?« Seine hochgewachsene, gebieterische Gestalt und die ehrfurchtgebietenden Namen, die er nannte, überwanden jeglichen Widerstand.
Nur einen Augenblick später ratterte seine Kutsche in Richtung Westminster davon, doch kaum außer Sicht, schlug sie einen ganz anderen Weg ein. Und so fand der Earl of St. James Zuflucht im Haus von Mrs. Penny in Clapham Common am Lavendelhügel.
»Verdammt!« knurrte Lord Bocton, als er hörte, daß sein Vater verschwunden war. »Wir hätten ihn festbinden sollen.«
Das große Reformgesetz wurde im Sommer 1832 verabschiedet. Nicht nur bekamen die neuen Städte Sitze im Parlament und wurden die Rotten boroughs abgeschafft, sondern man legte auch fest, daß breite Teile der Mittelschicht das Wahlrecht erhielten. Frauen konnten natürlich immer noch nicht wählen.
Da Horatio nun tot war und Lucy nur noch an sich und ihre Mutter zu denken hatte, überlegte sie seit einiger Zeit, ob sie es sich leisten könnte, nicht mehr für Silas zu arbeiten. Sie zog verschiedene Möglichkeiten in Betracht, unter anderem die kleine Fabrik, in der ihre Mutter früher gearbeitet hatte. Sie fragte sich sogar, ob sie nicht etwas Unterstützung von der Cousine in Clapham bekommen könnte, aber sie fand keine Spur von ihr oder ihrer Familie. Eines Sommertags wurde diese Frage unerwartet geklärt. Sie kam wie immer morgens zur Arbeit, fand Silas aber zu ihrer Überraschung ohne sein Boot vor. »Wo ist das Boot?« fragte sie.
»Hab's verkauft. Tatsache ist, ich glaube, ich brauch dich nicht mehr. Ich mach jetzt was anderes.« Er nahm sie mit in eine Gasse, wo ein schmutziger alter Karren stand. »Mit dem sammle ich jetzt Müll. Die Leute zahlen dafür, daß man ihn wegbringt. Den schichtet man irgendwo in einem Hof zu einem großen Haufen auf und durchsucht ihn nach etwas Brauchbarem. Wenn du willst, kannst du beim Sortieren helfen.«
»Ich glaube nicht«, erwiderte sie. »Meine Mutter und ich werden schon zurechtkommen.«
Für Eugene Penny brachte das Jahr eine neue Ausgabe, die er sich jedoch leisten konnte.
Die drei Wochen, in denen der Earl of St. James bei seiner Familie wohnte, waren für Penny die anstrengendste Zeit seines Lebens. An manchen Tagen war der alte Mann bei klarem Verstand und wollte nach Hause. Eugene war gezwungen, ihn festzuhalten, was er peinlich fand. An anderen Tagen war der Earl wieder verwirrt. Es war eine Erleichterung, als Meredith endlich kam und ihn an einen ruhigen Ort im West Country brachte.
Von da an hatte Eugene so viel Arbeit in der Bank, daß ihm kaum Zeit blieb, an etwas anderes zu denken, bis er eines Tages in der Fleet Street eine gebückte, traurige Gestalt mit abgenutzten Schuhen sah und plötzlich erschrocken und schuldbewußt feststellte, daß es sein Pate Jeremy Fleming war. Es war zwei Jahre her, daß er ihn zuletzt besucht hatte. Warum hatte er das nicht getan, obwohl er von ihm doch soviel Freundlichkeit erfahren hatte? Er hatte viel zu tun, aber das war keine Entschuldigung. Was um alles in der Welt war nur mit ihm geschehen?
Flemings Geschichte war bald erzählt. »Schuld war Wellingtons Biergesetz von 1830, weißt du«, erklärte er. »Als jedermann sich über die hohen Preise beklagte, wurde doch ein Gesetz erlassen, daß jeder Bier brauen und verkaufen darf. So habe ich da oben bei St. Pancras selbst eine kleine Brauerei aufgemacht und ein Jahr lang Bier gebraut.«
»Ich dachte, du seist für so ein Unternehmen zu vorsichtig?«
»Stimmt. Aber ich habe es so bewundert, wie du dein Leben angepackt hast, Penny, daß ich mir gesagt habe, ›siehst du, Jeremy Fleming, was du mit ein bißchen Mut hättest erreichen können‹. Und ich habe mir gedacht, daß jeder Bier kaufen will, aber meines hat keiner gewollt. Dann bin ich unvorsichtig geworden und habe es erst recht weiter versucht. So habe ich alles verloren.«
»Das habe ich nicht gewußt! Du hast es mir nie gesagt.« Ich habe auch nie gefragt, dachte Penny. »Wovon lebst du jetzt?«
»Meine Kinder sind sehr hilfsbereit, sie geben mir, soviel sie können. Ich verhungere nicht.«
»Und dein Haus?«
»Ich habe jetzt etwas Kleineres, hier in der Nähe.«
»Du mußt heute noch zu uns zum Essen kommen!« rief Penny. Von diesem Tag an bezahlte er Flemings Miete, ließ ihm einmal im Jahr einen neuen Anzug machen und lud ihn häufig nach Clapham ein. Auf Marys Wunsch hin wurde er zum zusätzlichen Paten ihrer Kinder ernannt.
»Du bist gut zu ihm«, sagte sie manchmal zu ihrem Mann. Eugene schüttelte dann den Kopf. »Aber sehr spät, Mary«, erwiderte er. Dennoch, wenn er an warmen Sommerabenden mit ihr spazierenging, dachte er, daß sich bei ihnen auf dem Lavendelhügel alles zum besten entwickelt hatte.