DER FLUSS
1997
SIR EUGENE PERCY, Präsident der mächtigen Penny
Versicherungsgesellschaft, Mitglied von einem Dutzend Ausschüssen
und Alderman von London, fühlte sich sehr tugendhaft. Seine Familie
hatte wenige Besitztümer mehr in Ehren gehalten als die Sammlung
von Flußlandschaften, darunter einige von Monet, die sein Vater
gleich nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Besitz des letzten Lord
St. James gekauft hatte. Und heute hatte er sie alle
hergeschenkt.
Das Problem, wenn man Mitglied in wohltätigen Einrichtungen
war, dachte er, lag darin, daß man früher oder später immer sein
eigenes Geld hineinsteckte. Als Mitglied im Kuratorium der Tate
Gallery war es unmöglich, sich nicht für ihre Pläne zu begeistern,
sowohl für das ursprüngliche Museum für moderne Kunst in seinem
hübschen klassizistischen Bau am Fluß als auch für die weitläufige
neue Galerie, die man im ehemaligen Kraftwerk Bankside Power
Station am Südufer des Flusses, gleich neben dem rekonstruierten
Globe Theatre, zu eröffnen plante. Nachdem ein anderes
Kuratoriumsmitglied angedeutet hatte, daß diese Monets wirklich
einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden sollten, hatte er
sich verpflichtet gefühlt zuzustimmen. Heute vormittag hatte er sie
dem Museum überschrieben, danach war er in der nahe gelegenen
ChelseaBlumenschau, speiste in seinem Club und suchte seinen
Schneider Tom Brown auf. Er war ausgezeichneter Laune, als er an
diesem Nachmittag zu seinem Besuch in einem Museum am Fluß
kam.
In den letzten Jahren hatte er begonnen, sich für das Museum
of London zu interessieren. Ursprung war eine Ausstellung des
Museums über die Hugenotten. Da Penny selbst von Hugenotten
abstammte, hatte er immer ziemlich viel über die französische
Gemeinde gewußt, die immer noch ihre eigenen Vereinigungen und
Wohltätigkeitseinrichtungen hatte. Drei Viertel aller Briten hatten
irgendwo hugenottische Vorfahren. Aber die Ausstellung war eine
Offenbarung für ihn: Seidenweber und Generäle, Künstler, Uhrmacher,
berühmte Juweliere wie die Agnews, Firmen wie seine eigene – die
Ausstellungsstücke enthüllten die hugenottische Herkunft vieler
Konzerne, die man für absolut britisch hielt. Später besuchte er
eine andere Ausstellung, insgeheim in der Hoffnung, noch mehr
Zeugnisse für hugenottischen Genius zu finden. »Die Besiedlung von
London« war eine weitere Überraschung.
»Ich dachte, ich wüßte etwas über mein britisches Erbe«, hatte
Penny zu seiner Frau gesagt. »Und es stellt sich heraus, daß ich
eigentlich gar nichts weiß.« In seiner Schulzeit hatte man bei der
Geschichte Englands und Großbritanniens fast nur die Angelsachsen
behandelt. »Natürlich haben wir von den Kelten gewußt. Und dann gab
es noch die Dänen und ein paar normannische Ritter.« Aber die
Ausstellung über die Besiedlung Londons erzählte eine vollkommen
andere Geschichte. Angeln, Sachsen, Dänen, Kelten – sie alle waren
in London gewesen. Bereits zu der Zeit, als der Tower von London
gebaut wurde, hatte es normannische und italienische Kaufleute
gegeben, später flämische und deutsche. In jüngerer Zeit war die
große jüdische Gemeinde entstanden, dann waren die Iren gekommen
und noch später die Völkergruppen aus dem früheren Empire – vom
indischen Subkontinent, aus der Karibik, aus Asien. »Schon vom
Mittelalter an war London stets eine Stadt mit einer großen Zahl
von Fremden, die sich rasch assimiliert haben. Historisch
gesprochen war London genauso ein Schmelztiegel wie etwa New
York.«
»Und die vielgerühmte angelsächsische Rasse…?«
»Ist ein Mythos. Die nördliche Hälfte Großbritanniens ist
stärker dänisch und keltisch; und sogar für den Süden bezweifle
ich, daß unsere angelsächsischen Vorfahren ein Viertel ausmachen.
Wir sind ganz einfach eine Nation europäischer Einwanderer, die
sich die ganze Zeit mit immer neuen Gruppen vermischt hat. Ein
genetischer Strom, wenn du willst, der von einer Unzahl
Nebenflüssen gespeist wird.« Das Museum hatte zu diesem Thema ein
Buch herausgegeben.
»Wie würdest du einen Londoner dann definieren?« fragte Lady
Penny.
»Als jemanden, der hier lebt. Wie die alte Definition eines
Cockneys: jemand, der in Hörweite der Bow-Glocken geboren ist. Und
ein Fremder«, fügte er schmunzelnd hinzu, »ist jeder,
angelsächsisch oder nicht, der außerhalb lebt.«
Wenn er es sich so überlegte, hatte er diesen Prozeß in den
großen Büros der Versicherungsgesellschaft miterlebt. In den
Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es einen massiven
Einwandererstrom aus der Karibik und vom indischen Subkontinent
gegeben. In manchen Vierteln – Notting Hill Gate oberhalb von
Kensington, Brixton am Südufer – hatte es Spannungen und sogar
Krawalle gegeben. Doch in jüngster Zeit stellte er fest, wenn er
sich mit der jungen Generation um die Zwanzig unterhielt, daß sie
alle – schwarz, weiß oder asiatisch – nicht nur mit Londoner Akzent
sprachen, sondern auch dieselben Sportarten trieben und dieselben
Verhaltensweisen angenommen hatten, sogar denselben respektlosen
Cockney-Humor wie das Londoner Volk vor dem Krieg. »Sie sind alle
Londoner«, schloß er.
Es war still in dem Graben. Sarah Bull blickte auf ihre
Kollegen und lächelte in sich hinein. Sie war schon bei vielen
Ausgrabungen dabeigewesen, aber an dieser hatte sie besonders gern
teilnehmen wollen, weil sie von Dr. John Dogget geleitet wurde. Er
war Londoner durch und durch. »Mein Großvater war während des
Blitzkrieges Feuerwehrmann«, hatte er ihr einmal gestanden. Und er
war Kurator des Museum of London, wo sie seit kurzem
arbeitete.
Sarah liebte das Museum. Es thronte auf dem Hügel von St.
Paul's über einer weitläufigen Fußgängerzone, blickte auf ein
großes Stück der alten römischen Stadtmauer Londons und wurde mehr
und mehr eine Touristenattraktion. Es war angelegt als Spaziergang
durch die Geschichte, von der prähistorischen Zeit bis zur
Gegenwart. Die Kuratoren hatten komplette Szenen aufgebaut,
untermalt von den entsprechenden Bild- und Geräuschkulissen: ein
prähistorisches Lager, ein Raum zum siebzehnten Jahrhundert, eine
ganze Straße des achtzehnten Jahrhunderts, viktorianische Läden –
sogar ein Modell des alten London, das beleuchtet wurde, während
man Auszüge zur Brandkatastrophe von London aus Pepys' Tagebuch
hörte. Jede dieser Ausstellungen wurde mit Gegenständen der
betreffenden Zeit illustriert, von Pfeilspitzen aus Feuerstein bis
zum Originalkarren eines Straßenhändlers mit kompletter
Beladung.
Hinter allem lag mühevolle Forschungsarbeit, wie Sarah wußte.
Das hatte sie, die graduierte Archäologin, an diesen Ort gezogen.
Es gab neue Funde, oft bedeutende Entdeckungen, etwa den kleinen
Mithrastempel; und erst vor wenigen Jahren hatte man
herausgefunden, daß die alte Guildhall tatsächlich an der Stelle
stand, wo einst ein großes römisches Amphitheater gewesen war.
Regelmäßig legte man Römerstraßen und mittelalterliche Gebäude
frei. Vor kurzem hatte man gleich bei der antiken Mauer die
Überreste einiger Goldmünzen und Gußformen eines römischen
Falschmünzers entdeckt, die anscheinend in ziemlicher Hast
weggeworfen worden waren. Der betreffende Kurator hatte
demonstriert, wie das Fälschen der Münzen vor sich gegangen
war.
Und außerdem war da noch der junge Dr. Dogget. Mit seinem
fröhlichen Naturell und der weißen Strähne im Haar war er beliebt
und bekannt. Seltsamerweise hatte er feine Schwimmhäute zwischen
den Fingern. Er war immer sehr beschäftigt, und sie als Neue war
natürlich noch unbedeutend, aber sie hoffte, daß er bei dieser
Ausgrabung von ihr Notiz nehmen würde. Die Frage war, ob er neben
römischen Artefakten auch blauäugige Blondinen mochte?
Die Grabung fand auf einem kleinen Gelände mit Blick auf die
Themse statt. Nicht oft bekamen Archäologen die Chance, in der
Londoner City zu graben, aber wenn ein Gebäude abgerissen wurde und
ein neues aufgebaut werden sollte, konnte man Vereinbarungen für
eine Ausgrabung treffen. Man hatte seit der Zerstörung der City und
des Eastends im Blitzkrieg so viel gebaut, daß die Qualität sehr
unterschiedlich war. Manche Projekte, etwa die riesige Sanierung
der Docklands, seit die Hafenarbeiten aufgrund von Containern und
gigantischen Schiffen ein großes Stück weiter mündungsabwärts
verlagert worden waren, fand Sarah recht gut. Das Gebäude hier war
ihrer Meinung nach sehr mittelmäßig gewesen, so daß sie doppelt
froh war, daß man es abgerissen hatte. Die Eigentümer des neu
geplanten Gebäudes hatten sogar zugestimmt, ein Atrium zu entwerfen
und darum herumzubauen, so daß die Öffentlichkeit die Funde
besichtigen konnte, wenn die Archäologen etwas Aufregendes
entdeckten. Sie waren bereits über drei Meter unterhalb des alten
Fundaments, was bedeutete, daß sie, wenn sie unten im Graben stand,
auf eine Kiesschicht blickte, die zur Zeit Julius Cäsars die
Oberfläche war.
Es war Nachmittag, und nur ein paar bauschige weiße Wolken
standen am strahlenden Frühlingshimmel, als die von Sir Eugene
Penny angeführte Abordnung eintraf. Aufmerksam besichtigte er
alles, kam in den Graben, hörte zu, während Dr. Dogget ihm
erklärte, was sie gerade machten, stellte ein paar Fragen und ging
dann wieder, nachdem er allen gedankt hatte. Als er Sarah
vorgestellt wurde, gab er ihr höflich die Hand, schenkte ihr dann
aber keinerlei Beachtung mehr. Niemand im Museum hatte eine Ahnung,
daß ihre Familie eine große Brauerei besaß und daß Alderman Sir
Eugene Penny ihr Cousin war. Es war ihr lieber so. Das Museum
benötigte immer finanzielle Unterstützung, und wenn jemand geeignet
war, an Geld heranzukommen, dann wahrscheinlich ihr Cousin, hatte
sie gedacht.
Nachdem er gegangen war, schritt Sarah ein paar Minuten am
stillen Fluß entlang. Er war jetzt sauberer, als er es
jahrhundertelang gewesen war; man konnte sogar wieder darin
fischen. Er wurde auch sorgfältig reguliert. Nach einem letzten
Blick auf die Tower Bridge und St. Paul's kehrte Sarah zur
Ausgrabung zurück. Es war erstaunlich, wie still London sein
konnte. Nicht nur in den großen Parks, sondern auch in großen,
mauerumfriedeten Bezirken wie dem Temple oder in alten Kirchen wie
St. Bartholomew's herrschte eine Stille, die einen um Jahrhunderte
zurückzuversetzen schien. Sogar hier in der City bildeten die
Bürogebäude, die hoch über den schmalen Straßen aufragten, einen
Schutzschirm, so daß man den geschäftigen Londoner Verkehrslärm
kaum hörte.
Dr. Dogget war gegangen. Im Augenblick war noch eine andere
Archäologin bei der Ausgrabung, und Sarah gesellte sich zu ihr.
Dabei erinnerte sie sich an einen Vortrag, den John Dogget einer
Gruppe älterer Schüler gehalten hatte. Er hatte die Arbeit des
Museums und der Archäologen skizziert. Und dann, um seine Arbeit
mit einem knappen Bild zu veranschaulichen, hatte er etwas gesagt,
das ihr sehr gut gefiel: »Stellt euch vor, es ist Sommer. Wenn er
zu Ende ist, fallen die Blätter ab und liegen auf dem Boden. Mit
der Zeit verrotten sie, fast, aber nicht ganz. Im nächsten Jahr
geschieht dasselbe. Und immer wieder. Ganz dünn und zusammengepreßt
bildet all diese Vegetation Schichten, Jahr für Jahr. Ein
natürlicher, organischer Vorgang. Etwas Ähnliches geschieht mit den
Menschen, vor allem in einer Stadt. Jedes Jahr, jedes Zeitalter
hinterläßt Spuren. Sie werden zusammengepreßt, verschwinden unter
der Oberfläche, aber ein klein wenig von all diesem menschlichen
Leben bleibt übrig. Eine Fliese aus der Römerzeit, eine Münze, eine
Tonpfeife aus Shakespeares Tagen. Wenn wir eine Ausgrabung machen,
finden wir diese Kleinigkeiten und können sie ausstellen. Aber ihr
dürft euch diese Dinge nicht nur als Gegenstände vorstellen. Die
Münze oder die Pfeife haben einem Menschen gehört, der ebenso wie
wir gelebt und geliebt und über den Fluß und hinauf zum Himmel
geschaut hat. Wenn wir hinuntergraben in die Erde und all das
finden, was jene Männer und Frauen zurückgelassen haben, versuche
ich daran zu denken, daß alles, was ich sehe und anfasse, eine
endlos komprimierte Schicht von Leben ist. Und manchmal bei unserer
Arbeit hier habe ich das Gefühl, daß wir in diese Schicht
komprimierter Zeit eingedrungen sind und dieses Leben, vielleicht
nur einen Tag mit seinem Morgen und Abend, dem blauen Himmel und
dem Horizont erschlossen haben. Wir haben ein einziges dieser
Millionen und Abermillionen Fenster aufgestoßen, die im Boden
verborgen sind.«
Sarah lächelte. Und als sie so im Graben stand, vielleicht an
der Stelle, an der einst Julius Cäsar gestanden hatte, streckte sie
die Hand aus und berührte den Boden.